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Der Panslawismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgelegt von Igor Fischer Hamburg 2012 Universität Hamburg Fachbereich Geschichte Einführungseminar II „Russischer Imperialismus“ SS 2011 Kristina Küntzel-Witt

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Der Panslawismus in der ersten Hälfte des 19.

Jahrhunderts

vorgelegt vonIgor Fischer

Hamburg 2012

Universität HamburgFachbereich GeschichteEinführungseminar II „RussischerImperialismus“SS 2011Kristina Küntzel-Witt

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung 2

1 Grundlage und Ursprung der panslawischen Idee 41.1 Herders Ansichten zu den Slawen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.2 Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

2 Ausprägungen der panslawischen Idee 62.1 Austroslawismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62.2 Russischer Panslawismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82.3 Polnischer Messianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112.4 Südslawischer Illyrismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Schlussbetrachtung 16

Literatur 19

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Einleitung 2

Einleitung

Panslawismus in Gegenwart und Geschichte

Slovio – ein Wort, das Zeuge eines Phänomens namens Panslawismus ist, welches vorungefähr 200 Jahren entwickelt wurde und das man heute vielleicht zur Geschichteerklären würde. Aber gerade in Slovio, einer Plansprache auf Basis der slawischenSprachen, findet sich der panslawische Gedanke in der Gegenwart. Dabei ist Slovionur ein Beispiel; Berger1 findet sogar ganze Communities, die ein panslawischesGedankengut zum Inhalt haben.

Der Panslawismus ist tatsächlich seit seinem Ursprung am Anfang des 19. Jahr-hunderts ununterbrochen in der Geschichte Osteuropas präsent. Beispielsweise im20. Jahrhundert: In den 90er Jahren lösten sich zwei panslawische Staaten auf, näm-lich die Tschechoslowakei und Jugoslawien.

Dabei sind die genannten Staaten nicht die einzigen Träger eines panslawischenGedankens im 20. Jahrhundert gewesen, auch die Sowjetunion übernahm im 2. Welt-krieg die panslawische Idee, wenngleich diese nicht sehr lange verwendet wurde, dader Anspruch der ethnischen Einheit kaum mit der sowjetischen Ideologie vereinbarwar.2 Doch auch zu Anfang des 20. Jahrhunderts ist der Panslawismus im Zusam-menhang mit dem 1. Weltkrieg als möglicher Auslöser genannt worden, wie man ander 1915 erschienenen Monographie vom Österreicher Richard Charmatz mit demTitel „Zarismus, Panslawismus, Krieg!“ sieht. Man müsste den Titel natürlich imKontext begreifen, dass Österreich im Krieg mit dem Zarenreich stand. Es zeigt sichaber, dass die panslawische Idee im gesamten 20. Jahrhundert relevant war. Nichtzuletzt könnte man am Vorabend des 1. Weltkrieges die Existenz eines Neoslawismusin Österreich für eine bestehende slawische Identität anführen wie es Vyšný3 tut.Noch bedeutender war diese Idee im 19. Jahrhundert. Um sich die Bedeutsamkeit

zu verdeutlichen, könnte man auf den Konflikt zwischen dem Russischen und demOsmanischen Reich 1877/78 schauen, welcher zu einem gewissen Teil durch pan-slawische Strömungen ausgelöst wurde. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertskönnte man aber auch auf bestimmte Leute schauen, die in Russland berühmt warenund einem Panslawismus das Wort redeten; zu nennen sind dabei der Dichter FedorI. Tjutčev und der weltbekannte Schriftsteller Fedor M. Dostoevskij. Diese beidenwichtigen Persönlichkeiten vertraten panslawische Ideen.

1Tillman Berger. “Potemkin im Netz. Slovio und die Pseudo-Panslawen”. In: Osteuropa (2009).2Stefan Troebst. “Slavizität. Identitätsmuster, Analyserahmen, Mythos”. In: Osteuropa (2009),S. 9.

3Paul Vyšný. Neo-Slavism and the Czechs. 1898-1914. Cambridge Univ. Pr., 1977.

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Einleitung 3

Gegenstand der Hausarbeit

Gewissermaßen im „Rückwärtsgang“ komme ich zum eigentlichen Gegenstand dieserHausarbeit – der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wenn man die allgemein ge-bräuchliche Phrase „Das lange 19. Jahrhundert“ anschaut, ist es nahe liegend, dassman eine Thematik, die im ereignisreichen 19. Jahrhundert angesiedelt ist, für eineHausarbeit zeitlich eingrenzt. Ich habe mich für die erste Hälfte des Jahrhundertsentschieden, weil meiner Meinung nach sich die panslawische Idee in dieser Zeit amdeutlichsten mit ihren Konzepten, Ansichten und Problemen geäußert hat. Beson-ders wichtig erschien mir die Entwicklung des Panslawismus in den außer-russischenGesellschaften wie der polnischen, kroatischen oder tschechischen Gesellschaft.

Jedes Volk hatte am Beginn des 19. Jahrhunderts eine einzigartige Stellung. DieRussen waren zum Beispiel das einzige slawische Volk mit einem eigenen Staat (bisauf die kleinen Ausnahmen Republik Krakau (bis 1846) und Montenegro), die Tsche-chen befanden sich innerhalb der liberalen Bewegung in Europa und die Polen warengleich unter drei Staaten (davon ein slawischer: Russland) aufgeteilt und den Sta-tus einer Großmacht eingebüßt. Jedes Volk musste deswegen natürlich seine eigeneDeutung von der panslawischen Idee entwickeln – gleichzeitig propagierte aber derPanslawismus eine einheitliche Identität und Zusammengehörigkeit. Dieses Parado-xon manifestierte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ist für mich einweiterer Grund, meine Betrachtung auf den vorgeschlagenen Zeitraum zu richten.

Es fällt im Übrigen schwer, eine genaue Jahreszahl für die Zäsur zwischen den Hälf-ten zu bestimmen. Man könnte zum Teil den Prager Slawenkongress 1848 als Kulmi-nationspunkt oder den Anfang des Krim-Krieges 1854 bzw. die Thronbesteigung vonAlexander II. anführen; meine Hausarbeit baut aber erst zweitrangig auf Ereignissenauf, sondern orientiert sich vorrangig an bedeutenden Denkern der einzelnen Völker.Dabei ist die Tendenz zu beobachten, dass die bedeutenden panslawischen Vertreterin den 40er Jahren mit ihren Ansichten einen Höhepunkt der Popularität erreichten.Die Ideen manifestierten sich gewissermaßen im gesellschaftlichen Diskurs.

Die Ausarbeitung des Themas habe ich unter verschiedenen Gesichtspunkten ver-folgt. Zuerst war es für mich wichtig, die Grundlage der panslawischen Idee darzu-legen und gewissermaßen einen Zeitraum zu beschreiben als sich diese noch einiger-maßen einheitlich zeigte. Dazu habe ich mich auf Herders Theorie und slowakischeGelehrte als den ersten Vertretern des Panslawismus konzentriert.

Die dann erfolgten Ausprägungen des Panslawismus habe ich versucht anhandder wichtigsten Denker zu beschreiben. So sollte der Ursprung der einzelnen Ideenillustriert werden, die Faktoren, die zur weiteren Entwicklung einer Idee führtenund schließlich stand auch die Frage, wie sich die anderen slawischen Völker zurjeweiligen Ausprägung der panslawischen Idee verhielten.

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1 Grundlage und Ursprung der panslawischen Idee 4

1 Grundlage und Ursprung der panslawischen Idee

1.1 Herders Ansichten zu den Slawen

Im Folgenden soll auf die Grundlage der panslawischen Idee referiert werden, dieihren Ursprung zu einem großen Teil bei Johann Gottfried Herder hatte. Er widmetedas 4. Kapitel seines Buches „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“den slawischen Völkern. Hier soll dieses für den Panslawismus wichtige Kapitel inseinen Grundzügen vorgestellt werden:

Herder verglich in seinem Werk die Slawen mit den Germanen und stellte diefriedfertige Mentalität der Slawen dem kriegerischen Geist der Deutschen entgegen:„Trotz ihrer Taten hie und da waren sie nie ein unternehmendes Kriegs- und Aben-teuervolk wie die Deutschen; vielmehr rückten sie diesen stille nach und besetztenihre leergelassenen Plätze und Länder [...].“4 Weiter beschrieb er die vielen Gebiete,die von Slawen bewohnt wurden und betonte die Einheit der Slawen: „In Pannonienwurden sie ebenso zahlreich; von Friaul aus bezogen sie auch die südöstliche EckeDeutschlands, also daß ihr Gebiet sich mit Steiermark, Kärnten, Krain festschloß:der ungeheuerste Erdstrich, den in Europa eine Nation größtenteils noch jetzt be-wohnet.“5 Herder betonte mehrmals den bäuerlichen, aber auch offenen Charakterder Slawen: „Sie liebten die Landwirtschaft, einen Vorrat von Herden und Getreide,auch mancherlei häusliche Künste und eröffneten allenthalben mit den Erzeugnis-sen ihres Landes und Fleißes einen nützlichen Handel.“6 Des Weiteren idealisierteer die Slawen im Sinne der Romantik und schrieb, dass sie sich neben der Wirt-schaft den schönen Künsten widmeten: „In Deutschland trieben sie den Bergbau,verstanden das Schmelzen und Gießen der Metalle, bereiteten das Salz, verfertigtenLeinwand, braueten Met, pflanzten Fruchtbäume und führeten nach ihrer Art einfröhliches, musikalisches Leben.“7 Herder machte weiter seine Idealisierung der fried-lichen Slawen kund: „Sie waren mildtätig, bis zur Verschwendung gastfrei, Liebhaberder ländlichen Freiheit, aber unterwürfig und gehorsam, des Raubens und PlündernsFeinde.“8 Trotz der Unterwerfung der Slawen durch die Deutschen und unbedeuten-den Gegenwart attestierte Herder den Slawen eine verheißungsvolle Zukunft: „[...]so werdet auch ihr so tief versunkene, einst fleißige und glückliche Völker endlicheinmal von eurem langen trägen Schlaf ermuntert, von euren Sklavenketten befreiet,eure schönen Gegenden vom Adriatischen Meer bis zum karpatischen Gebürge, vomDon bis zur Mulda als Eigentum nutzen und eure alten Feste des ruhigen Fleißesund Handels auf ihnen feiern dörfen.“9

4Johann Gottfried Herder. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Aufbau-Verl.,1965, S. 279.

5Ebd., S. 279.6Ebd., S. 280.7Ebd., S. 280.8Ebd., S. 280.9Ebd., S. 281.

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1 Grundlage und Ursprung der panslawischen Idee 5

1.2 Rezeption

Neben Herder als den größten Impulsgeber für die Idee der slawischen Einheit, wardie Zeit um 1800 generell von einem anwachsenden Interesse an der Sprache undan den slawischen Kultur gekennzeichnet. Hier seien Gerhard Friedrich Müller undAugust Ludwig Schlözer erwähnt. Johann Christoh Adelung sowie Wilhelm vonHumboldt beschäftigten sich mit der allgemeinen Sprachtheorie, die auf die pansla-wischen Vordenker gewissen Einfluss hatte.10

Wie der Historiker H. Kohn11 aber treffend bemerkt, „hätten diese geistigen Ein-flüsse ohne bedeutsame Veränderung in der ökonomischen und kulturellen Stellungder österreichischen Slawen und der politischen und militärischen Position Rußlandskaum den Panslawismus erwecken können“. Um die von Herder vorgestellten Ansich-ten zu rezipieren, bedurfte es einer Schicht von gebildeten Slawen. Diese gebildeteSchicht entwickelte sich am Anfang des 19. Jahrhunderts zuerst in Österreich beiden Slowaken. Die Slowaken waren in der Zeit protestantisch und daher war ihreVerbindung zu den mehrheitlich protestantischen Deutschen enger als bei anderenslawischen Völkern. Deswegen wurden die Slowaken Ján Kollár, Ján Herkel und Pa-vel Josef Šafarík nach ihrem Studium in Jena ab den 1820ern zu den Trägern derpanslawistischen Idee.12 Der Begriff Panslawismus geht dabei auf Herkel zurück, derdie Bezeichnung einer Sprachfamilie mit dem griechischen Präfix „pan-“ (zu Deutsch:all-) kombinierte. Man muss aber betonen, dass sich die von den Slowaken vertrete-nen Ideen auf die kulturelle Einheit der Slawen zusammen mit Russland bezogen; inder Folge des wachsenden Pangermanismus und des Nationalismus in Europa fanddie Idee einer volksübergreifenden slawischen Identität besonders bei den kleinenslawischen Völkern mehr und mehr Anhänger und wurde politisch weiterentwickelt.

10Markus Osterrieder. Johann G. Herder und die Slaven. 2000. url: http://www.celtoslavica.de/bibliothek/herder_slaven.html (besucht am 28. 02. 2012).

11Hans Kohn. Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus. Herold, 1956, S. 9.12Lawrence D. Orton. The Prague slav congress of 1848. East European Quarterly [u.a.], 1978,

S. 1.

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2 Ausprägungen der panslawischen Idee 6

2 Ausprägungen der panslawischen Idee

2.1 Austroslawismus

Man kann wohl sagen, dass sich die slawische Idee in Österreich sehr interessantentwickeln musste, denn innerhalb der österreichischen Grenzen gab es eine Viel-zahl von slawischen Völkern aus den drei Gruppen (Südslawen mit den Kroaten,Serben und Slowenen; Westslawen mit den Polen, Tschechen und Slowaken, sowiedie Ostslawen mit den Ukrainern), eine Anzahl von slawischen Völkern, die in kei-nem anderen Land oder Reich zu finden war. Es ist außerdem wichtig zu erwähnen,dass im österreichischen Vielvölkerreich die Slawen zusammengenommen die Über-zahl bildeten vor allen anderen Nationalitäten wie den Deutschen und den Ungarn.Diese Erkenntnis machte zuerst der slowenische Gelehrte Jernej Kopitar, der beton-te, dass „die slawische Bevölkerung die relative Mehrheit im Habsburgischen Reichausmache“13 (Hahn 2008, 61). Seine Vorstellungen zur slawischen Idee waren vorallen Dingen auf den kulturellen Aspekt bezogen und nach Kopitars Meinung sollteÖsterreich zum geistigen Mittelpunkt des Slawentums entwickelt werden.

Solche kulturellen Ideen konnten nicht mit der Politik unverbunden bleiben wieHahn (2008, 60) formulierte: „Politik im ständisch-libertären Verständnis und Iden-titätswahrnehmung auf sprachlicher und kultureller Ebene gehörten zusammen“.Denn in Österreich als absolutistischem Staat war vor allem Deutsch als die Sprachedes Bildungs- und Verwaltungssystem verwendet worden, demgegenüber musste dieBedeutung von slawischen Sprachen natürlich sinken. Diese Sprachenpolitik wecktebei den Slawen den Eindruck einer Germanisierungspolitik. Mit dieser war für dieslawischen Intellektuellen auch die Gefahr das Pangermanismus verbunden, einerBewegung, die, ebenfalls von Herders Philosophie beeinflusst, den Anschluss des ös-terreichischen Teils des Reiches mit den slawischen Völkern der Slowenen und Tsche-chen an ein Großdeutsches Reich proklamierte. Während die Slawen den Deutschenin der österreichisch-dominierten Hälfte des Reiches von der Bevölkerungsgröße herüberlegen waren, konnte man als Slawe in einem Großdeutschen Reich nur eine klei-ne Minderheit sein. Der Austroslawismus wurde von den österreichischen Slawendaher auch vor allem während der Revolution 1848 vertreten. In diesem Jahr wur-den besonders bei den Deutschen nationalistische Tendenzen deutlich, was sich inder Frankfurter Versammlung 1848 ausdrückte. Von den Slawen in Österreich wur-de diese Versammlung negativ aufgenommen. Als Wortführer des Austroslawismusprofilierte sich der Tscheche František Palacký. Die Gefahr, dass ein deutscher Na-tionalstaat mit der Auflösung Österreichs verbunden wäre, ließ Palacký befürchten,dass die Frankfurter Versammlung die Absicht habe „Österreich als selbstständigenKaiserstaat unheilbar zu schwächen, ja ihn unmöglich zu machen, - einen Staat,

13Hans Henning Hahn. “Der Austroslawismus. Vom kulturellen Identitätsdiskurs zum politischenKonzept”. In: Osteuropäische Geschichte in vergleichender Sicht, S. 61.

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dessen Erhaltung, Integrität und Kräftigung eine hohe und wichtige Angelegenheitnicht meines Volkes allein, sondern ganz Europas, ja der Humanität und Zivilisa-tion selbst ist und sein muß“14. Dieser Aussage erlangte große Bekanntheit, weilPalacký das Ziel des Austroslawismus als Erster nach vorangegangenen inoffiziellenDiskussionen deutlich beschrieb – nämlich das Ziel der Erhaltung des HabsburgerReichs. In weiteren Aussagen führte er aus, dass er sich für Österreich „einen Grund-satz der vollständigen Gleichberechtigung und Gleichbeachtung aller unter seinemZepter vereinigten Nationalitäten und Konfessionen“15 wünsche.Palacký formulierte außerdem nicht nur einen Gegensatz zum deutschen nationa-

listischen Streben, sondern beschrieb den Austroslawismus als Gegensatz zum russi-schen Hegemoniestreben: “Denken Sie sich Österreich in eine Menge Republiken undRepublikchen aufgelöst, – welch ein willkommener Grundbau zur russischen Univer-salmonarchie.“ 16. Mit diesem Credo wurde der Austroslawismus als ein „Modell desÜberlebens der kleinen Völker zwischen Ost und West propagiert“.17

Interessant ist in diesem Zusammenhang das Ereignis des Prager Kongresses imJuni 1848. Der Kongress war eine Antwort auf die Frankfurter Versammlung. Aufdem Prager Kongress sollte gezeigt werden, dass die Slawen in Österreich dem pan-germanischen Streben der Deutschen eine eigene, friedliche Bewegung entgegenstel-len können. Durch die nationalen Einigungsbestrebungen wurde die Gefahr einesZusammenbruchs des österreichischen Vielvölkerstaates spürbar und der Kongressin Prag zeigte, dass „sich die österreichischen Slawen vor die Notwendigkeit gestelltsahen, Perspektiven für ihre Zukunft zu entwickeln“18 . Nach dem Historiker Mo-ritsch19 befand sich die Monarchie auf Grund der Lossagung der italienischen Gebie-te, dem drohenden ungarischen Aufstand und der Gefahr die galizischen Gebiete zuverlieren in einer „tödlichen Krise“. Die zum ungarischen Teil der Monarchie gehö-renden Slowaken und Kroaten waren ebenfalls wegen der möglichen Abspaltung derUngarn vom Reich besorgt und unterstützten den Prager Kongress in dem Bestrebendie Einheit Österreichs zu wahren.

Die Zusammensetzung des Kongresses gab dann auch die Unterstützung der Sla-wen wieder; eine Mehrzahl der Teilnehmer waren Tschechen und Slowaken, außerdemwaren in geringerer Zahl Südslawen sowie Polen und Ukrainer vertreten.20 Aufgrundder Überzahl der tschechischen und slowakischen Teilnehmer avancierte der Kon-gress trotz der feindlichen Propaganda der deutschen und ungarischen Zeitungen,

14Palacký zit. n. (Andreas Moritsch. “Austroslavismus. Ein verfrühtes Konzept zur politischenNeugestaltung Mitteleuropas?” In: Der Austroslavismus : ein verfrühtes Konzept zur politischenNeugestaltung Mitteleuropas, S. 19)

15Palacký zit. n. (ebd., S. 19)16Palacký zit. n. (ebd., S. 19)17Erhard Busek. “Einführung”. In: Der Prager Slavenkongreß, S. IIX.18Andreas Moritsch. “Revolution 1848 – Österreichs Slaven wohin?” In: Der Prager Slavenkongreß,

S. 6.19Ebd., S. 7.20Ebd., S. 17.

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die dem Kongress russisch-panslawische Interessen unterstellten,21 zu einem Aus-druck von friedlichen und demokratischen Ideen. Die Gefahr eines Panslawismusrussischer Prägung bestätigte sich nicht auf dem Kongress, da beispielsweise dieRussen nur durch Michail Bakunin vertreten waren und selbst dieser war in seinerrevolutionär- anarchischen Einstellung kein Befürworter einer russischen Hegemo-nie. Außerdem dominierten auf dem Kongress vor allen die österreichischen Slawen,während die Polen mit ihrer Forderung nach einer Verankerung der Herstellung ihresUnabhängigkeit im offiziellen Abschlussmanifest scheiterten.

An der Schwelle zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formulierte ein ande-rer bekannter Austroslawist, neben dem o.g. Palacky, Karel Borovský die Politikdes Austroslawismus unter der Berücksichtigung der vorangegangenen Ereignisseund mit einem Ausblick in die Zukunft: „Der Weg, den die gegenwärtige Regierung[Schwarzenberg] bestreitet, ist die Zentralisierung mit einer scheinbaren Ständever-fassung und einer scheinbaren Gleichberechtigung. Unser Weg ist eine Föderati-on mit einer wirklich demokratischen Verfassung und wirklicher Gleichberechtigung[...]“. Weiter wird von ihm das Ziel einer panslawischen Zusammenarbeit innerhalbder österreichischen Grenzen proklamiert: „Ein Bund gegenseitiger Unterstützungund gegenseitigen Schutzes unter Polen, Tschechen, Südslawen und Ruthenen istdie einzig wahre Grundlage der Freiheit der schwächeren mitteleuropäischen Völ-ker, es ist ein amphyktionischer Bund zur Verteidigung der Rechte gegen mächtigeSchadensstifter und Gewalttäter“. Das hier formulierte Ziel des stärkeren politischenGewichts der slawischen Völker in Österreich war in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts das beherrschende Thema im slawischen gesellschaftlichen Diskurs ge-worden.

2.2 Russischer Panslawismus

Der panslawische Idee, die von Kollár 1826 geäußert wurde, wurde auch in Russi-schen Reich vernommen, wenngleich diese Idee nicht sehr verbreitet war, denn biszum ersten Weltkrieg war in Russland die Tendenz vorhanden, dass nicht-ethnischeRussen hohe Positionen in der Politik einnahmen, so zum Beispiel die ethnischedeutsche Zarin Katherina II. und – relevanter für den Zeitraum dieser Hausarbeit –Karl Robert Graf Nesselrod. Dieser war Außenminister von 1816 bis 1856 und hatteals Aristokrat „keinerlei Sympathie für Nationalismus oder Panslawismus“.22 Auchder Zar Nikolaus I. war kein Anhänger des Panslawismus, weswegen der Panslawis-mus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Rolle in der Politik des Staatesspielte.

Trotzdem war dieser Zeitraum in vielerlei Hinsicht bestimmend für Russland.In kultureller Hinsicht entwickelte sich die russische Sprache durch Nationaldich-

21Jiri Pokorný. “Die Polen und der Prager Slavenkongreß”. In: Der Prager Slavenkongreß, S. 69.22Kohn, Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus, S. 115.

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ter wie Alexandr Puškin und Michail Lermontov zur einer Sprache des Adels undder Intellektuellen und löste langsam die französische Sprache ab. Politisch undmilitärisch hatte Russland eine wichtige Rolle in Kontinentaleuropa eingenommen,bedingt durch den Sieg über Napoleon; durch die Ausrufung der Heiligen Allianzhatte Russland nicht nur den eigenen autokratischen Charakter, sondern auch derNachbarn Preußen und Österreich gestärkt. In Bezug auf das Thema der Hausarbeitist aber etwas anderes wichtig, nämlich, dass durch das Hervortreten von Intellektu-ellen die „europäischen Ideen tiefer in das Bewußtsein der kleinen gebildeten Schichtdrangen“23 und dass die Geschichte Russlands durch die Russen selbst nun stärkererforscht wurde, zum Beispiel durch Karamzin, der ab 1818 seine Darstellung derrussischen Geschichte veröffentlichte.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen russische Intellektuelle verstärktan der Bewegung der deutschen Romantik teil. Die Romantik idealisierte die eigeneVergangenheit und verband diese mit einem Volksgeist. Es begann sich unter demEindruck dieser Strömung eine slawische Identität unter den Russen zu konstitu-ieren. Als Beispiel dafür kann man das Gedicht von Aleksandr Puškin „Klevet-nikam Rossii“ ansehen. Das Gedicht wurde nach dem polnischen Aufstand 1830geschrieben, als die westlichen Intellektuellen das Eingreifen Russlands kritisierten :„ Ostav~te: �to spor slav�n me�du sobo� / Domaxni�, stary� spor, u�

vzvexenny� sud~bo�,/ Vopros, kotorogo ne razrexite vy. [...] U�e davno

me�du sobo�/ Vra�du�t �ti plemena;/ Ne raz klonilas~ pod grozo� /

To ih, to naxa storona. / Kto ustoit v neravnom spore: /Kiqlivy� l�h,

il~ verny� ross? /Slav�nskie l~ ruq~i sol~�c� v russkom more? / Ono

l~ iss�knet? vot vopros.[...]“24

U.a. Hunczak25 weist auf die richtungsweisende Bedeutung des Gedichtes hin:„In these words Pushkin expressed what was to become the credo of the RussianPans-Slavists.“ Durch den Einfluss der deutschen Romantik sowie englischer undfranzösischer Philosophie entstand in Russland ab den 1820ern eine Gruppe vonLeuten, die als Slawophile bezeichnet wurden. Es lohnt sich, diese Gruppe in ih-ren Ansichten vorzustellen, weil die Slawophilen häufig mit dem Panslawismus inVerbindung gebracht wurden.

Den Vertretern dieser Denkrichtung lag zu Grunde, dass sie ähnlich europäischenDenkern wie de Maistre und Carlyle die Dekadenz und Oberflächlichkeit des moder-nen Europa kritisierten und ihren Blick „sehnsüchtig auf eine romantisch idealisierteVergangenheit“26 richteten. Im Sinne dieser Ablehnung der modernen europäischenGegenwart bezogen die Slawophilen Stellung gegen den Fortschritt und stellten diegeistige russische Isoliertheit als Vorbild und den russischen Bauern als dem westli-

23Kohn, Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus, S. 117.24Aleksandr S. Puškin. Izbrannaja lirika. Izdat. Paritet, 2008, S. 282.25Taras Hunczak. Russian imperialism from Ivan the Great to the revolution. Rutgers Univ. Press,

1974, S. 89.26Kohn, Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus, S. 120.

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chen Bürger überlegen dar. Ein darauf und auf dem Glauben beruhendes Sendungs-bewusstsein, das dem polnischen Messianismus sehr ähnlich war, wurde innerhalbdes Staates zum Teil unterstützt, wenn auch vielleicht unbewusst. Sergej Uvarovpropagierte 1833 seine drei Prinzipien der Orthodoxie, Autokratie und narodnost’.Dabei war die Orthodoxie neben der narodnost’ ein wichtige Basis in dem Strebennach einer „konservativen Utopie“27 der Slawophilen.Die slawophilen Intellektuellen entwickelten sich ab den 1830ern immer mehr zu

den Befürwortern eines russischen Panslawismus, der in der Forschung von Kohn28

und Hunczak29 mit einem Panrussismus gleichgesetzt wird.Einer, der diese russische Hegemonialstellung innerhalb der slawischen Gemein-

schaft propagiert hat, war der Moskauer Professor Michail P. Pogodin. Er war, wasdie politischen Umrisse des Panslawismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundertsangeht, der herausragendste Slawophile. Zumindest wird er bei Nicoll30 als einerder ersten slawophilen Befürwortern des Panslawismus beschrieben: „The were a fewRussians who personally bridged the transition to Panslavism. Mikhail P. Pogodinwar, perhaps, Russia’s first real modern Panslavist.“

Pogodin sah in den Slawen eine Einheit, in der allerdings die Russen die Mehrheitbildeten. Er äußerte seine Gedanken zur slawischen Einheit 1838 in einem Brief aneinen Beamten im Erziehungsministerium: „Ein Volk von 60 Millionen und bald [...]100 Millionen zählen wird. Dieser Zahl laßt uns noch die dreißig Millionen Brüderund Vettern hinzufügen, die Slawen, in deren Adern das gleiche Blut fließt wie inunseren, die die gleiche Sprache sprechen wie wir und deshalb, einem Naturgesetzfolgend, wie wir fühlen, die Slawen, die trotz geographischer und politischer Tren-nung durch Ursprung und Sprache eine geistige Einheit mit uns bilden [..].“ Nachdieser Konstruktion einer slawischen Einheit proklamierte er eine Universalmonar-chie unter dem russischen Zaren: „ Und bedenkt, dass diese Maschine ... von ihrenVorfahren her nur einem einzigen Gefühl belebt ist: Ergebenheit, grenzenloses Ver-trauen und Hingabe an den Zaren, ihren Gott auf Erden.“31 In diesem Satz äußertesich der religiöse Aspekt der primär orthodoxen Religion in einem künftigen slawi-schen Reich, da der Zar den orthodoxen Glauben hatte.

Neben Pogodin gab es weitere Slawophile, die einen russisch-dominierten Pansla-wismus vorschlugen. Einer dieser Slawophilen war Ivan S. Aksakov. Seine Ansichtenwaren ebenfalls stark durch den Gedanken einer Universalmonarchie geprägt, in dersich die anderen slawischen Völker dem orthodoxen Glauben anschließen und die

27Andrzej Walicki. “Die Beziehungen L. Štúrs zu den russischen Slawophilen”. In: L’udovít Štúrund die slawische Wechselseitigkeit. Gesamte Referate und die integrale Diskussion der wissen-schaftlichen Tagung in Smolenice, 27. - 29. Juni 1966, S. 408.

28Kohn, Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus.29Hunczak, Russian imperialism from Ivan the Great to the revolution.30G. Douglas Nicoll. “Panslavism”. In: The Modern Encyclopedia of Russian and Soviet History

26, S. 232.31Pogodin o.J. zit. n. (Kohn, Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus,

S. 128)

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russische Sprache übernehmen sollten.32

Ein besonderer slawophiler Denker war der Dichter Fedor I. Tjučev, weil er dasslawophile Sendungsbewusstsein ergänzte um die Verknüpfung des religiösen Aspek-tes mit der Wiedereroberung Konstantinopels: „ [...] Fedor I. Tiuchev melded themessianic Orthodoxy of the Slavophiles and Pogodin’s Panslavism in poems and ar-ticles which envisioned an eventual Slavic triumph in a great empire centered aroundthe „reconquest“ of Constantinople.“33

Der Kreis von slawophil-gestimmten Menschen beschränkte sich natürlich nichtnur auf die Erwähnten. Es gab weitere Denker wie Chomjakov und Ivan Kireevskij.Diese waren innerhalb der Bewegung sogar als führend anzusehen,34 doch waren diesein der Rezeption der Slawophilen als Panslawisten nicht entscheidend. Pogodin sowieTjučev waren die hauptsächlichen Vertreter des Panslawismus, der in Russland vorallem nach dem verlorenen Krim-Krieg in der Gesellschaft eine größere Rolle zuspielen begann.

2.3 Polnischer Messianismus

Die Polen hatten eine gewisse Sonderstellung innerhalb der slawischen Gemeinschaft.Zum einen wurde Polen von drei Mächten, nämlich Russland, Preußen und Öster-reich, aufgespalten und zum anderen wurde das Schicksal der Polen von Westeuro-päern wie das kaum eines anderen slawischen Volkes verherrlicht und idealisiert. DiePolen selbst sahen sich aber bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nicht vorrangigals ein slawisches Volk an. Erst mit der Enttäuschung auf dem Wiener Kongress, alsPolen, nach der Niederlage der Franzosen, wieder unter die Herrschaft der umgeben-den Mächte kam, wurde eine Rückbesinnung auf die Vergangenheit unternommen.Je stärker die Repression im russischen Gebiet wurde, desto stärker wuchs auchder polnische allslawische Gedanke als Gegengewicht zu Russland und auch gegenPreußen.35 Die polnische Ausprägung der panslawischen Idee nannte sich im GanzenMessianismus, ein Begriff, der vom polnischen Philosophen Josef Hoëné-Wronski um1830 verwendet wurde.

Nicht nur Hoëné-Wronski hat den Messianismus geprägt; gerade bei den Philoso-phen, die im 19. Jahrhundert geboren wurden, wurde dieser Begriff weiterentwickeltund durch mehrere Dichter in der Gesellschaft verankert. Gleichwohl unterschiedensich die Ausprägungen des Messianismus in Polen oder, besser gesagt, bei den Polen.Denn tatsächlich entwickelten sich die Grundzüge des polnischen Messianismus nuram Anfang auf dem Gebiet Polens. Mickiewicz, der berühmteste polnische Dich-ter, war zum Beispiel nicht in Polen geboren, sondern in Litauen und verbrachte

32Nicoll, “Panslavism”, S. 232.33Ebd., S. 232.34Kohn, Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus, S. 132.35Svetlana M. Fal’kovič. “Die polnische Nationalbewegung zwischen Panslavismus, Pangermanis-

mus und Austroslavismus”. In: Osteuropäische Geschichte in vergleichender Sicht, S. 252.

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einen bedeutenden Teil seines Lebens im Ausland, vornehmlich in Paris, wie auchein Großteil der polnischen Intelligenz.36

Die Einstellung zu Russland hat bei Vertretern des Messianismus dabei eine ent-scheidende Rolle gespielt. Bei den frühen Philosophen wie Stanisław Staszic undHoëné-Wronski wurde Russland eine führende Rolle bei der Vereinigung der sla-wischen Völker zugemessen und trotz der unterschiedlichen Konfession betrachteteman Russland als „ein Bollwerk göttlichen Rechts“ (Kohn 1956, 40). Ähnlich denAnsichten der russischen Slawophilen steht der Inhalt des Messianismus auch imGegensatz zur westlichen Welt. Stazsic kritisierte den Westen auf zweierlei Weise,zum einen nahm er Bezug auf die zunehmende Säkularisierung, also die Trennungzwischen Staat und Kirche und zum anderen auf die Demoralisierung durch dieEroberungsfeldzüge des Westens.37 Die Slawen dagegen konnten die “absolute, voneinem Slawen aufgestellte Philosophie realisieren und durch die Einheit von Staatund Kirche, von Vernunft und Glauben, die sozialen Antinomien lösen“ 38.Im Verlauf der 1830er veränderte sich die polnische Sichtweise auf die anderen Sla-

wen. Am Anfang dieser Periode stand der Aufstand von polnischen Nationalisten,der von russischen Truppen niedergeschlagen wurde. Die Zeit danach war mit ei-nem Exodus von vielen tragenden Persönlichkeiten des geistigen Lebens verbunden,so zum Beispiel mit den drei wichtigsten polnischen Dichtern des 19. Jahrhunderts:Mickiewicz, Krasinski und Slowacki. Hauptsächlich wanderten diese Dichter in west-europäische Länder aus, zumeist mit dem Ziel Frankreich und hier vor allem Paris. Inder Zeit nach 1830 waren die Dichter und ein Großteil der Bildungselite gegen Russ-land eingestellt,39 es wuchs aber auch die Abneigung gegen die anderen slawischenVölker, besonders gegen die Tschechen, weil diese in den westlichen Liberalismuseingebunden waren und von ihnen auch der liberale Austroslawismus ausging. Inden Vorstellungen von Mickiewiecz und anderen Messianisten dominierte dagegenein Bild von den Slawen als Bauern ohne die westlichen Einflüsse, deren gesellschaft-liche Harmonie auf der Religion basierte.40 In den 1840ern äußerte Mickiewicz denAnspruch des Messianismus, die slawischen Völker anzuführen und begründete diesmit biblischen Motiven: „Jetzt werden Sie auch erkennen, warum die polnische Na-tion näher bei der Wahrheit steht als irgendein anderes slawisches Volk, weil dieOffenbarung Christi immer der Maßstab für alle die sein wird, die ihm folgen, weiles bloß einen Weg zur Wahrheit gibt: den Weg des Kreuzes.“41

Damit richtete sich der Messianismus gegen die übrigen slawischen Völker, wie

36Sabine Brächter. Messianismus – Grundstrukturen einer Geisteshaltung, exemplifiziert anhanddes Marxismus und des polnischen Messianismus. 2010. url: http://petertepe.de/mim/journalMIM/band01/SB_messianismus.htm (besucht am 28. 02. 2012).

37Kohn, Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus, S. 39.38Staszic o.J. zit. n. (ebd., S. 40)39Fal’kovič, “Die polnische Nationalbewegung zwischen Panslavismus, Pangermanismus und Aus-

troslavismus”, S. 252.40Kohn, Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus, S. 50.41Mickiewicz 1914 zit. n. (ebd., S. 54)

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es sich dann auf der ersten panslawischen Zusammenkunft 1847 in Prag offenbarte.Dort dominierte ein Konzept des Austroslawismus, das die „Umwandlung der Habs-burgermonarchie in eine slawisch-österrreichische Föderation vorsah“,42 die aber diepolnischen Gebiete unter russischer und preußischer Herrschaft nicht einschloss. DasZiel der Polen, ihren Staat wiederherzustellen, war auf dem austroslawisch dominier-ten Kongress kein Thema, dessen sich die österreichischen Slawen annehmen wollten.Der Prager Kongress stand sogar „in scharfen Gegensatz zu den polnischen Unabhän-gigkeitsbestrebungen [...]“43 . Für die Polen sollte zuerst der polnische Staat wieder-hergestellt werden und dann eine Föderation der Slawen in Mitteleuropa geschaffenwerden. Durch die Größe Polens hatten aber die Tschechen Angst vor einer domi-nierenden Rolle Polens, besonders in Bezug auf ein Gebiet, das historisch-rechtlichzum tschechischen Gebiet gehörte, kulturell aber eher polnisch geprägt war, näm-lich Schlesien und hier die Region um Teschen (heutiges Cieszyn). Die Vertreterdieser Region argumentierten auf dem Kongress im Sinne der polnischen Positionund lösten deswegen „ein gewisses Mißverständnis in den polnisch- tschechischenBeziehungen“44 aus. Eigentlich spiegelte sich auf dem Kongress in Prag eine Hoff-nung auf Verständigung der Slawen wider. Von der polnischen Gesellschaft wurdeder Kongress aber mit der Hoffnung auf die Wiederherstellung ihres Staates undeiner gewissen Hoheit gegenüber anderen Nationalitäten, wie den Ukrainern ver-bunden. Gegen diese Ansichten richteten sich die übrigen Slawen. Bei den polni-schen Intellektuellen wurde der Kongress mit all seinen verschiedenen und zum Teilanti-polnischen Positionen als negativ für das polnische Ziel einer Unabhängigkeitangesehen und in der Folge wurde „das Gefühl der Solidarität mit den slawischenVölkern abgeschwächt und feindselige Haltungen verstärkt“.45

2.4 Südslawischer Illyrismus

Infolge der aufkommenden pannationalen Bewegungen in Europa am Anfang des 19.Jahrhunderts haben sich auch bei den Südslawen Ideen zur übergreifenden Identitätentwickelt. Hier soll auf die illyrische Bewegung eingegangen werden, die besonderswirksam bei den Kroaten war.

Die Südslawen als Ganzes hatten zu Beginn des 19. Jahrhundert einige Besonder-heiten im Vergleich zu den anderen Slawen. Zum einen waren sie von den übrigenslawischen Stämmen getrennt. Im Norden siedelten die Deutsch-Österreicher und ineinem Gürtel trennten weiterhin die Ungarn und die Rumänen südslawische Stämmewie die Serben und Bulgaren von den West- und Ostslawen.

Es steht fest, dass die erste Idee einer slawischen Einheit zuerst im 17. Jahrhundert

42Antoni Cetnarowicz. “Die Polen und der Prager Slavenkongreß”. In: Der Prager Slavenkongreß,S. 103.

43Ebd., S. 110.44Ebd., S. 112.45Ebd., S. 114.

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von einem Südslawen, dem Jesuiten Juraj Križanić, entwickelt wurde. Er stellte sicheine auf Multikonfessionalität basierende Vereinigung von den verschiedenen Kirchender Slawen vor, so zum Beispiel der lutheranischen Richtung bei den Slowaken,der orthodoxen bei den Russen und der katholischen Kirche bei den Slowenen undKroaten.46 Seine Schriften blieben aber in der Genese der panslawischen Identität im19. Jahrhundert unberücksichtigt. Wichtiger waren für den Illyrismus die Ansichtenvon Ján Kollár. Denn er hatte die südslawischen Völker sprachlich zusammengefasstund in seinen Schriften die Verbindung zum antiken Volk der Illyrer hergestellt.47

Eine politische Tendenz wurde bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts innerhalbder Napoleonischen Kriege deutlich, als die Franzosen eine sogenannte IllyrischeProvinz gründeten, wo sich die Slowenen, Kroaten und Serben in einem gemeinsamenhalbstaatlichen Gebilde wiederfanden. Die Reformen, die die französischen Verwalterim Hinblick auf die Schaffung einer gemeinsamen Nationalität unternahmen, warenaber mit einigen Schwierigkeiten verbunden: Der Begriff Illyrismus wurde zwar oftverwendet, aber sein Inhalt wurde von den verschiedenen slawischen Völkern jeweilsanders betrachtet. Die Slowenen hielten sich für die wahren Illyrer und bestanden inder Diskussion auf ihren eigenen Dialekt und die Kroaten waren wiederum für ihreneigenen Dialekt als übergeordnete Sprache.48

Zu einem wichtigen Impulsgeber der illyrischen Bewegung wurde Ludevit Gaj.Er war ein kroatischer Schriftsteller und wurde bei seinen Aufenthalten in Böhmenvon dem zuvor erwähnten Kollár beeinflusst. Kollárs Ansichten, dass die südslawi-schen Stämme kulturell eine Einheit bildeten, wurden von ihm in der Hochzeit desIllyrismus in den 1830ern in einigen einflussreichen Zeitungen vertreten. Der NameIllyrer wurde für sein Konzept gewählt, da man den Südslawen keinen der nationalenNamen (Serben oder Kroaten) aufdrängen wollte.49

In Kroatien fand der Illyrismus viele Anhänger, da dieser als Konzept die Kroatenin den Mittelpunkt der Südslawen stellte und dem aufkommenden Nationalismusder Ungarn ein Konzept entgegenstellte, in dem die Slawen als Einheit auftraten.Innerhalb der anderen südslawischen Völker stieß der kroatisch geprägte Illyrismusaber auf Widerstand. Denn er verdeckte die Besonderheiten der Slawen mit ihrerunteschiedlichen Geschichte und Sprache.

Die Slowenen beispielsweise befanden sich nicht innerhalb der ungarisch dominier-ten Hälfte Österreichs, sondern in der von den Deutsch-Österreichern beeinflusstenHälfte des Reiches, womit der steigende ungarische Nationalismus die Slowenen nichtberührte. Außerdem war es auch eine Zeit für die Slowenen, in der mehrere heraus-ragende Dichter und Gelehrte hervortraten, so zum Beispiel France Prešeren, Janez

46Nicoll, “Panslavism”, S. 232.47Jaroslav Šidak. “Der Illyrismus – Ideen und Probleme”. In: L’udovít Štúr und die slawische

Wechselseitigkeit. Gesamte Referate und die integrale Diskussion der wissenschaftlichen Tagungin Smolenice, 27. - 29. Juni 1966, S. 65.

48Kohn, Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus, S. 62.49Šidak, “Der Illyrismus – Ideen und Probleme”, S. 75.

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Bleiweis, Fran Levstik und Jernej Kopitar, die sich an der Herausbildung eines slo-wenischen Nationalbewusstseins beteiligten. Die Tendenz in der Bildungselite gingbei den Slowenen in Richtung einer liberaleren und demokratischen Konzeption derslawischen Zusammenarbeit, nämlich zum Austroslawismus.50 Und nicht zuletzt warfür die Slowenen die Sprache der Kroaten und Serben nicht nah genug an ihrer, so-dass die „sprachliche Grundlage in der Ideologie des Illyrismus auch in dieser Hinsichtals nicht genügend reale zeigte“.51

Auch die anderen großen südslawischen Völker waren eher gegen die illyrischeKonzeption der Kroaten. Denn bei allen Völkern kamen in der ersten Hälfte des19. Jahrhunderts bedeutende Dichter auf, die das eigene Nationalitätsbewusstseinstärkten, so zum Beispiel bei den Serben Branko Radičević oder Ðura Jakšić.

Eine slawische Einheit scheiterte auch an den historischen Eigenheiten der Völ-ker. Beispielsweise wurde das Nationalbewusstsein der Serben in den NapoleonischenKriegen gestärkt: der serbische Kampf unter Ðorđe Petrović und Miloš Obrenovićgegen die unterdrückenden Mächte wurde zu einer nationalen serbischen Legende.Dies trug dazu bei, dass bei den Serben schon „zu Anfang des (19.)Jahrhunderts einStaatskern entstand, der schon durch sein Bestehen allein zum anziehenden Zentrumfür das serbische Volk werden musste“.52 Weiterhin gab es zwischen den einzelnensüdslawischen Völkern Konflikte um Einfluss auf kleinere Völker, wie auf die Bosni-er, denen eine nationale Identität fehlte und die wegen ihrer Multikonfessionalitätzum Streitpunkt zwischen den orthodoxen Serben und den katholischen Kroatenwurden. Ein anderes Beispiel für die Unstimmigkeiten zwischen den Südslawen wardas Gebiet Mazedoniens. Dieses wurde zugleich von den Bulgaren und den Serbenfür sich beansprucht und beide Völker bauten es in ihre eigene Geschichte ein.

Der Gedanke des Illyrismus, der eine Gleichberechtigung der slawischen Völkerpropagierte, scheiterte also an der politischen Realität. Dies zeigte sich sehr deutlichin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als auch die Serben und die Bulgarenübernationale Ambitionen entwickelten. Die Bulgaren strebten zum Beispiel in derzweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Großbulgarien an. Die politische Führungs-riege der Serben wollte dagegen selbst das Zentrum der südslawischen Völker werdenund ein Großserbisches Reich errichten.53

50Kohn, Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus, S. 64.51Šidak, “Der Illyrismus – Ideen und Probleme”, S. 81.52Ebd., S. 77.53Ebd., S. 84.

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Schlussbetrachtung 16

Schlussbetrachtung

Zusammenfassung

Welchen Eindruck gewinnt man in der vorliegenden Arbeit vom Panslawismus? Mankönnte unter Berücksichtigung der vielfältigen Ausprägungen dieser Idee der fol-genden Charakterisierung eines Historikers Rechts geben: „A tendency among thepeoples of the slavic world to manifest their ethnic ties. Although there were ear-lier expressions, modern Panslawism emerged in the nineteenth century in severalunsystematic and partially conflicting forms.“54

Man kann diese recht abstrakte Definition in der dargelegten Arbeit mit Inhaltversehen. Wir können tatsächlich sehen, dass jede Ausprägung durch einzelne Leutegeschah, die zwar zumeist einen gemeinsamen Bezugspunkt hatten (nämlich Herder),die aber in der politischen Phase in den 1830ern allesamt eigene Konzeptionen entwi-ckelten, die manchmal einander auch widersprachen oder miteinander konkurrierten.Außerdem stützten die Denker der panslawischen Strömungen ihre Konzepte zumeistauf bestimmten Idealen oder religiösen Argumenten. Das passierte besonders bei denPolen in ihrem Messianismus und beim russischen Panslawismus. Es bestätigt sichdadurch die unsystematische Form. Dass der Panslawismus als Ganzes gesehen auchKonflikte gefördert hat, sieht man ebenfalls im Vergleich der Konzepte. Wenn mansich zum Beispiel den Austroslawismus und den polnischen Messianismus anschaut,liegt die Unvereinbarkeit in dem Wunsch der Austroslawisten Österreich zu erhal-ten und Gleichberechtigung unter den Slawen zu fördern, während die polnischenMessianisten eine Wiederherstellung Polens mit dem österreichischen Teil Galiziensanstrebten. Dieses Ziel war mit dem Erhalt Österreichs nicht vereinbar. Außerdembeanspruchten die Polen die Führung in einer panslawischen Gemeinschaft, was wie-derum der Gleichberechtigung, die Palacký geäußert hat, widersprach. Zudem seiennoch die beschriebenen Streitigkeiten territorialer Art um Schlesien genannt. Mankann eigentlich jede Bewegung einer anderen entgegenstellen, so auch die Polnischeder Illyrischen. Während die Kroaten in den Ungarn ihre Gegner sahen, identifizier-ten sich die Polen mit dem Streben der Ungarn nach einem Nationalstaat. Schautman sich beispielsweise den russischen Panslawismus mit seinen slawophilen Ver-tretern an, steht er im Gegensatz zum Austroslawismus. Denn Pogodin redet einerUniversalmonarchie das Wort, während der austroslawische Wortführer Palacký ge-rade auf der Ablehnung des russischen Zaren den Austroslawismus formt.

Stellungnahme

Die panslawischen Ausprägungen übersahen also die Realität, weil sie dem diffe-renzierten Charakter der slawischen Völker nicht genug Beachtung schenkten. Die

54Nicoll, “Panslavism”, S. 232.

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Schlussbetrachtung 17

slawischen Völker waren im Begriff ihren eigenen Nationalmythos zu begründen, wasman an der Vielzahl an nationalen Dichtern in der 1. Hälfte des 19. Jahrhundertswie Mickiewicz, Puškin und Prešeren sieht.

Weiter denke ich, dass diese Arbeit Aufschluss im Hinblick darauf gibt, wieso derPanslawismus niemals zur offiziellen Politik des Zarenreiches wurde. Neben einerbeschriebenen Tendenz, dass am Hof und in der Politik häufig Russen mit auslän-dischen Wurzeln anzutreffen waren, spiegelt sich ein außenpolitischer Pragmatismusim Denken der Herrscher Russlands in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wider. Dersowjetische Historiker Koz’menko55 formulierte das in Bezug auf die Balkanstaa-ten so: „V Peterburge ponimali [...] slabost~ balkanskih stran, kotorye,

id� vmeste s Rossie�, nu�dalis~ v ee podder�ke i malo qem mogli po-

moq~ e�.“ Außerdem gab es durch die vielfältigen Ausprägungen des Panslawismusin den slawischen Völkern eigentlich keine Perspektive für ein geeintes slawischesReich unter russischer Führung. Die in der russischen Gesellschaft vorherrschendenpanslawischen Ideen wie zum Beispiel bei Pogodin konnten bei den anderen Slawenkeine Begeisterung auslösen. Jede Tendenz von Russland aus die eigene panslawischeIdee zu verwirklichen, musste zu einer slawischen Gegenbewegung führen, wie manam Beispiel des Austroslawismus und seiner Ablehnung der Hegemonie Russlandssieht.

Es ist aber auch allgemein fraglich, welche Gemeinsamkeiten die slawischen Völkerverbanden und welche überhaupt für einen Zusammenschluss geeignet waren. Diehäufig benutzten Begriffe der verwandten Sprache oder der Religion erscheinen indieser Hausarbeit ungeeignet, was man an der Ablehnung des Illyrismus durch dieSerben, obwohl sie sich mit den Kroaten praktisch die gleiche Sprache teilten, merkt.Nicht zuletzt war ein Zusammenschluss von den beiden orthodoxen Völkern derSerben und Bulgaren ebenfalls unvorstellbar.

Der Austroslawismus als aussichtsreichste Idee des Panslawismus basierte dem-gegenüber nicht auf Religion oder Sprache, sondern auf der politischen Gemein-samkeit, dass jedes einzelne slawische Volk eine Minderheit war, alle gemeinsamaber eine Mehrheit. Als einzelne Minderheiten fürchtete man die Übermacht derDeutschen und der Ungarn; als Mehrheit wollte man einen demokratischen und fö-derativen Staat gemeinsam mit den nicht-slawischen Völkern aufbauen. Dass derVerwirklichung dieses Konzeptes nach der Entwicklung Österreichs zur Doppelmon-archie 1867 keine Zukunft beschieden war, könnte eine der Ursachen für den ZerfallÖsterreich-Ungarns nach dem 1. Weltkrieg sein.

55I.V. Koz’menko. “D. Makkenzi. Serby i russkij panslavizm. 1875-1878”. In: Voprosy Istorii (1969),S. 191.

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Schlussbetrachtung 18

Ausblick

Die vorliegende Hausarbeit hat ein breites Spektrum der panslawischen Ideen um-fasst. Allerdings stellt die Hausarbeit nur einige Ausprägungen und Ansichten dar,auf denen auch die Forschergemeinde Schwerpunkte gesetzt hat. Trotzdem gibt esweitere Ansichten und Ideen, die in der Forschung nur eine kleine Rolle einnehmen,die aber gleichzeitig nicht minder interessant wären. Es mangelt zum Beispiel ander Darstellung der Weißrussen und der Ukrainer in der Periode des Panslawismus.Die einzige Ausnahme ist die Arbeit von Botušans’kyj,56 die allerdings auch nur dieUkrainer in Galizien darstellt, nicht die im Russischen Reich. Ich denke aber, dassin Zukunft den Ukrainern deutlich mehr Aufmerksamkeit seitens der Forschungs-gemeinde zu Teil werden wird, als der ich bei der Lektüre der Forschungsliteraturgewahr wurde.

Lohnenswert wäre es deshalb, weil es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundertseinen Höhepunkt des ukrainischen Nationalbewusstseins durch den Dichter TarasŠevčenko und der Kyrillo-Methodianischen Bruderschaft gab; in der westeuropäi-schen Forschungsliteratur wurde dieser Teil der ukrainischen Geschichte noch nichtuntersucht. In Bezug auf den Zeitraum dieser Hausarbeit wären aber die Ansichtender ukrainischen Intellektuellen zur panslawischen Idee sehr interessant. Es wärewohl fahrlässig von mir von einem Desiderat in der Forschung zu sprechen, weil mei-ne Recherche sich größtenteils nur auf die deutsche, russische und englische Literaturbeschränkte; die ukrainische, polnische oder bulgarische Literatur konnte ich wegender begrenzten sprachlichen Möglichkeiten nicht nutzen. Ebenso habe ich nur wenigüber die Weißrussen gelesen. Es wäre ein spannendes Thema zu untersuchen, inwie-fern die Weißrussen vom Panslawismus beeinflusst wurden. Man müsste das auchmit der Frage verknüpfen, wie eigentlich die weißrussische oder die ukrainische Ge-sellschaft zu der Zeit aussah. Und welche Auswirkungen hatten die westeuropäischenStrömungen auf die Weißrussen und die Ukrainer?

Es wäre generell ein interessantes Thema zu verfolgen, wie sich eine gebildeteSchicht in den einzelnen slawischen Völkern entwickelte, welche Faktoren dafür aus-schlaggebend waren und welche Ansichten diese Intellektuellen vertraten. In Bezugauf bestimmte Völker wie die Tschechen und die Slowaken scheint die Forschungfortgeschritten zu sein, andere, kleinere Völker wie die Sorben, Russinen und Ma-zedonier wurden nach meinem Eindruck bisher noch nicht zum Gegenstand derForschung gemacht.

56Vasyl’ M Botušans’kyj. “Die Ukrainer und der Prager Slavenkongreß”. In: Der Prager Slaven-kongreß.

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Literatur 19

Literatur

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Botušans’kyj, Vasyl’ M. “Die Ukrainer und der Prager Slavenkongreß”. In: Der Pra-ger Slavenkongreß (siehe S. 18).

Brächter, Sabine. Messianismus – Grundstrukturen einer Geisteshaltung, exemplifi-ziert anhand des Marxismus und des polnischen Messianismus. 2010. url: http://petertepe.de/mim/journalMIM/band01/SB_messianismus.htm (besucht am28. 02. 2012) (siehe S. 12).

Busek, Erhard. “Einführung”. In: Der Prager Slavenkongreß (siehe S. 7).Cetnarowicz, Antoni. “Die Polen und der Prager Slavenkongreß”. In: Der PragerSlavenkongreß (siehe S. 13).

Fal’kovič, Svetlana M. “Die polnische Nationalbewegung zwischen Panslavismus,Pangermanismus und Austroslavismus”. In: Osteuropäische Geschichte in verglei-chender Sicht (siehe S. 11–12).

Hahn, Hans Henning. “Der Austroslawismus. Vom kulturellen Identitätsdiskurs zumpolitischen Konzept”. In: Osteuropäische Geschichte in vergleichender Sicht (sieheS. 6).

Herder, Johann Gottfried. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit.Aufbau-Verl., 1965 (siehe S. 4).

Hunczak, Taras. Russian imperialism from Ivan the Great to the revolution. RutgersUniv. Press, 1974 (siehe S. 9–10).

Kohn, Hans. Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus. Herold,1956 (siehe S. 5, 8–12, 14–15).

Koz’menko, I.V. “D. Makkenzi. Serby i russkij panslavizm. 1875-1878”. In: VoprosyIstorii (1969) (siehe S. 17).

Moritsch, Andreas. “Austroslavismus. Ein verfrühtes Konzept zur politischen Neu-gestaltung Mitteleuropas?” In: Der Austroslavismus : ein verfrühtes Konzept zurpolitischen Neugestaltung Mitteleuropas (siehe S. 7).

– “Revolution 1848 – Österreichs Slaven wohin?” In: Der Prager Slavenkongreß (sie-he S. 7).

Nicoll, G. Douglas. “Panslavism”. In: The Modern Encyclopedia of Russian and So-viet History 26 (siehe S. 10–11, 14, 16).

Orton, Lawrence D. The Prague slav congress of 1848. East European Quarterly[u.a.], 1978 (siehe S. 5).

Osterrieder, Markus. Johann G. Herder und die Slaven. 2000. url: http://www.celtoslavica.de/bibliothek/herder_slaven.html (besucht am 28. 02. 2012)(siehe S. 5).

Pokorný, Jiri. “Die Polen und der Prager Slavenkongreß”. In: Der Prager Slavenkon-greß (siehe S. 8).

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Literatur 20

Puškin, Aleksandr S. Izbrannaja lirika. Izdat. Paritet, 2008 (siehe S. 9).Troebst, Stefan. “Slavizität. Identitätsmuster, Analyserahmen, Mythos”. In: Osteu-ropa (2009) (siehe S. 2).

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Šidak, Jaroslav. “Der Illyrismus – Ideen und Probleme”. In: L’udovít Štúr und dieslawische Wechselseitigkeit. Gesamte Referate und die integrale Diskussion derwissenschaftlichen Tagung in Smolenice, 27. - 29. Juni 1966 (siehe S. 14–15).