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Der Spiegel 2014 24

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Der Chor der evangelischen St.-Nikolai-Gemeinde im Hamburger StadtteilHarvestehude ist riesig: 130 Sänger treffen sich jeden Donnerstagabend,

zurzeit studieren sie das von dem Komponisten Max Reger vertonte Vaterunserein. Redakteurin Susanne Beyer hat sich für die Titelgeschichte eine Chorprobeangehört. Sie wurde Zeugin eines Konflikts: Immer wieder müssen die Sängerdie Stelle „Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit“ üben,sie müssen Gott preisen, obwohl viele von ihnen mit dem tradierten Gottesbildder Bibel Probleme haben. „Die Religion mit dem Verstand nicht zusammen-bringen zu können, das ist ein Dilemma, in dem sich viele Gläubige heutzutagebefinden“, sagt Beyer. Moderne Philosophen haben das Problem erkannt. Siesuchen einen Ausweg, einige schlagen sogar einen Glauben ohne Gott vor. Beyerund ihr Kollege Romain Leick – sie protestantisch, er katholisch – sind in ihrerGeschichte dem Gedanken nachgegangen, ob eine Religion ohne Gott die Grenzezwischen Atheisten und Theisten aufheben könnte. Seite 58

Die Algorithmen derSuchmaschine Google

bestimmen, was der moder-ne Mensch wahrnimmt – undauch, was er nicht sieht. Des-halb gilt Google-ChairmanEric Schmidt als einer dermächtigsten Menschen derWelt, deshalb auch wird dieKritik an Google immer lau-ter. Die SPIEGEL-RedakteureClemens Höges, Marcel Ro-

senbach und Thomas Schulz trafen den Amerikaner mit deutschen Vorfahrenin der Londoner Google-Niederlassung, es ging um die NSA-Affäre, um Privat-sphäre im Netz und um den Vorwurf, Google erdrücke Konkurrenten. Zuvorerzählte Schmidt, warum er Angela Merkel so schätzt: Bei einem Empfang imWeißen Haus hätten sie geplaudert, sagte Schmidt – Merkel, Barack Obamaund er. Als er ein paar Feinheiten des Betriebssystems Android erklärte, habesein Freund Obama bald passen müssen. Mit der Physikerin Merkel hingegenhabe er reden können, sie sei einfach wunderbar rational. Viel mehr Länder,findet Schmidt, sollten von Naturwissenschaftlern regiert werden. Seite 70

Zweimal im Abstand von fünf Monaten besuchte Redakteurin

Barbara Hardinghaus den Gazastreifen,Teil der palästinensischen Autono -miegebiete. Sie wollte die Geschichte zweier Teenager erzählen, die geheira-tet hatten, weil sie hofften, als Eheleuteein besseres Leben zu führen: Bräuti-gam Ahmed war 15, Tamara, die Braut,14 Jahre alt. Wie sehr die politischeLage das Leben im Gazastreifen ein-schränkt, erfuhr Hardinghaus bei derEinreise. Weil in Israel drei Feiertage hintereinander lagen, blieb auch der Check-point Erez drei Tage lang geschlossen, sie musste früher anreisen. Während derFeiertage leeren sich die Regale in den Geschäften, vor den Tankstellen bildensich Schlangen. Wenn der Kontrollpunkt Ferien macht, können weder Benzinnoch Lebensmittel nach Gaza gelangen. Seite 52

3DER SPIEGEL 24 / 2014

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Betr.: Titel, Google, Gaza

Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung

Das deutsche Nachrichten-Magazin

Ahmed mit Schwester, Hardinghaus

Rosenbach, Schulz, Schmidt, Höges in London

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6 Titelbild: Fotos: AKG, Reuters

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UnbequemeFreundeEuropa Der Streit um den neuen EU-Kommissionschef erfasst jetzt auch die Große Koalition. Die Kanzlerin scheintentschlossen, den SPD-Spitzen-kandidaten Martin Schulz als deutschen Kommissar zuverhindern. Das sorgt für Ärger beim Koalitionspartner.Aber es ist ein Weg, die Britenin der EU zu halten. Und dasist Merkel wichtiger. Seite 20

Steuerfahnder jagen SchwarzerErmittlungen Durchsuchungbei Alice Schwarzer: Staats -anwälte und Finanzbeamte gehen Hinweisen nach, dass die Feministin weit mehr Steu-ern hinterzogen haben könnteals in ihrer Selbstanzeige an gegeben – die wäre damitwertlos. Droht der Emma-Heraus geberin nun ein Straf-verfahren? Seite 32

Angezählter WüstenstaatKorruption Auf den Baustellen Katars schuften Wanderarbeiterunter unwürdigen Bedingungen. Sie errichten Hochhäuser inDoha und die Stadien für die Fußball-WM 2022. Ob das Groß -ereignis im Emirat ausgetragen wird, ist nach neuen Korruptions-vorwürfen jedoch nicht mehr sicher. Wagt es der WeltverbandFifa, dem Wüstenstaat das Turnier zu entziehen? Seiten 96, 108

Joachim Löws MasterplanFußball Das Spiel hat sich ge-wandelt, eine WM stellt an -greifende Teams vor neue Pro-bleme. Abwehrreihen seien oft„wie ein Bollwerk zusammen -gestellt“, sagt BundestrainerJoachim Löw, der den SPIEGELan seinen strategischen Über -legungen für Brasilien teilhabenlässt. Sein Plan: überfallartigeAttacken. Seite 104

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In diesem Heft

7DER SPIEGEL 24 / 2014

Hillary Clinton,

ehemalige First Lady und US-Außenministerin, gilt alssichere Präsidentschafts -kandidatin der Demokratenim Jahr 2016. Hat sie aus ihrer Niederlage gegen BarackObama gelernt? Seite 84

Eric Schmidt,

Chairman von Google, ver -teidigt sein Unternehmen gegen wachsende Kritik – undverspricht Besserung. „Wir haben verstanden“, sagt er imSPIEGEL-Gespräch. Seite 70

Lorde,

neuseeländische Sängerin, als Kind schon hochbegabt, bekam für ihren ersten Songzwei Grammys. Die 17-Jäh -rige ist ein Popstar neuenTyps: das Wunderkind, demkein Absturz droht. Seite 132

Titel

58 Religion Brauchen wireinen Gott, um zu glauben?

64 Atheismus Ungläubigegründen Kirchen in aller Welt

66 Interview Robert Spae-mann, Philosoph und Katholik,über Vernunft und Gott

Deutschland

14 Leitartikel Angela Merkelfällt in der Klimapolitik weitzurück

16 Fonds für Fluthilfe nicht

ausgeschöpft / Betreuungsgeld

untergräbt Bemühungen um

Chancengleichheit / Finanz -

berater pfuschen / Kolumne:

Die Klassensprecherin

20 Europa Kanzlerin Merkelwill die Briten um jeden Preisin der EU halten

23 Diplomatie Die Alten inder SPD kritisieren Steinmeiers neue Ostpolitik

25 Verteidigung Ursula vonder Leyen im SPIEGEL-Gespräch über die Verant -wortung der Bundeswehr in der Russland-Krise

30 Gehälter Warum der geplante Mindestlohn die Kulturschaffenden erzürnt

31 Karrieren Maike Kohl-Richter will allein über den Nachlass des Altkanzlersherrschen

32 Ermittlungen Neuer Ver-dacht gegen die Steuer-sünderin Alice Schwarzer

34 Verbrechen War der Neo-nazi Uwe Mundlos an einemweiteren Mord beteiligt?

38 Arbeitsmarkt Die Nöte undÄngste Langzeitarbeitsloser

42 Junge Union Ärger umMißfelder-Nachfolge

44 Zeitgeschichte Nach fast70 Jahren erfährt GerhardSchulz vom Schicksal seinesverschollenen Vaters

48 Internet Wie die Regierungdas freie WLAN rechtssicherer machen will

Gesellschaft

50 Sechserpack: Von Adenauer

bis Merkel – Fußball ist unser

Leben / Warum die Deutschen

immer dicker werden

51 Eine Meldung und ihre

Geschichte Ein Bürgermeisterschickt seiner Angestellten 15000 SMS in neun Monaten

52 Schicksale Die Ehe einesKinderpaares aus Gaza

57 Ortstermin Junge deutscheBauern messen sich im Leistungspflügen

Wirtschaft

68 Ukraine-Krise könnte

europaweite Rezession

aus lösen / Eintrittswelle beim

Eigentümerverband /

Etihad will Einfluss bei Air

Ber lin offenbar ausbauen

70 Internet SPIEGEL-Gesprächmit Google-Chef Eric Schmidtüber den Umgang mit Kritik und seinen Ärger überUS-Präsident Obama

74 Erdgasförderung Mit neuenFracking-Plänen stoßen die Niederländer die NRW-Regierung vor den Kopf

76 Finanzen Das vorzeitigeKündigen von Lebensver -sicherungen kann sich lohnen

78 Kriminalität Wie Betrügerbeim Handel mit Emissions-rechten Millionen vom deutschen Fiskus abzockten

80 Regierung Ausgerechnetim Finanzministerium habendie Juristen das Sagen

Ausland

82 Afghanische Milizionäre

kämpfen für Assads

Regime / Russland blockiert

Auslandsvermögen

ukrainischer Oligarchen

84 USA Kann Hillary Clintondie erste Präsidentin werden?

88 USA Deserteur oder Held?Der Austausch des von denTaliban gefangenen SoldatenBowe Bergdahl ist umstritten

90 Essay Der SchriftstellerAntonio Muñoz Molina siehtim Abtreten des Königs einSymptom der tiefen Enttäu-schung der Spanier über ihrenStaat und seine Institutionen

92 Syrien Ex-Uno-Sonderver-mittler Lakhdar Brahimiüber die hilflose Diplomatiegegenüber Damaskus

96 Katar Gastarbeiter sollenden WM-Traum aufbauen –und leben wie Sklaven

102 Global Village Warum dieEU einem finnischen Schnaps-brenner den Ålvados verbot

Sport

103 WM-Gegner planen Ran-

dale / Nada-Chefin Andrea

Gotzmann klagt über fehlende

Mittel im Anti-Doping-Kampf

104 Deutsche Mannschaft

SPIEGEL-Gespräch mit JoachimLöw über die richtige Spiel -weise beim Turnier in Brasilien

106 Transfermarkt Ein deut-scher Manager handelt in SãoPaulo mit Fußballtalenten

108 Fifa Droht Katar der Entzug der WM 2022?

8 Briefe

129 Bestseller

142 Impressum, Leserservice

143 Nachrufe

144 Personalien

146 Hohlspiegel / Rückspiegel

Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/briefkasten

Wissenschaft

110 Warum schon Kinder

Herzdruckmassagen

können sollten / Amelia

Earhart am Start

112 Archäologie Neu ent -deckte Felszeichnungen enthüllen die Wahrheit überdie grau same Welt der Komantschen

115 Raumfahrt Stress, Depressionen, nerviges Houston – Einblick in die Tagebücher der Astro -nauten

116 Skandale Wie sich einPhysikprofessor an den Forschungsmillionen der Max-Planck-Gesellschaft bediente

118 Psychologie Ein deutscherNeurowissenschaftler impft Psychopathen mittels Hirntraining Gefühle ein

120 Internet Programmiereraus Hannover wollen die sicherste Datenwolke derWelt entwickeln

Kultur

122 Bildband über Pro-

pagandaplakate der DDR /

Berliner Karneval der

Kulturen: Jetzt auch für

Veganer / Kolumne: Besser

weiß ich es nicht

124 Musik Die fragwürdigeRolle des großen KomponistenRichard Strauss in der Nazi-Zeit

130 Essay Wie das Netz unsere Identität verändert

132 Pop Die NeuseeländerinLorde macht Musik für den denkenden Teenager

134 Theaterkritik Jean Genets Skandalstück „Die Neger“ bei den Wiener Festwochen

Medien

137 Das Fernsehballett darf

nicht „DFB“ heißen / Verlage

untersuchen Leserverhalten

138 Sprachkritik Der AutorJürgen Roth über brüllendeKommentatoren und Dramatisierung im Fußball

141 Datenschutz Ein jungerÖsterreicher legt sich mitFacebook an – und hat Erfolg

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Farbige Seitenzahlen markieren die Themen von der Titelseite.

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Briefe

Paola trifft Ballauf in VenedigNr. 23/2014 Die „Tatort“-Republik – Warum Deutsch-

land jeden Sonntag einen Mord braucht

Da haben Sie mir wieder mal aus der Seelegesprochen beziehungsweise geschrieben!Ich bin auch ein Couch-Kommissar, jedeWoche wieder. Ist doch herrlich, das Strick-muster von Mord, Ermittler, Rätselratenund so weiter. Da weiß ich wenigstens,wo’s langgeht. Genauso wie bei der Volks-musik oder beim Quiz.Regina Hendel, Zwickau

Mit diesem herausragend komponiertenTitelbild hat der SPIEGEL das idiotisch in-flationär anmutende Fernsehszenario, dasauch noch an Wochenenden und Feierta-gen geboten wird, genau in die Tonne ge-treten, in die der Schwachsinn gehört! Elimar Hackmann, Achim

Der Anteil der weiblichen Ermittler ist –quantitativ wie qualitativ – wesentlich hö-her, als es das Titelbild glauben macht –sogar dann, wenn man den „Tatort“ alleinbetrachtet: Neben den von Ihnen gezeig-ten Ermittlerinnen Sibel Kekilli, MariaFurtwängler und Ulrike Folkerts gibt esnoch Nina Kunzendorf, Karin Anselm, Sa-bine Postel und Camilla Renschke, EvaMattes, Adele Neuhauser, Simone Tho-malla, Nora Tschirner – um nur einige zunennen. Ekkehard Grube, Dinslaken

Als „Tatort“-Zuschauer interessiert michvor allem der „Fall“ und seine Aufklärung.Zunehmend störend empfinde ich Rand-Handlungsstränge, die das Privatleben derKommissare betreffen. Gelegentlich hatman den Eindruck, dass solche Neben-handlungen nur nötig sind, um eine lahmeHaupthandlung „aufzupeppen“.Peter Roelecke, Calw

Warum Deutschland jeden Sonntag einenMord braucht? Antwort: Schon mal wasvom Talkshow-Quiz-Koller gehört? Ge-fährliche Sache!Renate Wolff, Königheim

Die gesellschaftliche Problematik, die mitder ungehemmt wachsenden Zahl von Kri-mis im Fernsehen verknüpft ist, scheintkaum einmal auf. Immerhin wird dasdurch sie vermittelte Gesellschaftsbild aneiner Stelle so zusammengefasst: „Trauniemandem, dem netten Nachbarn so we-nig wie deiner Ehefrau.“ Was hätte sich

allein aus diesem Satz machen lassen! Diegesellschaftliche Atomisierung – damitauch Entpolitisierung –, das übersteigerteUnsicherheitsgefühl, die Sehnsucht nachdem starken Staat – das alles und nochviel mehr hätte sich thematisieren lassen. Dr. Lothar Zieske, Hamburg

Auch wir bekennen uns zur großen „Tat-ort“-Familie und dazu, dass beim Zappendurch die dritten Fernsehprogramme unterder Woche Leichen unseren Weg pflastern.Die besten „Tatorte“ sind die, die Boden-ständigkeit vermitteln – das war so bei Fel-my in Essen, und das ist so in Köln undMünster. Unser Wunsch-„Tatort“ mussnoch gedreht werden und wäre ein Treffenmit Donna Leon. Etwa so: CommissarioBrunetti muss im Münsteraner Wiedertäu-fer-Käfig von Freddy Schenk befreit wer-den – oder aber: Paola trifft Ballauf in Ve-nedig, und Brunetti quittiert seinen Dienst.Die Einschaltquoten möchte ich sehen!Hans-Walter Scheffler, Wyhl am Kaiserstuhl

Jeden Sonntag zur familientauglichstenSendezeit ein neuer „Tatort“ oder „Poli-zeiruf“. Und nahezu täglich werden in al-len dritten Programmen ein, zwei oder gardrei ältere Folgen hintereinander abge -nudelt. Da kommen dann pro Abend zwi-schen 10 und 20 Menschen gewaltsam oderunnatürlich ums Leben. Leider trifft es nieeinen Programmverantwortlichen.Dr. Michael Meissner, Wanderup (Schl.-Holst.)

All dies ist anscheinend politisch so ge-wollt. Das Volk soll immer mehr verdum-men, so ist es leichter zu „führen“.Rainer Lorenz, Essen

8 DER SPIEGEL 24 / 2014

„Es heißt ja, die Deutschen sind ordnungsliebende Sicherheitsfanatiker.

Dann ist der ‚Tatort‘-Hype der Deutschen wohl die Kompensation dessen!“Sabine Krüger, Essen

Willkür bei GutachternNr. 22/2014 Nicht ohne meinen Sohn –

eine Mutter kämpft um ihr Kind

Einmal mehr legt der SPIEGEL den Fingerin eine offene gesellschaftliche Wunde. Zu-meist sind es ja bislang eher die Väter, dieso stiefmütterlich von Gerichten und Ju-gendämtern behandelt werden. Rudolf Treiblmayr, Lohnsburg (Österreich)

Wer bewahrt uns vor solchen Staatsanwäl-ten, Richtern und Gutachtern? Wer trägtdie Verantwortung mit Schadensersatz?Mein Eindruck ist: Fehler der Justiz wer-den kaum geahndet und zu Unrecht ver-urteilte „Täter“ nach einem Fehlurteilnicht voll rehabilitiert. Dieter Moll, Köln

Eine groteske HysterieNr. 22/2014 Das Abkommen mit den USA wird zum

Zankapfel in der Großen Koalition

Ihr Artikel ist ja fast schon ein Plädoyerfür das Freihandelsabkommen! Geht dasnicht ein wenig zu weit? Wenn es so über-aus segensreich sein soll: Warum werdendie Verhandlungen in konspirativer Heim-lichkeit ausschließlich von Beamten undLobbyisten geführt? Warum werden alleParlamente dabei strategisch umgangen?Warum nimmt die EU-Delegation hin, dassdie US-Seite durch ihre Abhöraktionenalle Positionen kennt und so bestens vor-bereitet ist? Warum entsteht wieder einmalder Eindruck, dass es allein um die In -teressen der Industrie geht und dass nie-mand ernsthaft an die Belange von Bür-gern und Verbrauchern denkt? Es wird nurwenige Reiche noch reicher machen.Wolfgang Schmidt, Lage/Lippe

Als Umweltmediziner und Hygienikerkann ich über diese groteske Chlorhühner -hysterie nur den Kopf schütteln. Habenwir nicht alle jahrzehntelang gechlortesWasser getrunken, trinken wir nicht immernoch auf Reisen ausgerechnet in die USAund in viele andere sogenannte zivilisierteLänder gechlortes Trinkwasser? Ist schonjemand daran gestorben? Die Amerikaneressen seit Jahren Chlorhühner, ist da schonjemand gestorben? Das Abkommen bringtwahrscheinlich viel größere Probleme alsausgerechnet die Chlorhühner.Prof. Dr. Franz Daschner, Freiburg

Dass ausschließlich die „Vorzüge“ der US-Standards des Freihandelsabkommens mitden USA dargestellt werden, ist unver-ständlich. Da kommt ein übler Beige-schmack auf, auch wenn es sich im Artikeldifferenzierter darstellt.Martin Weber, Leverkusen

Der Artikel beschreibt das Grunddilemma,dass Deutschland und Österreich einen unzeitgemäßen und übermächtigen Be -amtenstaat mit sich schleppen. Die Mög-lichkeit zu herrschaftlicher Willkür beiRichtern, Gutachtern und Jugendamtsmit-arbeitern ist ein zentraler Punkt. Es wirdZeit für eine Organisation wie die dänischeNGO Borgersagen auch bei uns inDeutschland, die Bürgern bei juristischenÜbergriffen des Staates zur Seite steht.Eine „[email protected]“ be-findet sich in Gründung.

Stephan Mögle-Stadel, World Citizen Foundation, New York

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Briefe

10 DER SPIEGEL 24 / 2014

Preis für paradoxes DenkenNr. 22/2014 Dampfen statt Rauchen –

wie schädlich sind Elektrozigaretten?

Sie sprechen mir aus der Seele – ich war35 Jahre lang starke Raucherin. Nicht ein-mal hatte ich auch nur daran gedacht, mitdem Rauchen aufzuhören, bis – ja bis icham 4. November 2011 meine erste E-Ziga-rette in Betrieb nahm. Ich erinnere michnoch genau an meinen damaligen Gedan-ken: „Wie geil ist das denn!“ – und seitdemhabe ich keine Tabakzigarette mehr an -gerührt. Und ich verspüre auch nicht dasallergeringste Bedürfnis, den Rauch ver-kohlender Pflanzenteile zu inhalieren. Anja Melton, Oberursel

Ein sehr guter und fast alle Aspekte ab -deckender Artikel, der auch die letztenbornierten Regulierer um der Regulierungwillen nachdenklich stimmen sollte. Thomas Bergmann, Braunschweig

Als Lungenfacharzt habe ich den Artikelmit blankem Entsetzen gelesen. Herz -infarkte und Gefäßschäden sind eindeutigdurch die Nikotinexposition verursacht.Die Verniedlichung des Nikotinkonsumsist eine klare Aufforderung an alle inkon-sistenten Raucher, die Gefahren durch Ni-kotin für Gefäßschäden und Herzinfarktezu ignorieren. Dr. med. Rainer Gebhardt, Berlin

Für den Titel „Sucht ohne Reue“ gebührtdem Autor der Orwell Award für parado-xes Denken. Unfreiheit genießen – die Ta-bakindustrie hätte es nicht schöner formu-lieren können.Dr. Joseph Kuhn, Dachau

Viele der Warner machen sich unbewusstzu Helfern der Tabakindustrie, denn dieE-Zigarette ist bei Weitem das viel kleinereÜbel. Das Umsteigen auf E-Zigaretten istfür den chronisch Lungenkranken eindeutlicher Gewinn an körperlichem Wohl-befinden. Diese Menschen bekamen deut-lich weniger eitrige Atemwegsinfekte undbenötigen weniger Medikamente. Gretel Frohn, Ärztin, Stuttgart

Mit welchen Schadstoffen die Raumluftdurch E-Zigaretten belastet wird, ist ange-sichts des großen Spektrums der Produkteund der Möglichkeit zum freien Mischender diversen Liquids ebenso unberechen-bar wie die Risiken. Solange nicht diesel-ben Anwendungsbeschränkungen wie fürZigaretten gesetzlich verankert sind, wer-den die E-Zigaretten das immer schlechterwerdende Image des Rauchens aufweichenund diese Sucht wieder gesellschaftlich ak-zeptabel machen, ganz entsprechend denZukunftsvisionen der Tabaklobby.Dr. med. Dietrich Loos, München

Wer zu Fuß geht, gehe Nr. 22/2014 Berlin-Mitte berät über geschlechter -

gerechte Verkehrssignale

Neulich fragte meine vierjährige Tochter,warum an allen Ampeln ein Mann abge-bildet sei. Was hätten Sie geantwortet?Wie erklärt man einer Heranwachsenden,warum überall nackte Frauenkörper aus-gestellt werden, aber Frauen als handelndeSubjekte, als im Straßenverkehr agierendeautonome Menschen nicht vorkommen? Julia Rauner, Hamburg

Bei allem Wohlwollen: Sind denn jetzt alleverrückt geworden und streiten sich übermännliche oder weibliche Ampelzeichen?Malt eine Figur mit deutlichem weiblichemBusen und mit männlichem Geschlechts-teil. Damit ist dieses weltbewegende Pro-blem zu aller Zufriedenheit gelöst.Herbert Karich, Siegburg

Nach der letzten Straßenverkehrsord-nungsreform müsste anstelle eines Am -pelweibchens wohl stehen: „Wer zu Fußgeht, gehe.“ Aus dem politischen Raumkann nicht erwartet werden, dass dieserkostentreibende Unfug wieder eingefan-gen wird.Konrad Bauer, Wachtberg (NRW)

Statt den Umstieg zu fördern, wirft die EUden Dampfern Stöcke in den Weg. So istdie Liquidbegrenzung ein Kostentreiber,von dem Müll ganz zu schweigen. Gerhard Hellriegel, Stuttgart

Einfach genial geschriebenNr. 22/2014 Bundestagsrede des Schriftstellers

Navid Kermani zur 65-Jahr-Feier des Grundgesetzes

Unter den Bundestagsabgeordneten, dieKermani nach seiner beeindruckendenRede applaudiert haben, waren auch etli-che, die 1993 das Grundrecht auf Asyl mas-siv eingeschränkt haben. Das Mindeste,was diese Volksvertreter tun könnten, umnicht vollends als Heuchler dazustehen,wäre, dafür zu sorgen, dass Flüchtlingenhier endlich dieselbe medizinische Versor-gung zuteilwird wie den „Eingeborenen“. Uwe Tünnermann, Lemgo (NRW)

Ich verbeuge mich vor dem einfach genialgeschriebenen Text – und vor den Väterndes Grundgesetzes. Dieses hoffentlich füralle Zeiten gültige Werk so kurz nach denGräueltaten des Krieges geschaffen zu ha-ben stellt eine besondere Leistung dar, unddiese ist mit einer symbolischen Verbeu-gung nicht annähernd genug gewürdigt.Philipp Börner, Gerstungen (Thür.)

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe ge-

kürzt und auch elektronisch zu veröffent lichen.

[email protected]

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Bislang ist Barack Obama nicht gerade als Präsident auf-gefallen, der nach der Wahl erfüllt, was er vor der Wahlversprochen hat. Er wollte für die Menschenrechte strei-

ten, aber er hat nicht einmal Guantanamo geschlossen. Erwollte ein Friedenspräsident sein, aber er verschärfte denDrohnenkrieg. Er hat den großen Wandel angekündigt, abervor allem große Reden gehalten.

Doch jetzt, zweieinhalb Jahre vor dem Ende seiner Präsi-dentschaft, hat Obama vor, auf einem Feld, das ihm stets be-sonders wichtig war, Verlässlichkeit zu demonstrieren: demder Klimapolitik. Die USA würden den Ausstoß des umwelt-schädlichen Kohlendioxids (CO²) in Kraftwerken bis zumJahr 2030 um 30 Prozent sen-ken, kündigte er an, mit dem ty-pischen Obama-Pathos. „AlsPräsident und als Vater weigereich mich, unseren Kindern einenPlaneten zu hinterlassen, dernicht mehr repariert werdenkann“, sagte er.

Die feierlichen Worte könn-ten eine fundamentale Wendeankündigen, nicht nur für Oba-mas Präsidentschaft, sondernauch für den Kampf gegen eineder größten Bedrohungen derMenschheit. Bislang haben diebeiden wichtigsten Wirtschafts-mächte der Welt, die USA undChina, noch jedes verbindlicheAbkommen zum Schutz desErdklimas blockiert. Nun sindsie dabei sie, ihre Haltung zuändern.

Kurz nach der spektakulärenAnkündigung Obamas deuteteein Vertreter der chinesischen Regierung an, dass sein Landsein Veto gegen verbindliche Klimaziele überdenken könnte.Machen die Regierungen in Washington und Peking Ernst da-mit, können aus den größten Blockierern die wichtigsten An-treiber für den weltweiten Klimaschutz werden.

Das ist gut für den Globus, aber schlecht für den Ruf AngelaMerkels, die sich in den ersten Jahren ihrer Amtszeit nochals Klimakanzlerin feiern ließ und vor Eisbergen posierte.„Wenn wir nichts tun“, sagte sie, „würde dies definitiv zu Ka-tastrophen für Hunderte Millionen Menschen führen.“

Und dann? Tat sie viel zu wenig.Unter ihrer Regentschaft ist aus dem Klimavorreiter

Deutschland einer der größten Sünder geworden. Seit dreiJahren steigt der CO²-Ausstoß hierzulande, weil Kohlekraft-werke unter Volldampf laufen und die Energiewende falscheSignale setzt. Umweltfreundliche Gaskraftwerke werden still-gelegt, da sie mit der billigen Kohle nicht konkurrieren kön-nen. Dazu wird die besonders klimaschädliche Braunkohlemunter weiter gefördert. Gerade bekam der Energiekonzern

Vattenfall die Genehmigung dafür, von 2026 an 200 MillionenTonnen zusätzlich im Tagebau zu fördern.

Und auch in Brüssel stellte sich Merkel zuletzt eher auf dieSeite der Klimagegner. Um die heimische Industrie zu erfreu-en, machte sie sich persönlich dafür stark, den CO²-Ausstoßder Autos großzügig zu bemessen.

Vor allem aber versäumen es die Bundeskanzlerin und ihreKollegen aus den anderen EU-Ländern, das Handelssystemfür Kohlendioxid zu reformieren. Seit Jahren gibt die EU zuviele Zertifikate aus, die es der Industrie erlauben, CO² indie Luft zu blasen. Dadurch sind die sogenannten Verschmut-zungsrechte so billig wie selten zuvor, und deshalb werden

entsprechend viele Treibhaus-gase ausgestoßen.

Anstatt massiv Zertifikatevom Markt zu nehmen, wie esUmweltpolitiker seit Langemfordern, entschlossen sich dieeuropäischen Staats- und Regie-rungschefs Anfang des Jahresnur zu einer eher symbolischenGeste. Die Industrie-Lobbyis-ten, die vor dramatischen Ar-beitsplatzverlusten gewarnt hat-ten, setzten sich durch.

Nun muss sich Merkel ent-scheiden, ob sie als Umwelt-schützerin oder als Autokanzle-rin in Erinnerung bleiben will.Denn der Zeitpunkt für ein in-ternationales Klimaschutzab-kommen war noch nie so güns-tig wie jetzt.

Noch haben die Europäer dieChance, ihre Führungsrolle wiederzuerlangen. Doch als die

EU zu Jahresbeginn über ihre Klimastrategie beriet, verhin-derten Länder wie Großbritannien oder Polen konkrete Vor-gaben für einzelne Mitgliedsländer. Auch auf verbindlicheZiele, wie Europas Energieverbrauch bis zum Jahr 2030 ge-drosselt werden soll, konnten sich die Regierungschefs nichteinigen.

Nach Obamas Vorstoß und den Ankündigungen aus Chinasollte sich die mächtigste Frau der Welt eine neue Agendasetzen. Der Emissionshandel braucht dringend eine Reform,und die Kanzlerin sollte sich für ein verbindliches Einspar -ziel für den Energieverbrauch bis zum Jahr 2030 einsetzen.Sparen ist das einfachste Mittel, die Klimaschutzziele zu erreichen.

Aber hat Angela Merkel auch erkannt, was zu tun ist? ImSeptember lädt Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon Staats-und Regierungschefs aus der ganzen Welt zum Klimagipfelein. Die deutsche Kanzlerin wird nicht dabei sein.

Sie müsse leider absagen, ließ sie wissen – aus Termin -gründen.

14 DER SPIEGEL 24 / 2014

Historische ChanceObama will endlich für mehr Klimaschutz kämpfen – nun ist die Kanzlerin gefragt.

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Leitartikel

Das deutsche Nachrichten-Magazin

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Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel16 DER SPIEGEL 24 / 2014

Soziales

Rüffel für Nahles

Bundesarbeitsministerin An-drea Nahles stößt im eigenenHaus auf Widerstände. Somussten die SPD-Politikerinund ihre Führungsmannschaftbei einer Personalversamm-lung am vergangenen Diens-tag heftige Kritik einstecken.Vor allem eine neue Dienst-vereinbarung, die derzeit ver-handelt wird, ist umstritten.Nach ersten Plänen des Mi-nisteriums sollen künftig diemächtigen Abteilungsleiterdarüber entscheiden, welcheMitarbeiter eine zusätzlicheleistungsabhängige Vergütungerhalten. Bislang liegt dies inder Verantwortung der nied -riger angesiedelten Referats-leiter. Der Kreis der begüns-tigten Arbeitnehmer könntedabei künftig stark einge-schränkt werden. Der Vorsit-zende des Personalrats, GerdHeyer, bezeichnete die Plänevor den Teilnehmern alsRückkehr in das Zeitalter desFeudalismus. Außerdem stören sich die Beschäftigtendaran, dass Nahles wichtigePositionen der Leitungsebeneunter anderem mit ehemali-gen Mitarbeitern der SPD-Parteizentrale besetzt hat.Hausinterne Karrieren seienschwieriger geworden, heißtes. Inzwischen hat das Minis-terium zudem vier der insge-samt sieben Abteilungsleiterausgetauscht, die künftigeFührung der einflussreichenGrundsatzabteilung ist nochungeklärt. UngewöhnlicheKritik übte der Personalratdabei auch an StaatssekretärJörg Asmussen, der für Perso-nalfragen zuständig ist. Die-ser sei ein „Phantom“, weil

ihn die Mitarbeitervertreternur selten zu Gesicht bekä-men. Ministerin Nahles selbstwarb in ihrer Ansprache umSympathie. Sie schätze den„offenen Austausch“ mit demPersonalrat. cos, mad

Betreuungsgeld

Prämie setzt falschen AnreizDas von der schwarz-gelben Koalition ein-geführte Betreuungsgeld erfüllt seinenZweck nicht – so das vorläufige Fazit einerumfangreichen Untersuchung der TU Dort-mund und des Deutschen Jugendinstituts,gefördert durch das Bundesfamilienministe-rium. Danach erweist sich das Betreuungs-geld als besonders attraktiv für Familien,„die eine geringe Erwerbsbeteiligung auf-weisen, durch eine gewisse Bildungsfernegekennzeichnet sind und einen Migrations-hintergrund haben“. Die Reform, die El-tern mit einer Prämie belohnt, die ihre Kin-der nicht in eine Krippe oder Kindertages-

stätte schicken, unterlaufe damit die Be -mühungen um Chancengerechtigkeit inDeutschland. Demnach nutzen vor allemsolche Eltern lieber das Betreuungsgeld, de-ren Kinder eigentlich in den Kitas gefördertwerden sollen. Die von der CSU erkämpfteLeistung lässt sich gemäß der Studie „alsbesonderer Anreiz für sozial eher benach-teiligte Familien identifizieren, kein Ange-bot frühkindlicher Bildung, Betreuung undErziehung zu nutzen“. Deshalb, so derSchluss der Untersuchung, sei „das Betreu-ungsgeld bezogen auf Fragen der Chancen-gerechtigkeit kontraindiziert“. red

Finanzen

Berater pfuschen

Anlage-, Versicherungs- undsonstige Finanzberater kom-men nur sehr unzureichendihrer Verpflichtung nach, dieBeratungsgespräche mit Kun-den umfassend zu dokumen-

tieren. Dies geht aus einerStudie des Berliner ITA-Insti-tuts für Transparenz hervor,die dem Bundesjustiz- undVerbraucherministerium vor-liegt. Vor allem Versiche-rungsmakler und -vertreterschnitten schlecht ab. Der Ge-setzgeber hatte in den vergan-genen Jahren die Finanz- undVersicherungsbranche ver-pflichtet, Beratungsgesprächezu protokollieren. So soll diePosition des Verbrauchers imSchadensfall gestärkt werden,er soll auch Chancen und Risiken eines Vertrags klarer erkennen können. Nun belegt

die Studie, „dass Dokumen -tationen häufig nicht erstelltund übergeben werden“ unddass darüber hinaus „ein er-heblicher Teil der Dokumen-tationen Mängel aufweist“.So seien „wesentliche Inhaltedes Gesprächs, zum Beispieldie Empfehlung eines Pro-dukts und deren Begründung“von den Beratern in vielenFällen gar nicht dokumentiertworden. Die Bundesanstaltfür Finanzdienstleistungsauf-sicht solle daher als zentraleAufsichts- und Beschwerde-stelle etabliert werden, heißtes in der Studie. red

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Deutschland

Kinder, wie die Zeit vergeht. Vor einemJahr, am 6. Juni, erschienen die erstenDokumente aus dem geheimsten Inne-ren der NSA, an Journalisten weiter -gereicht von einem jungen Mann, der beschlossen hatte, die Welt über dengrenzenlosen Datenhunger der Geheim-dienste aufzuklären. Für diese Gewis-sensentscheidung opferte Edward

Snowden, damals war er 29 Jahre alt, ein angenehmes Leben mit fester Freundin, gut bezahltem Job und Woh-nung auf Hawaii. Er tauschte Freiheit gegen Verfolgung.

Seither haben wir, Enthüllung für Enthüllung, davon erfahren, wie hemmungslos wir durchleuchtet werdenkönnen. Wir haben lebhaft darüber diskutiert, was wirdagegen tun müssen, aber politisch ist nichts passiert. InDeutschland haben wir eine Kanzlerin, die das Abhörenihres Handys nicht gut findet und ansonsten keine Mei-nung zu „Big Data“ hat. Wir sehen einem Parlamentari-schen Untersuchungsausschuss zu, der den wichtigstenZeugen immer noch nicht geladen hat und den die Regie-rung brüskiert. Dazu gibt es eine Öffentlichkeit, die sichwegen der schieren Größe des Problems irgendwo zwi-schen Überforderung und Resignation verliert.

So könnte man meinen, Edward Snowden habe sein Leben für nichts und wieder nichts aufs Spiel gesetzt.Sein Mitstreiter Glen Greenwald versichert allerdings, esgehe Snowden bemerkenswert gut.

Es stimmt ja auch, dass Snowden sein Ziel erreicht undeine weltweite Debatte ausgelöst hat. Der Lohn für diegeopferte Zukunft ist die Sicherheit, dass er das Richtigegetan hat. Deshalb sollten wir uns den Whistleblower alsglücklichen Menschen vorstellen, auch wenn er nichtweiß, wo er nach dem Asyl in Moskau unterkommenkann.

Snowden hat unser Bewusstsein verändert. Daten-schutz gilt jetzt nicht mehr als Spielfeld für paranoideAlarmisten. Die meisten Menschen haben verstanden,dass etwas passieren muss, auch wenn noch niemandweiß, was. Stammtischrufe nach mehr Überwachung undmehr Sicherheit haben an Durchschlagskraft verloren.

Die Sorge um digitale Überwachung hat den langenWeg vom Rand in die Mitte der Gesellschaft gefunden.Dank Snowdens persönlichem Einsatz kennen wir den Istzustand und sind in der Lage, uns darüber zu verstän -digen, wie unsere Welt im Kommunikationszeitalter aus-sehen soll. Das ist, zugegeben, ein langer Prozess, weildie Materie kompliziert ist.

Immer noch gibt es Streit darüber, ob EdwardSnowden ein Held oder ein Verräter ist und ob er Asylbekommen sollte. Aber am Jahrestag seiner ersten Ent-hüllung gibt es einen einfachen Satz, um ihm gerecht zuwerden. Die Initiative „Rechtsanwälte gegen Totalüber-wachung“ hat sogar ein Flugzeug gechartert, um ein Banner über den Berliner Himmel zu ziehen: Thank you, Mr. Snowden.

An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nächste Woche ist Jakob Augstein an der Reihe, danach Jan Fleischhauer.

Juli Zeh Die Klassensprecherin

Das Jahr Snowden

Blick auf Deutschland

Der britische Historiker Niall Ferguson in einem Interview

der italienischen Zeitung La Repubblica über die Machtstruktur

innerhalb der Europäischen Union

„Die Vorstellung,Europa würde von einerdeutsch-französischenDoppelspitze gelenkt, istschon seit Jahren passé.Heute gibt es eine neueGeometrie mit AngelaMerkel im Zentrum, dieverschiedene Länder dominiert und mit ihnen

in Dreiecksbeziehungen tritt … Merkelist das Herz des Systems, Frankreichhat schon seit Langem keine privile-gierte Stellung mehr.“

Sommerferien

14 Länder rotieren,zwei nichtBayern und Baden-Württem-berg behalten ihr Privileg ei-nes festen Startzeitraums derSommerferien. Das geht ausder internen Beschlussvorlagefür die „langfristige Sommer-ferienregelung 2018 bis 2024“hervor. Die Kultusminister-konferenz soll in der kom-menden Woche darüber ent-scheiden. Laut der Vorlagewerden die Sommerferien inden beiden südlichsten Bun-desländern jeweils zwischendem 25. Juli und dem 1. Au-gust beginnen. Die anderenLänder rotieren hingegenbeim Ferienstart zwischendem 20. Juni und dem 26.Juli. Der sogenannte Ferien-korridor zwischen dem Feri-enbeginn im ersten und dem

Ferienende im letzten Bun-desland wird demnach einmal86 Tage, einmal 83 Tage, ein-mal 82 Tage und viermal 80 Tage betragen. Wirtschafts -minister und Tourismusver-bände fordern eine Unter-grenze von 85 Tagen. „JederTag, um den sich die Ferien-korridore verkürzen, kostetdie Tourismuswirtschaft biszu 120 Millionen Euro Um-satz“, sagt Mecklenburg-Vor-pommerns Ressortchef HarryGlawe (CDU), Vorsitzenderder Wirtschaftsministerkon -ferenz. „Mit einer weiterenAusweitung der Ferienzeitenwären die Schuljahre kaumnoch vernünftig zu organisie-ren“, sagt hingegen Branden-burgs Bildungsministerin Mar-tina Münch (SPD), vor allemim Hinblick auf „kontinuierli-che Lernzeiträume“ und „ge-sicherte Prüfungsabläufe“. fri

Stau zu Ferienbeginn

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Flughafen BER

Falsch kalkuliert

Beim Berliner Flughafen BERwurden offenbar über JahreBau- und Planungsaufträge inerheblichem Umfang fehler-haft und zu knapp kalkuliert.Die Flughafengesellschaft hatinzwischen 995 MillionenEuro an Nachtragsforderun-gen der beauftragten Unter-nehmen als berechtigt akzep-tiert, allerdings noch nichtvollständig beglichen. Weite-re Ansprüche in Höhe von452 Millionen Euro werdenderzeit geprüft. Dies geht ausder bisher unveröffentlichtenAntwort des Bundesverkehrs-ministeriums auf eine Anfra-ge des Bundestagsabgeordne-ten Stephan Kühn (Grüne)hervor. Nachträge sind dannfällig, wenn die Leistungen inder Auftragsvergabe unvoll-ständig beschrieben sind unddamit eine ordnungsgemäßeErfüllung der Arbeiten zumvereinbarten Preis nicht mög-lich ist oder unverschuldetFristen nicht eingehalten wer-den können. Eine Marge von10 bis 15 Prozent gilt in derBranche bei großen Bauvor-haben als üblich. Beim BERist sie aber gut doppelt sohoch. „Das wurde offenbarschöngerechnet, um die Kos-ten auf dem Papier niedrig zuhalten“, so VerkehrsexperteKühn. was

FDP-Finanzen

Große Milde

Die Bundestagsverwaltungzeigt Nachsicht mit der FDP:Die Liberalen müssen trotzBedenken des nordrhein-westfälischen Verfassungs -gerichtshofs keine Strafe wegen illegaler Parteien -finanzierung zahlen. Mansehe nach internen Prüfun-gen keinen Grund, die Parteizu belangen, heißt es. DieFDP-Bundestagsfraktion hat-te vor den Landtagswahlenin Nordrhein-Westfalen undSchleswig-Holstein im Jahr

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Fluthilfe

Überdimensionierter FondsDer Fluthilfefonds, den die Bundesregierung nach demHochwasser an Elbe und Donau im vorigen Sommer ein-gerichtet hatte, war mit acht Milliarden Euro offenbarüberdimensioniert. Bisher wurden zur Begleichung vonSchäden lediglich rund 750 Millionen Euro ausgegeben,noch nicht einmal zehn Prozent des Fonds. Sachsen- Anhalt, das am stärksten von der Elbeflut betroffen war,zahlte aus dem Fonds bisher 192 Millionen Euro an Hoch-wasseropfer, in Sachsen waren es 216 Millionen und inBayern, wo die Donau ganze Landstriche unter Wasser ge-setzt hatte, 240 Millionen Euro. Der Bund hat seine Scha-densbilanz bereits erheblich nach unten korrigiert undwill eine Milliarde Euro wieder aus dem Fonds herauszie-hen. Bayern hingegen bleibt bei seiner Schadensrechnungvon 1,3 Milliarden Euro, Sachsen hat sie gerade um 200Millionen auf zwei Milliarden Euro erhöht. Länder wieBerlin, die an der Finanzierung des Nothilfefonds beteiligtsind, befürchten nun, dass die Fluthilfe als „Infrastruktur-fördertopf“ missbraucht werden könnte. So will die StadtHalle aus dem Fonds den Neubau einer Eissportarena finanzieren, deren Kosten mit rund 15 Millionen Euro veranschlagt wurden. Ein vom Gericht beauftragter Gut-achter hatte den Hochwasserschaden an der alten Eissport-halle auf eine Million Euro beziffert. srö, was

Geheimdienst

BND ausgebremst

Das Vertrauensgremium desBundestags hat die Pläne desBundesnachrichtendienstes(BND), technisch massiv auf-zurüsten, vorerst gedämpft.Für das Jahr 2014 bewilligtendie Parlamentarier zusätzlichnur sechs Millionen Euro zurVorbereitung der „Strategi-schen Initiative Technik“(SIT), für die der BND biszum Jahr 2020 insgesamt 300 Millionen Euro fordert.Mit dem Programm will derBND unter anderem ein

Frühwarnsystem für Cyber-angriffe aufsetzen und seineFähigkeit verbessern, sozialeNetzwerke im Ausland zuüberwachen. Vor den Wirt-schaftsplanberatungen für2015 im Herbst erwartet dasVertrauensgremium des Bun-destags einen Bericht überdie Ergebnisse der Vorbe -reitungen. Zudem muss derAuslandsdienst „eine aus-führliche Darlegung und Begründung der geplantenMaßnahmen“ liefern, heißtes in einem Beschluss der Sitzung des Gremiums vom6. Mai. gud

Versorgungswerke

Existenz gefährdet

Seit das Bundessozialgerichtdie angestellten Anwälte inRechtsabteilungen in die ge-setzliche Rentenversicherunggezwungen hat, bangen dieVersorgungswerke der Frei-berufler um ihre Zukunft.„Wir werden allein durch die-ses Urteil jeden fünftenRechtsanwalt als Beitragszah-ler verlieren“, sagt MichaelJung, Hauptgeschäftsführerder Arbeitsgemeinschaft be-rufsständischer Versorgungs-einrichtungen. „Sollten imnächsten Schritt auch nochangestellte Anwälte in Kanz-leien ausgeschlossen werden,steht die Existenz des priva-ten Versorgungssystems in-frage“, so Jung. Zudem seienähnliche Urteile für andereGruppen von Freiberuflernzu befürchten, etwa zu an -gestellten Ärzten in medizin-fernen Berufen. Die Rechts-politiker der Union im Bun-destag streben daher eine gesetzliche Klarstellung an,um die Rentenversicherungder Freiberufler zu schützen.„Im Koalitionsvertrag habenwir uns eindeutig zu den eigenständigen Versorgungs-werken bekannt“, sagtRechtsexperte Jan-MarcoLuczak (CDU). „Auch beiunseren Sozialpolitikern istdie Sensibilität hoch. Wirwerden daher darauf drin-gen, dass wir mit der SPDeine Regelung finden, die dieFreiberufler schützt.“ ama

2012 mehrere Millionen Werbebriefe an Haushalteverschickt. Der Verfassungs-gerichtshof in Nordrhein-Westfalen hatte in einem Beschluss erklärt, die Frak -tionsbroschüre sei offenbargezielt für den Wahlkampfder Partei eingesetzt worden.Die Prüfer des Bundestagsfinden die Broschüre dage-gen in Ordnung. Das Bundes-verfassungsgericht hatte amvergangenen Dienstag eineKlage der NPD gegen dieWerbebriefe aus formalenGründen abgewiesen. Auchdie Tatsache, dass die Libe -ralen Fraktionssprecher fürBereitschaftsdienste der Par-tei eingesetzt hatten, bleibtfolgenlos. ran

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Koalitionspartner Gabriel, Merkel

Zu viele eckige KreiseEuropa Die Berufung des nächsten EU-Kommissionschefs spaltet Europaund die Große Koalition. Kanzlerin Merkel kann es nichtCDU und SPD, den Wählern und den Briten zugleich recht machen.Wächst ihr zum ersten Mal eine Krise über den Kopf?

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Die Stimmung war nicht gut, als sichdie CDU-Parlamentarier aus Nord-rhein-Westfalen am vergangenen

Montagabend in ihrer Landesvertretungtrafen. Normalerweise geht es bei solchenRunden darum, die Linie für die Abstim-mungen im Bundestag abzusprechen. Die-ses Mal hatten die Abgeordneten jedochdas Bedürfnis, sich den Frust von der Seelezu reden, der sich über Monate aufgestauthat. Vielen passt der Auftritt der GroßenKoalition nicht mehr und vor allem dieraumgreifende Rolle der Sozialdemokra-ten nicht, die sich stets als treibende Kraftder Regierung präsentieren.

Dieser Frust brach sich jetzt Bahn. „Wir müssen den Eindruck vermeiden,

dass die SPD regiert und wir als Wahlsie-ger froh darüber sind, dass wir mitregierendürfen“, schimpfte CDU-Haudegen Wolf-gang Bosbach. Der junge CDU-Abgeord-nete Jens Spahn aus dem Münsterland kri-tisierte, dass sich nach Rente und Mindest-lohn schon der nächste Fall abzeichne, beidem die SPD die Union auszuspielen dro-he. „Es fehlt nur noch, dass die jetzt auchnoch den deutschen EU-Kommissar stel-len“, sagte Spahn. „Wenn Schulz Kommis-sar wird, widerspricht das gleich zweiWahlergebnissen – dem der Bundestags-und dem der Europawahl.“

Der Kampf um die Führung der nächs-ten EU-Kommission hat die Berliner In-nen- und Parteipolitik erfasst. Das machteine Sache nicht einfacher, die ohnehin ei-nes der vertracktesten Probleme ist, mitdenen es Bundeskanzlerin Angela Merkelje zu tun hatte. Die Zahl einander aus-schließender Ziele und Interessen ist un-gewöhnlich groß: Merkel will die Britenin der Europäischen Union halten, den Ko-alitionspartner SPD nicht verprellen, ihreeigene CDU nicht verärgern – und amEnde nicht wie eine Betrügerin dastehen,die dem Wahlsieger Jean-Claude Junckerden Lohn seines Sieges geraubt hat. Öko-nomen haben für solche Lagen einen Fach-ausdruck parat: „lose-lose“; der Schriftstel-ler Joseph Heller nannte sie „Catch-22“.Egal, für welche Option man sich entschei-det: Man kann eigentlich nur verlieren.

Anders als in den diversen Runden derEurokrise kann sich Merkel dieses Malnicht voll auf die SPD verlassen. Der Ko-alitionspartner steht bei den europäischenSchwesterparteien im Wort, die ihrenWahlkampf-Spitzenkandidaten MartinSchulz als Vizechef der EU-Kommissionauf den Posten des deutschen Kommissarshieven wollen. Es wäre der Preis für diesozialdemokratischen Stimmen im Europa-parlament, die Juncker braucht, um Präsi-dent der EU-Kommission zu werden.

Aus Sicht der Union dagegen ist Schulzein Mann, der in Europa das zu tun ver-spricht, was die Genossen auch in der Hei-mat am besten können: den Leuten das

sen: „Wir setzen auf Juncker und solltenden Namen Schulz vorläufig gar nicht inden Mund nehmen.“

Um die fragile Lage in Deutschland weißauch der Machttaktiker Schulz und hat sichdeshalb einen Plan B zurechtgelegt. Er hatdie – allerdings vor der Wahl – von rundzwei Dutzend europäischen sozialdemo-kratischen Partei- und Regierungschefs ge-gebene Zusage, dass sie ihn als Spitzen-mann unterstützen würden. Zudem wirder sich Mitte Juni zum Fraktionschef derSozialisten im Parlament wählen lassen.Und er wird, noch wichtiger, die Verhand-lungen mit den Konservativen führen,wenn es um Programme und Personen für die nächsten fünf Jahre geht. Schulz’Kalkül: Juncker kann nur Präsident wer-den, wenn ihn auch die Sozialdemokratenim Parlament wählen. Deshalb müsse Jun-cker ein maximales Interesse haben, ihn,Schulz, im Rennen zu halten.

Die Kanzlerin hält diese Verbindung fürdie weiche Stelle. Trotz aller öffentlich be-kundeter Solidarität für den Luxemburgerwird sie versuchen, hier anzusetzen.

Demnach will sie Schulz mit Verweisauf den CDU-Unmut als deutschen Kom-missar verhindern. Immerhin hat ihr Vize-kanzler zu erkennen gegeben, dass er überdiesen Konflikt die Große Koalition nichtzerbrechen lassen will. Wenn das den so-zialdemokratischen Rückhalt im Europa-parlament für Juncker bröckeln lässt, soMerkels Kalkül, werde Juncker einsehen,dass seine Chancen auf den Posten an derSpitze der EU-Kommission schwinden –und selbst zurückziehen.

Ein hochrangiger Mitarbeiter von EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, derderzeit bei den Regierungschefs sondiert,bestätigt das Szenario: „Ich gehe davonaus, dass Juncker sich in den kommendenWochen selbst aus dem Rennen nehmenwird, wenn die Kritik an ihm so weiter-geht.“ Dann wäre zwar der Weg frei füreinen Kompromisskandidaten. Ob dasselbstbewusste Parlament ohne Weiteresdazu Ja sagt, scheint allerdings fraglich.Zumal bisher auch keine ernst zu nehmen-den Alternativen kursieren.

Merkels Kalkül ist also eine Rechnungmit ungewöhnlich vielen Unbekannten,aber einer Konstanten: Die Briten sollenin der EU bleiben. Der Ärger um Junckergilt für die Kanzlerin als tagespolitischeHerausforderung, ein möglicher Bruchzwischen der Europäischen Union und denBriten dagegen als historischer Schaden.

Diesen Unterschied machte Merkel amvergangenen Mittwoch auch im Bundestagdeutlich. Zwei, drei kurze Sätze sagte siezu ihrer Rückendeckung für Juncker, dann

Geld aus der Tasche zu ziehen. Schon imWahlkampf hatten sie Schulz als „gefühl-ten Italiener“ abqualifiziert, also als einen,der die Abkehr vom strikten Sparkurs willund damit von einer Grundlinie der mer-kelschen Europolitik. „Schulz als deut-scher Kommissar kommt nicht infrage, dieSPD hat genug Ministerposten für eine 25-Prozent-Partei“, sagt Hans-Peter Fried-rich, der für Europa zuständige Unions-fraktionsvize (CSU).

Außerdem will die Union sich den deut-schen Kommissar nicht vom Europaparla-

ment diktieren lassen. Dafür gebe es „nullRechtsgrundlage“, heißt es.

Das sieht die Kanzlerin genauso. Sie willSchulz verhindern. Das ist Teil eines vielweiter reichenden Plans, mit dem sie dieBriten in der EU halten will – bei demaber Juncker notfalls auf der Streckebleibt.

Zugrunde liegt die Einschätzung, dassdie SPD die Berliner Koalition nicht wegeneines Streits um den richtigen Posten fürMartin Schulz platzen lassen werde. Be-reits am Montagabend nach der Wahl tra-fen sich Merkel, Gabriel und der CSU-Vor-sitzende Horst Seehofer um 19 Uhr imKanzleramt. Bald sprechen die drei auchüber den deutschen EU-Kommissar. DasGespräch ist sachlich, nur einmal wird esunterbrochen, Merkel hat einen Telefon-termin mit US-Präsident Barack Obama. 

Gabriel fordert den Posten für den SPD-Mann Schulz nicht offen ein, doch Merkelund Seehofer wissen, worauf seine Einlas-sungen abzielen. Merkel wiederum lehntnicht offen ab, aber sie macht deutlich,dass sie wenig von einem deutschen Kom-missar namens Schulz hält. Merkel rechnetGabriel das Ergebnis der Europawahl vor.Allein die CDU habe – „ohne die CSU“ –deutlich mehr Stimmen geholt als die SPD.Bei diesem Ergebnis sei es „sehr schwer“,in der Union einen SPD-Mann als deut-schen Kommissar durchzusetzen. 

Das weiß auch Gabriel. „Das spielt jetztin Brüssel“, sagte er bei einer Telefonkon-ferenz des SPD-Präsidiums am vergange-nen Montag und empfahl seinen Genos-

EU-Partner Cameron, Merkel

Der britische Premier wird deutlich machen, dass er unter großem Druck steht.

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länder und Ungarn sowie den italienischenMinisterpräsidenten Matteo Renzi, der im-mer offener Zweifel an Juncker äußert. Da-mit läge eine Sperrminorität im Rat gegenJuncker in greifbarer Nähe – erst recht,wenn die Deutschen dabei wären.

Vor allem aber wird Cameron deutlichmachen, dass er unter großem Druck steht.

Sollte sich Juncker durchsetzen, fürch-ten britische Beobachter und Diplomatenein politisches Erdbeben an der Themse.Politik wird in Großbritannien oft als Null-summenspiel betrachtet, es gibt nur Ge-winner und Verlierer, nichts dazwischen.Cameron kann sich die hämischen Schlag-zeilen in der Daily Mail oder im Daily

Telegraph auch gleich selbst schreiben,wenn er Juncker nicht verhindert.

Im Extremfall geriete der Premier derartunter Druck, dass er das EU-Referendum,das er für 2017 versprochen hat, vorziehenmüsste. Es ist alles andere als ausgeschlos-sen, dass sich die Briten dann entscheiden,die Union zu verlassen.

Die Mitarbeiter Camerons sind deshalbnicht nur in London damit beschäftigt, dasEuropaparlament als den Gegner allerStaats- und Regierungschefs ins Zentrumder Kritik zu rücken. Das Parlament be-treibe einen gefährlichen Machtkampf ge-gen die Staats- und Regierungschefs, sagen

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Merkels wichtiger Partner

Länder, die eher für einen Stabilitätskurs stehen

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Tendenzielle Skeptiker der Stabilitätspolitik

49 % der EU-Bevölkerung, 46 % der 28 EU-Staaten

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Ab dem 1. November 2014 wird für Entscheidungen im Euro- päischen Rat schrittweise das Prinzip der doppelten Mehrheit eingeführt. Zur Annahme von Beschlüssen müssen danach mindestens 55% der Mitgliedstaaten zustimmen, die zusammen mindestens 65 % der EU-Bevölkerung repräsen-tieren. Bei einem EU-Austritt der Briten wäre Merkels Position in der EU-Stabilitätspolitik entscheidend geschwächt.

laut EU-Kommission 2014

folgte eine mehrminütige, flammende Elogeauf die Bedeutung der Briten für Europa.Es sei „grob fahrlässig, mit welcher Lo-ckerheit“ manche über einen EU-AustrittGroßbritanniens redeten. Ob die BritenMitglied blieben oder nicht, das sei „allesandere als gleichgültig, unwichtig, egal“.Ähnlich sieht es Außenminister Frank-Walter Steinmeier: „Großbritannien ist einstarker Partner Deutschlands und leisteteinen entscheidenden Beitrag zur gemein-samen europäischen Außenpolitik und da-mit zur Wahrung von Europas Interessenin der Welt.“ Die Bundesregierung habesich vorgenommen, „außenpolitisch nochenger zusammenzuarbeiten“.

Und bei allem Unmut über die vielenAlleingänge, über die „Rosinenpickerei“der Briten in der Vergangenheit schätztauch Angela Merkel den britischen Ein-fluss in der EU. In einem vertraulichen Pa-pier der Bundesregierung zu den Aufgabender nächsten EU-Kommission werden dieGemeinsamkeiten deutlich. Vor allem„Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit“ inEuropa sollen gefördert werden. Dazumüsse „das Potenzial von Binnenmarktund Freihandel voll ausgeschöpft werden“,heißt es. Franzosen, Spanier und Italienerwürden das derzeit nicht uneingeschränktunterschreiben, der britische Premier Da-vid Cameron schon. Die Kanzlerin weißzudem, dass es ihr der promarktwirtschaft-liche Einfluss der Briten in vielen Diskus-sionen erlaubt, anderen Interessen wirk-sam entgegenzutreten (siehe Grafik), etwabeim EU-Budget, bei der Bankenunion,beim Freihandelsabkommen.

Cameron will seinen Widerstand bei ei-nem Minigipfel mit dem schwedischen Pre-mier Fredrik Reinfeldt, dem NiederländerMark Rutte und Merkel südlich von Stock-holm am Montag und Dienstag untermau-ern. Er hofft auf die Schweden, die Hol-

britische Diplomaten. Juncker, Schulz undeine Handvoll weiterer Parlamentarierwollten die europäischen Verträge aushe-beln, um die Position des Parlaments imBrüsseler Institutionengefüge zu verbes-sern. „Sie spielen mit Dynamit.“

Dass es so weit gekommen ist, hängtauch mit der Kanzlerin zusammen, die inden vergangenen Monaten für ihre Ver-hältnisse überraschend häufig den Dingenfreien Lauf ließ. Sie hat lange ignoriert,wie der damalige Präsident des Europa-parlaments, Martin Schulz, erst die SPDund dann die sozialistische Parteienfamiliein der EU hinter sich und die Idee einereuropaweiten Spitzenkandidatur brachte.Schulz schaffte Fakten, und Merkel ließsich auf Juncker als Kandidat der christ -demokratischen EVP ein, obwohl sie vieleder Bedenken gegen ihn insgeheim teilt.Und schließlich lief ihr der EU-Gipfel ver-gangene Woche aus dem Ruder, als sie eineKampfabstimmung für Juncker nur mitMühe verhindern konnte. Seitdem gibt sieöffentlich ein schwankendes Bild ab: Erstdüpierte sie Juncker als nur einen untervielen, die den Job machen könnten. Dannstützte sie ihn öffentlich und versprachmehrfach, sich für ihn zu verwenden. Seitdem hat sie mit annähernd jedem der27 anderen EU-Staats- und Regierungschefsgesprochen, um einen Kompromiss zu suchen. Bis Ende Juni soll das so weiterge-hen, „wir haben die Zeit“, sagte sie im Bundestag.

Jean-Claude Juncker macht derweil inOptimismus. Am Mittwoch meldete er sichzum ersten Mal seit Längerem wieder aufTwitter und schrieb: „Ich bin zuversicht -licher denn je, dass ich der nächste EU-Kom-missionspräsident werde.“ Genaueres wollteer auf Anfrage des SPIEGEL nicht mitteilen.

Nikolaus Blome, Horand Knaup, Peter Müller, Christoph Scheuermann, Gregor Peter Schmitz,

Severin Weiland

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Wie kommt es, dass ein bedächti-ger Politiker wie Frank-WalterSteinmeier wegen einiger Schrei-

hälse aus der Haut fährt? Steinmeier sitztim Airbus der Bundesregierung. SeinHemdkragen ist offen, er wirkt entspannt.Von Kollegen in EU und Nato muss er sich derzeit oft anhören, er sei zu weichgegenüber Russland. Und dann soll er sich als Kriegstreiber herabsetzen lassen?Auch er muss irgendwann mal Dampf ab-lassen.

Das Video von Steinmeiers Europawahl-kampfauftritt vor zwei Wochen in Berlinist im Internet zum Hit geworden. Ein paarStörer beschimpfen ihn. Er brüllt mit ro-tem Kopf und fuchtelndem Zeigefinger zu-rück: „Hätten wir auf Leute wie die dahinten gehört, wäre Europa heute kaputt!“Bei Sigmar Gabriel hätte man von den üb-lichen Stimmungsschwankungen gespro-chen. Für Steinmeiers Verhältnisse war esein veritabler Ausraster.

Vermutlich hätten ihn einige Schreihälseallein nicht aus der Fassung gebracht, trotzdes Drucks, unter dem er steht. Steinmeiersucht so unermüdlich wie kein andererwestlicher Außenminister einen Ausweg

aus der Krise in der Ukraine. Er muss dieosteuropäischen Staaten davon überzeu-gen, dass Deutschland im Konflikt an ihrerSeite steht. Die Skeptiker in der SPD musser auf eine Politik verpflichten, an derenEnde Sanktionen stehen könnten. Das istschwierig, ein Erfolg ist nicht sicher.

Dann ist da noch sein Verhältnis zuRussland. Steinmeier ist über die ver -gangenen Monate von einem überzeugtenAnhänger einer Partnerschaft mit Moskauzum Kritiker der Politik von PräsidentWladimir Putin geworden. Es war einschwieriger Prozess, auch für ihn per -sönlich.

Für die SPD ist das eine Zäsur. Das guteVerhältnis zu Moskau ist das Erbe der Ost-politik Willy Brandts. Diese Phase gilt alsdas goldene Zeitalter der sozialdemokra-tischen Außenpolitik. „Entspannungspoli-tik-Romantik“ nennt das der SPD-Vertei-digungspolitiker Hans-Peter Bartels. VorSteinmeier hat kein SPD-Politiker in derRegierung gewagt, an diesem Glaubens-satz zu rütteln.

Ausgerechnet in einer solchen Situationsind es nicht nur versprengte Chaoten, diebehaupten, der Außenminister heize denKonflikt unnötig an. Es sind alte Sozialde-mokraten, die diese Auffassung befördern.

Die ehemaligen Bundeskanzler HelmutSchmidt und Gerhard Schröder finden, derWesten springe zu kritisch mit Moskau um.Schmidt erklärte, er verstehe das Vorgehendes russischen Präsidenten Wladimir Putin.Die Gefahr entstehe, „weil der Westen sichfurchtbar aufregt“. Egon Bahr, ein Archi-tekt der Ostpolitik der Siebzigerjahre,klagt, die westliche Sanktionsspirale seiein Rückfall in den Kalten Krieg.

Die Alten in der SPD sind eine schwereBürde für Steinmeiers Krisendiplomatie.Sie gefährden im Ausland die Glaubwür-

digkeit seiner Politik. In der eigenen Parteibefeuern sie jene, die den harten Kurs ge-genüber Russland falsch finden.

Auf einer Europakonferenz des WDRim Auswärtigen Amt ließ sich Steinmeiervor einem Monat zur Lage in der Ukrainebefragen. „Sie haben in den letzten Wo-chen Ihr Russlandbild erheblich korrigierenmüssen“, sagte der Interviewer. Ihn ärgeredie klammheimliche Freude darüber, dieer bei manchen beobachte, erwiderteSteinmeier. „Als ob das ein Schritt nachvorne wäre.“

Steinmeier spricht nicht gern darüber,wie sich sein Verhältnis zu Russland ver-ändert hat. In seiner ersten Amtszeit kames über die Russlandpolitik fast zum Zer-würfnis mit der Kanzlerin. Angela Merkellieferte sich vor der Presse Wortgefechtemit Wladimir Putin. Sie kritisierte laut-stark den Umgang mit der Opposition inRussland. Steinmeier hielt das für unklug.

Er wetterte gegen „moralischen Rigo-rismus“ und „folgenlose Empörung“, diedie Isolation des Gegenübers heraufbe-schwörten. Man müsse den Leuten dieNase im Gesicht lassen, lautete seine De-vise. Es wirkte bisweilen, als träte Stein-meier gegenüber einem autoritären Re-gime unnötig leise auf.

Das hat sich seit Beginn der Ukraine-Krise geändert. In seiner Antrittsrede imvergangenen Dezember nannte Steinmeierdie russische Politik gegenüber der Ukrai-ne „empörend“. Das waren Töne, wie mansie von ihm bis dahin nicht gehört hatte.Steinmeier ließ das Gespräch mit Moskaunicht abreißen, aber es war nicht der Dia-log, den er sich wünschte. Das Vertrauensei nicht mehr da, klagte er.

Außenminister und Kanzlerin arbeitetenbeim Umgang mit Moskau nicht mehr gegen-, sondern miteinander. Deutschen

Gesprächspartner Lawrow, Steinmeier

Das Ende derOstpolitikDiplomatie Die Ukraine-Krisehat den Blick von Frank-WalterSteinmeier auf Russland verän-dert. Die eigenen Leute machenihm deshalb das Leben schwer.

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Wirtschaftsvertretern, die in Steinmeiereinen Verbündeten für ihr Russlandge-schäft sahen, erteilte er eine Abfuhr: DasVorgehen Putins auf der Krim sei „schlichtund einfach völkerrechtswidrig“. Im Bun-destag sagte er, nicht der Westen oder dieUkraine sei schuld. „Die Verantwortungträgt Russland.“

Die klaren Worte sollten die osteuro-päischen Verbündeten davon überzeugen,dass sie auf Deutschland zählen können.Steinmeier war früh ins Baltikum gereist,um deutlich zu machen, dass er die Angstvor Russlands Expansionsdrang ernstnimmt. Er stimmt sich eng mit seinem pol-nischen Kollegen Radoslaw Sikorski ab.Er betont, dass die Ukraine selbst über ihrSchicksal entscheiden müsse.

Damit zog er den Zorn der SPD-Altvor-deren auf sich, die vor mehr als 40 Jahrendie Ostpolitik initiiert hatten. Sie ist fürdie Identität der Partei noch immer wich-tig. Dabei verschweigen die damaligenProtagonisten gern, dass die Ostpolitik zu-nächst sehr erfolgreich war, in den Acht-zigerjahren aber zum Teil zur Kumpaneimit kommunistischen Regimen geführthatte. Schmidt fühlte sich Erich Honeckernäher als den Bürgerrechtlern in der DDR.Die Oppositionellen in Polen und anderen

Ländern galten als Störenfriede, die denDialog mit den kommunistischen Herr-schern erschwerten.

Die Reaktion auf Steinmeiers Kurswech-sel fiel entsprechend aus. Erhard Eppler,der seinerzeit den Dialog der SPD mit derDDR-Staatspartei SED initiiert hatte, ließin einem SPIEGEL-Essay Verständnis fürdie Zustimmung der Russen zu einem Prä-sidenten durchblicken, „der sich vonUkrainern und Westlern nicht auf der Naseherumtanzen lässt“. Sein ParteifreundKlaus von Dohnanyi belehrte eine ukrai-nische Journalistin, die auf das Selbstbe-stimmungsrecht ihres Landes pochte: „Siekönnen sich nicht einfach aus einer Ein-flusszone herauslösen.“

Am härtesten traf es Steinmeier, dasssich sein Weggefährte Gerhard Schrödervon ihm distanzierte. Der Altkanzler ant-wortete in einem Interview für die Welt

am Sonntag auf die Frage „Kann Stein-meier das?“ „Da vertraue ich ihm. Noch.“Das „noch“ strich er in der gedrucktenFassung. So stellt es die Bild-Zeitung dar.Das sei Steinmeier wirklich nahegegangen,heißt es in seiner Umgebung.

Steinmeier hat sich nicht öffentlich zuden Vorwürfen der Alten geäußert. Er hatauch so genug Probleme. Er ärgert sich be-

sonders darüber, dass er von Leuten kriti-siert wird, die seit Jahren keine politischeVerantwortung mehr tragen.

Dabei muss man das Verständnis fürMoskau ins Extreme treiben, um in Stein-meier jemanden zu sehen, der den Kon-flikt mit Russland anheizt. Steinmeierspricht nahezu jeden zweiten Tag mit sei-nem russischen Kollegen Sergej Lawrow.Die OSZE-Mission in der Ukraine und dieGenfer Konferenz hätte es ohne ihn nichtgegeben.

Offen bleibt, was an die Stelle der Part-nerschaft mit Russland, für die Steinmeierlange gekämpft hat, treten wird. Er weißes selbst noch nicht. Einen Kalten Kriegwill Steinmeier verhindern. Eine Zusam-menarbeit wird es aber nur geben, wennMoskau mitspielt.

Ob er eine neue Ostpolitik konzipierenkann, wird möglicherweise über den Erfolgvon Steinmeiers Außenpolitik entscheiden.Es ist eine ziemliche große Aufgabe. Aufdie Kritik alter Besserwisser kann er ge-trost verzichten. Ralf Neukirch

Video: Die Karriere von

Frank-Walter Steinmeier

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Deutschland

SPIEGEL: Frau Ministerin, wären Sie eigent-lich manchmal lieber Chefin des Auswär-tigen Amts?Von der Leyen: Nein. Ich bin gern Verteidi-gungsministerin.SPIEGEL: Außenminister Steinmeier profi-liert sich in der Ukraine-Krise, bei Ihnenist es anders: Wenn Sie sich äußern, wirdIhnen das als Kriegstreiberei ausgelegt. Von der Leyen: Das liegt in der Natur desAmtes. Es ist doch klar, dass die durchRussland ausgelöste Krise vor allem einediplomatische Lösung braucht. Trotzdemmuss das Verteidigungsbündnis angesichtsdes militärischen Vorgehens Russlandsdeutlich machen, dass es stark und ge-schlossen ist. Nur wer einig und sicher ist,verhandelt auch gut.SPIEGEL: Ist die Ukraine-Krise also auch einFall für die Verteidigungspolitik?Von der Leyen: Die Ukraine ist kein Nato-Territorium. Aber Wladimir Putin hatdurch sein Verhalten enorm Vertrauen zer-stört. Die Sorgen der östlichen Partner inder Nato müssen wir deswegen sehr ernstnehmen.SPIEGEL: US-Präsident Barack Obama hatdiese Woche in Warschau eine Verstär-kung der amerikanischen Militärpräsenzin Osteuropa angekündigt. Kann das zurLösung der Krise beitragen?Von der Leyen: Ich begrüße die AnkündigungObamas. Sie ist ein Zeichen des Engage-ments Amerikas für Europa und das trans-atlantische Bündnis …SPIEGEL: … das dazu führt, dass in Europaaufgerüstet wird. Ist das der richtige Weg? Von der Leyen: Zuerst müssen wir unserenöstlichen Partnern einmal Sicherheit ge-ben. Wir Deutschen wissen doch selbst,was es bedeutet hat, an der Grenze zumWarschauer Pakt zu leben. Die Alliiertenhaben uns Sicherheit gegeben, sodass ein prosperierendes Westdeutschland ent-stehen konnte. Das haben wir nicht ver-gessen.SPIEGEL: Fallen wir zurück in die Zeit desKalten Krieges?Von der Leyen: Nein. Aber die Lage ist ernst.Russland hat unendlich viel Vertrauen zer-stört. Trotzdem können in einer global ver-netzten Welt viele Krisen nicht ohne Russ-land gelöst werden. Wir müssen deshalballes tun, damit Russland wieder zu einerPolitik des Dialogs zurückfindet. SPIEGEL: Ist Russland eigentlich noch Part-ner, oder ist es Gegner?Von der Leyen: Russland ist derzeit kein Part-ner. Partner halten sich an gemeinsame

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„Russland ist derzeit kein Partner“SPIEGEL-Gespräch Ministerin Ursula von der Leyen, 55, über die Aufgaben der Bundeswehr in der Ukraine-Krise, eine Bilanz des Afghanistan-Einsatzes und neue weltweite Herausforderungen

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Vereinbarungen. Andersherum gilt aberauch: Russland darf nicht zu unserem Geg-ner werden.SPIEGEL: Das westliche Verteidigungsbünd-nis ist gerade dabei, militärische Signalean Russland zu senden. Von der Leyen: Die Nato ist das stärksteBündnis der Welt und hat über Jahrzehntebewiesen, dass es sich an neue Bedro-hungsszenarien anpassen kann. Ihre Phi-losophie ist, aus der Position der Stärkeheraus einen Dialog führen zu können. Dieausgestreckte Hand zu Russland muss ausder Position der Stärke kommen.SPIEGEL: Muss sich die Nato nun einer neu-en Bedrohung anpassen? Balten und Polenwollen Nato-Kampftruppen in Osteuropa.Das berührt aber den Grundlagenvertragmit Russland. Was ist Ihre Position?Von der Leyen: Auch wenn Russland dieGrundakte einseitig verletzt hat, solltenwir sie einhalten. Regeln, die wir uns ein-mal gegeben haben, sollte man nicht leicht-fertig über Bord werfen. Sie können eineBasis für einen Neuanfang sein. Auch eineerschütterte Basis ist besser als gar keine.Für Polen und das Baltikum ist wichtig,dass die Nato schnell reagieren kann. Daskann man heute auch ohne fest stationierteVerbände gewährleisten.SPIEGEL: Könnte die Nato in der gegenwär-tigen Aufstellung das Baltikum konventio-nell verteidigen?Von der Leyen: Ja. SPIEGEL: Nach unseren Recherchen sehendas viele in der Nato, in den Geheimdiens-ten und in der Politik anders. Von der Leyen: Noch mal, die Nato ist dasstärkste Militärbündnis der Welt. PräsidentPutin weiß, dass die Nato geschlossen hin-ter ihren östlichen Mitgliedern steht. Des-halb wird er nicht an die Souveränität undIntegrität dieser Länder rühren.SPIEGEL: Was trägt die Bundeswehr dazubei, dass die Krise bewältigt wird?

Von der Leyen: Die Bundeswehr beteiligt sichan Maßnahmen der Nato, die den baltischenStaaten Sicherheit geben. Wir führen denNato-Minenabwehrverband in der Ostsee,wir werden uns ab September an der Luft-überwachung beteiligen. Als erstes Nato-Mit-glied haben wir mit Polen und Dänemarkeinen konkreten Vorschlag für die mittelfris-tigen Maßnahmen der Rückversicherung.Wir stärken in Polen das MultinationaleKorps Nordost in Stettin, damit die Natokünftig im östlichen Bündnisgebiet schnellerreagieren kann. Das wird anerkannt.SPIEGEL: Sie wollen gut 50 zusätzliche Sol-daten nach Stettin, an einen der denkbarwestlichsten Standorte in Osteuropa, schi-cken. Ist das mehr als Symbolpolitik?Von der Leyen: Dahinter steht viel mehr. Wirgehen jetzt in die Feinplanung. Das KorpsNordost steht für die Anpassungsfähigkeitder Nato: Es ist multinational, rotierendund flexibel. Die Truppen bleiben überEuropa verteilt, üben aber gemeinsam undsind im Ernstfall in der Lage, gemeinsamzu agieren. Das ist die moderne Nato-Phi-losophie. Es geht nicht mehr um die stati-sche Stationierung großer Truppenverbän-de. Das ist das veraltete Konzept des Kal-ten Krieges. SPIEGEL: Obama hat am Dienstag in War-schau auch noch einmal mehr finanziellesEngagement der Europäer für die Nato an-gemahnt.Von der Leyen: Die Vereinigten Staaten kön-nen nicht dauerhaft überproportionale Las-ten in der Nato tragen. Aber viele euro-päische Nationen haben wegen der Euro-krise schrumpfende Staatshaushalte unddamit auch Verteidigungsbudgets. Wirmüssen den Abwärtstrend stoppen. Wich-tiger ist aber, dass wir unsere Mittel effek-tiver einsetzen.SPIEGEL: Muss auch Deutschland aufgrundder veränderten Bedrohungslage mehr fürVerteidigung ausgeben?

Von der Leyen: Wir haben zahlreiche Heraus-forderungen zu meistern. Dafür brauchenwir einen solide finanzierten Verteidi-gungshaushalt. Wie sich dieser Etat inDeutschland entwickelt, hängt vor allemvon der wirtschaftlichen Entwicklung ab. SPIEGEL: Wenn die deutsche Wirtschaft wei-ter wächst, kann auch das Verteidigungs-budget wachsen?Von der Leyen: Darüber rede ich erst mit mei-nem Finanzminister.SPIEGEL: In Deutschland sind Aufrüstungund Militäreinsätze unpopulär. Wären mi-litärische Investitionen überhaupt durch-zusetzen?Von der Leyen: Nicht als Selbstzweck. DieDeutschen gehen sehr differenziert an die-se Fragen heran. Sie stellen zu Recht dieFrage, wofür und warum Geld ausgegebenwird. Umfragen zeigen, dass die Deut-schen durchaus befürworten, dass wir unszur Sicherung von Frieden und Freiheitengagieren. Das ist die deutsche Farbe, diewir in die Bündnisse tragen: Wir wollenuns einbringen. Aber nicht tollkühn undum jeden Preis, sondern mit der deutschenGründlichkeit und Beharrlichkeit. SPIEGEL: Für den Einsatz der Bundeswehrin Afghanistan gab es nie Rückhalt in derBevölkerung. Warum?Von der Leyen: Afghanistan ist ein komplexerKonflikt, der nicht kurzfristig gelöst wer-den kann. Es ist der steten Mühe wert zuerklären, dass Deutschlands Sicherheitauch am Hindukusch verteidigt wird, umes in den Worten meines Vorgängers PeterStruck zu sagen. Erfolge sind langsam sicht-bar, aber die lange Zeit des Einsatzes, dieVerluste, die Zweifel prägen die deutscheDebatte. SPIEGEL: Muss man sich deshalb mit wenigzufriedengeben? Von der Leyen: Nein. Es macht einen Unter-schied für die Zukunft Afghanistans, wennacht Millionen Kinder zur Schule gehen, al-

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Bundeswehrsoldaten bei Gefechtsübung: „Die Nato ist das stärkste Bündnis der Welt“

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Deutschland

lein drei Millionen Mädchen. Wenn bei denPräsidentschaftswahlen die Bevölkerungauch unter Gefahr durch hohe Wahlbeteili-gung mit den Füßen für ihre Rechte ab-stimmt. Dieser Weg ist doch der richtige.SPIEGEL: Die Sicherheitslage hat sich im ver-gangenen Jahr aber wieder massiv ver-schlechtert. Von der Leyen: Die Übergabe der Sicherheits-verantwortung in die Hände der Afghanenist auf Dauer der einzige Weg zur Selbst-bestimmtheit. Die internationale Gemein-schaft tritt jetzt in die zweite Reihe. Wirberaten, unterstützen und bilden aus. SPIEGEL: Und die Afghanen sehen sich nunmit einer wachsenden Anzahl an Zwi-schenfällen konfrontiert, während die Bun-deswehr sich mehr und mehr zurückzieht.Nennen Sie das Erfolg?Von der Leyen: Das ist bitter, aber der Punktist gekommen, dass wir die Verantwortungübergeben. Diese Verantwortung wollendie Afghanen auch haben.SPIEGEL: Waren die Fortschritte zwölf JahreEinsatz und die mehr als 50 Opfer unterBundeswehrsoldaten wert?Von der Leyen: Ich halte nichts von diesenAufrechnereien. Der Schmerz der betrof-fenen Familien ist durch nichts aufzu -wiegen. SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, dassman in einigen Jahren zu dem Schlusskommt, dass die Mission gescheitert ist?Von der Leyen: Die jüngste Entwicklungstimmt hoffnungsvoll, aber ich kann nichtin die Glaskugel sehen. Wichtig ist, dasswir unsere Lehren aus dem Einsatz ziehen.Eine davon ist, dass militärische Einsätzeimmer mit Diplomatie und zivilem Aufbaukombiniert sein müssen. SPIEGEL: Dennoch scheint sich die Politiknur zögerlich kritisch mit dem Einsatz aus-einandersetzen zu wollen. Fehlt es an einerehrlichen Bilanz?Von der Leyen: Stellen wir uns doch einmalvor, die internationale Gemeinschaft hätteden Taliban die Herrschaft überlassen.Stünden wir heute besser da? SPIEGEL: US-Präsident Obama hat angekün-digt, die eigenen Truppen 2016 komplettvom Hindukusch abzuziehen. Steht dasnicht dem Ziel der Nachhaltigkeit ent -gegen? Von der Leyen: Ich bin froh, dass Obama Zah-len genannt hat. Jetzt können wir mit allenanderen Nationen die Unterstützungsmis-sion nach dem Ende des Kampfeinsatzesgemeinsam ausplanen. Jetzt sind vieleSchritte bis 2016 zu tun. Wir sollten über-legen, wie wir das Land bis dahin auf einenmöglichst guten Weg bringen.SPIEGEL: Was bedeutet es für das Bundes-wehr-Engagement, wenn die Amerikanerabziehen?

* Gordon Repinski und Christiane Hoffmann im Vertei-digungsministerium in Berlin.

Von der Leyen: Das ist aktuell reine Speku-lation. Klar ist nur, wir haben diesen Ein-satz im Bündnis begonnen, und wir wer-den ihn auch im Bündnis beenden. AuchObama hat in seiner West-Point-Rede voreinigen Tagen die Bedeutung der engenZusammenarbeit mit den Partnernationenbetont.SPIEGEL: Gleichzeitig hat er seine Ankündi-gung im Alleingang gemacht. Von der Leyen: Es war ein wichtiges Startsig-nal. Die Amerikaner nehmen nun mal eineSchlüsselrolle ein. Viele Nationen habenauf dieses Startsignal gewartet und gehenjetzt daran, die Unterstützungsmission aus-zuplanen.

SPIEGEL: Die USA nehmen eine weniger do-minante Rolle in der Weltsicherheitspolitikein als früher. Was bedeutet das fürDeutschland?Von der Leyen: Die USA bleiben ein wichtigerPartner. Deshalb ist Obamas Ansage, inBündnissen zu agieren, ein gutes Zeichen:Innerhalb von Nato und EU wird Deutsch-land seine Verantwortung wahrnehmen. SPIEGEL: Die Zahlen sagen im Moment dasGegenteil. Vor einigen Jahren waren mehrals 10 000 Soldaten im Auslandseinsatz,jetzt sind es weniger als die Hälfte.Von der Leyen: Die Zahl der Soldaten im Ein-satz sagt wenig darüber aus, wie Deutsch-land sich international engagiert. Da gibtes andere Anhaltspunkte.SPIEGEL: Nämlich?Von der Leyen: Es geht nicht immer nur umMilitär, sondern um die grundsätzliche Hal-tung, ob man bereit ist, Verantwortung zuübernehmen. Ich habe aus der Enthaltungder Bundesregierung in der Libyen-Kriseim Weltsicherheitsrat im Jahr 2011 gelernt.Das hat international für starke Irritatio-nen gesorgt, deswegen teile ich die Hal-tung des Bundespräsidenten und des Au-ßenministers, die gesagt haben: Deutsch-land muss sich mehr engagieren. Das istauch passiert. Aber Vertrauen zurückzu-gewinnen, das gelingt nicht über Nacht.

SPIEGEL: Nach den Reden konnte man eherden Eindruck gewinnen, es bleibt bei spek-takulären Ankündigungen, denen kaumetwas folgt.Von der Leyen: Das sehe ich überhaupt nichtso. Schauen Sie, was sich seit Jahresbeginngetan hat. Deutschland beteiligt sich bei derVernichtung syrischer Chemiewaffen, inMali setzen wir einen Schwerpunkt bei derAusbildungsmission. In Somalia sind wirwieder an der Seite unserer Partner der EU-Trainingsmission aktiv. Und der EU-Einsatzin Zentralafrika kam erst ins Rollen, alsDeutschland die Schlüsselfähigkeit im Luft-transport und in der medizinischen Evaku-ierung zur Verfügung gestellt hat.

SPIEGEL: Besser geht es der Zentralafrikani-schen Republik seitdem nicht.Von der Leyen: Schnellen Erfolg hat auch nie-mand versprochen. Die Mission steht ganzam Anfang. Das Problem in Zentralafrikaist, dass wir es mit einer zerfallenden Ge-sellschaft zu tun haben. Da sind schonSchutzzonen ein Wert an sich. SPIEGEL: Wie passt Ihr Satz aus München,dass Gleichgültigkeit keine Option sei, zuder Passivität in Syrien? Von der Leyen: Die Diplomatie arbeitet un-ermüdlich. Und Deutschland engagiertsich vielfältig.SPIEGEL: Noch einmal: Es ist ein Konfliktmit mittlerweile 160 000 Toten und neunMillionen Flüchtlingen. Deutschland ver-nichtet lediglich einige Chemiewaffen.Nennen Sie das deutsches Engagement?Von der Leyen: Die bittere Wahrheit ist: Füreine Lösung dieses höchstkomplexen Konflikts braucht es einen gemeinsamenpolitischen Willen aller. Das wäre auchnicht durch militärisches Eingreifen zu er-setzen. SPIEGEL: Gibt es für Sie Kriterien für einmilitärisches Engagement Deutschlands?Von der Leyen: Einen Generalschlüssel gibtes nicht, dafür sind die Konflikte und Ge-fahren der globalisierten Welt zu unter-schiedlich. Fest steht, Deutschland wirdsich immer nur in Bündnissen militärischengagieren. Und wir sind überzeugt vomPrinzip der vernetzten Sicherheit. Dasheißt, Diplomatie Hand in Hand mit wirt-schaftlicher Zusammenarbeit und wennnötig auch mit dem Militärischen. Das istdas deutsche Markenzeichen.SPIEGEL: Warum bekommen Sie eigentlichfür Ihre neue Außenpolitik so viel Gegen-wind aus den eigenen Reihen?Von der Leyen: Ich habe die Erfahrung ge-macht, dass beharrliche Überzeugungs -arbeit auf Dauer wirkt. SPIEGEL: Frau Ministerin, wir danken Ihnenfür dieses Gespräch.

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Von der Leyen, SPIEGEL-Redakteure*

„Wir beraten, unterstützen und bilden aus“

„Deutschland muss sich mehr engagieren. Das ist auch passiert.“

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nicht zum Studium oder zur Ausbildunggehört.

Viele Unternehmen der Kultur- und Medienindustrie befürchten, sich die ge-forderten 8,50 Euro Stundenlohn nicht leis-ten zu können. Und so haben zahlreicheIntendanten, Verlagsmanager und Musik -unternehmer angekündigt, zukünftig keinefreiwilligen Praktika mehr anzubieten. Vie-len jungen Erwachsenen wird der Berufs-einstieg dadurch erschwert.

Das Hamburger Musiklabel Tapete Re-cords etwa will keine Probejobs mehr an-bieten. „Es verlieren beide Seiten“, klagtMitgründer Gunther Buskies. „Die Prakti-kanten können unser Unternehmen nichtmehr kennenlernen, und wir wissen nicht,wie wir die ganze Arbeit erledigen sollen.“Auch der Berliner Suhrkamp Verlag, derderzeit vier Hilfsjobber beschäftigt, hältdie Stellen künftig für „nicht finanzierbar“.

Die Einschätzung ist in der Branche weitverbreitet, das zeigt eine Studie des Deut-schen Gewerkschaftsbundes. Danach bekom-men zwei Drittel der Hochschulabsolventen,die im Bereich Kunst und Kultur ein Prak -tikum machen, kein Geld für ihre Arbeit.Wohl kaum eine andere Branche profitiertderart von dem Idealismus und der Fremd -finanzierung ihres Nachwuchses, man könn-te auch sagen: Viele Betriebe nutzen ihreProbejobber als billige Arbeitskräfte aus.

Jetzt, wo deren Arbeit erstmals ange-messen vergütet werden soll, werden Stel-len gestrichen: Die 25 Praktikumsplätze,die das Berliner Ensemble (BE) derzeit an-bietet, wird es ab 2015 nicht mehr geben.Die meisten Praktikanten studieren nochoder haben ihr Studium gerade beendet.

An dem Theater der Hauptstadt haben siebisher bei der Regie, der Dramaturgie unddem Bühnenbild mitgearbeitet – in derHoffnung, den Einstieg in ihren Traumjobzu schaffen. Zwar bezahlt das Ensembleseinen Probejobbern kein Gehalt, nichtselten münde ein Praktikum aber in eineFestanstellung, rechtfertigt BE-IntendantClaus Peymann das Vorgehen. „Für unswird es schwieriger, junge Talente zu fin-den, und den Studenten bleiben wertvolleBerufserfahrungen verwehrt.“

So sieht es auch Kolja Briedis. Er forschtüber den Werdegang von Studierenden amDeutschen Zentrum für Hochschul- undWissenschaftsforschung in Hannover. „EinPraktikum macht man nicht, um zu arbei-ten, sondern um etwas zu lernen“, sagt er.„Deshalb ist es nicht richtig, dass diese Beschäftigungsform unter die Mindest-lohnregelung fällt.“

Angesichts der großen Mehrheit der Koalition im Bundestag erwartet Briedis kei-ne grundlegenden Änderungen an dem Ge-setz. Er fordert daher, den vom Mindestlohnausgenommenen Zeitraum auf drei Monatezu erhöhen. „Sechs Wochen sind zu wenig,um sich einzuarbeiten“, findet Briedis.

Einige Unternehmer wollen auch in Zu-kunft nicht auf Verstärkung verzichten:Julian Allitt, Geschäftsführer des BerlinerJazzRadios, will dann statt Praktikantenjunge Minijobber auf 450-Euro-Basis an-stellen. „So bleibt immerhin der Kontaktzur kommenden Generation erhalten.“

Andere dagegen kündigen an, sich amMindestlohn vorbeitricksen zu wollen: Sielassen ihre Praktikanten künftig länger ar-beiten als offiziell ausgewiesen. „Ich werdedie Verträge meiner Praktikanten ab jetztso frisieren, dass auf dem Papier allesstimmt“, droht etwa ein Designer aus Ber-lin-Mitte. „8,50 Euro kann ich einfach nichtbezahlen.“ Hinter vorgehaltener Hand äußern sich Theaterchefs und Musikpro-duzenten ähnlich.

Horst Hippler, Präsident der Hochschul-rektorenkonferenz, erhebt im Namen derKulturindustrie Forderungen an die Bun-desregierung: „Wenn der Bund den Min-destlohn beschließt, muss er dafür sorgen,dass zumindest die öffentlich finanziertenEinrichtungen ihn auch bezahlen können.“Die Kulturindustrie sei besonders be -nachteiligt, weil in den Lehrplänen zahl-reicher geisteswissenschaftlicher Studien-fächer wie Germanistik, Philosophie oderGeschichte kein Pflichtpraktikum vorge-sehen ist. „Deshalb sind die Fakultäten gefragt, zumindest ein Praktikum im Rah-men der Studienordnung zu verlangen“,sagt Hippler. „Denn junge Kultur schaf -fende müssen ausprobieren dürfen, wasihnen liegt.“

Das Ausprobieren muss man sich aller-dings auch leisten können.

Josh Groeneveld, Paul Middelhoff

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Teures AusprobierenGehälter Der geplante Mindest-lohn zwingt Theater, Verlage undMusiklabels, Praktikanten ange-messen zu bezahlen. Viele haltendas für nicht finanzierbar.

Wendy Pladeck hastet von derGarderobe in den Vorführraum,schaltet im Vorbeilaufen die

Decken lampen ein und telefoniert einemSchauspieler hinterher, der noch in derS-Bahn feststeckt. In einer halben Stundebeginnt auf der Bühne des Berliner Kin-der- und Jugendtheaters Grips die Vorstel-lung. Im Foyer strömen der 26-Jährigentuschelnde Fünftklässler entgegen. Für Pla-deck ist das alles Routine, während dervergangenen Spielzeit hat die Studentinzehn Monate lang als Praktikantin gear-beitet. Danach bot ihr die Theaterleitungdie Mitarbeit an einem Projekt an – siesagte zu. „So kann ich neben dem Studiumweiterarbeiten“, schwärmt sie.

Praktika wie das von Wendy Pladeckwird es ab dem 1. Januar 2015 in Deutsch-land kaum mehr geben; dafür sorgt Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD).Ihr Gesetzentwurf zum Mindestlohn giltauch für Praktikanten, falls der Probejoblänger als sechs Wochen dauert und

Theaterpraktikantin Pladeck

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Deutschland

Liebe, Liebe, Liebe, fünf Seiten Liebe,Verklärung, so anrührend, dass dieKampfansage fast nicht auffällt. Sie

kommt, ganz nebenbei, auf der dritten Sei-te, sieben Zeilen, die für das Gedächtnisder Bundesrepublik Deutschland schwer-wiegende Folgen haben könnten.

Maike Kohl-Richter, 50, hat gesprochen.Die Frau von Helmut Kohl, 84, hat derWelt am Sonntag ein langes Interview ge-geben. Sie sprach von Liebe, Pflege, Un-verbrüchlichkeit. Und sie sprach über dieZeit nach dem Tod ihres Mannes. Sie sagte,Kohl habe festgelegt, dass „ich die alleinigeEntscheidungsbefugnis über seinen histo-rischen Nachlass haben sollte“.

Damit allen klar wird, dass dies unan-fechtbar sein soll, fügte sie hinzu: „Dassind alles Dinge, die schon lange vor demUnfall von meinem Mann eindeutig gere-gelt worden sind.“ Soll heißen, er warnicht beeinträchtigt durch die Kopfverlet-zungen, die er 2008 bei einem Treppen-sturz erlitt.

Alleinige Entscheidungsbefugnis. Dasrichtet sich gegen die beiden Söhne Hel-mut Kohls, gegen die CDU, gegen die His-

toriker. Das Archiv Kohls wird zur Privat-sache der Maike Kohl-Richter. Es soll gi-gantische Ausmaße haben und auch Brief-wechsel mit anderen Politikern umfassen.Das Private und das Politische sind hierschwer zu trennen.

Was kann eine relativ junge Frau von ei-nem alten Mann haben? Alles, was Liebeausmacht, ohne Frage. Die Frau eines Spit-zenpolitikers kann zudem Deutungsmachthaben. Kohl-Richter hat diese Macht jetztschon. Besucher berichten, dass sie mitunterdas sagt, was Kohl womöglich sagen würde,könnte er noch unbeschwert sprechen.Nach seinem Tod wird sie die Erinnerungan den Kanzler der Einheit beeinflussenkönnen. Sie kennt dann seine letzten Wortezu allen Themen und entscheidet, was dieWelt erfahren darf und was nicht. VielMacht ist das, viel Bedeutung.

Es ist nicht schicklich, über das Nachle-ben eines Lebenden zu reden, zumal einesKranken, aber Maike Kohl-Richter will esso. Sie ist in diesen Interviewpassagen alsWitwe in Werdung aufgetreten, sie willdiesen Kampf eröffnen, während Kohlnoch lebt. So kann er ihr Zeuge sein. Dasscheint alles sehr gut überlegt.

Den Fall der besitzheischenden Witwegab es schon. Brigitte Seebacher-Brandtwar die letzte Frau Willy Brandts. Auchsie hat sich um dessen Pflege verdient ge-macht, wie Maike Kohl-Richter bei ihremGatten. Auch sie hat Anspruch auf Nach-lass und Deutungsmacht erhoben, zumLeidwesen der SPD, in der mancher ver-mutete, Seebacher-Brandt wolle ihrenMann nachträglich in einen rechten Sozial -demokraten verwandeln.

Wie es dabei zuging, verraten einigeSchlagzeilen aus den Jahren 1993 und 1994,also nach Brandts Tod im Oktober 1992.

Frankfurter Rundschau: „Wem gehört Wil-ly? oder Der Streit um ein politischesErbe“. Stern: „Die Macht der Witwe“. Zeit:

„Die Erbin auf dem Kriegspfad“. Es könntewieder so kommen.

Allmählich etablieren sich junge Spit-zenpolitikergattinnen zu Politfiguren derBundesrepublik. Sie haben Machtansprü-che. Entweder sie gehen in die Parlamen-te – Doris Schröder-Köpf in den nieder-sächsischen Landtag, Michelle Münteferingin den Bundestag. Oder sie arbeiten ampolitischen Gedächtnis der Bundesrepu-blik. Das ist natürlich ihr gutes Recht. Abereine „alleinige Entscheidungsbefugnis“geht über dieses Recht hinaus.

Ein Spitzenpolitiker gehört nicht alleinseiner Familie, schon gar nicht in einer De-mokratie, in der das Wahlvolk einen Poli-tiker zu dem macht, was er ist. Das habendie Kinder und Frauen von Brandt undKohl schon zu deren aktiven Zeiten leid-voll erlebt. Lars Brandt und Peter Kohl ha-ben eindrucksvolle Bücher darüber ge-schrieben.

Ein Politiker, der Geschichte schreibt,gehört auch nach seinem Ableben nichtallein seiner Familie. Auf lange Sicht giltnicht einmal der Schutz der Intimsphäre.Zwei Jahre nach dem Tod des Reichsgrün-ders Otto von Bismarck wurden dessenBriefe an seine Frau veröffentlicht. Seitherweiß die Welt, dass dieser eisenharte, hass-erfüllte Mann eine zarte Seite hatte. Ohnedieses Wissen wäre das Bild von Bismarcknicht vollständig.

Das Interview hat gezeigt, warum MaikeKohl-Richter nicht die alleinige Hüterinüber den Nachlass Helmut Kohls sein sollte.Sie sieht ihn mit einem liebenden, verklä-renden Blick, sie sieht einen großen Mann,dem „furchtbares Unrecht“ geschehen ist.Sie behandelt seine Parteispendenaffärewie eine Petitesse. Sie ist in hohem Maßebefangen, und anders kann es gar nicht sein:Sie ist die Ehefrau, nicht eine Historikerin.In dem Interview klingt an, dass sie sicheine Mission vorgenommen hat: HelmutKohl ein gerechtes Bild in der Geschichtezu verschaffen. Gerecht heißt hier gut.

Und sie ist die zweite Ehefrau, auch dasspielt eine Rolle. Während Kohls Kanzler-jahren war Hannelore Kohl an seiner Seite.Auch das fördert womöglich nicht geradeMaike Kohl-Richters Neutralität im Um-gang mit der Geschichte ihres Mannes, dieauch als Privatgeschichte interessant seinwird, wie bei Bismarck.

Kohl-Richter hat in dem Interview ge-sagt: „Ich bin nicht in der Lage, den histo-rischen Nachlass meines Mannes allein zuverwalten.“ So ist es. Sie will sich Hilfeholen, weiß aber noch nicht, wer ihr helfenkönnte. Am besten wären Wissenschaftler,die neutral sind und die sich nicht ihrer„alleinigen Entscheidungsbefugnis“ unter-werfen müssen. Dirk Kurbjuweit

31DER SPIEGEL 24 / 2014

PolitischesPrivatarchivKarrieren Maike Kohl-Richterwill allein über den Nachlass desAltkanzlers herrschen. Das Erbeaber wäre bei Wissenschaftlernviel besser aufgehoben.

Ehepaar Kohl-Richter, Kohl

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Deutschland

Wer wissen will, was der Stand inder Steuersache Schwarzer, Alice,ist, der kann zum Beispiel auf

die Website der Feministin gehen. Dannweiß er zumindest schon mal, wie ihreFans die Causa mit dem früheren Millionen -versteck in der Schweiz sehen.

„Ich bin es langsam leid, die Anfeindun-gen gegen Sie zu lesen“, schreibt einer imGästebuch. Ein anderer ist „erschüttert.Nicht über Sie, sondern über die Bericht-erstattung der Medien bezüglich dieserLappalie“. Und der Nächste gibt ihr denTipp: „Hinfallen, aufstehen, Krone richten,weitergehen“. Von den 66 Einträgen, dieetwas mit ihrem Steuerfall zu tun haben,sind 66 von Sympathie getragen, und dafürgibt es wohl nur zwei Erklärungen: Ent-weder hat keiner Alice Schwarzer etwasrichtig Böses geschrieben. Oder sie hat ihreKrone gerichtet und alle Meinungen un-terdrückt, die ihr nicht gefielen.

Wer dagegen wissen will, wie es wirk-lich um die Steuersache steht, ziemlichprekär nämlich, der verlässt sich besserauf Fahnder als auf Fans. Was nachSchwarzers Lesart nur ein juristischer Rou-tinefall sein sollte, eine Selbstanzeige unddamit verbunden die Nachzahlung vonrund 200 000 Euro Steuern plus Zinsen,könnte noch zum Fiasko für sie werden.Die Sache ist nämlich keineswegs erledigt,nicht für das zuständige Finanzamt Gum-mersbach, nicht für die SteuerfahndungKöln und auch nicht für die dortige Staats-anwaltschaft, die Spezialisten der Schwer-punktabteilung 113.

Im Gegenteil: Die Finanzbeamten undErmittler haben die Selbstanzeige der 71-Jährigen zum Anlass genommen, ihre Steu-ererklärungen der vergangenen Jahre aufsGenaueste zu durchforsten. Sie stießen of-fenbar auf etliche Hinweise für Steuerver-gehen, die nichts mit dem Schweizer Kon-to zu tun haben. So belastende Hinweise,dass die Ermittler im Mai in einer großan-gelegten Aktion mehrere Objekte durch-suchten und mehrere Bankkonten über-prüften.

Dabei gingen sie dem Verdacht nach,dass die Emma-Herausgeberin, offenbarzusätzlich zur Causa Schweiz, Steuern insechsstelliger Höhe hinterzogen haben soll.Damit wäre aber auch die Selbstanzeigewertlos – und das Geld, das sie mit demSchweizer Konto hinterzogen hatte, dochein Fall für die Strafverfolger. Denn Selbst-anzeigen gelten nur, wenn darin alle maß-geblichen Steuersünden ausgepackt wer-

den. Wer dagegen etwas verschweigt, imschlimmsten Fall vorsätzlich, um den Fis-kus erneut zu hintergehen, muss die be-sondere Härte des Gesetzes fürchten.

Ihre Verdienste um die Gleichberechti-gung der Frau kann Schwarzer zwar nie-mand nehmen. Seit 37 Jahren steht sie ander Spitze ihres Blattes, sogar einen mit-telalterlichen Wehrturm in Köln hat sie fürdie Sache der Frau erobert und im „Frau-enMediaTurm“ ein feministisches Archivuntergebracht. Doch mit der neuen Wen-dung ihres Steuerfalls könnte ihr ein ähn-licher Absturz wie Ex-FC-Bayern-Chef UliHoeneß drohen. Nicht nur eine empfindli-che Strafe, sondern auch das Aus als mo-ralische Instanz der Republik. Schon seitihrer Selbstanzeige erscheint sie kaumnoch in Talkshows.

Im Februar hatte sie in einer – je nachLesart – selbstbewussten, selbstgerechten,selbstherrlichen Erklärung ein kleinesSchuldbekenntnis und ein großes Lamentogegen den angeblichen Sittenverfall derPresse formuliert. „In eigener Sache“, soüberschrieb sie den Beitrag auf ihrer Web-site. „Der Fall ist auch aus Sicht der Steuer -behörde bereinigt. Mit welchem Recht alsojetzt diese Denunzierung?“, fragte sie undschrieb Sätze wie: „Inzwischen ist alles le-gal“, „Meine Steuern sind gezahlt“, „Steuer -fehler, wie ich einen gemacht habe, kannman wieder gutmachen. Und genau dashabe ich getan.“

Sollte dagegen stimmen, was die Ermitt-ler vorerst nur annehmen, dann müssteSchwarzer damals eigentlich klar gewesensein, dass sie die Öffentlichkeit getäuschthatte. Das Ende solcher Legenden würdein diesem Fall auch das Ende einer Legen-

de bedeuten. Alice Schwarzer wäre dannnicht nur die Heroine des Feminismus, son-dern eine Herumtrickserin gewesen, diean ihr Geld dachte, nicht ans Gemeinwohl.Noch dazu im Wiederholungsfall.

Die Selbstanzeige für das SchweizerKonto hatte Schwarzer am 25. November2013 über einen Münchner Steuerspezia-listen beim Finanzamt Gummersbach ein-gereicht. „Ganz ehrlich: Auch mein per-sönliches Unrechtsbewusstsein hat sich andem Punkt erst in den letzten Jahren ge-schärft“, schrieb sie später dazu.

Aber es dürften wohl vor allem die letz-ten Monate vor dieser Entscheidung gewe-sen sein, die ihr Bewusstsein akut geschärfthatten. Im April 2013 war der Fall von UliHoeneß mit seinem Schweizer Konto be-kannt geworden; er hatte Steuersünder mit ähnlichen Gelddepots aufgeschreckt.Schwar zer zeigte sich für falsche Steuerer-klärungen der Jahre 2002 bis 2012 an. Wassie vorher an Gewinnen eingestrichen hat-te – das Schweizer Konto hatte sie schonseit den Achtzigerjahren –, blieb vor demZugriff des Staates sicher.

Gleich nach der Selbstanzeige, noch imalten Jahr, hatte die Staatsanwaltschaft Kölnein Verfahren mit dem Aktenzeichen 113Js 1561/13 eröffnet. Daran war nichts Unge-wöhnliches, denn mit einer Selbstanzeigewird die Steuerhinterziehung zugegeben,nur dass sie mit einer korrekten Anzeigeohne strafrechtliche Folgen bleibt. Ob kor-rekt oder nicht, das aber müssen Ermittlervon Steuerfahndung und Staatsanwaltschaftzunächst überprüfen, erst dann gibt es denerhofften Freibrief – oder auch nicht.

Unklar ist, ob die Fahnder im FallSchwarzer auch etwas an den Angabenzum Schweiz-Konto an sich auszusetzenhaben. Solche Selbstanzeigen sind juristi-sche Hochseilakrobatik ohne Netz; ein ein-ziger Fehler, und die ganze Erklärung kannsich in ein wertloses Stück Papier verwan-deln. Doch aufs Hochseilakrobatischekommt es bei der Frauenrechtlerin mögli-cherweise nun nicht mehr an. Wie es aus-sieht, wurden die Steuerfahnder bei ihrerWühlarbeit woanders fündig, mit dem Ef-fekt, dass auch die Selbstanzeige für dieSchweiz aus ihrer Sicht ungültig ist.

Sie hatten, wie es in der Juristenspracheheißt, zureichende tatsächliche Anhalts-punkte dafür entdeckt, dass Schwarzer fürdie Jahre 2006 bis 2012 falsche Einkommen-steuererklärungen abgegeben hatte und für2010 bis 2012 auch falsche Umsatzsteuer-erklärungen. Dabei geht es diesmal nicht

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„Ganz ehrlich“Ermittlungen Durchsuchung bei Alice Schwarzer: Fahnder gehen dem Verdacht nach, dass die Feministin über Jahre weit mehr Steuern hinterzog, als sie bisher eingeräumt hat.

„Ich habe einen Fehlergemacht, ich war nachlässig.Aber ich habe den Fehlerwieder gutgemacht.“

„Inzwischen ist alles legal …Meine Steuern sind gezahlt.“

„Der Fall ist auch aus Sicht derSteuerbehörde bereinigt. Mit welchem Recht also jetztdiese Denunzierung?“

Alice Schwarzer am 2. Februar 2014

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um Zinsen aus Geldanlagen wie in derSchweiz, wo mal 3,5 Millionen Euro gele-gen haben sollen – ein Betrag, den Schwar-zer nicht kommentiert. Die Ermittler kon-zentrieren sich offenbar auf ihre Einnah-men, die sie als Selbstständige erzielt hat.

Im Visier der Fahnder könnten damitzum Beispiel die Honorare stehen, dieSchwarzer mit ihren Büchern, Zeitungs -artikeln oder Fernsehauftritten kassierthaben dürfte. Nach einer ersten Prüfunghält das Finanzamt Gummersbach Schwar -zer für verdächtig, mindestens ab 2010Einnahmen aus ihrer selbstständigen Arbeit nicht vollständig angegeben zu haben, auch nicht in ihrer Selbstanzeigevon 2013.

Das reichte den Ermittlern aus, um sicheinen Durchsuchungsbeschluss zu be -sorgen. Am 20. Mai stand die Kölner Steuerfahndung vor Schwarzers Tür. Siedurchsuchte nicht nur im OberbergischenKreis, wo sie ein altes Fachwerkhaus bewohnt, sondern an sechs weiterenAdressen, die mit der Emma-Chefin inVerbindung stehen.

Gleichzeitig hatte ein Richter den Fahn-dern noch acht Durchsuchungsbeschlüssebewilligt, damit sie bei Banken im ganzenBundesgebiet in Konten hineinschauendurften. Damit ist für Schwarzer der Alb-traum jedes Steuerzahlers wahr geworden:dass jetzt jeder Beleg, jede Buchung durch-leuchtet werden dürfte, um kleineren odergrößeren Steuerhinterziehungen auf dieSpur zu kommen.

Schwarzer wollte sich zum Stand desVerfahrens und zu den Verdachtsmomen-ten der Ermittler nicht äußern. Ihr Anwaltbegründete das damit, dass die Fragen desSPIEGEL Schwarzers Privatsphäre beträfenund das Steuergeheimnis verletzten. Weilaber offensichtlich sei, dass hier Infor -mationen direkt von einer Behörde nachaußen durchgestochen worden seien, habeSchwarzer schon eine Strafanzeige gegenunbekannt gestellt.

So wenig sie ihren Anwalt zu den neuenVerdachtsmomenten sagen lässt – im Fe -bruar, in eigener Sache, hatte sie noch vie-le Sätze geschrieben. Darunter einen, dernun noch eine andere Bedeutung gewin-nen kann. „Ja, ich habe einen Fehler ge-macht, ich war nachlässig.“ Der Fehlerkönnte nun gewesen sein, dass sie nur ei-nen Fehler gebeichtet hat, den in derSchweiz, und nachlässig darin war, auchzu ihren möglichen anderen Fehlern zustehen.

„Fehler“ heißen solche Vergehen abernur in der Sprache von Journalisten. In derSprache der Juristen nennt sich so etwas„Ordnungswidrigkeiten“ oder gar „Straf -taten“. Jürgen Dahlkamp, Barbara Schmid

33DER SPIEGEL 24 / 2014

Publizistin Schwarzer vor „FrauenMediaTurm“

Hochseilakrobatik ohne Netz

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Deutschland

Der Leichnam war grausam zugerich-tet. Sven Silbermann lag blutver-schmiert, nur mit einer Unterhose

bekleidet, hinter dem Fußballstadion desEisenbahner-Sportvereins Dresden. EinKind hatte den Toten am 11. November1995 im Brombeergestrüpp gefunden.

Die Handflächen waren mit Schnittwun-den übersät; ein Knochen unterhalb desKiefers war gebrochen, weil der Mann of-fenbar stranguliert worden war. Die Peini-ger hatten, so rekonstruierten die Ermittler,das Opfer gezwungen, sich hinzuknien undLackfarbe zu trinken. Zum Tod führtendrei Messerstiche in den Hals.

Vier Tage später entdeckten Spaziergän-ger in einem Teich 17 Kilometer entfernteine weitere Leiche: Michael Silbermann,den Bruder des Toten vom Fußballfeld. Erwar, trotz des kalten Novemberwetters,nur mit Slip, Sweatshirt und Socken be-kleidet. Schädel und Augenbrauen wiesenSpuren stumpfer Gewalt auf. An Hand-und Fußgelenken fanden sich, wie die Polizei im Tatortbericht festhielt, „ausge-prägte Fesselungsmerkmale“.

Die Morde, sagte der Dresdner Polizei-sprecher damals, seien für Sachsen eine„neue Art der Gewalt“. Die Täter konntennie ermittelt werden. Der Fall mit dem Ak-tenzeichen 401 Js 53540/95 blieb ungelöst.

Jetzt beschäftigt er erneut die Ermittler:Nachdem die Mordserie des „National -sozialistischen Untergrunds“ (NSU) aufge-flogen ist, werden rund 700 Tötungsdelikteauf ein rechtsextremistisches Tatmotivüberprüft. Gab es weitere Mörderbandennach dem Muster des NSU? Oder gehenwomöglich noch mehr Taten auf das Kontoder mutmaßlichen Rechtsterroristen UweMundlos, Uwe Böhnhardt und BeateZschäpe?

Hinweise auf eine Verbindung des Trioszum Dresdner Doppelmord haben die säch-sischen Fahnder bislang offenbar nicht ge-funden. Doch ein SPIEGEL-Team stieß beider Auswertung der NSU-Ermittlungsaktenauf mehrere Indizien für einen Zusammen-hang. Insbesondere die Zeugenaussage ei-nes Jugendfreunds von Mundlos gegenüberBeamten des Bundeskriminalamts legtnahe, dass Mundlos den Toten aus dem Stadion persönlich kannte – und für einenV-Mann des Verfassungsschutzes hielt.

Das wirft Fragen auf: Was wusstenMundlos oder seine rechtsextremen Kum-pane von dem Doppelmord? Hatten siemit Sven Silbermann zu tun? Und: Werhatte ein Interesse am Tod der Brüder?

Spuren führten schon damals ins Neo-nazi-Milieu. Sven Silbermann war einSkinhead, der Mitte der Neunzigerjahreaus der rechten Szene aussteigen wollteund zeitweise mit Ermittlern kooperierthaben soll. Unter sächsischen Extremistengalt der 24-Jährige als Verräter, er wurdeals „Polizei-Silbermann“ geschmäht. Alsdie brutale Tat 1995 publik wurde, kamenMutmaßungen auf: Silbermann sei womög-lich einem rechtsextremistischen Racheaktzum Opfer gefallen, hieß es damals in derLokalpresse. Seinen 22-jährigen Bruder Michael könnte es getroffen haben, weiler die Täter erkannt habe.

Doch die Dresdner Polizei konzentrierteihre Ermittlungen bald auf Drogen- undWaffengeschäfte, bei denen Sven Silber-mann mitgemischt haben sollte. Für denk-bar hielt sie einen Streit im Rotlichtmilieuoder Verbindungen Silbermanns zur „al-gerischen Mafia“. Für „diese Variante“, soheißt es in einem alten Polizeivermerk,

spreche unter anderem die „typische alge-rische Mordart Messerstich“. Bis heutekonnten solche Hypothesen nicht bestätigtwerden. Ermittlungen in der DresdnerHalbwelt führten zu keinem Ergebnis.

Dass der Fall Silbermann jetzt neu auf-gerollt werden soll, liegt an der Arbeit des„Gemeinsamen Abwehrzentrums gegenRechtsextremismus“ von Bund und Län-dern. Das Zentrum wurde Ende 2011 alsReaktion auf das Behördenversagen imNSU-Komplex gegründet. Den DresdnerDoppelmord stuften sächsische Fahnderals überprüfenswert ein.

Hinter der „regelrechten Hinrichtung“,so heißt es nun in einem internen Papierdes Dresdner Innenministeriums, könntedurchaus „eine Bestrafungsaktion“ derrechten Szene gesteckt haben. Allerdingssei bis heute unklar, „weswegen sich dieBrüder“ in den Augen der Täter „schuldiggemacht haben könnten“. Derzeit durch-forsten sächsische Beamte noch einmal die

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Fundstück im PappkartonVerbrechen 1995 wurden ein Dresdner Skinhead und sein Bruder ermordet, jetzt rollen Ermittlerden Fall neu auf. Führt die Spur bis zum „Nationalsozialistischen Untergrund“?

1 Sven Silbermann 2 Michael Silbermann 3 Neonazi-Parole

in Dresden-Gorbitz 1991 4 Demonstranten in Dresden

nach dem Tod des Rechtsextremisten Rainer Sonntag 1991

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knapp 4000 Seiten starke Ermittlungsakte,prüfen alte Spuren und vernehmen neueZeugen. Außerdem jagen sie – dank ver-besserter Analysetechnik – seinerzeit si-chergestellte DNA-Fragmente durch dieDatenbanken.

Wichtige Hinweise könnte außerdem dieZeugenaussage des einstigen Mundlos-Ver-trauten aus dem NSU-Verfahren liefern.Fast fünf Stunden lang hatte der Manndem Bundeskriminalamt im Dezember2011 Rede und Antwort gestanden. DerZeuge gehörte zu den wenigen Freundenvon Mundlos, die nie mit der rechten Sze-ne sympathisiert und dennoch das Vertrau-en des Neonazis genossen hatten. Bis kurznach Mundlos’ Abtauchen im Januar 1998,so sagte er aus, habe er Kontakt zu ihmgehabt. In präzisen, reflektierten Sätzenberichtete der Zeuge über die Jugend, dieGesinnung und die stetige Radikalisierungdes einstigen Schulkameraden.

Ob Mundlos jemals „Beziehungen zumVerfassungsschutz“ erwähnt habe, wolltendie Ermittler am Ende der Vernehmungwissen, egal ob von sich selbst oder vonFreunden. Die Antwort des Zeugen fielseltsam aus: In den letzten Monaten vorseiner Flucht habe Uwe einmal über „eineSache“ in einem „Stadion in Dresden“ ge-sprochen, „wo eine tote Person gefunden

wurde“. In diesem Zusammenhang habeer „von einem V-Mann“ gesprochen. Er,der Zeuge, habe den Eindruck gehabt, dassUwe den Toten persönlich gekannt habe.

Die Ermittler stutzten: ein toter V-Mannmit Verbindungen zum NSU? Sie fragtennach, doch eine zweite Vernehmung desZeugen brachte sie nicht weiter – an De-tails konnte er sich nicht erinnern. Auchals ihn die Beamten mit dem Namen Sil-bermann konfrontierten, gab es keine Re-aktion.

Dass Mundlos damals tatsächlich vonSven Silbermann gesprochen hat, legt je-doch ein weiteres Beweisstück nahe, dasdas SPIEGEL-Team bei der Auswertung inden NSU-Akten fand: ein Zeitungsartikel,der einst in der zur Bombenwerkstatt um-funktionierten Garage des Trios Mundlos,Böhnhardt und Zschäpe in Jena sicherge-stellt worden war. Die Überschrift: „Er-mordete Silbermann-Brüder – EinzigerZeuge hat Todesangst“.

Warum die Neonazis einen Artikel überden Dresdner Doppelmord archiviert hat-ten, ob sie den darin erwähnten Zeugenkannten oder gar selbst etwas mit der Tatzu tun hatten, wurde jahrelang nicht er-mittelt. Dabei hatten die Fahnder den Zei-tungsausschnitt schon im Januar 1998, kurznach der Flucht des Trios, gefunden – zwi-

schen rechtsextremistischen Schulungs -unterlagen, Anleitungen zur konspirativenKommunikation und Aufrufen zur Bildungbrauner Widerstandszellen.

Der Artikel verstaubte als „Asservat 23C“ in einem „Karton mit diversen Papie-ren“. Forensisch ausgewertet wurden dieDokumente aus der Garage erst, nachdemder NSU im November 2011 aufgeflogenwar und die Bundesanwaltschaft die Er-mittlungen übernommen hatte. Es solltebis zum Januar 2013 dauern, bis das Bun-desamt für Verfassungsschutz einen 46-sei-tigen Untersuchungsbericht zu den Unter-lagen vorlegte. Der Fund aus dem Kartonwird aber nur mit einem Satz erwähnt: Indem Artikel gehe es um „unaufgeklärteFoltermorde an Aussteigern der gewalt -tätigen Dresdner Neonazi-Szene“.

Hätten die NSU-Fahnder nicht spätes-tens jetzt alarmiert sein müssen? Schließ-lich wussten sie, dass die Mitglieder derTerrorzelle akribisch Medienberichte überihre Taten sammelten. Zudem war be-kannt, dass Mundlos über enge Verbindun-gen ins sächsische Neonazi-Milieu verfüg-te. Wie aus Verfassungsschutzunterlagenhervorgeht, hatte er Kontakte nach Dres-den. Im Jahr des Doppelmords besuchteer dort mindestens ein Rechtsrock-Konzert.Die sächsische Landeshauptstadt zählte inder Nachwendezeit zu den Hochburgender ostdeutschen Neonazi-Szene. Bewoh-ner des Plattenbauviertels Gorbitz, wo dieSilbermann-Brüder aufwuchsen, erinnernsich an den Spruch: „Kommst du mal nachGorbitz rein, muss dein Gruß ,Heil Hitler!‘sein.“ Gesäumt von zwei Hakenkreuzenprangte der Satz in aufgesprühten Letternüber einem Fußgängertunnel.

Sven Silbermann, so heißt es in seinemfrüheren Umfeld, sei „in der ganzen Stadtbekannt“ gewesen. Selbst Polizisten hättenden Skin gegrüßt. Silbermanns Bekanntenzufolge hielt er sich häufig in einem Gor-bitzer Jugendklub auf, der damals fest inder Hand rechter Kameraden gewesen sei.Mehrere Gefängnisaufenthalte sollen denSkinhead dann radikalisiert haben.

Kontakt hatte er auch mit dem 1991 voneinem Zuhälter erschossenen Rechtsextre-misten Rainer Sonntag, einem gefeiertenVorbild der gewaltbereiten Dresdner Skin-heads. Der Neonazi besuchte, so erinnernsich Bekannte von Silbermann, Sven sei-nerzeit in der elterlichen Wohnung. In Sil-bermanns privatem Telefonbuch, das demSPIEGEL vorliegt, findet sich zudem dieNummer eines Sonntag-Vertrauten.

Sven Silbermann hätte den Sicherheits-behörden also einiges berichten können –und hat dies offenbar auch getan. Bei denaktuellen Nachermittlungen sagte ein Zeu-ge den sächsischen Fahndern, dass Silber-mann der Dresdner Polizei 1992 Tipps gegeben habe. Zudem existieren merk -würdige Erzählungen seiner inzwischen

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Deutschland

verstorbenen Großmutter. Sven Silber-mann habe ihr, so schrieben die Zeitungendamals, kurz vor seinem Tod gesagt: Erhabe Bodyguards und eine Geheimnum-mer, die er anrufen könne, wenn er inSchwierigkeiten stecke. Auch habe manihm eine neue Wohnung versprochen, woihn niemand finden würde.

Sollte das stimmen, kooperierte SvenSilbermann womöglich doch mit den Si-cherheitsbehörden – obwohl die DresdnerPolizei nach seinem Tod eilig dementierthatte, den Skinhead jemals als Informan-ten geführt zu haben. Heute wollen die Ermittler dies nicht mehr kategorisch aus-schließen. Oder war er dem Verfassungs-schutz zu Diensten, wie Mundlos einst sei-nem Schulfreund, der später als Zeuge aus-sagte, angedeutet hatte? Darauf gebe eskeine Hinweise, heißt es heute in sächsi-schen Sicherheitskreisen.

Ob V-Mann oder nicht – am Ende seineskurzen Lebens muss Sven Silbermann eineMenge Feinde gehabt haben. Knapp dreiMonate vor seiner Ermordung griff ihn inGorbitz jemand mit einem Messer an undverletzte ihn am Handgelenk. Wie aus al-ten Unterlagen hervorgeht, kannte Silber-mann den Täter, anzeigen wollte er ihn je-doch nicht. Silbermanns Verwandte berich-ten zudem von einem Skinhead-Trupp, dersich bei ihnen nach Sven erkundigt habe.

Später ging bei der Polizei ein Hinweisein: Sven Silbermann habe eine „Mord-drohung aus der JVA Bautzen“ erhalten.Bei einem der Urheber habe es sich um einen einschlägig bekannten DresdnerRechtsextremisten gehandelt. Diese Spurführte die Fahnder jedoch ebenso wenigzum Erfolg wie der Verdacht, dass Silber-mann einer rechten Szenegröße aus Dres-den den Kaufpreis für eine Waffe – 2500Mark – schuldig geblieben sein soll.

Wenige Tage vor seinem Tod, so berich-ten Augenzeugen, suchte Sven SilbermannZuflucht in einem Jugendklub am Altgor-bitzer Ring in Dresden. „Die wollen michumbringen! Die sind hinter mir her!“, soller gerufen haben. Wer „die“ waren undworum es ging, sagte er nicht.

Seine Todesangst aber war begründet.Kurz nach dem Vorfall im Jugendklubstürmte ein Rollkommando die Dachge-schosswohnung, in der Sven Silbermannund sein Bruder Michael für 87,06 MarkMonatsmiete hausten. Die Tür hatte keinfunktionstüchtiges Schloss; sie konnte mit-hilfe einer einfachen Türklinke geöffnetwerden, die für gewöhnlich auf dem Spül-kasten der Außentoilette lag. Das müssendie Täter gewusst haben.

Was genau in jener Novembernacht 1995geschah, wurde nie geklärt. Nachbarn ausder Leipziger Straße berichteten den An-gehörigen der Silbermanns später vonzwei Autos, die auf den Hof gefahren seienund aus denen acht dunkel gekleidete

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MONTAG, 9. 6.

SPIEGEL TV REPORTAGE

Die Sendung entfällt wegen desPfingst-Sonderprogramms

DIENSTAG, 10. 6., 21.50 – 22.40 UHR | ARTE

Aktion Leder – Die Stasi und dasdeutsche Fußballduell WM 74

22. Juni 1974: Bei der Fußball -weltmeisterschaft kommt es imHamburger Volksparkstadion zumeinzigen deutsch-deutschen Länder -spiel der Geschichte, das zu einem 90-minütigen Klassenkampf stilisiertworden ist. 40 Jahre nach dem Spielschildert die Doku mentation vonSPIEGEL TV, wie die Stasi mit der„Aktion Leder“ versuchte, den Siegder DDR-Mannschaft über Becken -bauer und Co. zu planen, undgleichzeitig alles unternahm, dasskein Spieler, kein Funktionär undauch keiner der 1500 Schlachten -bummler im Westen bliebe.

SONNTAG, 15. 6., 21.45 – 23.30 UHR | SKY

SPIEGEL GESCHICHTE

Godfathers of Ganja –Die Hasch-Barone

Der Dokumentarfilm stellt dreiungewöhnliche Marihuana-Schmuggler -Ringe der Siebziger- undAchtziger jahre in Südflorida vor. Nie zuvor gezeigtes Archivmaterial,ausführliche Interviews mit ehe -maligen Schmugglern sowie erstaun -liche Statements der Polizei sorgenfür einen Einblick in die Welt desMarihuana-Handels.

SONNTAG, 15. 6., 22.40 – 23.25 UHR | RTL

SPIEGEL TV MAGAZIN

Tödliche Tradition – Blutrache in Albanien; Nachwuchs verzweifelt ge-

wünscht – Der mühsame Weg zum eigenen Kind; Die Copacabana der Ost-

see – Besuch im nord deutschen Brasilien.

Künstliche Befruchtung

„Glatzen“ gestiegen seien. Anschließend,so die Nachbarn, hätten sie Schreie ausder Wohnung der Brüder gehört.

Die Dachwohnung der Brüder wurdeverwüstet. „Überall waren Blutflecken,auch im Treppenhaus und auf dem Außen-klo“, erinnert sich eine nahe Verwandte.Die Schränke seien durchwühlt, die Möbelumgeworfen, das Sofa sei aufgeschlitzt ge-wesen. Zahlreiche Habseligkeiten hättengefehlt und wohl auch schriftliche Auf-zeichnungen: Einige Wochen nach demTod der Brüder, so erzählen es die Ver-wandten, seien Kriminalbeamte erschie-nen und hätten sie gebeten, die Hand-schrift in einem Schulheft von Sven zuidentifizieren. Das Heft sei in einem Wald-stück bei Chemnitz gefunden worden.

Chemnitz? Die Spur in die 75 Kilometerentfernte Stadt könnte ein weiteres Indizfür eine Verbindung zwischen dem Umfelddes NSU und dem Mordfall Silbermannsein. Die Chemnitzer Neonazi-Szene galtseinerzeit als besonders militant und dien-te den Rechtsextremisten Mundlos, Böhn-hardt und Zschäpe als Rückzugsort. SeitMitte der Neunzigerjahre verfügte das Triodort über beste Verbindungen. Einer ihrerengsten Kontaktleute war der langjährige„Blood and Honour“-Aktivist Thomas S.,der zeitweise im selben Gefängnis inhaf-tiert war wie Sven Silbermann. Er war dendrei Flüchtigen später bei der Suche nacheiner konspirativen Wohnung mit Kontak-ten und eisernem Schweigen behilflich.

Hinter einer Mauer des Schweigens ver-bergen sich bis heute auch die Täter undmöglichen Mitwisser des Doppelmords anden Silbermann-Brüdern. Ob die Spur desVerbrechens tatsächlich ins Umfeld desNSU führt, werden die Ermittlungen derStrafverfolger zeigen. Vielleicht, so hofftdie Polizei, melden sich nach fast 19 Jahrenja doch noch Zeugen, die endlich zu spre-chen bereit sind. Damals, so heißt es in ei-nem alten Polizeivermerk, wollten vielepotenzielle „Auskunftspersonen“ nichtssagen: Sie hätten „eine immense Angst“vor „Vergeltungsmaßnahmen“.

Maik Baumgärtner, Sven Röbel, Steffen Winter

Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/briefkasten

Dokumente aus der Garage des Neonazi-Trios

„Einziger Zeuge hat Todesangst“

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Er hat keine hohe Meinung von sich,der Johann T. aus Frankfurt amMain. „Ich bin eine verkrachte

Existenz“, sagt er, „ich bin ein Versager.“ Da hat er nun, ach, Philosophie, Ge-

schichte, Publizistik, Germanistik studiertmit heißem Bemühen. Und nun steht erda mit seinem Intelligenzquotienten von130, nicht mehr gesund, 61 Jahre alt, ar-beitslos seit über zehn Jahren. Empfängervon Hartz IV. Meldet sich zweimal im Jahr im Jobcenter und lässt sich von einerjungen Mitarbeiterin erklären, was für ihnnoch infrage kommt, nämlich: nichts.

„Ich bin bedürftig“, sagt der kräftigeMann mit dem hessischen Zungenschlag,„schon der Begriff ist demütigend.“

Johann T. ist einer von 6,1 Millionen Men-schen, die in Deutschland Hartz IV bezie-hen. Mehr als zwei Millionen der Betroffe-nen gelten nicht als arbeitslos, darunter al-leinerziehende Mütter, Kranke, nicht mehrVermittelbare. Die übrigen Hartz-IV-Emp-fänger werden in Fortbildungsmaßnahmengeschult, arbeiten als Ein-Euro-Jobber oderversuchen, sich etwas dazuzuverdienen.

Für Arbeitslose beträgt die durchschnitt-liche Bezugszeit von Hartz IV anderthalbJahre. Als Langzeitarbeitslose gelten Men-schen, die bereits seit mehr als einem Jahreinen Job suchen – Johann T. gehört schonviel länger dazu.

Er sitzt mit traurigem Lächeln in einemFrankfurter Café und zieht eine bittere Bi-

lanz. Die Beziehung? Mehr oder wenigergescheitert. Die finanzielle Situation? De-solat. Der Rentenanspruch? Null. Die Ge-fühlslage? Geprägt von Verzweiflung undScham. Die Perspektive? Altersarmut.

Früher, da hatte Johann T. große Pläne.Wollte zuerst die Welt verbessern, späterals Unternehmer die Mietwagenbrancheaufmischen. Sein Studium – er schloss dieFächer Germanistik und Geschichte mitdem Magister ab – finanzierte er mit nächt-lichem Taxifahren, geriet dabei in die linkestudentische Taxifahrerszene, in der Leutewie Joschka Fischer den Ton angaben.„Man hat sich jede Nacht getroffen“, erin-nert sich Johann T., „geredet, geraucht,Strategien ausgeheckt.“

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„Trifft man auf Menschen, die arbeiten,fühlt man sich sofort minderwertig.“

Ehepaar S. in seiner Mietwohnung in Bremerhaven

„Das blöde Ding macht mir Angst“Arbeitsmarkt Die Zahl der Menschen ohne Job ist so niedrig wie seit Jahren nicht. Nur die Langzeitarbeitslosen profitieren nicht vom Boom: Warum ist das so? Von Bruno Schrep

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Deutschland

Als sie erstmals in ihrem Leben voreinem Computer sitzt, überfälltBarbara S. eine Art Panik. Die 45-

Jährige zittert, schwitzt heftig, kriegtkaum noch Luft. Sie drückt auf eine Taste,der Bildschirm, zuvor hell, wird plötzlichschwarz, es erklingt ein kurzes Summen.„Ich kann das nicht“, sagt sie leise, „dasblöde Ding macht mir Angst.“

„Alles halb so schlimm“, sagt der Aus-bildungsleiter, „die anderen lernen es dochauch.“ Im Computerkurs für Arbeitsloseüber vierzig, vom Jobcenter Bremerhavenorganisiert, wird es still. Die übrigen Kurs-teilnehmer starren verwundert oder belus-tigt auf die Frau mit den rötlichen Haaren,die mit den Tränen kämpft. Es ist der Mo-ment, in dem Barbara S. aufspringt, da-vonläuft und nicht wiederkommt.

Es ist nicht das erste Mal, dass BarbaraS. vor Herausforderungen flüchtet. Sichselbst etwas zuzutrauen, sich einen Ruckzu geben, um etwas Neues zu beginnen,hat sie nie gelernt.

Als sie mit 14 aus der Hauptschule ent-lassen wurde, mit überwiegend schlechtenNoten, kümmerte sich niemand um einenAusbildungsplatz. Die Mutter starb, alsBarbara gerade sechs Jahre alt war. DerVater, ein Bauarbeiter und meistens aufMontage, steckte die Tochter als Dienst-mädchen in eine Handwerkerfamilie. Siemusste schrubben, waschen, bügeln, ko-chen, und an den Wochenenden führte sieauch beim Vater den Haushalt.

Weil sie keinen Beruf gelernt hat, blie-ben ihr später, oft unterbrochen von Ar-beitslosigkeit, nur schlecht bezahlte Aus-hilfsjobs: Barbara S. ölte Räder in einemFahrradladen, räumte schmutziges Ge-schirr weg in einer Nordsee-Filiale, putzteBüros, sortierte Gemüse und Obst in ei-nem Einkaufszentrum.

Mit 18 Jahren heiratete sie, kurz danachkam das erste Kind. Ehemann Uwe S., ein gelernter Maurer, wurde im Alter von 28 Jahren erstmals arbeitslos, seine Firma machte Konkurs. Die Werftenkrisetraf Anfang der Achtzigerjahre auch die Baubranche, in Bremerhaven gingen viele Unternehmen kaputt. Familie S. hielt sichmühsam mit Gelegenheitsjobs über Wasser.Mal ergatterte sie eine Stelle als Aushilfs-verkäuferin, mal wurde er für ein paar Monate auf einer Baustelle gebraucht.

Lange her. Seit vor knapp zehn Jahrendie Hartz-IV-Regelung eingeführt wurde,stehen die Eheleute S. auf der Liste dersogenannten Langzeitbezieher. Ihre Mietewird von der Stadt bezahlt, beide kassie-ren jeweils 353 Euro monatlich. „Luft-sprünge kann man damit nicht machen“,sagt Barbara S., deren zwei erwachseneSöhne längst ausgezogen sind.

In der kleinen Parterrewohnung, blitz-sauber geputzt, penibel aufgeräumt, ste-hen viele alte Möbel. Die Schrankwand

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Verdienst und seinem Anspruch, also den größten Teil seines Einkommens, zahltder Staat.

Die selbstständige Tätigkeit bewahrt ihndavor, dauernd Bewerbungen verfassen zumüssen, Vorstellungsgespräche zu führenoder sich umschulen zu lassen. Seinschlimmster Albtraum: Er wird verdonnert,Laub im Park zu fegen, und Joschka Fi-scher kommt vorbei und macht eine süffi-sante Bemerkung.

Student T. machte mit bei den großenTaxidemos gegen die Frankfurter Start-bahn West, sympathisierte mit Hausbeset-zern, klebte Plakate, verteilte Flugblätter.Für eine bürgerliche Existenz, die als spie-ßig galt, war er nicht zu haben.

„Ich wollte mich nie unterordnen, nievor einem Chef kuschen, nie abhängigsein“, sagt er. Stattdessen überführte er gebrauchte Lastwagen in die Türkei odernach Osteuropa. Verdiente gut, sorgte sichwenig um die Zukunft. Rentenversiche-rung? „So was brauch ich nicht.“ Kranken-versicherung? „Ich bin kerngesund.“

„Bewirb dich doch als Lehrer“, beschworihn seine Mutter, „warum hast du sonst stu-diert?“ Doch Johann T. lachte nur. „Hätteich bloß auf sie gehört“, sagt er heute.

Nach der Wende wollte er als Unterneh-mer groß rauskommen. Zunächst im Osten,später im Rhein-Main-Gebiet gründete erAutovermietungen, nahm hohe Krediteauf, stellte Personal ein, warb mit Sonder-rabatten.

Anfangs hatte er Erfolg, dann kam eszum Desaster. „Diesem knallharten Ge-schäft war ich nicht gewachsen“, hat Jo-hann T. inzwischen erkannt, „ich war ein-fach zu naiv.“

Er musste Privatinsolvenz beantragen.Fortan bestritt die Freundin, mit der erzwei Kinder hat, mit ihrem Bürojob denLebensunterhalt für die Familie. T. saßmeist zu Hause, konnte sich zu nichts auf-raffen, zu keiner Umschulung, zu keinemNeubeginn. Lautstarke Auseinanderset-zungen um Geld bestimmten den Alltag.

„Geh doch zum Sozialamt“, forderte ihndie Freundin auf. Doch Johann T. wehrtesich lange, aus Stolz – bis er schließlichnachgab, in ein kleines Zimmer zog undsich mit Anfang fünfzig einreihte in dieSchlange vor dem Jobcenter, resigniert, ge-schlagen. Seither lebt T. von Hartz IV undschämt sich dafür.

Beim Klassentreffen, wenn die ehemali-gen Mitschüler mit ihren Erfolgen prahlen,sitzt er still in einer Ecke, wimmelt Nach-fragen mit vagen Angaben ab. Wenn erBekannte von früher sieht, Studienfreundeoder Kumpel vom Fußballverein, dreht ersich um und geht schnell in eine andereRichtung.

Selbst vor seinen inzwischen erwachse-nen Kindern fühlt sich der Erwerbsloseminderwertig. „Der Respekt ist weg“, ver-mutet er. Und glaubt zu wissen, was sieüber ihn denken: „Der Alte hockt den gan-zen Tag in seiner Bude, starrt auf den PCund qualmt.“

Um wenigstens etwas dazuzuverdienen,entwickelt Johann T. Software für kleineAutofirmen, davon versteht er noch wasvon früher. Zwar kommt nicht viel dabeiherum. Doch offiziell gilt er als Selbst -ständiger, als sogenannter Aufstocker. DieDifferenz zwischen dem kleinen eigenen

Hartz-IV-Empfänger

Hartz-IV-Empfänger…

Verweildauer in Hartz IV

Städte über 100 000 Einwohner mit dem …

Gelsenkirchen

Bremerhaven

Berlin

Halle (Saale)

Offenbach/Main

22,5%

22,4%

19,8%

19,4%

19,3%

Erlangen

Heidelberg

Ingolstadt

Würzburg

München

5,3%

5,3%

5,5%

6,3%

6,4%

unter1 Jahr 23 %

13 %

10 %

8 %

46 %

1 bis unter2 Jahren

2 bis unter3 Jahren

3 bis unter4 Jahren

4 Jahre und länger

** mit Unterbrechungen

von 31 Tagen;Stand: Juni 2013;

Quelle: Bundesagentur für Arbeit

Stand: April 2014

* von Geburt bisRenteneintrittsalter

*

bis 5% bis 10% bis 15% bis 20% über 20%

Baden-Württemberg

Bayern

Berlin

Schleswig-Holstein

Sachsen-

Anhalt

Rheinland-Pfalz

Nordrhein-Westfalen

Mecklenburg-

VorpommernBremen

Hamburg

Hessen Thüringen

Saar-land

Sachsen

Nieder-sachsen

Branden-burg

Deutschland

9,6%

… männlich… unter

25 Jahren

2,4Mio.

3,1Mio.

3,0Mio.

… weiblich

Anteil an der Bevölkerung

… höchsten Anteil … niedrigsten Anteil

**

Page 40: Der Spiegel 2014 24

stammt aus dem Nachlass einer verstorbe-nen Schwester, die weiße Ledergarniturspendierte die Mutter von Uwe S., als siesich eine neue zulegte. Sie sprang auchein, als der alte Gefrierschrank kaputtging.

Uwe S., der amerikanische Country -musik liebt, auch selbst Gitarre spielt, hatan der Wand des ehemaligen Kinderzim-mers mehrere Reklamespiegel für ameri-kanische Whiskeysorten aufgehängt, dieihm ein Verwandter aus Übersee mitbrach-te, dazu alte Gitarren. Seinen Traum voneiner USA-Reise symbolisiert ein Straßen-schild mit der Aufschrift „Route 66“.

Seit ihrer Hochzeit vor 33 Jahren sindBarbara und Uwe S. kein einziges Mal inUrlaub gefahren, sind nie aus der Siedlungherausgekommen, in der sie aufwuchsen.Sie lernten sich dort in der einzigen Kneipekennen, auch ihre wenigen Freunde lebenin den Wohnblocks am BremerhavenerStadtrand. Beide Eheleute besitzen nichtmal den Führerschein.

Das Leben mit Hartz IV wäre einfacher,wenn es die anderen nicht gäbe. „Trifftman Menschen, die arbeiten, fühlt mansich sofort minderwertig“, gesteht Uwe S.,„als Mensch zweiter Klasse.“ Als kürzlichbei einer Geburtstagsfeier ein Gast sagte,Arbeitslose seien alle Drückeberger, sei eraufgestanden und wortlos gegangen. „DieLeute würden ganz anders denken, wennsie selbst in dieser Lage wären.“

Wie schnell das passieren kann, hat dieFamilie 1999 erlebt. Uwe S. war 42 Jahrealt, als Ärzte eine chronische Krankheitfeststellten. Seitdem wurde er 17-mal ope-riert – und hatte nie mehr eine feste An-stellung. „Ich würd ja gern noch etwastun“, sagt er, „doch einen wie mich willniemand.“ Früher habe er sich noch öftersauf offene Stellen bewerben müssen, aberheute, mit 58, lasse man ihn in Ruhe – im

Gegensatz zu seiner sechs Jahre jüngerenFrau. Sie gilt als schwer vermittelbar.

Barbara S. sträubt sich gegen alles, wassie nicht kennt. Forderungen von Mit -arbeitern des Jobcenters, sich neuen Auf-gaben zu stellen, empfindet sie als Be -drohung. Nachdem sie vom Computerkursdavongelaufen war, drohte ihr richtig Är-ger. Um eine Kürzung der Bezüge zu ver -hindern, schilderte sie einem Psychiaterihre Versagensfantasien, ihren Widerwil-len gegen eine Technik, die für die meistenMenschen zum Alltag gehört. Der Medi-ziner attestierte ihr Angststörungen, dasersparte ihr lästiges Nachhaken vom Amt.

Auch andere Angebote lehnte BarbaraS. ab, wehrte sich gegen eine neunmonati-ge Ausbildung zur Altenpflegerin. Begrün-dung: „Ich klammere bei Beziehungen.Wenn dann so ein altes Mütterchen stirbt,heul ich mir die Augen aus.“ Im Tierheimhielt sie es nur einen Tag aus. „Was da pas-siert, ist so grausam“, fand sie, „diese win-zigen Käfige, diese vielen eingesperrtenTiere.“ Nein und nochmals nein.

Bei einer von der Stadt finanzierten Be-schäftigungsgesellschaft hat Barbara S. vorKurzem einen Job gefunden, dem sie sichgewachsen fühlt. Im Lager eines Sozial-kaufhauses spült und poliert sie vierein-halb Stunden pro Tag gespendete Gläser,Vasen und Porzellanfiguren – eine Tätig-keit, die sie an ihre Kindheit erinnert. DenVerdienst, monatlich rund hundert Euro,darf sie behalten.

Manchmal sage ich einem auf denKopf zu, dass er ein Arschlochist“, verrät Klaus Marschall, „ich

rede ganz offen mit den Leuten.“ Wennjemand Einnahmen von 1600 Euro ver-heimliche, um weiter Stütze zu kassieren,könne er richtig sauer werden. Aber dies,

schränkt Marschall ein, sei „die absoluteAusnahme“.

Der 55-Jährige, ein drahtiger Hobbyrad-ler, sitzt im dritten Stock des JobcentersFrankfurt-Höchst, Zimmer 346, zuständigfür die Anfangsbuchstaben A, C und E.Vor sich auf dem Schreibtisch ein paar Ak-ten, schräg hinter sich einen gläsernenKühlschrank mit Joghurt, Milch, Zitronen-saft und der Aufschrift „Immer schön wachbleiben“. Der Mann mit dem FrankfurterDialekt und der hohen Tenorstimme, dermehr singt als spricht, rechnet als soge-nannter Leistungssachbearbeiter aus, wasden einzelnen Hartz-IV-Empfängern zu-steht. Er kürzt, genehmigt, prüft. GewährtUmzugskosten, zieht Einkünfte ab, stu-diert Wirtschaftspläne auf Plausibilität.

Es ist ein täglicher, oft zermürbenderKampf um kleine und große Vorteile. Müs-sen für die Fahrt zur alten Mutter wirklichKosten erstattet werden? Und wie oft?Wurde dem Kunden, wie Leistungsemp-fänger inzwischen höflich genannt werden,wirklich von der Firma gekündigt, oderhat er den Nebenjob selbst geschmissen,weil er ihm lästig war?

Es gibt viele Tricks, und Marschall, derfrüher bei der Post als Fernmeldehandwer-ker arbeitete, kennt inzwischen die meis-ten. Aber er weiß auch um die Not vielerBezieher. Neulich pumpte er einem seinerKlienten 30 Euro aus eigener Tasche, weilder kein Geld mehr besaß, um sich Lebens-mittel zu kaufen. „Und er hat pünktlichzurückgezahlt.“

Den Anteil der Menschen, die keinerleiInitiative mehr zeigen, schätzt Marschallauf 15 Prozent. Meist Leute, die schon vorder Einführung von Hartz IV die früherübliche Sozialhilfe bezogen hätten. DieZahl von Kunden, die unbedingt aus derAbhängigkeit rauswollten, sei ungleichgrößer. Marschalls Lieblingsbeispiel isteine afghanische Flüchtlings familie. DasEhepaar habe es mit jeweils drei Putzstel-len geschafft, so viel zu verdienen, dasses keinerlei Hilfe mehr benötigte.

Eine Ausnahme. „Ich kenne viele Men-schen, die schuften mehr als 60 Stundendie Woche, und das Geld reicht trotzdemnicht“, berichtet Michaela Ehrhardt. Dieresolute Endvierzigerin sitzt ein paar Zim-mer neben Klaus Marschall und versucht,Arbeitslose wieder in Lohn und Brot zubekommen, die Willigen und die Unwilli-gen, die Netten und die Stinkstiefel. Siebemüht sich, für jeden Arbeitslosen dasPassende zu finden – und erntet doch oftUnzufriedenheit, manchmal auch Krawall.

Die Menschen, die zu ihr kommen, füh-len sich häufig ausgegrenzt, gedemütigt,zu kurz gekommen, überfordert, manchezu Recht, andere zu Unrecht. Einige sindeinfach nur wütend.

Besonders elend fühlt sich die Vermitt-lerin, wenn sich vor ihren Augen eine Tra-

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„Manchmal sage ich einem auf den Kopf zu, dass er einArschloch ist. Ich rede ganz offen mit den Leuten.“

Sachbearbeiter Marschall an seinem Schreibtisch im Jobcenter Frankfurt-Höchst

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ständnis und bekam eine Ausbildung zumOnlineredakteur finanziert. Lernte neueSchneidetechniken, Tricks bei der Bild -bearbeitung und verschiedene Redaktions-systeme kennen, paukte Medienrecht.

Seitdem verschickte Stefan M. viele Be-werbungen, vergebens. Die meiste Zeitverbringt er in seiner kleinen FrankfurterHochhauswohnung. Schaut fern, raucht,liest Zeitung. Betrachtet von seinem Bal-kon aus die Wolkenkratzer von Mainhat-tan, die Symbole einer pulsierenden Me-tropole. Den Hartz-IV-Regelsatz, 391 Europlus Miete, stocken die Eltern, beide Rent-ner, manchmal mit ein paar Scheinen auf.100 Euro zusätzlich kassiert der Exjour -nalist, weil er mittwochs in seinem Stadt -bezirk ein Anzeigenblatt verteilt. Es istsein einziger fester Termin in der Woche.

„Mir fehlt die Struktur“, gibt er zu. Zeitdehnt sich endlos und wird doch knapp.Die Wohnung muss sauber gemacht wer-den, klar. Aber wann? Heute? Nee, liebermorgen. Oder, besser noch, übermorgen.Sicher, bei der Frachtabfertigung am Flug-hafen könnte er sofort als Hilfskraft anfan-gen, das weiß er. Und er ahnt auch, dasses viele Menschen gibt, die genau dies vonihm erwarten. Aber bisher hat ihn nie-mand zu so einer Tätigkeit gedrängt.

„Noch macht meine Sachbearbeiterinkeinen Stress“, sagt Stefan M. Die Vorstel-lung, etwas Ähnliches wie seinen früherenTraumjob zu finden, hat er zwar aufgege-ben. „Doch es muss etwas sein, was mirannähernd Spaß macht.“

Weil Stefan M. ungern aus Frankfurtweg möchte, hat er sich bisher auf Ange-bote in der Region beschränkt. Künftig willer seine Suche auf ganz Deutschland aus-dehnen. Er weiß: Die meisten offenen Stel-len für Onlineredakteure gibt es in Ham-burg, München und Berlin. �

41DER SPIEGEL 24 / 2014

gendwie daran gewöhnt. Zwar fühlt er sichnicht glücklich, häufig plagt ihn ein schlech-tes Gewissen. Doch mit jedem Tag gehtihm ein Stück Kraft verloren. „Manchmalfühle ich mich wie gelähmt“, sagt er.

Dabei war er doch mal ein begeisterterJournalist. Einer, der jedes Wochenendearbeitete, einer, für den der Job auchHobby war. Der für den Traumberuf dieangepeilte akademische Laufbahn schmiss,einfach so, nach sieben Semestern Polito-logie. Und der jetzt nicht mehr weiß, wieer die Kurve kriegen soll.

Die Karriere beim Mainzer Fernsehsen-der 3sat begann 1998 mit einem sechswö-chigen Praktikum. Stefan M. stellte sichso geschickt an, dass er sofort für ein Rat-gebermagazin engagiert wurde. „FreierAutor, das hörte sich nach etwas an“, erin-nert er sich heute, „ich war richtig stolz.“Der junge Journalist, Seiteneinsteiger ohneAusbildung, drehte Filme über Verkehrs-themen, drei bis fünf Minuten lang. Testeteneue Autos, stellte neue Berufe in derKraftfahrzeugbranche vor. Er verdienterund 2500 Euro monatlich. Nebenbeischrieb er für die Frankfurter Allgemeine.

Als das TV-Magazin 2007 eingestelltwurde und alle freien Mitarbeiter ihrenJob verloren, machte sich Stefan M. keineSorgen: „Ich kannte so viele Leute, warso gut vernetzt, ich sah da kein Problem.“Doch im Rhein-Main-Gebiet, wo inzwi-schen viele arbeitslose Journalisten lebten,waren alle Türen zu. Auch das tolle Zeug-nis nutzte nichts. Stefan M. schulte zumVersicherungsfachmann um, ein Jahr lang.

Weil er bei seiner ersten Anstellung ver-sagte, zu wenig Policen verkaufte, bekamer Druck von Vorgesetzten. Den hielt ernicht aus. „Das ist nichts, was ich dienächsten 30 Jahre machen möchte“, er-klärte er im Jobcenter. Er traf auf Ver-

„Ich kannte so viele Leute, ich war so gut vernetzt, ich sah da kein großes Problem.“

Exjournalist M. auf dem Balkon seiner Wohnung in Frankfurt am Main

gödie er eignet. Dieser Reiseleiter aus Bar-celona, arbeitslos aufgrund der Pleite sei-ner Agentur, war bei seinen ersten Besu-chen modisch gekleidet, gut gelaunt, vol-ler Tatendrang. Als dem Mittfünfzigernach vielen vergeblichen Anläufen klarwurde, dass in seiner Branche nur flottejunge Leute gesucht werden, ging es berg-ab. „Zuletzt kam er nur noch im Train -ingsanzug“, sagt Ehrhardt, „er roch nachAlkohol, hatte zerzauste Haare, war un -rasiert.“ Inzwischen ist der Mann erwerbs-unfähig, bezieht Sozialgeld.

Über ihre unangenehmsten Erfahrungenspricht die Sachbearbeiterin ungern, siewill keine Vorurteile schüren, keinen Bei-fall von der falschen Seite. Doch Erlebnissemit jungen männlichen Migranten empö-ren und verbittern sie. „Die treten mit un-fassbarer Arroganz auf“, berichtet sie.

Vor allem ein junger Türke, 25 Jahre alt,habe sie behandelt wie Dreck. „Mit Frauenkonnte der gar nicht“, erzählt sie, „Men-schen wie mich hat der total verachtet.“Der Mann ohne Schulabschluss und ohneAusbildung, der noch keiner Tätigkeitnachgegangen sei, immer nur Hartz IV kas-sierte, habe sie geduzt, ausgelacht, als„Schlampe“ beschimpft. Als sie ihm bei ei-nem Besuch 30 Prozent seiner Bezügestrich, weil er sich nirgends beworben hat-te, kam es zum Eklat. Der junge Mannbaute sich vor ihr auf, schlug auf den Tisch,drohte mit Schlägen. Er musste schließlichvon vier Polizisten abgeführt werden.

Immer öfter wird die Sachbearbeiterinauch mit Menschen konfrontiert, die imJobcenter am falschen Platz sind: Drogen-abhängige, psychisch Kranke, Gewaltopfer.Dem jungen deutschen Junkie, der in ihrBüro torkelte, konnte sie ebenso wenighelfen wie dem verwirrten Afrikaner, derauf die harmlose Frage nach seinem Aus-weis zu zittern begann, unverständlicheWorte schrie und den Schreibtisch umwarf.

Einfach nicht vergessen kann MichaelaEhrhardt den Flüchtling aus Pakistan, dermitten im Beratungsgespräch sein T-Shirthochzog, ihr stumm seinen von Folter -spuren gezeichneten Oberkörper zeigte:Schussverletzungen, Stichwunden, Brand-narben. Eine Woche später bekam sie dieNachricht, dass sie die Akte schließen kön-ne. Der Mann war im Krankenhaus anSpätfolgen der Misshandlungen verstor-ben. „Daraufhin musste ich mich drei Tagekrankschreiben lassen.“

Wenn er morgens aufwacht, meistgegen acht Uhr, stellt sich für Ste-fan M. stets die gleiche Frage. Soll

er hoch oder sich noch mal umdrehen? Meis-tens entscheidet er sich fürs Weiterschlafen,so bis gegen zehn. „Warum soll ich früh auf-stehen, wenn es sowieso nichts zu tun gibt?“

Stefan M., 41 Jahre alt, alleinstehend, istseit Jahren arbeitslos. Und er hat sich ir-

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Deutschland

Wer Freude hat am politischenSommertheater, kann in dieserSaison auf die Junge Union hof-

fen. Der ewige JU-Chef Philipp Mißfelderscheidet aus dem Amt, weil er mit bald 35Jahren an die Altersgrenze stößt. Wie diemeisten Patriarchen hat er im Laufe derJahre eine gewisse Abneigung entwickeltgegen so lästige Dinge wie unabhängigeGeister. Er findet, dass er selbst am bestenweiß, wer ihm nachfolgen sollte.

Mißfelders Favorit, das ist ein offenesGeheimnis, heißt Benedict Pöttering. Fürden Niedersachsen dürfte aus Sicht desscheidenden Chefs vor allem sprechen,dass er eine Art Mißfelder 2.0 ist. Pötteringist charismatisch, schlau, trinkfest undkann wie Mißfelder dem politischen Erfolgmit einem dicken Adressbuch auf dieSprünge helfen. Mit Vorschlägen zur Sacheist er bundesweit noch wenig aufgefallen.

Doch nun bläst Mißfelder erstmalsWind ins Gesicht. Viele Mitglieder sindsein Management by Strippenziehen leid.Sie haben den Eindruck, dass die JU sichunter ihm von einer diskussionsfreudigenJugendorganisation zur Kontaktbörse fürgeschniegelte Karrieristen entwickelte.Dass er sogar mit einem Autokraten wie

Wladimir Putin feierte, stieß auf großeEmpörung.

Gut möglich, dass sich bei der Neuwahlim Herbst ein Kandidat durchsetzt, derdas Gegenbild zu Mißfelder darstellt: PaulZiemiak. Der 28-jährige Stadtrat aus Iser-lohn ist zwar nicht so eloquent und ver-netzt wie Pöttering und Mißfelder. Bun-despolitisch mischt er auch nicht mit. Dochseine bodenständige Art kommt gut an.

Offiziell gibt sich Mißfelder neutral.„Beide Kandidaten könnten den Job gleichgut machen“, sagt er. Er habe alles ver-sucht, um eine Kampfkandidatur zu ver-hindern, denn die JU müsse geschlossensein. Doch an der Basis berichten viele,der Bundesvorsitzende greife seinemWunschkandidaten kräftig unter die Arme.

„Er sagt es nie offen, aber es ist erkenn-bar, dass er hinter den Kulissen für Pötte-ring wirbt“, sagt ein JU-Landeschef. DassZiemiak kandidiert, sei „dem Philipp“ garnicht recht gewesen. Das Gerücht geht um,der Vorsitzende habe versucht, Ziemiakvon der Kandidatur abzuhalten, indem erihm einen spannenden CDU-Posten ver-sprach. Mißfelder will dazu nichts sagen.

Für Ziemiak sah es lange nicht schlechtaus, 10 von 18 Landesverbänden hat erschon auf seiner Seite. „Paul Ziemiak hates ohne Netzwerke geschafft“, sagt Schles-wig-Holsteins Landeschef Frederik Heinz.„Und er bringt gute Inhalte mit.“ Dochnun hat Pöttering einen geschickten Ge-genschlag gewagt. Und das Drehbuch da-für, so ist mancher in der JU überzeugt,lieferte Mißfelder. Der will sich dazu nichtäußern. Pöttering schrieb einen Kandida-tenbrief an die JU-Basis. Darin beklagt erden „oft inhaltsleeren und konfliktscheuenPolitikstil der letzten Jahre“ und forderteine „Neuausrichtung“, die nicht nur „ei-nige Wenige“ in der JU bestimmen sollten.

Die Botschaft – zeitgleich auch medial plat-ziert – war klar: Hier kommt ein Mannder Basis, der den Mauscheleien über denSpitzenjob Inhalte entgegensetzen will.

Dass ausgerechnet JU-Vize Pöttering, en-ger Mitstreiter Mißfelders, sich nun mit Kri-tik am Establishment profiliert, fanden vielein der JU dreist. Auch die Geschichte derspontanen Kandidatur gegen die Kungeleiirritiert alle, die seit vorigem Sommer einendiskreten Wahlkampf Pötterings beobachtethaben wollen. „Ziemiaks Wahlkampf ist fairund transparent“, sagt Heinz, „von Hinter-zimmer keine Spur.“ Aber Pöttering könntedas Rennen machen, Ziemiaks Mehrheitbeim Deutschlandtag der JU wackelt.

Auch bei seiner Nachfolge im CDU-Prä-sidium zeigt Mißfelder ein ganz eigenesDemokratieverständnis. Vor zwei Wochengab er bekannt, er kandidiere nicht wieder.Der junge Gesundheitspolitiker Jens Spahnsolle den Posten kriegen, diese „Abspra-che“ hätten die beiden getroffen. Doch Präsidiumskandidaten werden von Landes-verbänden nominiert und auf Parteitagengewählt, nicht nach Gutdünken vorgeschla-gen. „Wer aus unserem Landesverband fürdas Präsidium kandidiert, wird sicher nichtvon zwei Personen entschieden“, sagt Ar-min Laschet, Vizechef der Bundes-CDU.Auch Carsten Linnemann, als Chef derCDU-Mittelstandsvereinigung ein mögli-cher Unterstützer Spahns, hält sich be-deckt: „Zum heutigen Zeitpunkt stellt sichdie Frage nicht“, sagt er diplomatisch.

Die JU grummelt auch, denn Mißfelderverdankte den Präsidiumsposten der Haus-macht von derzeit 117 000 JU-Mitgliedern.„Das ist genau die Hinterzimmerpolitik,mit der jetzt Schluss sein muss bei uns“,sagt ein Landeschef. Melanie Amann

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Herbst desPatriarchenJunge Union Seit zwölf Jahrenführt Philipp Mißfelder die Orga-nisation. Jetzt tritt er ab und will seine Nachfolge bestimmen.Erstmals regt sich Widerstand.

JU-Bundesvorsitzender Mißfelder: Verlust der Hausmacht

GegendarstellungIm Heft 18/2014 auf Seite 46 des MagazinsDER SPIEGEL wird unter der Überschrift„Die Sphinx“ ausgeführt: „Dann ... betrateine ... Frau [s.c. Beate Zschäpe] ... denSaal, ... Wo waren ihre drei Verteidiger?Sie gaben draußen Interviews. Es war dererste Verhandlungstag ...“Hierzu stellen wir fest:Wir haben zu diesem Zeitpunkt keine Interviews gegeben. Wir haben mit Justiz-mitarbeitern gesprochen.

Köln, den 26. Mai 2014Rechtsanwältin Anja Sturm, RechtsanwaltWolfgang Heer, Rechtsanwalt WolfgangStahl

Anm. d. Red.:Die Betroffenen haben recht. Unsere Dar-stellung beruhte auf Angaben aus Justiz-kreisen, die sich als unzutreffend erwiesenhaben.

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Ein letzter Gruß für Gustav SchulzZeitgeschichte Fast siebzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg erfährt ein norddeutscher Klempnermeister vom Schicksal seines verschollenen Vaters. Die Nachricht verändert sein Leben – und das seiner Familie. Die Geschichte einer späten Suche. Von Katja Thimm

Vater Gustav Schulz 1933

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Deutschland

Als das Papier aus Moskau in demkleinen Ort eintrifft, oben im Nor-den Deutschlands, scheint erste

Frühlingssonne auf die roten Backstein-häuser, und über den Äckern kehren dieVögel zurück. Gerhard Schulz aber, Mit-begründer des Schützenvereins und derDorfkapelle „Dörpskapell“ in Hagen beiStade, fällt heraus aus seiner Welt. Er be-trachtet die kyrillischen Buchstaben, liestden deutschen Brief, der das Papier beglei-tet. Es ist, nach 67 Jahren, die erste Nach-richt vom Verbleib seines Vaters.

„Wir freuen uns, Ihnen die Rehabilitie-rungsbescheinigung für Ihren Angehörigenzustellen zu können“, steht da. „Nun be-steht auch die Möglichkeit, in seine Aktein Moskau Einsicht zu nehmen und Kopienvom Urteil und den Verhörprotokollen an-zufordern.“

Akteneinsicht. Moskau. Verhörprotokol-le. Nichts von alldem habe er an jenemTag begriffen, sagt der Meister für Klemp-ner- und Installationsarbeiten heute, dreiJahre später. „Ich war ja ahnungslos. Aberalles, was sich aus diesem Brief ergab, hatmein Leben mit fast achtzig Jahren nocheinmal völlig verändert.“

Man könne jetzt endlich mit ihm überall das reden, so sagt es seine Frau. Er wir-ke wie genesen, findet sein Sohn. Das Ex-plosive sei weg, auch die manchmal for-melhafte Starre, meinen die Zwillingstöch-ter. Und überhaupt die Lebensangst.

Zehn Jahre alt war Gerhard Schulz, alser den Vater zum letzten Mal sah. März1945, er saß mit Eltern und Geschwisternin der Wohnstube zu Hause im branden-burgischen Raumerswalde an der Warthe.Im Türrahmen erschien eine Maschinen-pistole, dann eine Fellmütze mit Sowjet-stern; „rabotti, rabotti!“ – „arbeiten, ar-beiten!“, riefen die Soldaten der Roten Armee und nahmen den Vater auf ihremPritschenwagen mit.

Am Abend wies die Mutter den Jungenan zu beten, dass der Vater wiederkomme,und der Junge betete jeden Tag. Das Dorfwurde polnisch, sie mussten es verlassen,eine Stunde hatten sie dafür Zeit, RichtungBerlin, wo die Arme und Beine der Totenaus dem Geröll stachen und einmal auchdie Mutter mit einem Sprung von einerBrücke ihr Leben beenden wollte. Der Jun-ge hielt sie ab und betete; noch als sielängst im Norden Deutschlands angekom-men waren, betete er, dass der Vater wie-derkomme. Aber irgendwann legte er dieVergangenheit mit der gleichen umtriebi-gen Tatkraft ab wie seinen BrandenburgerDialekt.

Als einen „Hansdampf in allen Gassen“kennen ihn die Leute im Ort; ein Kegel-bruder, Jäger, Jagdhornbläser und Chor-kamerad, auch stellvertretender Bürger-meister war Herr Schulz einmal. Noch immer probt mit ihm am Mikrofon und

Schlagzeug jeden Montag seine Dörpska-pell. Noch immer wirkt er, trotz der wei-ßen Haare, drahtig und agil.

Und trotzdem hatten ihn, wie viele Män-ner und Frauen seines Alters, gegen Endedes Lebens die offenen Fragen bedrängt.Immer quälender, immer unnachgiebigerhatten sie sich auf sein Gemüt gelegt, biser schließlich Nachforschungen angestellthatte, angetrieben von seiner Familie, diesich von mehr Gewissheit auch endlichmehr Ruhe versprach. Ämter und Archiveerhielten Post aus Hagen bei Stade, derSuchdienst des Deutschen Roten Kreuzes,all die Auskunftsstellen, die Vergangenesbewahren: Was wurde aus den Groß -eltern? Wo liegt die ältere Schwester be-graben? Aber, vor allem: Was geschah demVater?

„Ich hätte es nie für möglich gehalten,dass mich meine Kindheit noch einmal der-art beschäftigen könnte“, sagt der Klemp-nermeister, er klingt noch immer erstaunt.Seine Frau hat eine Kaffeetafel auf demSofatisch im Wohnzimmer gedeckt. In ei-ner Vase treiben Zweige weiße Blüten, anden Wänden die Fotos der erwachsenenKinder, ein heimeliger Ort. „Nun ja“, wi-derspricht sie ihrem Mann freundlich, „einEreignis gab es, da war eigentlich klar, dassdu die alten Geschichten nie losgewordenbist. Es fiel uns nur nicht auf, damals.“

Ein Verwandter war gestorben, damals,und die Töchter von Herrn Schulz hattenihren Vater am Tag der Beerdigung um -armt: „Papa, wie gut, dass du noch dabist!“ Am nächsten Morgen ergriff Ger-hard Schulz eine nie gekannte Panik. Dererschrockene Hausarzt wies den Mann in

eine psychosomatische Klinik ein, „Trau-ma-Aktivierung“ hieße die Diagnose heu-te: die plötzliche, unerwartete Wiederkehreines vergessen geglaubten Gefühls ele-mentarer Hilflosigkeit. Doch damals, vorfast zwanzig Jahren, dachte niemand andas vaterlose Kind und seine ohnmächti-gen Gebete von einst. Nicht einmal Hilde-gard Schulz kannte das Ausmaß der frühenVerlorenheit. Ihr Mann hatte, wenn über-haupt, nur formelhaft von Leid und Unheilberichtet. Viel lieber aber erzählte er vondollen Kindheitsabenteuern an der Warthe.

Bedächtig verteilt die dunkelblondeFrau den Apfelkuchen. „Nach diesem Kli-nikaufenthalt“, sagt sie vorsichtig, wurde„das, was vorher schon schwierig war, im-mer schwieriger“. Seine Unduldsamkeit,Wut und Ärger wegen nichtiger Anlässe;die bodenschwere Stimmung, die manch-mal unvermittelt durchs Haus zog, nichtfassbar, aber trotzdem da. Die wiederkeh-renden diffusen Beschwerden; Herzrasen,wenn ein Heiligabend nicht verlief wie er-hofft, Taubheitsgefühle in den Beinen,wenn die Familie nicht um ihn war. Einmalverbrachte Hildegard Schulz einen Urlaubohne ihn, da machte er sich beinahe täglichauf, um am Flughafen zu kontrollieren,dass ihrer Rückreise nichts im Wege stand.Herr Schulz knetet die Finger, währendseine Frau erzählt. „Du hast wohl rechtmit deiner Betrachtung“, sagt er dann.„Aber diese Klinik war für mich dasSchlimmste. Sieben Wochen war ich wegvon euch, weg von zu Hause.“

Verlustängste, den Menschen und denDingen gegenüber, so sieht er es heute.Der betagte Klempnermeister ist bei derSuche nach seiner Geschichte auf Sachver-ständige gestoßen, die ihm vorher fremd,auch suspekt waren: Altersforscher, Histo-

riker, Psychologen. Gerhard Schulz, dasweiß er nun, gehört zu jenen 12,5 Millio-nen noch lebenden Deutschen der Jahr-gänge 1931 bis 1945, die seit einiger Zeitals „Kriegskinder“ späte Aufmerksamkeiterfahren. Mindestens dreieinhalb Millionendieser ehemaligen Jungen und Mädchendes Zweiten Weltkriegs gelten als trauma-tisiert. Ein Großteil musste, genau wie er,sein Zuhause zurücklassen und sah eineSchwester oder einen Bruder nie wieder.Wie er verlor fast jeder Vierte den Vaterim Krieg. Und wie er setzen sich viele erstjetzt, sieben Jahrzehnte später, mit ihrerGeschichte auseinander.

Ein Aktenordner steht neben dem Sofa-tisch platziert, den zieht Herr Schulz nunauf die Knie. Das erste Moskauer Schrei-ben ist darin abgeheftet, auch all die an deren Papiere, die Briefe, Zettel und

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Sohn Gerhard Schulz

Die Papiere, die Briefe, Zettel und Informationen – er hatdamals sofort entschieden, er würde die Akten einsehen.

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Deutschland

Informationen, die nach jenem einschnei-denden Tag im Frühling vor drei Jahrenhinzugekommen sind. Er hat damals sofortentschieden – er würde die Akten einse-hen. „Alles russische Ablichtungen“, sagter und nimmt neun eng beschriebene Fotokopien aus dem Ordner: kyrillischeSchrift mit dicken Stempelvermerken, siestammen aus dem Archiv des MoskauerInlandsgeheimdienstes FSB. Haftbefehl,Verhörprotokoll, Urteil.

FALL Nr. 0062, 28. März 1945. Im Na-

men der Union der Sowjetischen Sozialis-

tischen Republiken hat das Kriegstribunal

geurteilt, Schulz Gustav Friedrichowitsch

auf Grundlage von Artikel 1 des Erlasses

des Präsidiums des Obersten Rates der

UdSSR vom 19. April 1943 zur höchsten

Kriminalstrafe zu verurteilen – dem Er-

schießen.

„Sie haben ihn erschossen, meinen Va-ter“, sagt Gerhard Schulz. „Ohne Rechts-beistand und nach einer geschlossenen Ge-richtssitzung. Die russische Militärjustizhält das heute für Unrecht. Deshalb habensie ihn rehabilitiert.“ Er schluckt, die Trä-nen, so zahlreich nach so langer Zeit, über-raschen ihn noch jedes Mal.

„Es ist doch gut so“, sagt seine Frau undgreift nach seinem Arm. „Wir hätten dochnie geahnt, dass man das überhaupt heraus-finden kann.“

Dresden, Universitätsviertel. In derweißen Villa schräg gegenüber derAlten Mensa stehen im Keller Re-

gistrierschränke. In den Räumen stapelnsich auf den Tischen blaue Dokumenten-mappen, im Flur hat jemand ein Postpaketaus Moskau abgestellt. Das ehemaligeWohnhaus beherbergt die „Dokumenta -tionsstelle der Stiftung Sächsische Gedenk-stätten“; sie ist in Deutschland als eine offizielle Anlaufstelle auch für die Fragennach dem Verbleib ehemaliger Kriegs -gefangener auf russischem und russischbesetztem Gebiet zuständig. Tausende An-träge sind hier bereits bearbeitet worden,auch der Antrag von Familie Schulz.

Fast siebzig Jahre nach Ende des Zwei-ten Weltkriegs gelten mehr als eine Millionehemalige deutsche Kriegsgefangene nochals vermisst. Und nach wie vor forschenjedes Jahr Zehntausende Angehörige nachderen Verbleib. Das Bedürfnis nach Bele-gen für die oft nur bruchstückhaft überlie-ferten Familiengeschichten scheint sogarzu wachsen. Bei der Deutschen Dienststel-le für die Benachrichtigung der nächstenAngehörigen von Gefallenen der ehemali-gen deutschen Wehrmacht (Wast) hat sichdie Zahl der Anfragen seit 2010 um fast

ein Drittel auf 43 000 erhöht. An den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorgewandten sich allein im vergangenen Jahr30000 Menschen.

Die Größe der Datenbanken, auch derin Dresden, ist immens. Ute Lange hat die„archivarische Strafsache Nr. P-2342“ he-rausgesucht. „Der Vorgang Schulz ließ sichrasch abschließen“, sagt die Sachbearbei-terin nach einem kurzen Blick in die Pa-piere. „Uns lag der Rehabilitierungsbe-scheid aus Moskau bereits vor; in solchenFällen erhält man sofort Einblick in dieAkte. Normalerweise dauert es Monate.“

Seit 1992 gelten diese Regeln, seither istdie russische Hauptmilitärstaatsanwalt-schaft verpflichtet, die Rechtmäßigkeit von

Urteilen zu überprüfen, in denen Deutscheals Staatsfeinde der Sowjetunion schuldiggesprochen worden sind – auch Kriegs -gefangene. So hatten es der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der rus-sische Präsident Boris Jelzin zum Ende desKalten Kriegs vereinbart. Rund 17000 An-träge auf Rehabilitierung hat die MoskauerMilitärjustiz seither bearbeitet. Sobald sieeinen Fall positiv entschieden hat, darf derAntragsteller die gesamte Strafakte im zentralen Archiv des russischen Inlands-geheimdienstes einsehen. Er hat seinenSitz in der Moskauer Innenstadt, im Ge-bäude des berüchtigten früheren KGB-Ge-fängnisses Lubjanka.

„Und dann“, sagt die Sachbearbeiterin,„schlägt die Stunde von unserem HerrnHaritonow. Ich hole ihn gleich mal.“

Ein kräftiger Mann in robuster Kleidung,ein fester Händedruck. Alexander Harito-now ist promovierter Historiker, aber min-destens so hilfreich für seine Arbeit istwohl, dass den Muttersprachler die Gepflo-genheiten eines russischen Geheimdienst-archivs nicht überraschen. Ausgestattet mitden Vollmachten der Antragsteller ausDeutschland reist er alle paar Monate indie Hauptstadt seines Heimatlandes. Meh-rere Tage lang zieht er sich dann im großenLesesaal zurück, fotokopiert die Urteileund die Hauptprotokolle der Verhöre, undwas er nicht vervielfältigen darf und den-noch für wesentlich hält, schreibt er ausden Akten ab.

Einmal, im August 2004, kam es zumSkandal, da war unstrittig ein Kriegsver-brecher rehabilitiert worden. Die Entschei-dung wurde zurückgenommen, als Zeitun-gen berichteten und die Öffentlichkeit ent-setzt reagierte. In der Regel, sagt der rus-sische Geschichtsforscher, lasse sich schonerklären, warum Moskau einem Antragstattgebe oder eben nicht. Und im Fall der Familie Schulz? Die Sachbearbeiterin

reicht ihm die Dokumentenmappe. Die sogenannte Smersch habe Schulz GustavFried richowitsch verhaftet, referiert Hari-tonow; sie wurde auch „Tod den Spionen“genannt, ein Aufklärungstrupp, der hinterder Front operierte. Hilfsarbeiter sei derVerurteilte gewesen, Mitglied der NSDAPseit 1935, offenbar freigestellt vom Militär-dienst; er sollte die Warthe mit einemSaugbagger für das kriegerische Deutsch-land schiffbar halten.

„Vielleicht waren Leute in dem Trupp,die ihre ganze Familie wegen der Nazisverloren hatten“, sagt der Historiker. „Undvielleicht meinten die, so ein Mann gehöreallein deshalb erschossen, weil er in derNSDAP war. Heute sagen wir: Er war ein-faches Parteimitglied und kein politischerÜberzeugungstäter. Und welche Verbre-chen hat er begangen? Keine. Also gibtman ihm den guten Namen zurück.“

Jeder, so lautet die Vereinbarung, kannüber die Dresdner Dokumentationsstelledie Rehabilitierung der ehemals Verurteil-ten beantragen. Zuweilen lassen Forscherdie Urteile ganzer Gruppen in Moskauüberprüfen. Und so lagern auch eine Men-ge Bescheide in der weißen Villa, von de-nen Angehörige wie Gerhard Schulz nichtsahnen. Ungefähr 13000 Anträge hat dierussische Militärstaatsanwaltschaft in denvergangenen Jahren bewilligt. Doch inmindestens der Hälfte dieser Fälle hat sich bisher noch niemand in Dresden ge-meldet.

Hildegard Schulz wirtschaftet in derKüche. Hinter dem Fenster er-streckt sich der Garten, üppige Blü-

ten und Stauden, alles ihr Werk; ihr Mannhantiert lieber im Anbau des Hauses. Dortversammelt er sein Werkzeug und an denWänden, zu Hunderten, auch die Geweihe.

„Ohne die Kinder hätte er heute keineGewissheit“, sagt Frau Schulz. Ohne dieKinder, da ist sie ziemlich sicher, hätte ersich mit den beiden abgegriffenen Fotogra-fien begnügt, die ihm von seinem Vatergeblieben sind. Vor allem hätte er sichwohl kaum so heilsam mit seinem Lebenbeschäftigt, meint sie. „Er hat ihnen ver-traut.“

Die Kinder stehen mit Anfang und Mit-te fünfzig mitten im Leben; Frank Schulzist Schriftsteller in Hamburg, Anke Voll-mers und Sabine Schuldt wohnen im Ort, beide sind berufstätige Mütter, Büro -kauffrau die eine, Körpertherapeutin dieandere. Nachdem sie erfahren hatten, dass sich Historiker und Therapeutenlängst mit Menschen wie ihrem Vater aus-einandersetzen, ließen sie nicht nach. Ge-meinsam mit ihm schrieben sie Brief umBrief an Archive und Suchdienste, sie recherchierten im Internet, telefoniertendurch Deutschland. Und sie zwangen ihnhinzusehen: Sie brachten ihm Bücher über

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„Sie haben ihn erschossen“, sagt Gerhard Schulz, „ohneRechtsbeistand und nach geschlossener Gerichtssitzung.“

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die späten Folgen des Zweiten Weltkriegs;sie nahmen ihn mit in Seminare, in dieStuhlkreise der Erwachsenenbildung; un-ter ihrer Obhut vertraute er sich schließlichsogar einer Psychologin an und ließ sichfür einen Fernsehfilm befragen. Und im-mer wieder redeten sie ihm seine Sorgeaus, was die Nachbarn, die Leute im Ortdenn nun von ihm, dem Jäger, Schlagzeu-ger, dem ganzen Kerl halten könnten.

Sie mussten so handeln, urteilen die Ge-schwister rückblickend – auch wenn sie anfangs unsicher waren, ob sie sich derarteinmischen durften. Doch bei jedem ihrerBesuche im Elternhaus erschien ihnen derVater trotz aller Geschäftigkeit zuneh-mend in seiner Vergangenheit gefangen.Der Zweite Weltkrieg hatte für sie Ge-schichtswissen bedeutet, eine entsetzlicheEpoche der Barbarei. Nun setzten sie sichzum ersten Mal mit dem Gedanken aus -einander, dass dieser Krieg auch ihren Va-ter beschädigt haben könnte.

„Wir waren wohl auch lange nicht in derLage, das so zu sehen“, meint FrankSchulz. „Wir wuchsen ja in einem ganz an-deren Bewusstsein auf.“ Seine Generationmusste lernen, dass neben der maßlosendeutschen Schuld deutsches Leid zum Erbedes Zweiten Weltkriegs gehört. Auch derbärtige Schriftsteller, den Literaturkritikerals brillanten Autor rühmen, hätte es langenicht so formuliert. Als Kind der BonnerRepublik lernte er früh, alter Zeit und al -ter Ordnung zu misstrauen. Manchmalknirschte es deshalb erheblich im Eltern-haus. Die ausgedehnten Mußestunden desJungen, die Ohrringe und die langhaarigenFreunde erschienen Herrn Schulz mehr als

unpassend – und der Sohn hielt die Furchtseines Vaters um den guten Ruf der Familiefür hysterisch und reaktionär. Heute weißer, dass der Vater sein Kind bereits aus derDorfgemeinschaft ausgestoßen sah, die erselbst so mühsam mit aufgebaut hatte.

„Aber damals erging es uns Geschwis-tern wie vielen“, sagt Frank Schulz. „Wirahnten zu wenig von den Hintergründen.Und schon gar nicht kamen wir auf dieIdee, unsere Eltern könnten an ihrer kriegs-versehrten Kindheit leiden. In dieser Hin-sicht haben wir die Generation auch ver-kannt.“

Vierzehn Monate nachdem das ersteSchreiben aus Moskau in Hageneingetroffen ist, steigt Familie

Schulz in ein Auto. Sie fahren gut vierhun-dert Kilometer weit bis an die Oder. Naheden Seelower Höhen, dort, wo die RoteArmee im April 1945 die entscheidendeSchlacht vor Berlin führte, nehmen sieQuartier.

Platz der Beerdigung – befindet sich

etwa einen Kilometer nördlich von Quart-

schen, auch das steht in der Akte des ehe-maligen Kriegsgefangenen Gustav Fried-rich Schulz verzeichnet. In Chwarszczany,dem einstigen Quartschen, empfangen ver-witterte Bruchsteinmauern sie und ein son-niger Tag. Ein Pole heißt sie willkommen;der Mann hat ihnen geholfen, den Platz zubestimmen, wo, wie man sich in seiner Hei-mat erzählt, deutsche Soldaten begrabenliegen. Heute wächst dort ein lichter Kie-fernhain rund um eine vereinzelte Buche.

Hier soll es sein. Der Klempnermeistergreift zum Spaten, nach ein paar Stichen

übergibt er an den Sohn. Eine Kamerazeichnet die Szene für die Erinnerung auf.Sonne sprenkelt über den Waldboden, inden Armen der Frauen leuchtet roterMohn, ein letzter Gruß für Gustav Schulz.

Hinterher werden die Kinder sagen, dasssie es nie für möglich gehalten hätten, beimAbschied eines unbekannten Menschen soviele Tränen zu vergießen. Sie werden be-richten, dass es nun allen besser gehe –dem Vater, der Mutter, den beiden zusam-men, auch ihnen selbst und der ganzen Familie im Verbund. Und alle miteinanderwerden sie darüber staunen, dass tatsäch-lich eingetreten ist, was Altersforscher, Psy-chologen und Therapeuten für den Ideal-fall annehmen: dass ein Mensch spät imLeben noch seelisch gesunden kann.

Die Familie tritt an das Erdloch. HerrSchulz hält einen Kasten in den Händen,aus Kupfer gelötet und luftdicht verschlos-sen, ein Klempnermeister weiß, wie dasgeht. Er hat einen Abschiedsbrief hinein-gelegt und Fotos von der Familie. „Ruhesanft“, sagt Gerhard Schulz, dann ver-schwindet das Kupfer einen Meter tief inder Erde.

Weiter oben dürfe es auf keinen Fall ste-cken bleiben, hatte der Mann gewarnt, dersie an diesen Platz geführt hat. Weiteroben würde es sicherlich bald von den De-tektoren der heimischen Schrottsammlererfasst. Und es sei doch bestimmt für dieEwigkeit gedacht.

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Rentner Gerhard Schulz mit Ehefrau und Kindern, als Jüngster mit Eltern und Geschwistern um 1940: Die Tränen überraschen ihn jedes Mal

Video: Gerhard Schulz über

die Suche nach seinem Vater

spiegel.de/app242014vatersuche oder in der App DER SPIEGEL

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Deutschland

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Auf den ersten Blick sah es aus wieeine dieser vielen alternativen Par-tys in Berlin-Mitte. Elektronische

Beats wummerten durch höhlenartige Räu-me, die wie ein gestrandetes Raumschiffdekoriert waren. Junge bärtige Männerstanden an der Bar, tranken tschechischesBlaubeerbier und rauchten.

Doch das lockere Treiben war in Wahr-heit politischer Protest mit technischen Mit-teln. Im C-Base-Club traf sich vorige Wochedie digitale Boheme Europas zum „FreifunkWireless Community Weekend“. Freifunk,so nennen sich Anbieter offener WLAN-Netze, die sie der Öffentlichkeit zur Verfü-gung stellen, weil sie wollen, dass jeder ano-nym und kostenlos im Internet surfen kann.

„Wir kämpfen für das Grundrecht aufInternet“, sagt Monic Meisel, eine derOrganisatorinnen des Treffens. Wäh-rend in Spanien, Italien oder Griechen-land solche Initiativen boomen, habenes die deutschen Freifunker schwerer.„In ganz Europa gibt es Initiativen zu of-fenen Netzen, die ihren Beitrag zu eineröffentlichen Infrastruktur leisten“, sagt dieMedienberaterin, „nur in Deutschlandkämpfen wir gegen juristische Hürden.“

Das Problem: Wer haftet, wenn Krimi-nelle ein offenes Netz missbrauchen, umzum Beispiel illegal Filme herunterzula-den? In diesem Fall greift die sogenannteStörerhaftung: Wer einen Zugang anbietet,muss dafür geradestehen, welche Datenüber ihn laufen.

Betroffen sind Privatleute, aber auchBesitzer von Cafés und Kneipen. Siemüssen grundsätzlich für Urheber-rechtsverstöße ihrer Kunden haften.Das zumindest legt ein Urteil desBundesgerichtshofs von 2010 nahe.Bei dem Fall ging es um ein unzu-reichend gesichertes WLAN, überdas ein Fremder das Lied „Som-mer unseres Lebens“ ins Netz ge-stellt hatte.

Zu dieser Zeit rollte eine Ab-mahnwelle durchs Land, An-wälte verschickten im Auftrag

der Film- oder Musikindustrie horrendeRechnungen an Internetnutzer. Für die In-haber der Urheberrechte ist der Nachweisrelativ einfach, denn bei jedem Datentrans-fer wird auch die Internetadresse des be-treffenden Geräts übertragen – und derBesitzer sitzt somit in der Falle.

Kritiker sagen, das Rechtskonstrukt ähn-le dem Versuch, bei einem Autounfall dasStraßenbauunternehmen haftbar zu ma-chen. „Das behindert die digitale Entwick-lung Deutschlands“, klagt etwa GescheJoost, Digitale Botschafterin der Bundes-regierung. Nun scheint die Politik zu re -agieren. Im Bundeswirtschaftsministeriumentstehen derzeit erste Entwürfe für einGesetz, das die Haftungsfragen vonWLAN-Betreibern endgültig klären soll.

Geplant ist demnach, private und ge-werbliche Betreiber rechtlich ähnlich zubehandeln wie Internetprovider. Anbieterwie Kabel Deutschland oder die DeutscheTelekom haften schließlich auch nicht da-für, wenn Kunden zum Beispiel Kinder-pornos herunterladen. Und die Post haftetnicht dafür, wenn ein Terrorist einen Brief-kasten benutzt, um eine Briefbombe zuverschicken.

Doch wie könnte eine neue Regelungaussehen? Der Teufel steckt im Detail. Beigewerblichen WLAN-Betreibern wie Knei-piers könnte es reichen, im Lokal einenAushang mit den allgemeinen Geschäfts-bedingungen anzubringen, so eine Über-legung.

Ein anderer Plan der Beamten von Wirt-schaftsminister Sigmar Gabriel würde vor-sehen, dass Internetnutzer sich in öffent -lichen Wifi-Netzen mit einem Passwort re-gistrieren oder ihre Handynummer zurIdentifikation hinterlegen.

Derzeit wird das Vorhaben zwischendem Wirtschafts- und dem Justizministe-rium abgestimmt. Beide Ressorts sind inder Hand der SPD. Allerdings hat auchder christdemokratische InnenministerThomas de Maizière ein Wort mitzureden.

Digitalbotschafterin Joost hofft aufDruck aus anderen europäischen Ländern,damit sich die für die Benutzer einfachsteLösung durchsetzt. Der Freifunk-Aktivis-tin Meisel gehen die Pläne der Sozial -demokraten nicht weit genug. Für sie be-steht freier Netzzugang darin, sich anonymeinzuwählen. „Wir sammeln keine Datender Nutzer freier Freifunk-Netze, sie kön-nen bei uns auch ohne Registrierung oderPasswort surfen oder E-Mails abrufen“,sagt sie.

Die Freifunk-Aktivisten haben längstSchlupflöcher gefunden, um die Störer-haftung zu umgehen. Ihre Mitglieder be-treiben deutschlandweit fast 4000 Zu-gangspunkte. Wenn sich ein Nutzer in einfreies WLAN einwählt, wird entweder eineVerbindung zu Freifunk-Servern aufge-

baut. Die Serverbetreiber tretendabei als Provider auf und sindvon der Störerhaftung ausge-nommen. Oder die Daten ge-hen über verschlüsselte Verbin-dungen durch „VPN-Tunnel“ in

Länder wie Schweden, wo dieStörerhaftung nicht greift.

Von dort aus surfen Frei-funker dann anonym wei-ter – sozusagen hinterschwedischen Gardinen.

Damit scheint die Störerhaftung zwar defacto ausgehebelt zusein. Doch dastäuscht. Denn Netz-neulingen, die sichnicht zu wehren wis-sen, drohe nach wievor juristischer Ärger,so Meisel: „Derlei Re-gelungen sind Angst-

mache und verunsi-chern vor allem die -jenigen Menschen, die

sich nicht so gut ausken-nen.“ Hilmar Schmundt,

Gerald Traufetter

Surfen aufUmwegenInternet Wer sein WLAN-Netzunverschlüsselt betreibt, haftetbislang auch für illegale Down -loads Fremder. Die Bundes -regierung will das nun ändern.

Funknetzauswahl im Handymenü

Tunnel hinter schwedischen Gardinen

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Ernährung

Wieso werden dieDeutschen immerdicker, Frau Gahl?

Antje Gahl, 46, Ernährungsberate-

rin und Sprecherin der Deutschen

Gesellschaft für Ernährung (DGE),

erklärt, warum 64 Prozent der

Männer und 49 Prozent der Frau-

en in Deutschland zu viel wiegen.

SPIEGEL: Frau Gahl, nachjüngsten Erkenntnissen ist je-der zweite Deutsche zu dick.Die DGE hat das Ziel, dasssich die Deutschen gut ernäh-ren. Sind Sie gescheitert?Gahl: Wir können nur Empfeh-lungen geben. Die Verant -wortung trägt jeder Einzelne.Wer Schokolade essen will,isst Schokolade und fragt meis-tens vorher nicht die DGE.SPIEGEL: Der Bund fördertIhre Arbeit mit über drei Mil-lionen Euro im Jahr. Ist dasrausgeschmissenes Geld?Gahl: Wir tragen Forschungs-ergebnisse zusammen, wir or-ganisieren wissenschaftlicheTagungen, wir bilden Kinderin Kitas fort.SPIEGEL: Was essen die Deut-schen, dass sie so dick werden?Gahl: Zu viel Fett und zu vieleKohlenhydrate. Die Deut-

schen essen gern Lebensmit-tel, die wenig satt machen,aber viel Energie liefern.SPIEGEL: Ihre Gesellschaft un-terstützt die Regel „5 Portio-nen Obst und Gemüse amTag“. Nehmen die Deutschendas nicht ernst?Gahl: Beim Gemüse wird dieEmpfehlung nur zu einemDrittel erreicht, bei Obstetwa zur Hälfte. Positiv ist:Der Gemüseverbrauch derDeutschen wächst um 1,1 Kilo-gramm pro Kopf und Jahr.SPIEGEL: Das bedeutet eineZunahme von drei Grammam Tag, also fast nichts.Gahl: Abnehmen geht nicht soschnell. Die Pfunde habensich ja auch nicht über Nachtangesammelt.SPIEGEL: Kann man laut Ihrer Regel auch fünf Honig-melonen am Tag essen?

Gahl: Nein. Fünf Portioneninsgesamt, aber davon solltendrei Portionen Gemüse sein.Früchte enthalten frucht -eigenen Zucker, der auchdick machen kann.SPIEGEL: Hat die DGE denneine Strategie entwickelt, damit die Deutschen dünnerwerden?Gahl: Es gibt die zehn Regelnder DGE für gesunde Ernäh-rung: Eine ausgewogene, volumenreiche und zugleichkalorienärmere Ernährungmit reichlich körperlicher Bewegung ist am besten ge-eignet.SPIEGEL: Das liebste Kantinen-essen der Deutschen ist seit Jahren Currywurst mitPommes. Gahl: Auf den Menüplan in deutschen Kantinen habenwir leider keinen Einfluss.

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Sechserpack Fifa-Präsident Sepp Blatter sagt: „Fußball ist Opfer seiner Popularität und seines Erfolgs. Wir müssen unser Spielschützen gegen den Einfluss der Politik.“ Ah geh, Sepp. Die Kanzler Adenauer (1; 1953), Merkel (3; 2010), Kohl (4; 1994), Schmidt(6; 1982) sowie Exkanzler Schröder (2; mit Wladimir Putin 2009) und Bundespräsident Wulff (5; 2011) bei Spielen der Nationalelf.

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Es war im Herbst 2011, ein Montag im Oktober, als AgnèsDesmarest die erste SMS von ihrem Chef bekam. Sie hatteihre Arbeit als Sozialbeauftragte im Rathaus von Le Rain-

cy, einem Vorort von Paris, wenige Monate zuvor angefangen,gerade bereitete sie ein paar Projektanträge vor. Eric Raoult,der Bürgermeister, befand sich auf einer Dienstreise in Israel.Er stellte eine einfache Frage. Er schrieb: „Mögen Sie lieberHonig oder Orangenmarmelade?“

Desmarest blickte auf ihr Handy und überlegte kurz. Siekannte ihren Chef nicht gut, sie hatte erst einmal mit ihm ge-sprochen. Damals hatte sie einen Stapel Akten in sein Büro ge-bracht und sich ihm vorgestellt. Raoult hatte einen bestimmten,aber nicht unfreundlichen Eindruck auf sie gemacht. Groß undkräftig war er, ein jovialer Mann mitgrauen Haaren, die ein wenig ab-standen wie bei Mecki, dem Igel. Raoult hatte eine bemerkenswertepolitische Biografie vorzuweisen, erwar Minister für Integration unterJacques Chirac und Mitglied der Nationalversammlung unter NicolasSarkozy gewesen.

Desmarest fand die Frage schließ-lich in Ordnung; offenbar freundetesich der Chef einfach mit allenschnell an. Weil sie aber keine süßenAufstriche mag, antwortete sie nicht.Wenig später traf eine neue SMS ein.Raoult fragte: „Lieber Kette oderArmband?“

Eine der letzten Nachrichten ver-schickte Raoult am 7. Mai 2012 um22.35 Uhr. Sie heißt: „Adieu le Raincy, c’est fini.“ Auf Wieder-sehen, das war’s mit dem Job in Le Raincy. Sie war gefeuert.

Zwischen der ersten und der letzten SMS hatte er 15 000 wei-tere geschrieben. 15 000 SMS in neun Monaten.

Rund zwei Jahre sind seit dieser Nachricht vergangen, AgnèsDesmarest ist jetzt 33 Jahre alt, eine zarte Frau mit blondiertenHaaren, Leopardenleggins und lackierten Mustern auf den Nä-geln. Sie erzählt ihre Geschichte im Wohnzimmer ihrer Anwäl-tin, ganz in der Nähe des Bürgermeisteramts von Le Raincy.Sie hat einen Ordner mitgebracht, in dem sie einen Großteilder Nachrichten archiviert hat, die Raoult an sie verschickt hat.Sie hat die Nachrichten in verschiedenen Farben markiert. Rotfür sexuelle Belästigung, gelb für persönliche Beleidigungen,grün für falsche Versprechungen. Sie hat die Nachrichten vonihren beiden Handys abgetippt, die inzwischen bei der franzö-sischen Polizei liegen, und sie anschließend von einem Notarbeglaubigen lassen. Für die Termine vor Gericht. „Mein Lebenist zerstört“, sagt Desmarest. „Dabei wollte ich nur arbeiten.“

Vor zehn Jahren, als Agnès Desmarest von Limoges in Zen-tralfrankreich in einen Vorort von Paris zog, hoffte sie auf eingeregeltes Leben. Sie wollte eine Arbeit finden, eine Familiegründen und Geborgenheit finden. Ihre Kindheit war nicht be-sonders glücklich verlaufen, die Eltern hatten sich wenig um sie

gekümmert. Desmarest ergriff einen Beruf, bei dem sie für Men-schen sorgte. „Senioren, Jugendliche und Arbeitslose“, sagt sie.

Auch als sie am 1. März 2011 auf dem Bürgermeisteramt inLe Raincy anfing, nahm sie sich vor, den Schwachen in ihrerGemeinde zu helfen. Sie stellte Projekte auf die Beine, küm-merte sich um „Essen auf Rädern“. Sie hatte 20 Mitarbeiter, eineigenes Büro. Eric Raoult, ihren Chef, sah sie am Anfang nurvon Weitem. Beim ersten Treffen hatte er sie um ihre Handy -nummer gebeten, um Arbeitsfragen schnell klären zu können.

„Doch es ging nie um Arbeit“, sagt Desmarest. Als die erstenNachrichten kamen, ging es um Ringe im Ausverkauf, Seife,Diamanten. Von jeder Dienstreise wollte ihr der BürgermeisterGeschenke mitbringen. Wenn Desmarest schwieg oder ablehnte,kamen die Geschenke trotzdem. Sie lagen auf ihrem Schreib-tisch. Als Raoult handgeschriebene Karten daran festband, wur-de Desmarest klar, dass sie ein kleines Problem hatte.

Nach ein paar Wochen änderte sich der Ton der Kurznach-richten. „Sie sind schön und intelligent“, schrieb er. „Sie machenmich zu einem Adonis.“ – „Ihre Brüste sind Triple A, um es mitDominique Strauss-Kahn zu sagen.“ – „Im Bett müssen Sie eineFurie sein.“ – „Sie sind unerreichbar, stimmt’s?“ Und: „Agnès,Sie haben einen tollen Hintern.“ – „Was ich an Ihnen mag: DasGesamtkonzept. Ihre Nägel. Ihre Ideen. Ihr Lachen. Ihre Körb-chengröße 95E etc., etc., etc. …!“

Agnès Desmarest trug jetzt hoch-geschlossene Kleider bei der Arbeit.Sie versuchte, sich in ihrem Büro un-sichtbar zu machen, und schrieb demBürgermeister: „Denken Sie an IhreEhefrau.“ Er antwortete: „MeineFrau macht mich alt.“ Kurz darauf:„Agnès, ich habe ein Phantasma. Ichwäre gern an der Stelle Ihrer kleinenSeife im Bad.“ Daraufhin schriebDesmarest nichts mehr. Sie hatte einen befristeten Arbeitsvertrag.

Ein halbes Jahr später lud Raoultsie zu einer Dienstreise nach Marok-ko ein. 24-mal hatte er sie per SMSbereits gefragt, ob sie mit nach Israeloder London komme. Diesmal wag-te Desmarest nicht, Nein zu sagen.Sie glaubte immer noch, der Bürger-

meister sei ein Gockel, aber ein harmloser. Am Tag besuchtesie mit ihm Konferenzen und streichelte Kamele. Am Abendfragte Raoult, ob sie ihn auf sein Zimmer begleiten werde.„Non“, sagte Desmarest. Und dass sie nur ihre Arbeit liebe.

Zurück in Frankreich schrieb Raoult die nächste Nachricht:„Passen Sie auf, wo Sie hingehen und mit wem und wie Sie sichanziehen.“ Danach: „Schlampe“. Und: „Korinthenkackerin“.Er meldete sich bei ihrem Lebensgefährten und behauptete, Agnès Desmarest schlafe mit seinem, Raoults, Chauffeur.

Nachdem sie die SMS mit ihrer Kündigung bekommen hatte,wollte Agnès Desmarest noch einmal in ihr Büro. Das Schlosswar schon ausgetauscht. Die Begründung war, dass sie 860 Euroaus der Amtskasse gestohlen habe. Diesmal schrieb Desmaresteine SMS. Sie lautete: „Ich werde gegen Sie klagen.“

Der Prozess dauert an. Eric Raoult erklärte vor Gericht, Agnès Desmarest habe ihm eine Falle gestellt, um ihn politischzu schwächen. Es habe keinerlei Liebesbeziehung zwischen ihnen gegeben, auch nichts Sexuelles, höchstens etwas Phantasmatisches. Er ließ Flugblätter in Le Raincy verteilen,auf denen eine Fotomontage von Desmarest in Unterwäschezu sehen ist. Das war kurz vor den Gemeindewahlen im März. Raoult hat sie verloren. Er ist seitdem verschwunden.C’est fini. Katrin Kuntz

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Falsch verbundenEine Meldung und ihre Geschichte Ein Bürger-

meister aus Frankreich schickt seiner

Angestellten 15000 SMS in neun Monaten.

Desmarest

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Gesellschaft

Von der Website des Nouvel Observateur

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Hochzeitspaar Ahmed, Tamara

Eine Liebe in GazaSchicksale Ahmed, 15, und Tamara, 14, sind seit vergangenem Herbst verheiratet.

Sie versuchen, ein Kind zu bekommen – für Palästina. Ihre Eltern drängen. Im Weg steht dem jungen Paar nur eines: die eigene Kindheit. Von Barbara Hardinghaus

Page 53: Der Spiegel 2014 24

Gesellschaft

Er weiß nicht, wie oft er sich in denvergangenen Wochen schon ge-wünscht hat, dass ein Israeli kommt,

um ihn zu erschießen. Aber der Israelikam nicht, noch nicht, und so geht das Leben weiter für Ahmed Soboh, 15 Jahrealt, aus Beit Lahija im Norden von Gaza-Stadt, und für Tamara, seine Frau, die 14 ist.

Er stößt das Holztor im Hof seiner El-tern auf, er hebt die großen, vernarbtenHände zu einem Gruß: „Salam!“ Er hatden ganzen Tag lang Steine gesammelt,seine Haut ist verdreckt, das dunkle Haarverklebt, das T-Shirt zerrissen, er sieht ab-gekämpft aus. Auf dem Boden sitzt seinVater, mit vollem Bart, und raucht. SeineMutter hockt auf einem bunten Teppich,sie tut nichts.

Um sie herum spielen Kinder. Ahmedhat zwei jüngere Schwestern, die Nachba-rin vier Töchter und zwei Söhne, von deranderen Seite des Hauses sind auch nochJungs gekommen, sie laufen durcheinan-der, und wenn sie kurz stoppen, für einenAugenblick nur, setzen sich Fliegen aufsie, fallen Regentropfen durch das lichteDach auf ihren Kopf. Es ist die erste Be-gegnung mit Ahmed und Tamara, Novem-ber. Die kühle Luft am Abend kündigtden Winter an.

Im Lärm der vielen Leute, der Kinder,der Nachbarn, zeigt Tamara Fotos; Fotosihrer Hochzeit zwei Monate zuvor undauch das Bild, das sie und Ahmed ein we-nig berühmt gemacht hat.

Auf dem Bild trägt Ahmed ein weißesOberhemd, eine Krawatte, die an ihmhängt wie ein Gewicht, und eine schwarze,feine Hose. Der Fotograf einer Nachrich-tenagentur war gekommen, denn es warenKinder, die da heirateten, und das ist auchin Gaza ungewöhnlich. Sie halten sich anden Händen fest. Sie sehen aus wie ver-kleidet, wie ein Scherz oder eine Sensa -tion. Seltsam stolz und unsicher zugleich.

Es ging um die Welt, dieses Bild, inDeutschland tauchte es auf in einem Frauenmagazin. Ahmed kennt diese an-deren Länder nicht, er kennt auch Deutsch-land nicht. Aber zumindest ergab es sichso, dass sich zum ersten Mal in seinem Le-ben jemand für ihn interessierte.

Tamara lächelt über das Bild, sie ver-steckt ihr langes Haar unter dem Schleier.Sie spricht klar, laut, fast wie ein Junge.Ihr gefallen die Bilder besser, die sie selbstin einem Fotostudio der Stadt machen lie-ßen. Das Brautpaar sieht glücklich aus aufdiesen Bildern, über ihren Köpfen steht„I love you!“ oder „White Angel!“. Tama-ra trägt blauen Lidschatten, auf ihr Kleidsind silberne Blumen genäht.

Sie feierten sieben Stunden lang, mit100 Gästen, sie tanzten, aßen gekochte Tomaten und Chili, sie tranken starkenschwarzen Tee mit Zucker. Ahmed hielt

die Hand von Tamara noch fest, bis esdunkel wurde, er flüsterte in ihr Ohr:„Hab keine Angst!“

Dabei war er es, der Angst hatte. Erwusste, dass mit jedem Tanz auch dieNacht ein Stück näher kam. Er wusste, erwürde zum ersten Mal nicht mit seinenGeschwistern auf dem Boden schlafen. Er würde in dem großen Bett schlafen,das seine Eltern ihm hingestellt hatten.Sie hatten eine rote Decke dazugelegt,Make-up, Deo und ein transparentesNachthemd für Tamara. Die kleinen Ehe-leute sollten ein Kind zeugen, noch in derersten Nacht.

Ahmeds Eltern hatten schon lange vondiesem Baby geredet. Sie erklärten demSohn in langen Gesprächen, wie man dasmacht, so ein Baby. Aber nun hatte Ah-med Angst, weil er ja noch nicht einmaljemanden richtig geküsst hatte. Er hatteimmer nur Tamaras Hand gehalten.

Er kannte diese Hände gut, sie warenzu groß und auch vernarbt von der vielenArbeit, wie seine eigenen. Ihre Mütter waren zur selben Zeit schwanger gewesen,sie waren Nachbarn. Er sah, wie sie wuchs,

ihr Gesicht ovaler wurde und ihre Lippen,die Brüste voller. Sie spielten Verstecken,und irgendwann erzählten sie sich ihre Geheimnisse durch das Loch in der Wand,die ihre Häuser trennte.

An seinem 15. Geburtstag fragte AhmedTamara, ob sie ihn heiraten wolle. Er fandsie süß und schön, und er wollte tun, wasseine Eltern ihm sagten. Er entschied sichgegen die Kindheit, vielleicht weil er ver-standen hatte, dass es unmöglich ist, einKind in Gaza zu sein. Der Gazastreifenist arm, der schmale Strich Landschaft amMeer, durch Israel isoliert vom Rest derWelt. Viele Erwachsene sind ohne Arbeit.Gaza ist vor allem aber arm an Kindheitund reich an Kindern. 780000 Kinder gibtes in Gaza, mehr als die Hälfte aller Ein-wohner ist jünger als 18 Jahre.

Dass das so ist, sei nur ein Zufall, sagendie einen, eine gute Altersversicherung,auch das seien Kinder. Andere sagen, essei eine Strategie, mit der die Palästi -nenser eines Tages doch noch die kinder -ärmeren Israelis besiegen würden.

Ahmeds Eltern wollten unbedingt, dasser und Tamara jetzt ein Baby bekommen.Sie erklärten Ahmed auch, warum. EinKind könne arbeiten gehen und Geld ver-dienen. Auch das verstand er. Er war jaselbst ein Kind und arbeitete. Wenn esgut lief, dann fand er an der Grenze vieleSteine und viel Holz, das er verkaufte anLeute, die daraus etwas bauten. An sol-chen Tagen brachte er seinem Vater

abends 10 Schekel, manchmal 20, keinefünf Euro.

Ahmed verstand etwas von Arbeit undGeld. Er hatte von Fischern gehört, diekeinen guten Fang mehr machten, weildraußen im Meer die Kanonenboote derIsraelis auf sie zielten. Er sah, dass es mitden Straßen nicht voranging, weil Zementfehlte. In der Nacht fielen Bomben auf dieZitronen- und Orangenhaine. Er hörte siefast jede Nacht.

Er hörte seine kranke Mutter, die vielweinte, er sah seinen Vater, der, seit erselbst seine Arbeit verloren hatte, nurnoch auf dem Boden saß und rauchte.

Irgendwann war der Tag gekommen, andem Ahmed sich also sagte, er sei jetztbereit für eine Hochzeit und für ein Kind.Aber dann, als er in der Nacht nach demFest in dem großen Bett neben Tamaralag, die jetzt seine Frau war, sah er nurlange an der Wäscheleine vorbei durchdas Fenster in den Himmel.

Am nächsten Morgen nahm er dasPferd, spannte es vor den Karren, lenktees mit heftigen Hieben durch die Straßenbis an die Grenze. Hier hoffte er das

erste Mal auf den Feind und auf dessenGewehr.

Nichts ist passiert. Zwei Monate langist schon nichts passiert. Nicht mit ihm,aber auch nicht im Bett mit Tamara. ZweiMonate sind vergangen, aber Tamara istnoch immer nicht schwanger.

An diesem Tag im November, bei derersten Begegnung, hat Ahmed genug vonden Fotos. Die Hochzeit war schön, „na-türlich!“, sagt er, aber sie war keine rich-tige Party. Zu einer richtigen Party gehö-ren gegrillte Hühner, ein Restaurant, Geld,und nichts von alldem hatten sie. Sie ha-ben jetzt Schulden. 700 Schekel hat dieHochzeit gekostet, 200 Schekel allein, umTamaras Kleid zu leihen. Ahmed holt sei-ne Sachen und geht zum Duschen. Als erzurückkommt, macht er ein Feuer, so wiejeden Abend.

Dann setzt er sich zwischen seineSchwestern und malt ein Bild mit einemSchiff. Darauf ist er der Kapitän. Erschreibt seinen Namen dazu. Sein Nameist alles, was er schreiben kann. Er weißnicht, wie viel sieben plus sieben ist. Ergeht nicht mehr in die Schule, seit er elfJahre alt wurde. Seine Eltern sagten ihm,er sei zu dumm. Sie wollten lieber einKind, das arbeitet.

Jetzt fragen sie ihn jeden Tag nachGeld. Und nach dem Baby. Sie redennicht mit ihm über die Bomben, nichtüber den Feind, sie sagen ihm nicht, wielange das noch gehen wird oder wann es

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Er entschied sich gegen die Kindheit, weil er verstandenhatte, dass es unmöglich ist, ein Kind in Gaza zu sein.

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Gesellschaft

aufhört. Sie reden nie vom Frieden, viel-leicht haben sie sich selbst schon zu sehran dieses Leben gewöhnt, sagt Ahmed.

So ist er aufgewachsen. Er war acht Jah-re alt, als die Hamas im Gazastreifen dieMacht übernahm. Er war zehn, als 22 Tagelang die Bomben der israelischen Armeein seine Nachbarschaft fielen und auch300 Kinder töteten. Er war 14, als die Is-raelis im Jahr 2012 wieder jeden Tag Luft-angriffe flogen.

Während beider Kriege war Ahmed mitseiner Familie in eine Schule der kleinenStadt gelaufen, um sich zu schützen. Nachbeiden Kriegen kam er zurück zum Hausseiner Eltern und sah, dass das Dach wie-der ein Stück mehr zerborsten war. Undwenn es heute am Himmel brummt, dannerkennt er, ob es eine F-16 ist oder nicht.Wenn das Bild im Fernsehen verschwimmt,weiß er, dass eine Drohne über ihnen fliegt.

Er weiß nicht, wann er Geburtstag hat.Er glaubt, dass Erez, der Checkpoint, derIsrael mit dem Gazastreifen verbindet, einFlughafen ist. Und er glaubt auch, dassder Auftrag, den er zu erfüllen hat, seineFamilie retten wird. Aber wie sie, wie sei-ne Eltern, wundert er sich jetzt auch, dasses nicht klappt. Er möchte, dass Tamarazum Arzt geht und sich untersuchen lässt.Er möchte sagen können, dass mit seinerFrau alles in Ordnung sei.

Am nächsten Morgen sammelt er Steine,allein, an der Grenze, während Tamaraim Wartezimmer sitzt und hört, dass derArzt noch schnell einem Baby auf die Welthilft, dem zehnten dieser Frau, einem Mäd-chen. Als der Arzt Tamara ihr Ultraschall-bild zeigt, ein Bild, mit dem sie nichts an-fangen kann, weil sie nichts darauf er-kennt, ist Ahmed draußen bei den Steinen.

Der Arzt erklärt, dass die Frauen imGazastreifen im Schnitt fünf Kinder be-kommen oder mehr, weil sie glauben, dassdie Kinder sie eines Tages schützen wer-den gegen den Feind. Er schickt Tamaranach Hause. Es stimme alles mit ihr. Undtrotzdem steht sie nach der Untersuchungvor der Tür der Praxis und weint.

Sie hat längst aufgehört, Ahmed ihreGeheimnisse zu erzählen. Nun ist sie es,die nachts an der Wäscheleine vorbeidurch das Fenster in den Himmel sieht,weil Ahmed Sex will, aber sie nicht, nichtjede Nacht.

Einen Tag später gehen sie gemeinsaman den Strand. Da waren sie zuletzt amTag ihrer Hochzeit, vor zwei Monaten. Ta-mara macht seitdem jeden Tag die Wä-sche, sie kocht und fegt. Die beiden sagen,am Strand seien sie frei. Da hören die Eltern nicht zu, da löst sich der Druck auf.

Ahmed rennt los, sobald er den erstenFuß in seiner schwarzen Sandale in denSand setzt. Er rennt Richtung Meer, erwirft Flaschen und Dosen. In diesem Au-genblick ist sein Lachen das eines Kindes.

Früher, sagt er, als der Vater noch Ar-beit hatte, sei er oft an den Strand gekom-men, er legte sich zum Schlafen in denwarmen Sand. Früher besaß er einenHund, Jolie. Ahmed hatte ihn gefundenund aufgezogen mit Milch und Zitronen-limonade. Der Hund hatte kleine Augenund ein großes Maul. Sie waren immerzusammen. Ahmed erzählt das zum erstenMal, hier draußen am Strand. Der Hundhat ihn beschützt, bis jemand kam undden Hund vergiftete.

Jetzt beschütze er sich selbst, mit seinenArmen, mit seiner Kraft. Er wirft seinenKopf kühn zurück. Er spricht laut. Er sieht

auf das Meer, auf ein Fischerboot, in dieWeite, die dort endet, wo ein israelischesSchiff gerade Schüsse abgibt.

Tamara malt mit einem Stock zweiBuchstaben in den Sand: A+T. Auf demWeg zurück kurbelt Ahmed auf der Rück-bank das Fenster im Auto herunter, erlehnt seinen Oberkörper in den Fahrtwind.Er fährt sonst nicht Auto. Er schreit Dingehinaus. Er sagt, er würde gern mitkommennach Deutschland. „Wäre das nicht mög-lich?“, fragt er.

Er bleibt in seinem Leben. Er wird weiter Steine sammeln. Es wird Winterwerden.

Im Dezember schreibt Ahmed einenBrief, er hat sich dabei helfen lassen. Erschreibt kurze Sätze: „Ich sammle Plastikund keine Steine mehr… Es ist kalt, derRegen kommt durch das Dach in unserBett… Ich will Tamara einen Lippenstiftkaufen… Meine Mutter ist schwanger undim Krankenhaus…“

Auch Tamara berichtet: „Ich habe daserste Mal Schnee gesehen, und ich warwieder beim Arzt. Er sagt, ich bin nochzu jung für ein Kind… Aber ich bin altgenug für ein Baby, ich möchte es, es würde mich sehr glücklich machen … Ahmed wird manchmal böse, er ist wiesein Vater…“

Im März schickt Ahmed einen weiterenBrief: „Meine Mutter hat das Kind ver -loren, es war ein Junge… Ich möchte, dassTamara bald schwanger wird, wir sindnicht zu jung, wir sind alt genug… DieBomben machen Pause… Es ist ruhig, dieLuft ist wärmer, aber nichts macht michrichtig glücklich…“

Und Tamara: „Ich arbeite jeden Tag imHaus, ich koche, aber die Arbeit will nie-mals enden… Ich helfe Ahmeds Mutter,sie will, dass ich endlich schwanger werde.Wir arbeiten hart daran, aber es hat nochnicht geklappt… Ich liebe Ahmed, aberimmer, wenn er an der Grenze ist, habeich Angst, dass jemand ihn erschießt…“

Sechs Monate nachdem die beiden zu-sammen an den Strand gegangen sind,acht Monate nach ihrer Hochzeit, sitzensie wieder im Hof ihrer Eltern, und Ah-med sagt: „Salam!“ Es ist die nächste Be-gegnung; die meisten Tunnel, die Gazabislang mit Ägypten verbanden, sind mitt-lerweile zerstört. Die Hamas zahlt ihrenAngestellten nur noch die Hälfte der Ge-hälter; die Polizisten sind in schlechterStimmung. Es fehlt Benzin in diesen Ta-gen. In der Woche darauf fliegen wiederBomben.

Ahmed sitzt auf einer Liege vor seinemHaus. Er hält in der Hand eine Peitsche,die er sich aus zwei Stöcken und Drahtgebaut hat. Er schlägt sie durch die Luft.Er hat noch mehr Wunden im Gesichtund an den Händen als im Herbst, unterdem rechten Kinn wächst ein Ausschlag,

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Liebespaar Ahmed, Tamara: Am Strand hören die Eltern nicht zu

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der juckt. Er weiß nicht, woher der Aus-schlag kommt.

Was hat sich verändert? „Nichts“, sagt Ahmed und schlägt die

Peitsche. Er beobachtet seine Eltern. Sielachen. Sie küssen ein Baby, es ist Saja,seit Januar das Kind seines Bruders, der 17 ist. Er lebt zusammen mit seinerFrau im Haus seiner Eltern, und jetzt ister der gute Sohn.

Die Schwägerin, seine Mutter und Ta-mara reden fröhlich darüber, warum Kin-

der für sie so wichtig sind: „Sie sollen ar-beiten und mir helfen“, sagt Ahmeds Mut-ter. „Der Koran sagt, dass Kinder Geldsind“, sagt die Schwägerin. „Sie verdienendas Geld und versorgen uns“, sagt Tamara.Sie redet jetzt wie eine Erwachsene.

Tamara ist inzwischen auch einverstan-den mit dem Sex in jeder Nacht. Abernun will Ahmed nicht mehr. Er hält sienachts nicht mehr fest. Er kauft sichmanchmal Nüsse, und obwohl er weiß,wie gern Tamara Nüsse isst, gibt er ihrkeine einzige.

Inzwischen war auch Ahmed beim Arzt.Er wollte ja zunächst nicht gehen, er warsich sicher, dass er perfekt ist, „mia mia“,zu hundert Prozent. Dann ist er doch ineine Praxis gegangen, um sich untersuchenzu lassen, die Frauen drängten ihn, sagt er.

Der erste Arzt schickte ihn wieder nachHause, das, was er abzugeben hatte, warzu wenig für das Labor.

Der zweite Arzt gab ihm einen Zettelmit. Darauf stand das Resultat. Farbe:weiß/grau. Zähflüssigkeit: normal. Gei-

ßeln: abwesend. Spermienkonzentration:17500000 pro Milliliter. Aktiv nach einerStunde: 35 Prozent, tot nach einer Stunde:40 Prozent.

Der Arzt sagte ihm, er solle Honig essenund viel Milch trinken. Er solle, das vorallem, älter werden. Das Resultat lautete:Es lag an ihm. Es würde noch ein wenigdauern.

Als er am nächsten Tag zurück an dieGrenze kam, jetzt, um Plastik zu sammeln,dachte er wieder an den Israeli, der ihnhoffentlich erschießen würde. Andere hat-

ten sie doch auch getroffen, einen im ver-gangenen Jahr, einen in diesem Jahr. Odersollte er versuchen, einfach über den Zaunzu klettern und loszurennen?

Als sich im vergangenen Jahr andereKinder aus dem Gazastreifen der Grenzenach Israel näherten, wurden 35 von ihneneingesperrt, eins starb. Darüber, wie vieleflohen und Freiheit fanden, gibt es keineZahlen.

Ahmed steht auf von seiner Liege vordem Haus, er will zur Apotheke und fragen, was das für ein Ausschlag ist. Der Apotheker erkennt ihn, und er fragtAhmed: „Bist du nicht der Junge, der mit15 geheiratet hat?“

Das Bild, das ihn bekannt gemacht hat,tauchte nicht nur in der fernen Welt auf,auch in seiner Nachbarschaft. Der Apo-theker schüttelt den Kopf. Er sagt, andereheiraten doch auch erst mit 18 oder 19 Jah-ren. Er gibt ihm eine Salbe gegen den Pilz.Er solle besser essen, sagt der Apotheker.Er solle besser aufpassen, beim Sex.

Ahmed geht nach Hause. Mit seinerschwarzen Plastiktüte in der Hand läufter die Straße hinab, und kurz vor demTor bleibt er stehen, er schlägt das Pferd.

Es ist Abend, als die beiden noch einmalan den Strand fahren, wieder mit dem

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Vorführung des Hochzeitsvideos in Ahmeds Familie: Er war sich sicher, dass er perfekt ist, „mia mia“, zu hundert Prozent

Tote Spermien nach einer Stunde: 40 Prozent.Er solle Honig essen und Milch trinken, sagt der Arzt.

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Gesellschaft

Auto, wieder kurbelt Ahmed das Fensterherunter. Aber er sagt nichts.

Im Fahrtwind hört er nicht, dass Tamarahinten auf der Rückbank über ihn redet.Dass sie sich beschwert über ihn und auch,dass sie sich Sorgen macht.

„Er ist so, seit er beim Arzt war“, sagtsie und kratzt an einem Rest roten Lacksauf ihren Fingernägeln.

Er hört nicht, dass sie sagt: „Ich glaubenicht, dass er noch die gleichen Gefühlefür mich hat wie früher.“ Sie sagt: „Ichbin zu scheu, um es ihm zu sagen.“ Sie

sagt: „Ich verstehe nicht, welchen Sinneine Ehe haben soll.“ Sie sagt: „Ich sehnemich nach ihm, er soll wieder sein wie früher.“ Und: „Nur ein Baby kann das ändern.“

Das Auto fährt durch die große Stadt,Gaza, in Richtung Strand. Sie fahren anSchulen vorbei, in denen Kinder zur Schu-le gehen, die in der 6. Klasse lernen, woDeutschland liegt. Sie gehen hier in zweiSchichten in den Unterricht. 250 Schulenfehlen im Gazastreifen, schätzt die Uno,und wenn die Bevölkerung weiter so

wächst, wird sie bald noch mehr brauchen.Bis 2020 werden auch 1000 zusätzliche Ärz-te fehlen, 2000 Schwestern, 800 Betten inKrankenhäusern und Wasser. Bis 2020 istSaja, das Baby von Ahmeds älterem Bru-der, gerade sechs Jahre alt. Es sieht nichtso aus, als wären die Kinder die Rettung.

Das Auto fährt mit Ahmed und Tamaraam Regierungsgebäude vorbei, dem Sitzder Hamas. Wenn man Hamas-Leute nachder Zukunft der Kinder im Gazastreifenfragt, sagen sie, die Kinder selbst seiendie Zukunft.

Am Strand von Gaza hält das Auto an.Ahmed steigt aus und rennt los. Am Meerbleibt er stehen.

Liebt er Tamara noch?„Sehr, aber ich habe mit der Situation

nichts mehr zu tun. Ich habe kein Geld.Ich kann ihr nichts kaufen.“

Warum gibst du ihr keine Nüsse?„Weil sie mich sowieso verlassen wird.“Und was ist der Plan?„Ich habe keinen Plan. Mein Vater

schickt mich immer wieder los an dieGrenze, und wenn ich wiederkomme,

fragt er nur, was ich gefunden habe undwie viel Geld ich verdient habe. Sonstnichts.“

Er redet jetzt viel, er ist bockig, erschreit, er weint.

Er sieht lange auf das Wasser hinaus.Ein paar Jungs in Shorts springen hinein,sie fangen eine Qualle und werfen sie mitviel Schwung an den Strand.

Erinnerst du dich an das Herz vomHerbst, mit den Buchstaben A+T?

„Ja. Aber ich denke gerade nicht an sie.Und auch nicht an das Baby“, sagt Ahmed.Er denkt gerade an sich.

Am Horizont liegt ein dünner grauerStrich. Er trennt das Meer vom Himmel,die Luft ist dunstig, alles liegt wie in einerriesigen weißen Blase. Ein Mann führt seinPferd in das Meer und schaufelt mit beiden Händen Wasser auf den Rückendes Tieres.

Ahmed schweigt, dann steht Tamara neben ihm. Er hört, wie sie sagt, dass sieschon wisse, wie es heißen solle, das Baby.Wenn es ein Mädchen werde, Fathaja.Wenn es ein Junge werde, Mohammed.

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Eheleute Ahmed, Tamara: Die Hoffnung, dass ein Israeli kommt und ihn erschießt

„Der Koran sagt, dass Kinder Geld sind“, sagt AhmedsSchwägerin. „Sie sollen arbeiten und helfen.“

Video: Eine junge Liebe

in Gaza

spiegel.de/app242014gaza oder in der App DER SPIEGEL

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Unter dem grauen Himmel Niederndodelebens, auf einem Gerstenacker Richtung Irxleben, stehen dreiMänner und schauen auf eine Ackerfurche. Es sind Wer-

tungsrichter. Sie suchen nach einer kleinen Krümmung in derFurche, einer Abweichung, einem Makel. Doch die Furchesieht vollkommen aus. „Gerade“, sagt der erste. „Gerade“, sagtder zweite. „Ja“, sagt der dritte, aber er bückt sich, um eineandere Perspektive auf die Furche einzunehmen. Vielleichthat er etwas gesehen, was die anderen nicht gesehenhaben, eine winzige Ungenauigkeit, die sich nur ausder Nähe erschließt. Aber da ist nichts. Die anderenschauen ihn an. „Gerade“, sagt er schließlich. NeunPunkte notieren die Richter auf dem Bewertungs -bogen „Drehpflügen“ in der Zeile 1b, Teilaspekt„Gerad heit Spaltfurche“.

Jede Gesellschaft hat ihren Initiationsritus, der denFremden in die Gemeinschaft aufnimmt, aus dem Jun-gen einen Mann oder aus dem Anfänger einen Scha-manen macht. Die Jugendlichen der Sateré-Mawé ammittleren Amazonas müssen in einen Handschuh mitaggressiven tropischen Riesenameisen hineingreifen.Die jungen deutschen Bauern treten im Pflügen ge-geneinander an. An diesem Morgen in Niederndode-leben, westlich von Magdeburg, suchen die Wertungs-richter den besten Pflüger Sachsen-Anhalts.

Vor drei Stunden hat Hauptschiedsrichter MartinPergande ins Wettkampfzelt gerufen. „So, junge Leu-te“, hat er gesagt, „Leistungspflügen.“ Rote Gesichterdrängen sich in das Zelt, zwölf Kandidaten sind es,Lehrlinge die meisten, in Agrarunternehmen oder Genossen-schaften. Im Morgengrauen sind sie auf ihren Traktoren her-gefahren, aus Haldensleben und Ballerstedt, aus Quellendorfund Iden.

Pergande, ein kleiner Mann mit weißer Schirmmütze, erklärtim Wettkampfzelt die Kriterien. Das Pflugbild insgesamt: ge-rade. Die Furchen: gut geräumt. Die Furchenkämme: gleich-mäßig. Der Bewuchs: vollständig eingepflügt. Scheibensechund Vorschäler: korrekt eingestellt. Furchentiefe: 24 Zentime-ter. „Gutes Verrichten“, wünscht er.

Pergande ist 81 Jahre alt und bewertet Furchenkämme seitmehr als 50 Jahren. Mittlerweile ist er Träger des Bundesver-dienstkreuzes am Bande. Wenn man ihn fragt, was das Schöneam Pflügen sei, dann sagt er, ohne zu zögern: „Ja, das Schöneam Pflügen ist, den Mutterboden krümlig zu wenden, um hin-terher ein glattes Furchenprofil zu sehen, das dann bei denNachbearbeitungen mit wenig Bearbeitungsgängen ein ebenesBestellbild zulässt.“ Wenn es stimmt, dass Schönheit im Augedes Betrachters liegt, dann hat sich Pergande im Laufe derJahrzehnte ein sehr genaues Bild von Schönheit erschaffen,eines, in dem sich Ebenmaß und Perfektion auf 24 ZentimeterFurchentiefe finden lassen.

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Gesellschaft

Krümlig wendenOrtstermin In Niederndodeleben

treten junge Männer im

Leistungspflügen gegeneinander an.

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Pergande geht runter zum Übungsfeld, auf Parzelle drei trai-niert vor dem Wettkampf Mathias Schmid, ein schweigsamerJunge mit Schirmmütze, 22 Jahre alt. Er ist das erste Mal dabei.Sein Vater begleitet ihn, der Junge soll später einmal den Hoferben. Schmid hat sich mit Videos der Weltmeisterschaft vor-bereitet. Er hat bei den Weltmeistern Hydraulikzylinder ander Pflugschar entdeckt, mit denen die Scharen des Pflugs ein-zeln justiert werden können, ein kleines Tuning der Profis.Die gleichen Zylinder hat er jetzt auf seinen Pflug montiert.„Der Traum ist die deutsche Meisterschaft“, sagt der Vater.Pergande kommt vorbei. „Das sieht schon mal nicht schlechtaus“, sagt er. „Geht schwer rein“, brummt Schmid.

Der Pflug, heißt es beim Deutschen Pflügerrat, sei eine dergenialsten Erfindungen der Menschheit. Aber tatsächlich wirdheute kaum noch gepflügt, zu umständlich, zu teuer, zu langsam. In modernen Betrieben, und nur die werden wohlüberleben, wird hauptsächlich der Grubber eingesetzt, einpoesieloses Werkzeug, das aussieht wie eine gigantische Harke, die in geringer Tiefe den Boden aufreißt. Der erstePräsident der Welt-Pflüger-Organisation sagte, dass Pflug -kultur und Lebensstandard eines Volkes sich immer entsprä-chen. Falls er damit recht hat, leben wir in einer effizienten,aber hässlichen Zeit.

Der Wettkampf beginnt. Die Kandidaten fahren schweigendauf ihren Traktoren den Hang hinauf, die Augen geradeaus,versunken in Konzentration. Zwei Stunden, 15 Minuten Wett-kampfzeit. Am Rand haben sich Tiefenmesser Dietmar Messingund sein Gehilfe postiert. Messing geht mit einem Acker -furchen messgerät das Feld ab. In jedem Sektor einer Parzelleführt er drei Messungen durch und bildet aus der Summe einenMittelwert. Am oberen Ende des Ackers warten die drei Wer-tungsrichter, Untergebene von Pergande, der über das Feldläuft und alles im Blick behält. Die Männer schauen schweigendauf die Hydraulikzylinder von Schmid, dessen Pflug sauberBahn um Bahn zieht. „Der trickst“, sagt einer der Männer,„aber ich halte mich da raus.“

Am Nachmittag versammeln sich alle vor dem Wettkampfzelt,Kandidaten und Richter. Pergande tritt heraus wie ein Schamaneaus seinem Wigwam. „Die Pflüge haben gut geschmissen“, sagter. Schmid wird Vizemeister im Drehpflügen mit 112,25 Punkten.Seinen getunten Pflug hat ihm Pergande durchgehen lassen. Erkann zur deutschen Meisterschaft fahren. „Passt schon“, sagtSchmid. Er darf sich auf dem Preistisch ein Geschenk aussuchen.Er braucht eine Weile, schließlich nimmt er einen Gutschein fürein Paar Sicherheitsschuhe. Jonathan Stock

Wettbewerbsteilnehmer: „Der trickst“

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Kuppelfresko „Mariä Himmelfahrt“

aus dem 16. Jahrhundert im Dom

von Parma

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Kosmische Formation „Säulen der Schöpfung“,

aufgenommen mit dem Hubbleteleskop in

einem etwa 7000 Lichtjahre entfernten Weltraumnebel

Das unsterblicheGerücht

Religion Unsere Welt wird zunehmend säkular, sogarGläubige hadern mit den Kirchen und den Vorstellungeneines Gottes wie aus dem Märchen. Was aber wäre eine

Religion, die darauf verzichtet? Eine Religion für Atheisten?

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Zögernd nennt er die Adresse desPfarrhauses, in dem er wohnt, under sagt gleich etwas hinterher, das

wie eine Entschuldigung klingt: „Das Hausist aber das hässlichste in der Straße.“

Wenn ein Pfarrer schon in der Heilwig-straße lebt, einer der schönsten StraßenHamburgs, in der prachtvolle Villen stehenund Gärten am Flusslauf der Alster liegen,wenn also ein Pfarrer, der eigentlich derBescheidenheit verpflichtet ist, in dieserStraße wohnen darf, das will er wohl sa-gen, dann doch nur in einem besondershässlichen Haus.

Das Gebäude, in dem Johann HinrichClaussen, der Pfarrer von St. Nikolai lebt,ist, nun ja: hässlich. Klinker, Sechziger -jahre. Aber ein Pfarrhaus muss in der Näheder Kirche stehen. Und St. Nikolai ist dieevangelische Kirche von Harvestehude, einem der wohlhabendsten Viertel Ham-burgs und ganz Deutschlands.

Das jährliche Durchschnittseinkommender Steuerpflichtigen liegt hier bei knapp89000 Euro, im eher problematischenStadtteil Veddel liegt es bei gut 15000 Euro.Und in Harvestehude haben sich 127 Ärzteniedergelassen, in Veddel ist es einer.

Harvestehude ist wohlhabend, abernicht konservativ, nicht im politischenSinn. Bei der letzten Bürgerschaftswahlvotierten 23 Prozent für die CDU, 41 Pro-zent für die SPD. Das ist typisch für dieseStadt, in der eines der prominentesten Gesichter der Sozialdemokratie Klaus vonDohnanyi ist, der frühere Bürgermeister,der im Fernsehen immer so vornehm und

unnahbar wirkt. Dohnanyi wohnt nur einpaar Meter von Claussen entfernt.

Es ist neun Uhr morgens, 29. Mai, einDonnerstag, Christi Himmelfahrt. JohannHinrich Claussen trägt eine Sporttaschequer über seine Schultern, in der sein Talarsteckt und der weiße gekräuselte Kragen.

Christi Himmelfahrt ist ein schwierigerTag für eine Predigt in einer Gemeindewie Harvestehude: In der Bibel steht,Apostelgeschichte Kapitel 1, Vers 11, Jesussei an diesem Tag in einer Wolke in denHimmel getragen worden. Und das sollClaussen nun, am Anfang des 21. Jahrhun-derts, den Gläubigen einer deutschenGroßstadt erzählen.

Claussen, 49 Jahre alt, verheiratet miteiner katholischen Halbportugiesin, dreiKinder, promoviert mit einer Arbeit überBibelkritik, habilitiert mit einer Arbeitüber das Glück, Buchautor und regelmä-ßiger Autor in Zeitschriften und Zeitungen,wird die Sache mit der Wolke in seinerPredigt erwähnen. Aber er wird auch da-rüber reden, was Bilder wie diese heutebedeuten. Und darüber, ob ein Christen-tum ohne diese Bilder denkbar ist. Obüberhaupt eine Religion ohne Gott denk-bar ist.

Das ist der Plan: im vollen Ornat aufder Kanzel seiner Kirche stehen und danndiese Provokation: „Religion ohne Gott“.

Über Religion wird heutzutage viel ge-stritten, über den Bau von Moscheen, Frau-en mit Kopftüchern, Beschneidungen jü-discher Jungen, bischöfliche Baukosten inLimburg, über die Taliban und die Salafis-

ten, über die Rolle der Religion in denKriegen in Afghanistan, Ägypten, Syrien,in Israel und Palästina. Es sind Empörungs-debatten, auch innerhalb der Kirchen. Inder evangelischen Kirche gibt es Streit umPolitik, darüber, ob sich Pfarrer in Asyl-oder Ökologiethemen „einmischen“ dürfen,wie es immer heißt. Auf dem Katholiken-tag, der vergangenen Sonntag in Regens-burg endete, debattierten die Besucher denZölibat, die Zulassung von Frauen alsPriester, die Anerkennung homosexuellerLebensformen.

Doch außerhalb von Kirchentagen,wenn es um Religion im Alltag geht, umdas Verhältnis des Einzelnen zur Meta -physik, wird die christliche Mehrheit imLand still. Muslime tun sich leichter, überReligion zu reden.

Die Evangelische Kirche in Deutschland(EKD) hat vor Kurzem die Ergebnisse einerUmfrage unter ihren Mitgliedern veröffent-licht: Sogar Kirchenmitglieder reden in ih-ren Familien kaum über Religion, bei derArbeit schon gar nicht, auch nicht bei Facebook und Twitter, gelegentlich mit Lebenspartnern und sehr engen Freunden.Es ist peinlich geworden, zu intim, überReligion zu sprechen.

Oft hat eine Gesellschaft ein größeresProblem mit dem, worüber sie schweigt,als mit dem, worüber sie sich empört.

30 Prozent der Deutschen sind katho-lisch, 29 Prozent evangelisch, knapp 60Prozent sind immer noch Mitglieder einerder beiden großen Kirchen. Ein Drittel istkonfessionslos, etwa weitere 8 Prozent ver-

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Pfarrer Claussen in der Sakristei der Hamburger St.-Nikolai-Kirche: „Ein ganz und gar anderes Bild vom Himmel als die Menschen der Bibel“

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teilen sich auf Muslime, Orthodoxe undFreikirchen, einige wenige Juden, Hinduis-ten, Buddhisten sind darunter. Die Bertels-mann Stiftung hat in Studien ein relativstabiles Zugehörigkeitsgefühl zur Kircheausgemacht, die Religion habe sich aber„privatisiert und individualisiert“.

Die Ergebnisse der EKD-Mitgliederbe-fragung belegen die Ambivalenzen: Dieabsolute Zahl der Mitglieder sinkt zwar,aber für die übergroße Mehrheit der Ver-bliebenen kommt ein Austritt aus der Kir-che „dezidiert nicht“ infrage. Im Gegen-satz zu allen vorherigen Mitgliederunter-suchungen verzeichnet die neue Umfrageeinen „Anstieg der Zustimmung“ zur Kir-che bei den Verbliebenen. Allerdings sindnur 13 Prozent „hochaktiv“. Und von die-sen Hochaktiven lehnen zwei Drittel einewortwörtliche Auslegung der Bibel ab. DieZustimmung zur Religion schließt eineSkepsis gegenüber biblischen Bildern ein.Eine komplizierte Gesamtlage.

Es ist schwierig geworden, jeden Tag inden Nachrichten die Erkenntnisse aus denNaturwissenschaften zugeführt zu bekom-men und sich Gott als Person vorzustellen.Der christliche Glaube hält viele Zumu-tungen bereit: ein Heiliger Geist, der sichzu Pfingsten, wie es in der Bibel heißt,„ausgießt“? Ein Gottessohn, der in einerWolke davonschwebt?

Die Haltung der Agnostiker – kann sein,dass es etwas Höheres gibt, aber es berührtmich nicht – hilft den Gläubigen auch nichtweiter, denn sie fühlen sich ja durch etwasberührt oder suchen die Berührung mitder Metaphysik.

Zugleich aber haben die Naturwissen-schaften dafür gesorgt, dass das seit der

Renaissance gewachsene Vertrauen in denVerstand wieder gesunken ist. Denn: Einentscheidender Motor der Wissenschaftenist die Widerlegung einmal gewonnenerErkenntnisse. Wenig ist gesichert, einesaber schon: dass die Rationalität sich ausIrrationalismen zusammensetzt.

So haben nicht nur die Christen zukämpfen mit den Zumutungen ihres Glau-bens, auch Atheisten haben ein Problem:Die Ratio absolut zu setzen, das funktio-niert nicht mehr. Außerdem ist die Moder-ne eben nicht nur ein Kind der verstandes -gläubigen Aufklärung, sondern auch dergefühlsbetonten Romantik. Die heutigeKultur erweist sich, so hat der kanadischePhilosoph Charles Taylor in seinem Monu -mentalwerk „Ein säkulares Zeitalter“ fest-gestellt, als hochgradig „expressiv“ undauf Selbst- und Sinnerforschung ausgerich-tet. Die Rationalität fordert ihr Recht, abereben auch das Gefühl. Niemand will in

einer total entzauberten Welt leben.Außer dem lauert in der Gottlosigkeit, sohaben es schon viele Dichter und Denkergesehen, allen voran Friedrich Nietzscheund Fjodor Dostojewski, der Nihilismus,die totale Verneinung. Eine Gesellschaftaber kann nicht auf Nihilismus bauen, siebraucht verbindliche Werte, Menschen, dieeine Einsicht haben in die Notwendigkeitethischen Verhaltens.

Wenn also Gläubige Schwierigkeitenhaben mit der überkommenen Bilderweltund Atheisten den drohenden Nihilismusfürchten, könnte eine „Religion ohneGott“, über die Claussen in seiner Predigtnachdenken will, ein gemeinsamer Nennersein, auf den sich Theisten und Atheisteneinigen. Sie könnte das Gefühl befriedigen,ohne die Ratio zu verraten, sie könnte Frei-heit verschaffen und zugleich das Selbst-verständnis eines Eingebundenseins insGanze der Welt ermöglichen.

Oder ist das nur eine schöne, aber feigeIdee? Ein philosophischer Relativismus?Fordern nicht der Glaube und der Unglau-be ein Bekenntnis und auch die gegensei-tige Konfrontation, damit sich die jewei -ligen Positionen schärfen und weiterent-wickeln können?

An diesem Feiertag, an dem sich Claus-sen mit seiner Sporttasche auf den Wegzu seiner Kirche gemacht hat, kommt eran den Lkw-Kolonnen einer Filmfirma vor-bei. In Harvestehude wird ständig gedreht,das Bild, das die Deutschen von Hamburghaben, ist geprägt von diesem Stadtteil,den Villen, dem Wasser, den alten Bäu-men, weiß-blau-grün, und von Menschen,die alles haben und nichts mehr zu brau-chen scheinen.

Dennoch brauchen einige von ihnen dieKirche. Das Argument kommunistischerGlaubenskritiker, Religion sei „Opium fürdas Volk“, das arm, ungebildet und abhän-gig von der Obrigkeit sei, trifft auf die we-nigsten Bewohner des Westens noch zu.Auf Harvestehuder schon gar nicht.

Von den 5000 Mitgliedern von St. Niko-lai ist etwa die Hälfte immer mal wiederin der Gemeinde zu sehen, ungefähr 400gelten als engagiert. Diejenigen, die hierzur Kirche gehen, tun dies in dem Wissen,dass sie privilegiert sind, dass sie, wie einersagt, „keine äußere Not“ leiden. Sie wollen„etwas zurückgeben“, eben weil es ihnenso gut geht. Andere sagen, dass eine mate-rielle Absicherung die „inneren Nöte“ janicht erspare. Häufig fallen die Begriffe„Ethik“, „Haltung“, „Verantwortung“. Ei-nige kommen, um Leute kennenzulernenoder Konzerte und Autorenlesungen zuhören, eine sagt, sie suche „geistige Nah-

rung“. Sie sagt „geistig“, nicht „geistlich“.Viele Kirchgänger hier glauben nicht un-bedingt an Gott als konkrete Person, emp-finden sich aber dennoch als gläubig.

Das Kirchengebäude von St. Nikolaistammt aus den frühen Sechzigerjahren,der Turm misst 89 Meter, er sieht von Wei-tem aus wie eine Rakete, wie ein Produktder Raumfahrttechnik. Claussen begrüßtam Eingang den Küster, er trägt Anzug,weißes Hemd, Fliege. „Kirchendiener“ hie-ßen Küster früher. „Den Anzug hat die Fir-ma bezahlt“, sagt er. Die Gemeinde hatdrei Pfarrer, eine Kita für 270 Kinder, einen Chor mit 130 Sängern und eine Weiterbildungsstätte. Ein Knabenchor, einKammerorchester, eine Schule und zweiAltersheime sind angegliedert. Eine Firma.

Claussen zieht sich in die Sakristei zu-rück, um den Talar anzulegen, erst das Untergewand, dann das Obergewand, amUntergewand sind 17 Knöpfe angenäht, 17wegen der Zehn Gebote und der siebenBitten des Vaterunsers.

Er legt auch die Halskrause aus gestärk-tem Tuch an, sie ist ein Relikt des 16. Jahr-hunderts. Die Hamburger Ratsherren undPfarrer puderten sich ihre Perücken, wolltenaber nicht, dass sich der weiße Staub aufden Talaren ablagerte, also trugen sie dieKrause, die sie „Puderbremse“ nannten.

Anders als viele gleichaltrige Kollegen,die in den Achtzigerjahren erwachsen wur-den und von der Friedens- und Anti-Atom-kraftbewegung geprägt worden sind, hältClaussen viel von traditionellen Formen.Während er sich von Knopf 1 bis zu Knopf17 hinunterarbeitet, sagt er, dass die Form,über die man sich keine Gedanken mehrmache, weil sie selbstverständlich sei, Frei-raum schaffe „für ungewohnte Gedanken“.Den Gedanken an eine Religion ohne Gottzum Beispiel.

Kurz vor zehn Uhr, der Küster schautauf die Uhr seines Smartphones und läuftlos, um das Geläut der Glocken abzustellen.In den Bänken haben 74 Gläubige Platz ge-nommen. Gottesdienste an anderen Tagensind besser besucht, 120, 130 Leute kom-men in der Regel. Wenn ein Donnerstagzum Feiertag wird, wird der Freitag zum„Brückentag“, an einem langen Wochen-ende gehen Harvestehuder nicht in die Kir-che, sondern fahren an die Ostsee.

Orgelmusik, Claussen betritt den Kir-chenraum. Er lässt ein paar Lieder singen,die Orgel quäkt zu laut, die Liturgieschnurrt ab, dann betritt er die Kanzel.Sein Experiment beginnt.

Er spricht die Sache mit der Wolke an.„Wie anders wir heute zum Himmel schau-en als die Menschen der Bibel, wie vielmehr wir wissen als sie, wie viel wenigerwir glauben als sie, wie unterschiedlich un-sere Bilder von der Welt sind.“

So wie die Jünger der Bibel, sagt Claus-sen, „denken, wissen, glauben wir jeden-

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Die Rationalität fordert ihr Recht, aber auch das Gefühl.Niemand will in einer total entzauberten Welt leben.

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falls nicht mehr. Wir haben ein ganz undgar anderes Bild vom Himmel, dem un-endlichen Universum, indem unsere Erdeweniger ist als ein Staubkorn, unauffindbarin der Weite des Universums. In diesemHimmel gibt es keinen anderen Ort, kei-nen dinglichen Raum, in dem Gott wohnt.In diesen Himmel wird niemand aufgeho-ben in einer Wolke“. Und dann hält er einfarbiges Bändchen in die Luft und sagt:„Zurzeit beschäftigt mich ein kleines Bucheines großen Philosophen.“

Das Buch heißt „Religion ohne Gott“.Geschrieben hat es der Amerikaner Ro-nald Dworkin, es ist gerade auf Deutscherschienen*. Dworkin ist im vergangenenJahr gestorben. Der Philosoph habe, sagtClaussen, „mit einem personenhaftenGott gar nichts anfangen“ können. Unddoch konnte „er von der Religion nichtlassen“.

Claussen wird das Buch von Dworkinim Verlauf seiner Predigt interpretieren,er wird am Ende seinen eigenen Schlussdaraus ziehen, aber über genau diese Stel-le, an der er jetzt ist, werden seine Zuhörernach dem Gottesdienst am meisten reden.

Es sind Mitglieder des Gemeinderats,die sich zusammenfinden, eine Immobi-lienmaklerin, ein Unternehmensberater,ein Banker, eine Kommunikationsberate-rin. Einer sagt, „da habe ich mich ertapptgefühlt“. Die anderen stimmen zu: Gott

* Ronald Dworkin: „Religion ohne Gott“. Aus dem ame-rikanischen Englisch von Eva Engels. Suhrkamp Verlag,Berlin; 148 Seiten; 19,95 Euro.

als Person, das sei wirklich schwierig, aber„nicht lassen können“ von der Religion,so gehe es ihnen auch.

Sie alle waren „mal weg“, so drückt eseine Gemeinderätin aus: Kirchliche Er -ziehung, aber dann im Studium kamendie Zweifel, überhaupt war so viel zu tun,der Beruf, die Kinder. Keine Zeit für dieKirche.

Irgendwann fehlte sie doch, die Reli gion,die eine kehrte zurück zur Kirche, als daserste Kind getauft wurde. Einer sagt: „Viergesunde Kinder, ich wollte irgendwohinmit meiner Dankbarkeit.“ Also übernah-men sie das Ehrenamt, Gemeinderat, Sit-zungen einmal im Monat, im Gottesdienstteilen sie das Abendmahl mit aus, lesenBibelstellen vor. Eine sagt, dass sie die Bibelstellen manchmal nicht verstehe. Sielese sie sich dann zu Hause laut vor, nichtimmer nütze das.

Niemand von ihnen stellt sich Gott alskonkrete Person vor. Gott sei ein „Ener-giefeld“, eine „abstrakte Macht“, eine„Kraft“, eine „Idee“, etwas in ihnen undaußerhalb von ihnen, etwas, was sie be-rühre.

Aber dass sie nicht alles verstehen, dasssie die biblischen Bilder nicht eins zu einsübernehmen können, dass sie ringen müs-sen, damit sind sie einverstanden. Es istdas, was sie hier suchen. Auf eine „Wohl-fühlreligion“, wie es Gläubigen heutzutageoft unterstellt wird, sind sie nicht aus. Siehaben genug anderes in ihrem Leben, wo-mit sie sich wohlfühlen. Sie möchten Reli-gion als Herausforderung.

Für den Philosophen Ronald Dworkinwar Religion auch eine Herausfor -derung. Für ihn hieß die Herausfor-

derung: einen Ausweg aus dem Dilemmaheutiger Tage zu weisen. Dworkin zielt indiesen Zwischenraum zwischen Religio -sität und Atheismus, er schafft eine Ver-bindung zwischen den beiden Prinzipien.Er entwirft einen religiösen Atheismus.

Gläubige und Gottlose hätten, so be-hauptet er, etwas Verbindendes: den Glau-ben an Werte, ohne die die Menschheitgar nicht existieren könnte, weil sich sonstalle sofort totschlagen würden. Diese Wer-te begründeten sich aus sich selbst heraus,seien umfassend und damit autonom. Unddie Anerkennung dieser Werte mache, sosagt Dworkin, ein übernatürliches Wesennicht erforderlich. Religion ist für ihn „et-was Tieferes als Gott“, sie sei nicht auf denGlauben an Gott beschränkt.

Wenn man Dworkin folgt, gibt es fürGottesgläubige und Ungläubige, für Theis-ten und Atheisten, keinen Grund, einanderzu bekämpfen. Sie wären wahlweise in ei-nem religiösen oder allgemeinen Huma-nismus vereint. Der säkulare Humanismuswäre selbst eine Spielart der Religion, weiler auch ein Glaube ist: eben an diese un-veräußerlichen Werte, an deren Wahrheit,Gültigkeit.

Jede Erkenntnisfähigkeit, so führt Dwor-kin vor, beruhe auf einem geistigen Zirkel-schluss: Erkennen kann der Mensch nur,weil er über einen Intellekt verfügt. DerMensch ist Teil der Natur, da er körperlichist und eine endliche Lebensdauer hat, er

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Junge Katholiken beim Weltjugendtag 2011 in Madrid: Weil wir sterblich sind, glauben wir, dass es einen Unterschied macht, wie wir leben

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ist aber auch ein geistiges Wesen, das au-ßerhalb der Natur steht, da er sich selbsterkennen kann und sein Leben selbst ge-stalten muss. Der Geist aber ist das letzteMysterium. Ihn auf Gott zurückzuführenwäre auch wieder zirkulär, denn Gott selbstist schon der absolute Geist, der „logos“der griechischen Philosophie und der christ-lichen Theologie. Den Geist, wie mancheNaturalisten und Evolutionsforscher es tun,dagegen als Trick der Natur zu bezeichnenund die Produkte des Geistes – Wahrheit,Schönheit, Werte, Gut und Böse – als Illu-sion im Dienste des Überlebens anzusehenist auch zirkulär. Als Illusion und Konstruktkönnte sich der Geist nur selbst entlarven.Die Entzauberung der Welt durch die Wis-senschaft, die Technik und die Rationalitätist eine geistige Leistung. Der reduktionis-tische Materialis mus greift zu kurz.

Das menschliche Denken, die Erkennt-nisfähigkeit, bleibt in sich selbst gefangen.So hat der Geist aber keinen Ausdruck fürdas, was dem Menschen immer wieder be-gegnet: die Erfahrung des Erhabenen. Die-se Erfahrung ist eine des Gefühls. Und hierbeginnt die religiöse Dimension.

Gerade Physiker und Kosmologen, diesich der Erforschung der Materie verschrie-ben haben, sind immer wieder von Ehr-furcht ergriffen worden. Viele von ihnen,die meisten, teilen ein Empfinden für dieSchönheit der Natur und des Universums.Physiker forschen im Angesicht des Erha-benen.

Dworkin hat die Überlegungen zu derFrage, ob es Religion ohne Gott gibt, inseinen „Einstein Lectures“ an der Univer-sität Bern angestellt. Er hielt sie im De-zember 2011 und arbeitete den Text bis

kurz vor seinem Tod im Februar 2013 aus.Der blieb fragmentarisch – gerade deswe-gen dem Thema angemessen.

Am Anfang steht das Paradox, das Einstein in seinem „Weltbild“ poetisch be-schrieben hat und mit dem er sich als reli-giöser Atheist zu erkennen gab: „Das Wis-sen um die Existenz des für uns Undurch-dringlichen, der Manifestationen tiefsterVernunft und leuchtendster Schönheit, dieunserer Vernunft nur in ihren primitivstenFormen zugänglich sind, dies Wissen undFühlen macht wahre Religiosität aus; indiesem Sinn und nur in diesem gehöre ichzu den tief religiösen Menschen.“ Und wei-ter: „Das Schönste, was wir erleben kön-nen, ist das Geheimnisvolle. Es ist dasGrundgefühl, das an der Wiege von wah-rer Kunst und Wissenschaft steht. Wer esnicht kennt und sich nicht mehr wundern,nicht mehr staunen kann, der ist sozusagentot und sein Auge erloschen.“

Das bedeutet, dass Einstein im Univer-sum mehr sieht als einen Zusammenhangvon Tatsachen: so etwas wie ein Wunder.Der Blick auf die Schönheit des Univer-sums ist ein unwissenschaftlicher Blick –und insofern ein religiöser. Die Physikkann selbst nicht erklären, warum das Uni-versum als schön erkannt wird. Das reli-giöse Empfinden bleibt der Erklärung derWissenschaft einen Schritt voraus.

Der deutsch-amerikanische TheologePaul Tillich (1886 bis 1965) hat dieses Gefühl der „Erfahrung des Numinosen“beschrieben – den Eindruck, etwas zu er-leben, zu sehen, das emotional tief bewe-gend ist, aber rational nicht begründet wer-den kann. Da die Erfahrung von etwas Heiligem sich nicht gegenständlich fassenlässt, bringt die Religion sie in Symbolenzum Ausdruck. Eines dieser Symbole,meint Tillich, ist der Gott als Person.

Dworkin meint nun, wenn die Idee ei-nes personalen Gottes als Symbol für et-was anderes verstanden werden muss,dann hat auch das atheistische Elementseinen Platz im Glauben. Religion ist eineSicht auf die Welt, die von eben jenemGlauben an objektive Werte getragen wird.Die Werte besagen, dass das menschlicheLeben einen Sinn und der Mensch eineWürde hat. Daraus ergibt sich für jedenEinzelnen die unausweichliche Verantwor-tung, nach einem moralisch guten Lebenzu streben. Und zweitens verweist Reli -gion darauf, dass das Universum eine in-härente Ordnung hat, die in sich selbstwertvoll und schön ist.

Der Sinn des Lebens und die Schönheitder Natur, das sind laut Dworkin die zwei Dimensionen einer religiösen Ein-

stellung, die Theisten und Atheisten teilenkönnen.

Dworkin steht in einer Tradition, dieauf die Aufklärung zurückreicht und vorallem auch in der protestantischen Theo-logie gepflegt wurde. Immanuel Kant hatdie beiden Richtungen der göttlichen Er-fahrung in seinem berühmten Satz aus der„Kritik der praktischen Vernunft“ formu-liert: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mitimmer neuer und zunehmender Bewunde-rung und Ehrfurcht, je öfter und anhalten-der sich das Nachdenken damit beschäftigt:Der bestirnte Himmel über mir, und dasmoralische Gesetz in mir.“

Die Grenzenlosigkeit des Kosmos unddie Unbedingtheit des Guten sind nachKant Erfahrungen des Unendlichen, diedem Menschen erlauben, ein Bewusstseinvon Unsterblichkeit zu erlangen.

Was Unsterblichkeit, das Leben nach demTod, wirklich bedeutet, lässt sich ausmalen,

aber nicht ernsthaft denken. Dennoch ist esein attraktives Angebot derjenigen Religio-nen, etwa des Christentums und des Islam,die es verheißen. Es nimmt die Furcht vordem Nichts, der vollständigen Auslöschung.

Tatsächlich aber, sagt Dworkin, sei esreine Verheißung: Wir werden nicht zunichts. Für ihn gibt es nur eine einzige Artder Unsterblichkeit, die der Mensch anzu-streben berechtigt ist, und das ist die Be-friedigung, ein gelungenes, ein sittlich gutes Leben geführt zu haben. Das Lebennicht vergeudet und verspielt zu haben istder bleibende Wert.

Auch hier kehrt Dworkin den Theismusum und wendet ihn in einen religiösenAtheismus: Nicht weil wir uns unsterblichglauben und vor Gottes Richterthron er-scheinen werden, sollten wir uns verpflich-tet fühlen, ein anständiges Leben zu führen. Sondern, so Dworkin, „weil wirsterblich sind, glauben wir, dass es einenUnter schied macht, wie wir leben“. DieLebensleistung garantiert den metaphy -sischen Rentenanspruch: Wir können demTod mit der Gewissheit entgegensehen,dass wir etwas Gutes zustande gebrachthaben. „Wenn irgendeine Überzeugung re-ligiös ist“, so spricht Dworkin seine Leseran, „dann diese. Sie steht Ihnen offen,gleichgültig, für welches der beiden Lagerder Religion Sie sich entscheiden: das mitoder das ohne Gott.“

Der romantische evangelische TheologeFriedrich Schleiermacher (1768 bis 1834)hat dieses Religionsverständnis schon ganzähnlich wie Dworkin als „Sinn und Ge-schmack fürs Unendliche“ definiert. Reli-gion sei „Ehrfurcht“ vor dem Unendlichen.Dieses religiöse Gefühl entsteht für ihnvor allem an den Grenzen des Lebens:„Geboren werden und sterben sind solchePunkte, bei deren Wahrnehmung es unsnicht entgehen kann, wie unser eignes Ichüberall vom Unendlichen umgeben ist.“

Es gibt nicht nur eine einzige Anschau-ung des Unendlichen, sondern die Mög-lichkeit unendlich vieler Anschauungen.Religion ist für Schleiermacher „die Anla-ge zur unbeschränktesten Vielseitigkeit imUrteil und in der Betrachtung“.

Mit einer damals unerhörten Radikalitätbehauptete Schleiermacher sogar, dass„eine Religion ohne Gott besser sein kannals eine andre mit Gott“. Religion kannAtheismus sein, denn „Gott ist nicht Allesin der Religion, sondern Eins, und das Uni-versum ist mehr“.

Schleiermacher, Kant, Dworkin – musseine Religion ohne Gott nicht eine Sachevon Intellektuellen bleiben? Muss die realgelebte Religion nicht schon der Anschau-lichkeit halber die Existenz eines persona-len Gottes in Gestalt einer vollkommenenPerson proklamieren?

Gott als Person, und das kann keine Phi-losophie ersetzen, hat einen praktischen

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„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt: Der bestirnte Himmelüber mir, und das moralische Gesetz in mir.“

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Gebrauchswert. Er spricht zu den Men-schen mit der Stimme des Gewissens. DieMenschen können ihn lieben oder fürch-ten. Eine solche direkte Beziehung lässtsich zu einem abstrakten Prinzip, dem ge-dachten Absoluten, nicht aufnehmen. Esist kein Zufall, dass der Begriff „Gott“ inseiner üblichen, von der biblischen Tradi-tion inspirierten Bedeutung das Absoluteals Person meint. Er bleibt damit seinermythologischen Herkunft nahe. Und ge-nau diese Herkunft spricht in der aufge-klärten, wissenschaftsorientierten Moder-ne aber gegen den Glauben an ihn.

Diese Aporie hat der Philosoph und Ka-tholik Robert Spaemann in ein Bonmotverpackt: Gott sei ein unsterbliches Ge-rücht. Er ist nicht Teil dessen, was in derWelt vorkommt. Dennoch sollen in derWelt Hinweise auf ihn zu entdecken sein.Das gehört zu dem Gerücht. Das ist, soSpaemann, der Grund, warum man ver-schiedene Sätze über Gott sagen kann (siehe Interview Seite 66).

Das Problem religiöser Intoleranz ent-steht dann, wenn Gott, wie in den großenmonotheistischen Religionen, als faktisch

und einzigartig behauptet wird. Wenn esaber nur Bilder von Gott gibt, verstandenals Symbole im Sinne von Tillich, Gestensozusagen, die auf etwas verweisen, wassich jeder Beschreibung entzieht, könnendie Gläubigen ihre Gottesbilder neben -einander gelten lassen und jedes in seinerArt gut finden.

So wäre viel gewonnen, wenn es Philo-sophen wie Dworkin gelänge, den Gottes-begriff auf seinen Sinngehalt hin zurück-zuführen und über seine reale, personaleBedeutung zu schweigen. Man kann überGott reden, als ob es ihn nicht gäbe. Viel-leicht kann man sogar nur so über ihn re-den. Die Wahrheit einer Erzählung vonGott wäre eine literarische. Das heißt: Fik-tion. Eine Fiktion, die nicht absurd ist.

Dworkins religiöser Atheismus bedientbeide Seiten: Er befriedigt das Gefühl,ohne den Verstand zu verletzen. Und dochstößt Dworkin mit seinen Gedanken anGrenzen. Der Glaube an Gott braucht In-halte, der Glaube ohne Gott braucht sieauch. Sonst bleibt von Religiosität nichtviel mehr übrig als diffuse Spiritualität –der „Gotteswahn“, wie der Evolutionsbio-

loge und radikale Atheist Richard Dawkinsdas genannt hat, was er für eine Selbsttäu-schung des Geistes hielt.

Johann Hinrich Claussen hat in seinerPredigt Dworkin gelobt, „dieses kleineletzte Buch“ des Philosophen, „denn

es durchbricht die fatalen Grenzen zwi-schen Christen und Atheisten“. Claussensagt, er hätte gern mit Dworkin über diese„Religion ohne Gott“ gesprochen. Undüber seine eigene „Religion mit Gott“. „Ichhätte ihm in vielem zugestimmt. Ich hätteaber auch gefragt, ob der christliche Got-tesglaube wirklich so platt ist, wie ermeint.“

Der Gottesbegriff der christlichen Reli-gionen sei, so betont Claussen, mit Absichtein Paradox. Es gibt Gott als Vater undGott als Sohn, der am Kreuz gestorben ist,und damit Gott als Allmacht und Gott alsOhnmacht, Gott als Mensch und Gott alsGott. Gott als etwas, was nahe bleibt, undals etwas, was sich in den Himmel entzieht.Das gesamte komplexe Bild der Trinität,Vater-Sohn-Heiliger Geist, ist der gewollteWiderspruch in sich selbst. Es sei, sagt

Ostersonntag, die Glocken läutenim Londoner Stadtteil Holborn.Auch in der Kirche ohne Gott

feiert die Gemeinde den Tag des Herrn.Die Ungläubigen singen und schnippenmit den Fingern. Die Band spielt„Wake me up before you go-go“. Esfolgt eine Predigt über Optimismus undHirnforschung, dann geht der Klingel-beutel herum.

„Sunday Assembly – a godless con -gregation“ nennt sich die neue Atheis-tenkirche, gegründet im Januar 2013. Es könnte eine der am schnellstenwachsenden Weltanschauungsgemein-schaften der Geschichte werden: Nacheinem Jahr gab es bereits 30 Gemein-den, bis Ende des Jahres sollen es 100sein, von Atlanta bis Adelaide, von São Paulo bis Singapur. Berlin soll baldfolgen.

„Wir haben uns die besten Elementeeiner Kirche genommen – und lassenGott einfach weg“, sagt Sanderson Jones, dessen feuerroter Rauschebart aneine Karikatur von Moses oder Darwinerinnert. Von Berufs wegen ist JonesStand-up-Comedian, genau wie Mit-gründerin Pippa Evans, die meist dieSing- und Tanzeinlagen übernimmt.

„Wir glauben nicht an Gott, aber andas Gute“, sagt Sanderson zur Begrü-ßung seiner Gemeinde. „Unser Mottolautet: Lebe besser, hilf öfter, mach dirmehr Gedanken.“ Das klingt wie eineAllerweltsfloskel, passend zu den Pop-songs, die hier dudeln, ein bisschenBeatles, ein bisschen Nina Simone. Hu-manismus light.

Doch genau diese Beliebigkeit führtim Lager der Ungläubigen zu Flügel-kämpfen: Wieso sollten Atheisten,Agnostiker und Antiklerikale die Kir-chen nachäffen, denen sie sich entron-nen glaubten? „Atheisten-Kirchen sindein Desaster für den Atheismus“, war-nen Blogger aus dem Lager der NewAtheists, deren berühmteste Stars einstals „Vier Reiter der Nicht-Apokalypse“gefeiert wurden: Richard Dawkins,Christopher Hitchens, Daniel Dennett,Sam Harris.

Ihre aggressiven Attacken gegen Reli-gionen, in denen sie die Ursache vonVerdummung, Krieg und Ungerechtig-keit sahen, wirkten auf viele Beobach-ter abstoßend. Ohnehin gelten in den

USA Atheisten als extrem unbeliebteMinderheit, abgeschlagen hinter Schwu-len und Muslimen.

Der sogenannte Neue Atheismus derNullerjahre macht heute einen antiquier-ten Eindruck. Die Sunday Assembly dagegen tritt unideologisch und betontleichtfüßig auf, als „Atheismus 2.0“.

„Wir lassen Gott weg, aber wir sindnicht gegen Religion“, sagt Jan Willemvan der Straten, ein Niederländer, derderzeit in der Londoner Zentrale assis-tiert, um eine Gemeinde in Amsterdammitaufzubauen. „Ich komme aus einemtief atheistischen Milieu“, sagt der Mitt-zwanziger, der einen ähnlichen Rau-schebart trägt wie sein Meister Jones:„Aber ich habe eine Beichte zu machen:Ich bin Christ.“

„Wir versuchen, ein möglichst schlan-kes Produkt herzustellen, ein MinimalViable Product“, sagt Jones. Früher ar-beitete er in der Technik-Gründerszene,er zieht die Kirche wie ein Start-up auf.Auf der Online-FinanzierungsplattformIndiegogo baten die Gründer um einehalbe Million Pfund für eine professio-nelle Website. Der Plan floppte. Aberdie Filialen florieren auch so. AnfangMai trafen sich Gründer aus 22 Städtenzu einem Strategietreffen. Sie nanntenes „Synode“.

Gut zehn Prozent der Menschheit be-kennen sich laut groben Schätzungendes „Oxford Handbook of Atheism“ alsUngläubige, in Frankreich, Skandivien,

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GottloseKirchgängerAtheismus Die Sunday Assemblywill eine Kirche ohne Gott sein.Nach 18 Monaten gibt es bereitsüber 50 Gemeinden weltweit.Und die ersten Abtrünnigen.

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Claussen, „ein Bild von Gott, das alle Got-tesbilder durchbricht“. In seiner Offenheitpasse es in eine moderne, komplexe Welt.

Claussen steigt von der Kanzel herab,die Orgel quäkt. Das Glaubensbekenntnis,ein Bekenntnis zum „Vater“, dem „Sohn“,dem „Heiligen Geist“, hat die Gemeindeschon vor der Predigt gesprochen. Das Be-kenntnis zu einem Paradox. Claussen warnicht herauszuhören, die Gemeinde über-tönte ihn.

Das Bekenntnis im geschützten Raumeiner Kirche ist leichter als außerhalb. Re-ligion im Alltag ist meist ein Problem. Esgibt Ausnahmen. Tim Strate, Chefarzt amSt. Adolf-Stift in Reinbek bei Hamburg,ist so eine Ausnahme. Er gehört ebenfallszum Gemeinderat von St. Nikolai. BeimHimmelfahrtsgottesdienst war er nicht dabei, er war segeln. Religion ohne Gott?Für ihn ist das ein interessanter Gedanke,aber er bekennt sich lieber zu dem Gott,an den er glaubt. „Mir hilft das in meinemBeruf.“

Mindestens einmal in der Woche mussder 45-Jährige einem Patienten sagen,dass er die Krankheit, wegen der er in der

Klinik ist, nicht überleben wird. Bei denGesprächen, die sich dann ergeben, amEnde eines Lebens, geht es oft um die Frage, ob etwas bleibt, und selten um theo-logische Spitzfindigkeiten, die Frage nachGott als Person oder eben nicht. Es kom-men Erinnerungen hoch, an das, was gutwar: die Liebe, zu einem Mann, einerFrau, zu den Kindern, der Moment aufdem Gipfel eines Berges, der Morgen aneinem See, der Abend am Meer. In dunk-len Momenten geht es um die Fehler, dasUngelebte.

Für Strate bleibt jedes Mal das Staunendarüber, dass da zwar jemand unheilbarkrank geworden ist, aber doch ein langesLeben möglich war, sich ein Jahr ans nächs-te gereiht hat, Jahrzehnt an Jahrzehnt.Nicht die Krankheit ist für Strate, den Arzt,das Erstaunliche, sondern dass so ein kom-plexes Wesen wie der Mensch tatsächlichfunktioniert.

Strate zeigt die Operationsräume. In ei-nem Raum haben die Ärzte eine Kamerain den Bauchraum einer Patientin geführt,auf einem Bildschirm sieht man die inne-ren Organe, die Schnitte des Chirurgen.

Es pulsiert, es fließt Blut, Strate sagt,da werde gerade eine Gebärmutter ent-fernt. Ja, sagt er, so etwas sei jedes Malein schöner Moment. Das Gewebe, dieBlutbahnen, wie alles zusammenhänge.„Das sind die Augenblicke, in denen ichein Gefühl bekomme für die Erhabenheitdes Geschaffenen.“ Er wisse ja, wie zer-brechlich das alles eigentlich sei, wie naham Chaos sich jeder Mensch zu jeder Zeitbefinde. Eine Arterie, die platzt, ein fal-scher Schnitt, dann kann das Lebenschnell vorbei sein.

Dass eben doch so viel glücke, obwohlder Mensch so fragil sei, auch das macheihn zu einem gläubigen Menschen.

Aber ob denn seine Kollegen, die nichtgläubig sind, einen anderen Blick auf diePatienten hätten, auf das Funktionierendes Körpers und das drohende Chaos?

„Nein“, sagt Strate, „sie sehen das ähn-lich.“ Susanne Beyer, Romain Leick

Deutschland sind es mehr, in Afrikaund Südamerika weniger. Insgesamtdürften die Ungläubigen rund 800 Mil-lionen Menschen umfassen, mehr als somanche Religion, abgehängt nur vonChristentum und Islam. Sogar in dentief religiösen USA bezeichnen sichmittlerweile über 30 Prozent der Stu-

denten als nicht religiös, hat der Soziologe Barry Kosmin vom TrinityCollege im amerikanischen Hartfordfestgestellt.

Die Gottlosen scheinen dabei nichteinfach nur indifferent zu sein, sondernbilden derzeit eine Art Grundkonsensder Werte heraus, zum Beispiel für die

Schwulenehe. Und obwohl die Areligiö-sen mehrheitlich männlich sind, spre-chen sie sich stärker für Frauenrechtewie Abtreibung aus als der Durch-schnitt der Studenten. „Trotz allem, Or-ganisationen wie die Sunday Assemblydürften ein Minderheitenprogrammbleiben“, sagt der Soziologe Kosmin:„Die meisten Areligiösen haben keineLust auf Gemeindeleben, Charismaoder Disziplin.“

Die Sunday Assembly legt Wert aufOffenheit. Und genau deshalb erlebt sieschon jetzt eine atheistische Variantedes Kampfes Luther gegen Papst. Zumeinen beschwerte sich der britische Es-sayist Alain de Botton, dass die gottloseSonntagspredigt seine Idee gewesen sei.Seine Lebensberatungsfirma School ofLife berechnet pro „Sunday Sermon“Eintrittspreise von 15 Pfund.

Noch erbitterter lief die Abspaltungvon der Sunday Assembly in New York:„Was als eine atheistische Komikerkir-che anfing, soll jetzt eine zentralisiertehumanistische Religion werden“,schimpft ein Mitglied, dessen Wunschnach antichristlicher Polemik von dengottlosen Oberhirten in London abge-blockt wird. Per Facebook hat der Ab-weichler eine Konkurrenzkirche ge-gründet mit Namen „Godless Revival“.

In der Zentrale sieht man die Abspal-tung gelassen: „Das ist doch wunder-bar“, sagt Jones, „ich sehe das als Pro-duktentwicklung.“ Hilmar Schmundt

Gründer Jones in der Sunday Assembly: Wie Luther gegen Papst

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Video: Pfarrer Claussen über

Glaube und Zweifel

spiegel.de/app242014glaube oder in der App DER SPIEGEL

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Spaemann, 87, war Professor für Philosophie

in Stuttgart, Heidelberg und München. Seit Jahr-

zehnten befasst er sich mit Religion und der

Frage nach Gott in der Moderne. Die Vernünftig -

keit des Glaubens steht für ihn im Mittelpunkt

des Denkens. Papst Benedikt XVI. schätzte

sein Engagement in öffentlichen Grundsatz-

und Wertedebatten und lud ihn als Berater ein.

Spaemann ist Autor zahlreicher Werke über

Ideengeschichte, Ethik und Naturphilosophie.

SPIEGEL: Herr Spaemann, glauben Sie anGott?Spaemann: Ja.SPIEGEL: Von Ihnen stammt der Satz, dieExistenz Gottes sei ein „altes, nicht zumSchweigen zu bringendes Gerücht“. Wasmeinen Sie, wenn Sie Gott sagen?Spaemann: Ich erinnere mich an das Wortim Evangelium, wo Jesus sagt: Wer michgesehen hat, der hat den Vater gesehen.Das heißt, dann stelle ich mir Jesus vor –Gott kann ich denken, aber ich habe keineVorstellung von Gott.SPIEGEL: Gott wird von niemandem unmit-telbar wahrgenommen. Jesus sagte auch,als er zu seiner Umgebung über seinen Vater sprach: Ihr kennt ihn nicht.Spaemann: Und er setzte hinzu: Ich aberkenne ihn.SPIEGEL: Finden wir nur über Jesus Zugangzum wahren Gott? Gott gehört doch nichtden Christen allein.Spaemann: Jesus lehrte nicht einen anderenGott, sondern er sprach anders über den-selben. Die Wirklichkeit Gottes könnenMenschen in allen Religionen annehmen. SPIEGEL: Wie können wir uns versichern,keiner Illusion zu erliegen, wenn wir überGott sprechen?

Spaemann: Wir denken in Gott zwei Prä-dikate, die in der Welt nicht miteinanderverknüpft sind – absolute Macht und ab-solute Güte. Darum heißt es: Seid voll-kommen, wie euer Vater im Himmel voll-kommen ist. Wir denken etwas, das größerist als wir selbst.SPIEGEL: Scheint da nicht der Wunsch alsVater des Gedankens auf, die Sehnsuchtdes Menschen nach einem gerechten Wel-tenherrscher?Spaemann: Gott ist tatsächlich das Endedes Denkens, indem er zugleich dessenVollendung ist. Wir können in ihm das Un-denkbare denken. Der Gläubige verstehtGott als das absolut Vernünftige, das seine

Vernunft übersteigt. Der Atheist sieht darinbloße Resignation: Weiter können wirnicht gehen, unsere Erklärung versagt. DerVerstand kommt zum Ende, die Vernunftbleibt – das unterscheidet den Gläubigenvom Nichtgläubigen.SPIEGEL: Wir stehen vor der Wahl, zu glau-ben oder zu kapitulieren?Spaemann: Gottfried Benn hat als Agnos-tiker diese Möglichkeit der intellektuellenResignation in einem Gedicht so umschrie-ben: „Ich habe mich oft gefragt und keineAntwort gefunden, / woher das Sanfte unddas Gute kommt, / weiß es auch heutenicht und muß nun gehn.“ Also: Es gibtdas Sanfte und das Gute, ich kann es evo-lutionär nicht hinreichend erklären, aberes ist da, und mit diesem Rätsel muss ichmich abfinden.SPIEGEL: Gott löst das Rätsel. Die Kluft zwi-schen Gläubigen und Ungläubigen ist nichtüberbrückbar, während der Dialog der Religionen immer möglich bleibt?Spaemann: Wenn der Gottesbegriff eine Be-deutung hat, wenn ihm also etwas in derRealität entspricht, dann meinen die An-hänger der abrahamitischen Religionen,Juden, Christen und Muslime, denselbenGott. Die klassischen europäischen Philo-sophen übrigens auch. Es bleibt aber sinn-voll, darüber zu streiten, wie man überihn sprechen muss, um richtig zu sprechen.SPIEGEL: Das hat in der Geschichte zuschrecklichen Religionskriegen geführt.Sind unsere Gottesbilder vielleicht nureine Projektion unseres Geistes? Ist Gottunsere Idee, oder sind wir die seine? Spaemann: Was Sie da sagen, ist gerade einArgument für den Glauben an Gott. Dasswir denken, etwas könne nur eine Projek-

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Autor Spaemann

„Die Wahrheit braucht Gott“

„Ein notwendiges Medikament“Interview Der Philosoph Robert Spaemann erklärt, warum der Gottesglaube für ihn Bestand hat.

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Titel

tion unseres Denkens sein – ist das nichtauch eine Projektion? Einer, der das ganzklar gesehen hat, war Friedrich Nietzsche.Er war schließlich Atheist, aber er hat gesagt, der Unglaube ist die absolute Ka-tastrophe, der Zusammenbruch des Den-kens. Die Welt wird ins Nichts geschleu-dert. Die Aufklärung hebt sich selbst auf,wenn sie Gott leugnet, denn dann leugnetsie ihre eigene Voraussetzung, dass esnämlich so etwas wie Wahrheit gibt.SPIEGEL: Wieso setzt die Wahrheit Gott voraus?Spaemann: Sonst gibt es nur die vielen Per-spektiven auf die Wirklichkeit. Die Wahr-heit des Ganzen braucht die Gottesper-spektive. Ich kann nicht glauben, dass et-was wirklich von sich aus existiert, was ichnur projiziert habe. Wenn alles Projektionist, stehe ich vor dem Ende.SPIEGEL: Ist unser säkulares Zeitalter schondabei, dieses Ende zu erreichen?Spaemann: Wir nähern uns ihm stark an.Der Relativismus, der heute die Voraus-setzung des politisch Korrekten ist, signa-lisiert den Verzicht auf Wahrheit. Der An-spruch auf Wahrheit ist selbst schon poli-tisch unkorrekt, weil man ihm unterstellt,die Gleichberechtigung des anderen nichtanzuerkennen. Damit wird aber auch dieToleranz bedeutungslos, denn sie muss ei-nen Grund haben, der nur in der Achtungder Würde des anderen bestehen kann.Dazu gehört, ihm die Wahrheitsfähigkeitzuzusprechen. Nichteinmischung im Mei-nungsstreit ist keine Toleranz – Gleichgül-tigkeit vor der Meinung des anderen be-deutet, ihn nicht ernst zu nehmen. Dannerlischt der Diskurs. Michel Foucault, auchjemand, der an Wahrheit überhaupt nicht

glaubte, sah im Diskurs nur einen Macht-kampf mit anderen Mitteln: Es ginge nichtmehr darum, Wahrheit zu suchen, weil essie gar nicht gibt, sondern darum, sich zubehaupten und durchzusetzen. Das Den-ken kann aber, ohne sich selbst zu zerstö-ren, nicht auf Wahrheit verzichten.SPIEGEL: Kann der Mensch als geistiges We-sen gar nicht anders, als nach dem letztenGrund zu fragen?Spaemann: Der Mensch hat in der Selbst-reflexivität seines Geistes die Möglichkeit,sich selbst zu betrachten und über die ei-gene Existenz wie über die verschiedenenMöglichkeiten des Lebens zu staunen. Gottdenken wir demgegenüber als die absoluteMacht, die absolute Wirklichkeit, den ab-soluten Sinn. Nur partiellen Sinn geltenzu lassen kann gefährlich sein, denn wirschlagen die Tür zu jenem Relativismusauf, der schließlich alles erlaubt.SPIEGEL: Erfahren wir die Unbedingtheitdes Wahren und Guten nur in Gott? Kanndas Gute nicht unabhängig existieren? Spaemann: Vernünftige Moral ist zwar imSinne der evolutionären Bestandserhal-tung auch nützlich; aber Nützlichkeit istnicht ihr letzter Maßstab. Die Unbedingt-heit des Guten zeigt sich gerade dann,wenn die Nützlichkeit entfällt. Die Stimmedes Gewissens meldet sich, wenn Moralund Interesse, das Gute und die Selbst-sucht, miteinander in Konflikt geraten.SPIEGEL: Dass es das Gute, das Wahre unddas Schöne wirklich gibt, bestreitet Dwor-kin in seinem religiösen Atheismus nicht.Er glaubt an die Unabhängigkeit der Wer-te. Das Gute ist demnach nicht gut, weilGott es will. Es existiert an sich: Gott willes, weil es gut ist.

Spaemann: Das halte ich für einen falschenGegensatz. Dworkins Religion ohne Gottmutet meinem Glauben mehr zu als jedechristliche und biblische Offenbarung. Ichfrage mich: Was sind das für Werte, dieunabhängig existieren? Wie kann man alsAtheist die Absolutheit von Werten be-haupten? Werte können nicht beziehungs-los existieren, sie setzen Personen voraus.Sie unabhängig zu denken ist vernünftiggar nicht möglich. Ohne Geist keine Wahr-heit und keine Werte. Dworkins Argumen-te gegen den Relativismus sind für michArgumente für Gott.SPIEGEL: Bleibt der Sprung vom Menschenzu Gott letztlich unerklärbar?Spaemann: Ein Wesen, dessen Existenz unmittelbar aus dem Sinn folgt, kann fürMenschen gar nicht nichtexistent sein. Siemögen das eine Projektion oder einenWunsch nennen. Aber wo die Vernunft anihre Grenzen kommt, gibt es den legitimenWunsch, es möge so sein. Gottesglaube istKinderglaube, wird oft eingewendet. Des-wegen muss er nicht falsch sein. Er wurzeltin einem Urvertrauen.SPIEGEL: Ist der Gedanke an Gott einfachuntrennbar mit dem Nachdenken über diemenschliche Existenz verbunden? Spaemann: Im Gedanken an Gott mündensich widersprechende Gefühle: Er ist derAdressat unseres Danks, aber auch unse -rer Klagen als Geschöpf. Ich kann michvor ihm darüber empören, dass die Dingeso sind, wie sie sind. Der Ungläubigenimmt die Welt hin und kapituliert vordem Sinnlosen. Der Gläubige behält dasVertrauen in die Sinnhaftigkeit des Seins –und damit auch in die Möglichkeit der Utopie.SPIEGEL: Glaube, Liebe, Hoffnung – weilder Mensch das Unbedingte braucht, findeter es in Gott. Vielleicht erübrigt sich dannaber die Frage, ob es Gott gibt. Spaemann: Dieses Unbedingte ist etwas,das nicht von uns stammt. Auch die Wis-senschaft beruht auf Glauben. Wer denGlauben an den Sinn nicht mehr hat, kanneinpacken. Die erste Form der Offenba-rung Gottes ist die Vernunft. Thomas vonAquin hat einmal geschrieben, Gott habedem Menschen nichts geboten, was nichtauch ohne Gottes Gebot für den Menschengelte. Aber Gott tut dem Menschen gut,er ist das Medikament, das wir brauchen,wir sollten es einnehmen.SPIEGEL: Können die Kirchen und dasChristentum in unserem säkularen Zeital-ter mit seinem wachsenden Unglauben andieser Aufgabe scheitern? Spaemann: Es ist gut denkbar, dass die Kir-chen auf das Maß von Sekten schrumpfenund der Glaube den meisten Menschennur noch wie eine bloße Schrulle erschei-nen wird. Aber dieses Scheitern des Chris-tentums wäre nicht seine Widerlegung.

Interview: Romain Leick

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Gipfel des Bosruck in den Alpen

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Air Berlin

Machtgewinn auf Umwegen?Die arabische Fluglinie Etihad könnte beiAir Berlin bald noch größeren Einfluss ge-winnen – ohne ihren knapp 30-prozentigenAnteil an Deutschlands zweitgrößter Air-line weiter aufzustocken. Auf der bevorste-henden Hauptversammlung am 18. Juni sol-len die Aktionäre Änderungen in der Sat-zung des Unternehmens beschließen, diewie ein Einfallstor für Etihad wirken.Schon jetzt kann das wichtigste Führungs-und Überwachungsgremium, der Verwal-tungsrat, Unterausschüsse bilden und auch

Außenstehende dorthin entsenden. Bislangdurften die dort allerdings nur eine Minder-heit stellen. Auch waren die Beschlüsse nurgültig, wenn sie mehrheitlich von ordent -lichen Verwaltungsräten getroffen wurden.Beide Einschränkungen aber sollen nunwegfallen. Theoretisch könnten sich dieAraber also über das Einschleusen von Eti-had-Getreuen die Macht in den wichtigenEntscheidungsgremien sichern. Ein Air- Berlin-Sprecher weist den Verdacht, derGroßaktionär wolle sich so auf Umwegenmehr Durchgriff auf die Fluglinie sichern,zurück. Die Neufassung sei nötig, um dieArbeit im Kontrollgremium effizienter zugestalten. Außerdem sprächen formaleGründe für den Wegfall der Klauseln. did

2009 bis 2013 um 14,5 Pro-zent – während die Gesamt-zahl der Unternehmen allerWirtschaftsbereiche um3,6 Prozent sank. Dies gehtaus einer Studie des Bundes-verbandes E-Commerce und

Ukraine-Krise

Drohende RezessionDie wirtschaftlichen Folgendes Konflikts mit Russlandkönnten im Fall einer Eskala-tion viel gravierender sein alsbisher angenommen. Dasgeht aus Berechnungen derÖsterreichischen National-bank (OeNB) hervor, die Aus-wirkungen von weiterenSanktionen in verschiedenenAusprägungen berechnet hat.In einem „High-Impact-Sze-nario“, das unter anderemEnergiepreissteigerungen undeinen Ausfall von Gasliefe-rungen über eineinhalb Jahreunterstellt, werde die Wirt-schaftsleistung im Euroraumbis Ende 2015 um insgesamtbis zu 2,3 Prozentpunkteschrumpfen. Deutschlandmüsste in diesem Szenario so-gar einen Rückgang von zu-sammen 3,6 Prozentpunktenverkraften, für Österreichdrohen Einbußen von 4,3 Pro -zentpunkten. Im schlimmstenFall würde der Eurozone also

eine Rezession drohen –schließlich belaufen sich dieaktuellen Wachstumsprogno-sen der EU-Kommission aufnur 1,2 Prozent für 2014 und1,7 Prozent für 2015. „Mansollte sehr vorsichtig sein, be-vor man die Situation massiveskalieren lässt“, sagt OeNB-Chef Ewald Nowotny. Nochgravierendere Folgen hätteeine weitere Eskalation fürRussland: Dort würde sichdas BIP-Wachstum für dieJahre 2014 und 2015 um ins-gesamt 4,9 bis 9,3 Prozent-punkte reduzieren. ase

68 DER SPIEGEL 24 / 2014

Handel

Online wächst

Der Internethandel hat im ver-gangenen Jahr ein neues Re-kordhoch erzielt. Gegenüber2012 wuchs der Umsatz vonAmazon, Zalando, Ebay &Co. in Deutschland um mehrals 40 Prozent und stieg auf39,1 Milliarden Euro. Damitmacht der Onlinehandel in-zwischen steuerbereinigtmehr als elf Prozent vom Ge-samtumsatz des Handels aus.Dagegen ist der andere Ge-schäftszweig des interaktivenHandels – Teleshopping undKatalogbestellungen – weiterstark rückläufig. Der Umsatzsank innerhalb eines Jahresum mehr als 20 Prozent auf9,2 Milliarden Euro. Die Zahlder Internethändler stieg von

Nationalbankchef Nowotny

Versandhandel Deutschlandhervor, die kommende Wochevorgestellt werden soll. Auffäl-lig ist, dass kleinere Unterneh-men gegenüber den Platzhir-schen aufholen. Bei Firmenmit eher geringen Jahresum-sätzen bis 500000 Euro stiegdas Konjunkturklima 2014 um54 Punkte gegenüber demVorjahr, während die Großenmit Umsätzen jenseits derfünf Millionen Euro Jahresum-satz aktuell ein Minus vonsechs Punkten aufweisen. Diekleineren Onlinehändler wollen dabei laut Studie denVersand ins europäische Aus-land intensivieren. Dies wirdab kommender Woche deut-lich erleichtert, da von Freitagan europaweit das gleiche Verbraucherrecht im Versand-handel gilt. jat

Air-Berlin-Stewardessen mit Etihad-Kolleginnen

Amazon-Lager FO

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Wirtschaft

Seit Wochen nerven Experten und Wissen-schaftler mit ihrem Genöle über das

Rentenpaket der Regierung. Es sei teuer, ver-nichte Jobs, benachteilige die Jungen. Na und? Haben diese berufsmäßigen Besser-wisser nicht zuvor geklagt, die Bürger seienwahlmüde und könnten Union und SPD nichtmehr auseinanderhalten? Hier geben Nahles& Co. eine überzeugende Antwort: Auf30000 Euro beläuft sich der finanzielle Vorteilder Rente mit 63, rund 14000 Euro gewinnteine 65-jährige Berufsaussteigerin mit zweiKindern durch die Mütterrente. Da lohnt essich, das Kreuz an der richtigen Stelle zu machen, das haben die Bürger begriffen. Beider jüngsten Bundestagswahl schnitten Union und SPD zusammen in der Generation60 plus um rund zehn Prozentpunkte besserab als im Rest der Bevölkerung. Das zeigt, liebe Kritiker der Großen Koalition,das Rentenpaket ist in Wahrheit die gelun -gene Versöhnung von Demokratie und Leis-tungsprinzip. Heißt es nicht, die Rente seiLohn für Lebensleistung? Und ist es etwa kei-ne Leistung, sich als treuer Stammwähler derVolksparteien zu bewähren? Na also, hier setzen die Regierungsparteien die richtigenAkzente, anders als die christlich-liberale Vorgängerregierung, die nach der Wahl nichtmehr wissen wollte, was sie vor der Wahl gefordert hatte. Die Große Koalition dagegenentwickelt eine ganz neue Form von politi-scher Glaubwürdigkeit: Es reicht nicht aus,den Menschen das Blaue vom Himmel zu ver-sprechen, man muss es dann auch liefern.Nach diesem Prinzip sollten die Berliner Poli-

tiker die Alterskasse konsequent zu einem Instrument gegen Wahlenthaltung und Partei-verdrossenheit weiterentwickeln. Wie wäre esalso, liebe Union, mit einem Beitragsbonusfür regelmäßige Kirchgänger? Und was, liebeSPD, spricht gegen kostenlose Erholungs -kuren für eingeschriebene Gewerkschaftsmit-glieder?Auch die Opposition könnte lernen. Anstattdie Bürger mit dem Veggie-Day zu verschre-cken, hätten die Grünen besser mit einemVorruhestand für Energiesparer gelockt. Unddie Liberalen könnten noch im Bundestag sit-zen, wenn sie das Beherbergungsgewerbenicht mit einem schnöden Steuervorteil, son-dern einer Zusatzrente für Hoteliers beglückthätten. Nötig wäre zudem, die unzeitgemäßeSelbstverwaltung aus Arbeitgebern und Ge-werkschaften abzuschaffen und die Alterskas-se als das zu behandeln, was sie seit dem Ren-tenpaket ist: ein Sonderfonds zur Wahlkampf-finanzierung. Da wäre es nur folgerichtig,wenn er künftig auch von denjenigen geleitetwürde, die in Wahrheit über die Verwendungder Beitragsgelder bestimmen – den Vorsit-zenden der im Bundestag vertretenen Parteien.So könnte das Rentenpaket, das an diesemFreitag verabschiedet werden soll, zum Fanalwerden: für einen Umbau des Wohlfahrts -staates, der dem parlamentarischen Systemzu neuem Ansehen verhelfen und die GroßeKoalition der Volksparteien zu einer großen Koalition zwischen Wählern und Gewähltenmachen würde. Ganz nach dem Motto: Sozialist nicht, was Arbeit schafft. Sozial ist, wasStimmen bringt. Michael Sauga

Glosse

Kuren für Gewerkschafter

Fußnote

85 Milliardärelebten 2013 in Deutschland,

57 Prozent mehr als 2009,

damals lag die Zahl noch bei

54. Ebenfalls gestiegen ist die

Anzahl der Multimillionäre.

Laut einer Studie der Marktfor-

schungsfirma WealthInsight

waren es 2009 noch 9362,

inzwischen sind es 11 901 –

ein Plus von 27,1 Prozent.

Außerdem haben 1 382 265

Millionäre ihren Wohnsitz

in Deutschland, das sind 7,6

Prozent mehr als 2009. aju

Immobilien

Eigentümer suchen RatDer EigentümerverbandHaus&Grund erlebt eine un-erwartete Eintrittswelle. DieZahl der Mitglieder ist im ver-gangenen Jahr um fast 10000gestiegen, deutlich stärker als in den Jahren zuvor. Ins-gesamt sind nun rund 900000 Eigentümer in Deutsch-land bei Haus&Grund orga-nisiert. Als Ursache für denZustrom sieht Hauptge-schäftsführer Kai Warneckedie Vielzahl neuer Anforde-rungen, die der Gesetzgebervon Hausbesitzern und Ver-mietern verlangt, vom Energie -ausweis bis zur Prüfpflicht

Vorruhestand

Lotsen toppen PilotenDie großzügigen Frührenten-modelle der Lufthansa- Piloten haben für Empörunggesorgt – dabei gehen die Regelungen anderer Unter-nehmen noch darüber hinaus.Etwa bei der Deutschen Flugsicherung (DFS), wo Lot-sen schon ab dem 52. Lebens-jahr mit rund 60 Prozent ihrer letzten Bezüge ausschei-den dürfen, wenn sie min -destens 15 Jahre Dienst imTower geschoben haben. Wer bis 55 bleibt, erhält so-gar 70 Prozent seiner letztenVergütung. Wird ein Über -wacher bereits mit Ende drei-ßig oder Anfang vierzigberufsun fähig, muss ihm diebundes eigene DFS zunächsteinen Ersatzarbeitsplatz anbieten. Das Angebot, ver -sichert ein DFS-Sprecher,würden auch viele Kollegenakzeptieren. Nimmt ein Lot-se es nicht an, stürzt er finan-ziell trotzdem nicht ab. Jenach Alter beim Ausscheidenaus der DFS bekommt derExmitarbeiter weiterhin biszu 40 Prozent seines frühe-ren Gehalts und eine Einmal-zahlung von mehreren Zehn-tausend Euro. Ein DFS- Sprecher hält die Rundum-versorgung für gerechtfertigt,da der Job des Fluglotsen extrem stressig gewordenund das Verkehrsaufkommenin der Luft kontinuierlich ge-stiegen sei. did

der Verband nicht nur in denMetropolen, sondern vor allem auch in schrumpfendenRegionen Deutschlands. aju

von Heizöltanks. „Der Bera-tungsbedarf ist immens angestiegen“, sagt Warnecke.Neue Mitglieder gewinne

Einfamilienhaussiedlung in Berlin

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„Sie habenes versaut“SPIEGEL-Gespräch Der Chairman von Google, Eric Schmidt, 59, über die wachsende Kritik an derMarktmacht seines Konzerns, dasneue „Recht auf Vergessenwerden“und seine Wut auf die NSA und die eigene Regierung

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Wirtschaft

SPIEGEL: Herr Schmidt, wann haben Sie sichdas letzte Mal selbst gegoogelt?Schmidt: Das mache ich nie. Ich lebe lieberselbstbestimmt, als dass ich mich von an-deren definieren lasse.SPIEGEL: Wir haben es gerade ausprobiertund bekommen mit „Eric Schmidt is…“wenig schmeichelhafte Einträge. Ihre Al-gorithmen vervollständigen Sätze beson-ders gern mit „… böse“ – das heißt, vieleMenschen haben das vorher eingegeben. Schmidt: Das hätte ich lieber nicht gewusst.Aber jeder, der eine Führungsposition in-nehat, wird kritisiert. Und online hat ebenjeder eine Stimme. Man sollte sich vondieser Echokammer des Internets nichtverwirren lassen. Derart uninformierteKritik kann man ignorieren, aber auf cle-vere Kritik sollte man hören.SPIEGEL: An Kritik jedweder Art herrschtbei Google gerade kein Mangel, denn IhreFirma ist weltweit übermächtig. Bei Such-anfragen haben Sie in Deutschland einenMarktanteil von über 90 Prozent, beiHandy-Betriebssystemen weltweit von 80 Prozent, und Ihr Browser Chrome istinzwischen auch Marktführer. Sie stehenunter Beschuss wie nie zuvor, die Frontder Kritiker scheint täglich größer und lau-ter zu werden. Beunruhigt Sie das?Schmidt: Ich denke viel darüber nach. Wirmachen Fehler, wir sind nicht perfekt. Ichbin über die Entwicklung der letzten Mo-nate ziemlich beunruhigt, weil wir das sonicht erwartet haben. Wir haben versucht,das Richtige zu tun, meinten, alles im Griffzu haben, und dann kam diese Explosion.Deshalb arbeiten wir jetzt sehr hart daran,alles zu ändern, was wir ändern müssen. SPIEGEL: Da werden Sie viel Überzeugungs-arbeit leisten müssen. Wie gehen Sie vor?Schmidt: Zuerst versuche ich, die Kritikerund ihre konkreten Anliegen zu verste-hen – und im zweiten Schritt, mich mit ihnen zu treffen. Ich folge einer simplenRegel: Es ist schwieriger, jemanden zu verdammen, mit dem man zu Abend ge-gessen hat.SPIEGEL: Deutschland ist eine Hochburg derGoogle-Kritik. Zuletzt hat sich Vizekanz-ler Sigmar Gabriel in der Debatte um dieMacht Ihres Konzerns zu Wort gemeldetund eine mögliche Zerschlagung in denRaum gestellt.Schmidt: Ich kenne ihn bisher nicht per-sönlich und will darauf deshalb nicht nähereingehen.SPIEGEL: Werden Sie Ihre Essensstrategieauf ihn anwenden, wenn Sie in der kom-menden Woche in Deutschland sind?Schmidt: Ich freue mich sehr auf das Ge-spräch mit ihm. Und lassen Sie mich soviel sagen: Wir bieten Google in Deutsch-land kostenlos an, und es ist ein wirklich

Das Gespräch führten die Redakteure Clemens Höges,Marcel Rosenbach und Thomas Schulz.

Schmidt: Die Zahl wird weiter ansteigen,das überrascht uns nicht. Wir sind ent-täuscht von dieser Entscheidung, aber wirhaben verstanden und werden unser Bes-tes tun, das Urteil umzusetzen. SPIEGEL: Wie soll das aussehen?Schmidt: Unser Antragsformular ist online,aber es gibt noch viele offene Fragen. Dererste Punkt ist, dass Google die Suchtrefferlöscht, aber nicht die eigentliche Quelle,dort bleibt die Information vorhanden. DasUrteil gilt überdies beispielsweise nicht fürPersonen des öffentlichen Lebens. Aberwer definiert, wer zu dieser Gruppe gehörtund wer nicht? Links auf Informationenvon „öffentlichem Interesse“ sollen eben-falls nicht gelöscht werden. Und wiederhaben Sie das Definitionsproblem.SPIEGEL: Wer entscheidet bei Ihnen überdie Fälle? Haben Sie auch dafür einen Algorithmus?Schmidt: Das machen Menschen, nichtComputer. In allen betroffenen Ländernwerden Google-Angestellte sich jeden Fallanschauen, Link für Link. Wenn Ihr An-trag abgelehnt wird, können Sie sich andie jeweilige Datenschutzbehörde wenden.Wenn die Ihnen recht gibt, können Sie unswahrscheinlich zwingen.SPIEGEL: Aus der deutschen Regierung kam der Vorschlag, Schiedsgerichte ein-zurichten.Schmidt: Wir werden tun, was die jeweili-gen Datenschutzbehörden verlangen. Wenndas der effizienteste Weg sein sollte, diesesUrteil umzusetzen, dann bitte – die Deut-schen verstehen etwas von Effizienz. Unddie Nachfrage aus Deutschland nach Löschungen ist besonders hoch, es sindjetzt schon Tausende Anträge, also werdenwir uns damit befassen müssen. SPIEGEL: Haben Sie schon ausgerechnet,was die Entscheidung kosten wird?Schmidt: Nein, aber Google ist eine Firmamit vielen Ressourcen, und wir werdendas Problem lösen. Sicher werden wir viele

gutes Produkt. Es gibt Bedenken von un-seren Wettbewerbern, und da haben wirauf europäischer Ebene nach vier JahrenVerhandlung gerade einige für unsschmerzhafte Zugeständnisse gemacht.Lassen Sie uns doch erst einmal sehen,wie das funktioniert. Wie sollte eine Zer-schlagung denn aussehen? Was wollen Sieauslagern? Das Anzeigengeschäft? Das er-gibt doch keinen Sinn. Manchmal wissenunsere Kritiker einfach nicht allzu vielüber uns.SPIEGEL: Ihre Marktmacht ist auch deshalbso erdrückend, weil die Platzierungen inIhren Suchtreffern mittlerweile über daswirtschaftliche Wohlergehen anderer Un-ternehmen entscheiden. Ein paar Rängeweiter hinten können Millionen Umsatz-einbußen bedeuten. Zahlreiche Wettbe-werber beklagen sich, dass Sie eigene An-gebote oder die von Werbepartnern be-vorzugen…Schmidt: … deshalb haben wir der Verein-barung mit dem EU-Wettbewerbskommis-sar zugestimmt, die genau auf diese Be-denken eingeht. Sie können jetzt das Er-gebnis kritisieren und sagen, das geht nichtweit genug – aber die Vereinbarung ist janoch gar nicht in Kraft, das EuropäischeParlament muss noch zustimmen. SPIEGEL: Und selbst in dieser heiklen Phasescheint Google von der Praxis nicht abzu-rücken. Nachdem Sie den Thermostat-Her-steller Nest übernommen haben, beklagtesich der direkte Konkurrent Vivint darü-ber, dass er plötzlich bei den Suchergebnis -sen ins Nirwana abrutschte, monatelang. Schmidt: Ich kenne diesen spezifischen Fallnicht, aber ganz sicher hat das hier nichtsmit Nest zu tun, grundsätzlich listen wirniemanden derart aus. Vielmehr ist die Re-levanz der Ergebnisse entscheidend. Auchwenn sich Unternehmen immer wieder beiuns über ihr Ranking beschweren: Wirwollen die Qualität unserer Suchergebnis-se im Sinne der Nutzer ständig verbessern.SPIEGEL: Schmerzt es Sie, dass viele KritikerIhrer Firma nahezu alles Böse zutrauen?Schmidt: Ich habe ein Problem mit diesergenerellen Kritik, die alles über einenKamm schert. Ich wünsche mir spezifischeKritikpunkte, auf die ich eingehen kann.Wenn Deutschland beispielsweise sagenwürde, wir möchten eure selbstfahrendenAutos nicht, dann könnte ich damit etwasanfangen und argumentieren. Oder wennunser Umgang mit der Privatsphäre infra-ge gestellt wird, wie jetzt vom Europäi-schen Gerichtshof mit dem Recht auf Ver-gessenwerden. SPIEGEL: Vielleicht kommt das Unbehagenja daher, dass es erst Gerichtsbeschlüssebraucht oder ein Einschreiten der Wett -bewerbshüter oder Datenschützer, bisGoogle sich bewegt. Der Wunsch, Linksauf alte und für unangemessen befundeneInhalte zu löschen, scheint immens.

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12,9Mrd.Dollar wies Google 2013 als Jahresgewinn aus – nach Steuern. Das ist ein Plus von 98 Prozentgegenüber 2009.

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Leute einstellen müssen, die verschiedeneSprachen sprechen und Rechtskenntnissehaben. SPIEGEL: In Ihrem vor gut einem Jahr er-schienenen Buch zur Zukunft des Internetsdanken Sie am Schluss in der Rubrik„Freunde und Kollegen“ auch dem ehe-maligen NSA-Chef Michael Hayden. Wür-den Sie das nach den Snowden-Enthüllun-gen immer noch machen?Schmidt: Michael Hayden schon. Sie wer-den ja sicher auch bemerkt haben, dasssein Nachfolger Keith Alexander nicht er-wähnt wird.SPIEGEL: Waren Sie von dem, was Snowdenan die Öffentlichkeit brachte, überrascht?Schmidt: Das Ausmaß der Spionage, wie siedie NSA und das britische GCHQ betrei-ben, war ein Schock für uns alle bei Goo-gle – und auch für mich persönlich. Ich hatteden Umfang und die Reichweite der Akti-vitäten vorher nicht vollständig begriffen.SPIEGEL: Das überrascht schon deshalb, weileines der ersten veröffentlichten Doku-mente zum „Prism“-Programm eine engeZusammenarbeit zwischen Google undder NSA nahelegte…Schmidt: … was ich sofort und eindeutigdementiert habe. Google-Gründer LarryPage und unser Rechtsvorstand DavidDrummond haben das ebenfalls getan.Diese Sache hat die gesamte Firma in Auf-ruhr versetzt und wütend gemacht. Undzwar richtig wütend! Wenn Sie Software-Ingenieure derart herausfordern, zahlendie es Ihnen mit neuem Code zurück. Alsohaben unsere aufgebrachten Mitarbeiterunsere Systeme komplett verändert, sodasssie jetzt selbst für die NSA sehr schwer zuknacken sind. SPIEGEL: Erstaunlicherweise war das offen-bar auch nötig, denn einem der Dokumen-te zufolge hackte sich der Geheimdienstin bis dahin unverschlüsselte Datenverkeh-re zwischen Google-Datencentern.

Schmidt: Für mich sah das Dokument tat-sächlich so aus, als habe das britischeGCHQ diese Klarverbindung angezapft.Darüber waren unsere Spezialisten wirk-lich sauer, wir haben uns beim WeißenHaus beschwert. SPIEGEL: Google ist eine von acht Firmen,die bei US-Präsident Obama auf Reformengedrungen haben und die eigene Regie-rung verklagten, um den Nutzern die An-fragen von Sicherheitsbehörden transpa-renter machen zu dürfen.Schmidt: Ich habe im vorigen Dezemberein Meeting mit dieser Gruppe im WeißenHaus geleitet und US-Präsident Obamaunsere gemeinsame Stellungnahme vorge-tragen. Ich kenne ihn gut und unterstützeihn. Wir saßen da also, und ich habe ihmgesagt: Priorität Nummer eins: Stoppe dieanlasslose Massenüberwachung. Die ist ge-fährlich, denn diese Informationen könnenleicht missbraucht werden. Ende Februarhat der Präsident angekündigt, das Pro-gramm in der bisherigen Form zu beenden.Das ist ein signifikanter Sieg.SPIEGEL: Kann Google wirklich so ahnungs-los gewesen sein, was die NSA angeht?Immerhin haben Sie 2010 selbst die Be-hörde zu Hilfe gerufen, als Ihre Infrastruk-tur schon einmal gehackt wurde, damalsmutmaßlich aus China heraus.Schmidt: Wenn Sie als US-Unternehmenattackiert werden, dann rufen Sie das FBI.So haben wir es damals auch gemacht. DasFBI hat in unserem Fall dann sofort dieNSA hinzugezogen. Das war es aber auchschon. Es gab keine längerfristigen Ver-einbarungen, wir arbeiten nicht zusam-men, es gibt keine Genehmigung, auf un-sere Infrastruktur zuzugreifen. Das gab esnicht, gibt es nicht und wird es nicht geben.Und das gilt übrigens auch für das GCHQ.SPIEGEL: Ganz aktuell wurde aus SnowdensUnterlagen bekannt, dass die NSA für ihr Gesichtserkennungsprogramm eineGoogle-Software nutzt.Schmidt: Es geht um die Software einesUnter nehmens, das wir vor einigen Jahrengekauft haben. Seither haben sie nicht fürdie NSA gearbeitet. Wir haben keinen Ver-trag mit der NSA.SPIEGEL: Sie loben den Reformwillen vonObama. Das Reformgesetz wurde aller-dings gerade in letzter Minute aufgeweicht.Schmidt: Wir waren auf einem guten Weg,in der Tat, es gab Fortschritte, aber sie haben es versaut. Das Repräsentantenhaushat ein Gesetz geschrieben, den „USAFreedom Act“, das den Sammelwünschender Behörden viele Einschränkungen auf-erlegt. Im Speziellen verbietet es die mas-senhafte Überwachung. Vor ein paar Ta-gen hat dann irgendjemand im WeißenHaus einen zusätzlichen Satz hineinge-schrieben, der das Sammeln von Informa-tionen über „Gruppen“ erlaubt. VerstehenSie das? Was ist eine Gruppe? Jeder Mit-

arbeiter einer Firma? Alle Hotmail- oderGmail-Nutzer? Das ist großer Mist. SPIEGEL: Was werden Sie jetzt tun?Schmidt: Wir kämpfen dagegen, zum Bei-spiel indem wir wie jetzt darüber reden.Es ist wichtig, dass man das in Deutschlandweiß und zur Kenntnis nimmt. Ländermüssen auf einer Vertrauensbasis mitein -ander umgehen können. Nach dem Kriegwar das Verhältnis zwischen den USA undDeutschland immer sehr gut. Dann gab esdiese sehr, sehr unglücklichen Entschei-dungen – bis dahin, das Handy von AngelaMerkel zu überwachen. Mal im Ernst: Washaben die sich dabei gedacht? Hatten dieirgendeine Ahnung davon, wie Deutschezum Thema Privatsphäre stehen? DieÜberwachung hat einen massiven Vertrau-ensverlust ausgelöst. SPIEGEL: Apropos Vertrauensverlust: Sieselbst haben einmal gesagt, Google wisse,wo seine Nutzer sich gerade aufhielten,wo sie sich aufgehalten haben – und mehroder weniger auch, was sie dächten… Schmidt: Das Zitat ist ziemlich alt und völ-lig aus dem Kontext gerissen. Ich räumeein, es war ein Fehler, das zu sagen, es istnicht einmal präzise. Ihr Handy „weiß“vielleicht, wo Sie sich befinden. Aberwenn man die Standortbestimmung deak-tiviert, sendet das mobile BetriebssystemAndroid den Ort nicht an Google zurück.SPIEGEL: Wie hoch sind die Einbußen fürGoogle seit Beginn der Enthüllungen?Schmidt: Nicht sehr hoch. Unsere Vertriebs-mitarbeiter haben unseren Kunden deut-lich gemacht, dass ihre Daten dank unsererneuen, hochgradigen Verschlüsselung beiuns sicher sind. Unsere Wissenschaftlersind mindestens so gut wie die der NSA.Wir sind ziemlich sicher, dass wir jetztnicht zu knacken sind. Wenn Sie sich umdie Privatsphäre und die Sicherheit IhrerDaten sorgen, sollten Sie Google nutzen.SPIEGEL: Das hört sich für unsere Ohrenziemlich absurd an.Schmidt: Ich gebe Ihnen die Fakten: Wirnutzen jetzt eine Verschlüsselung auf derBasis von 2048 Bit und ein System namensPerfect Forward Privacy, das für jede Trans-aktion einen neuen Schlüssel benutzt. Undwir verschlüsseln jetzt sogar Mails, die vonGmail an andere Provider gehen. Das istnoch nicht ganz so sicher wie Mails inner-halb von Gmail, aber auf jeden Fall sichererals ohne Verschlüsselung.SPIEGEL: Letztendlich müssen die NutzerIhnen mit alldem aber vertrauen. In derVergangenheit gab es immer wieder An-lass zum Zweifeln. In Deutschland habenSie beispielsweise mit den „Street View“-Autos mehr Daten gesammelt als erlaubt.Schmidt: Ein einzelner Entwickler von ins-gesamt 50000 Mitarbeitern hat hier einenFehler gemacht. Die Daten wurden nichtweitergegeben, sie lagen auf einer Fest-platte, und die wurde zerstört.

72 DER SPIEGEL 24 / 2014

58,7Mrd.

Dollar hatte Google zum Jahres ende 2013 als

Finanz reserven in den Büchern – ein Plus von 140

Prozent gegenüber 2009.

Wirtschaft

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73DER SPIEGEL 24 / 2014

SPIEGEL: Ein Teil der in Europa grassieren-den Angst vor Google erklärt sich aus Ihrerschieren Finanzkraft. 33 Milliarden Dollarlagert Google aus Steuergründen außer-halb der USA, für Einkäufe und Übernah-men. Sie können mittlerweile am grünenTisch entscheiden, welche Branche Sie alsnächste durcheinanderwirbeln.Schmidt: So funktioniert das bei uns nicht.Wir sitzen nicht herum und fragen uns:Hey, wen können wir als Nächstes mit alldem Geld kaufen? Nur wenn wir eine kon-krete Idee haben, suchen wir dafür nachder weltbesten Technologie und kaufen sieein. Übrigens investieren wir einen Teildes Geldes gerade in Deutschland als Part-ner der Berliner Start-up-„Factory“. SPIEGEL: Mit dem gerade angekündigtenPlan, 180 Satelliten ins All zu schicken, umauch entlegenste Orte mit Internet zu ver-sorgen, ist das kaum zu vergleichen. HabenSie selbst intern so etwas wie ein Lieblings-projekt?Schmidt: Wir wollen große Probleme mitSoftware lösen. Tausende Menschen ster-ben zum Beispiel jedes Jahr bei Autoun-fällen. Selbstfahrende Autos könnten ei-nen Riesenunterschied in unser aller Lebenausmachen, auch wenn es vielleicht nochJahrzehnte dauert. Oder die Kontaktlinsefür Diabetiker, aktuell mein persönlichesLieblingsprojekt. Sie enthält einen Chip,der den Blutzuckerspiegel überwacht undmit einem Farbsystem anzeigt. MeineLandsleute haben ein Gewichtsproblem.Ein kleines Google-Team hat die Idee ge-habt, darauf bin ich stolz.SPIEGEL: Warum haben Sie keine nennens-werten Konkurrenten aus Europa?Schmidt: In einer Umgebung, in der Siefür alles eine Genehmigung brauchen, inder alles reguliert ist, wird es weniger Innovation geben. Deutschland sollte eineKultur des positiven Denkens schaffen,des Ausprobierens. Eine, in der es okayist zu scheitern, in der eine Pleite nichtein soziales Stigma bedeutet. Bei uns imSilicon Valley wird selbst das Scheiterngefeiert. SPIEGEL: Sie sagen das aus einer kom for -tablen Position heraus. Die Vormachtstel-lung des Silicon Valley in der digitalenWelt wird jeden Tag größer.Schmidt: Der technologische Fortschrittschreitet derzeit schneller voran als jemalszuvor. Den Deutschen kann ich dazu nursagen: Es ist wichtig, dass ihr dabei seid.Ihr seid genauso smart wie wir und habtdie gleichen Chancen. Wir würden gernhelfen, aber grundsätzlich seid ihr am Zug.SPIEGEL: Herr Schmidt, wir danken Ihnenfür dieses Gespräch.

Video: Die Karriere von

Eric Schmidt

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Wirtschaft

74 DER SPIEGEL 24 / 2014

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Der Monarch war gekommen und er-füllte Städte wie Dortmund undMünster mit königlichem Glanz.

Zwei Tage lang bereiste das niederländi-sche Oberhaupt Willem-Alexander An-fang voriger Woche mit seiner Frau Máxi-ma Nordrhein-Westfalen (NRW) und lobtedie Beziehungen zu den Nachbarn in denhöchsten Tönen.

Das Wichtigste sei doch Vertrauen, dannlösten sich alle Probleme von allein, mitsolchen Worten würdigte der König dasexzellente Verhältnis, als er auf SchlossMoyland in Anwesenheit von NRW-Minis-terpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) sei-nen Besuch bilanzierte. Einen Tag späteraber stellten die Niederländer das Vertrau-en auf eine harte Probe.

Da überraschte das Wirtschaftsministe-rium in Den Haag die deutschen Kollegenmit einem Vorstoß der unterirdischen Art.Die Niederländer kündigten an, die För-derung von Erdgas mithilfe des umstritte-nen Fracking-Verfahrens zu prüfen, undzwar ausdrücklich auch Vorkommen imGrenzgebiet zu Deutschland. Kein Wortdavon war beim Staatsbesuch gefallen, ob-wohl zur königlichen Entourage auch Wirt-schaftsminister Henk Kamp gehörte.

In der Düsseldorfer Staatskanzlei fühltman sich düpiert. In einer Sondersitzungdes Landtags mahnte die Koalition ausSPD und Grünen die Niederländer ein-dringlich, von ihrem Vorhaben abzulassen.„Die Gewinnung von Erdgas mithilfe gifti-ger Chemikalien im Grenzraum“ sei fürPolitik und Bürger nicht hinnehmbar.

In der Region um Aachen, Mönchen-gladbach und Kleve formiert sich der Wi-derstand. Bürgerinitiativen rufen zu De-monstrationen auf. Wasserwerke warnenvor fatalen Folgen für die Versorgung, undselbst Bierbrauer schreiben wütende Pro-testbriefe an die Landesregierung.

Sie fürchten, dass die beim Fracken ein-gesetzen Chemikalien nicht an der Lan-desgrenze haltmachen und hiesige Grund-wasservorkommen kontaminieren könn-ten. Für Brauereien wie Diebels wäre daseine Katastrophe. Drei Brunnen betreibtder Altbierbrauer auf eigenem Gelände inder Nähe von Kleve. „Die Wasserqualität

hat höchste Priorität“, heißt es aus demUnternehmen, entsprechend „kritisch“sehe man den Vorstoß.

Er fällt in eine Zeit, in der in Deutschlanddarum gerungen wird, ob Fracking hierzu-lande überhaupt eine Zukunft haben soll.Niedersachsen, wo 95 Prozent des deut-schen Erdgases gefördert werden, hat eineBundesratsinitiative gestartet. Es will dasVerfahren erlauben, allerdings nur bei derAusbeutung herkömmlicher Lagerstätten,wie dies seit Jahrzehnten Praxis ist. DasFracken zur Erschließung von Schiefergasbliebe tabu. Andere Bundesländer, darun-ter NRW, lehnen die Methode ab. Noch vorder Sommerpause will die Bundesregierungeine gesetzliche Regelung gefunden haben.

Die niederländische Regierung stehtFracking aufgeschlossen gegenüber. Jahr-

* Beim Besuch einer kanadischen Fracking-Bohrstelleim Mai 2013.

zehntelang hat das Land vom Gasfeld beiGroningen profitiert, dem größten West-europas, seit 1959 wird hier produziert. In-zwischen hat es die beste Zeit hinter sich.Zudem bebte in der Region immer wiederdie Erde, eine Folge der intensiven Förde-rung. Die Regierung beschloss im Januar,die Produktion zu drosseln. Die Industriesucht nach Alternativen, und dazu gehörtvor allem Schiefergas.

Fracking-Befürworter wie der Energie-multi ExxonMobil versichern, das Che -mikaliengemisch, mit dem das Erdgashochgepresst wird, sei ungefährlich undverbleibe unterhalb der grundwasserfüh-renden Schichten. Doch die Menschen imRuhrgebiet sind skeptisch, sie haben ihreErfahrungen mit Natureingriffen.

Beim Kohlenbergbau haben TausendeStollen und Schächte die geologischenStrukturen und die Grundwasserführungnachhaltig verändert. „Welchen Weg sichWasser in solchen Gebieten bahnt, wennes wie beim Fracken üblich unter hohemDruck in das Gestein gepresst wird, ist un-kalkulierbar“, warnt Gelsenwasser, dergrößte Wasserversorger in NRW.

Auch die Stadtwerke in den betroffenenGebieten machen sich Sorgen. „Über Jahr-zehnte haben wir die Wasserreserven derRegion wie ein Juwel gehütet“, klagt RolfHoffmann, Chef der Stadtwerke in Kleve.Man dürfe die Vorkommen nun nichtleichtfertig aufs Spiel setzen.

Dabei geht von den ehemaligen Kohlen-stollen und Schächten möglicherweisenicht einmal die größte Gefahr für dasTrinkwasser aus. „Wirklich brisant“ werdedie Situation erst durch den Braunkohlen -tagebau, den der Versorger RWE zwischenKöln und Aachen betreibt, warnt der Berg-bausachverständige Peter Immekus.

Damit die Riesengrube trocken bleibt,pumpt RWE im Umkreis von bis zu hundertKilometern über große Brunnen täglich biszu zwei Millionen Kubikmeter Wasser abund befördert es über ein Rohrsystem inabgelegene Flüsse und Feuchtgebiete. Man-che Brunnen sind bis zu 700 Meter tief.„Die Sogwirkung dieses Systems ist gewal-tig“, warnt Immekus. Sie reiche weit inmögliche Fracking-Gebiete um Roermondund Kerkrade hinein. Damit bestehe dieGefahr, „dass Chemikalien hochgesogenwerden und das Grundwasser kontaminie-ren könnten“, stellt der Gutachter fest.

So weit will es die Landesregierung garnicht kommen lassen. Sie prüft, notfalls so-gar juristisch gegen die Nachbarn vorzuge-hen. Die beauftragten Juristen im NRW-Justizministerium verweisen dazu auf dasVölkerrecht. Demnach dürften Staaten Res-sourcen nur ausbeuten, wenn sie „anderenkeinen Schaden zufügen“. Man erwarte,dass „die niederländische Regierung dasgeltende Recht beachten wird“.

Frank Dohmen, Alexander Jung, Barbara Schmid

UnterirdischerVorstoßErdgasförderung Die Nieder -lande überraschen mit Fracking-Plänen nahe der Grenze zuNordrhein-Westfalen. Geologenund Bierbrauer sind alarmiert.

Ministerpräsidentin Kraft*

N o r d s e ePotenziell schiefergashaltige Schichten in 1 bis 5 km Tiefe

50 kmBELGIEN

DEUTSCHLAND

NIEDERLANDE

Amsterdam

UtrechtDen Haag

RotterdamKleve

Enschede

Aachen

Mönchen-gladbach

GroningenKalkschiefer

Schwarzschiefer

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Wirtschaft

Winfried Lütte ist ein Sparer, wieihn sich Politiker wünschen. AlsVertriebsleiter in der Autoindu -

strie arbeitete er eigentlich in einer Boom-branche. Trotzdem hat er früh mit der pri-vaten Altersvorsorge angefangen – und inden Achtzigerjahren gleich vier Lebens-versicherungen abgeschlossen.

Vor einigen Jahren entließ seine Firmadann mehr als die Hälfte der Belegschaft,darunter auch Lütte, der seitdem umsomehr auf seine Policen angewiesen ist. Des-halb wurde er hellhörig, als sich Industrie-vertreter und Verbraucherschützer vergan-genes Jahr über einen sperrigen Begriff indie Haare gerieten. Es ging um sogenannteBewertungsreserven; und damit um Milliar -den Euro, wie Lütte schnell herausfand.

Bewertungsreserven sind Buchgewinne,die derzeit vor allem bei festverzinslichenWertpapieren wie Staatsanleihen anfallen.Die Versicherer müssen sie zum Teil anihre Kunden ausschütten, wenn deren Ver-träge auslaufen. Doch die Branche stehtunter Druck, sie will diese Praxis beenden.Lütte ging deshalb auf Nummer sicher undkündigte zwei Verträge vorzeitig. Heuteist er froh. „Ich hätte sonst womöglich 9000Euro weniger gehabt“, schätzt er.

Tatsächlich ist die Neuregelung der Be-wertungsreserven einer der zentralenPunkte in einem Gesetzentwurf, den dasBundeskabinett am vergangenen Mittwochverabschiedete und den Bundestag undBundesrat bis Mitte Juli absegnen sollen.Ist das Gesetz erst einmal in Kraft getreten,haben Versicherungsanbieter die Möglich-keit, ausscheidende Kunden in deutlich ge-ringerem Umfang an den Bewertungs -reserven zu beteiligen – vorausgesetzt, siehaben langfristig Probleme, ihren Ver-pflichtungen gegenüber allen anderen Kun-den nachzukommen.

So soll verhindert werden, dass Kundenwie Lütte heute Geld bekommen, das inZukunft womöglich dringend benötigt wür-de. Entsprechend nennt das Finanzminis-terium seinen Plan „Entwurf eines Geset-zes zur Absicherung stabiler und fairerLeistungen für Lebensversicherte“.

Das klingt nach typischem Politiker-sprech – und war selbst den Koalitionärennicht ganz geheuer. Schließlich geht es fürviele Kunden um Tausende oder sogarZehntausende Euro.

Vor über einem Jahr war ein erster Re-formversuch in der Sache schon krachendgescheitert. Deshalb wird die komplizierteNeuregelung dieses Mal mit populären

Maßnahmen aufgehübscht. Union undSPD haben ihren Entwurf um Aspekte er-gänzt, die den Eindruck vermitteln sollen:Es trifft jeden, auch die Anbieter.

So sollen betroffene Aktiengesellschaf-ten keine Gewinne mehr an ihre Aktionäreausschütten. Außerdem müssen sie dieKosten eines Vertrages transparenter ma-chen und können nur noch einen geringe-ren Teil der Abschlusskosten für die Poli-cen in der Bilanz geltend machen.

Trotzdem ist die Verunsicherung bei vie-len Kunden groß. Immerhin ist die Lebens-

versicherung das beliebteste Vorsorgepro-dukt der Deutschen, knapp 88 MillionenVerträge hatten sie Ende 2013 abgeschlos-sen. Damit besitzt statistisch gesehen jederEinwohner mehr als einen Vertrag.

Entsprechend melden sich bei den Ver-braucherschutzzentralen nun unzähligeKunden. Ihre wichtigste Frage: Sollen sieihren Vertrag kündigen, um von der bis-herigen Regelung der Bewertungsreservenzu profitieren? „Das kann sich unter Um-ständen lohnen“, sagt Axel Kleinlein vomBund der Versicherten. „Je nach Längeder Laufzeit können die Bewertungsreser-ven zehn Prozent der gesamten Ausschüt-tungssumme ausmachen.“

Dumm nur, dass es sich für viele Kun-den nur um eine theoretische Option han-delt, weil sie schlicht zu spät dran seinkönnten. Wenn Bundestag und Bundesrat,wie derzeit geplant, das Gesetz spätestensam 11. Juli verabschieden, tritt es wohlAnfang August in Kraft. „Ein derart zeit-lich enges Fenster ist jenseits von jedemdemokratischen Gebaren“, empört sichKleinlein.

Denn bei der Entscheidung ist Vorsichtgeboten. Für ein vorzeitiges Beenden desVertrags müssen Kunden womöglich hoheAbschläge in Kauf nehmen. Bei Versiche-rungen, die weniger als zwölf Jahre laufen,fallen Steuervorteile weg. Auch ist längstnicht klar, welche Versicherer Ausschüt-tungen tatsächlich kürzen müssen.

Und in allen Fällen lautet die Frage, obsich angesichts der aktuell niedrigen Zin-sen alternative Anlagen finden, die bessersind. „Kunden müssten sich erst die erfor-derlichen Informationen besorgen“, warntNiels Nauhauser von der Verbraucherzen-trale Baden-Württemberg. Die seien aller-dings oft schwer zu bekommen.

Winfried Lütte weiß das nur zu gut. Erhat sich bereits im März von seiner Ver -sicherung ausrechnen lassen, wie viel erbei einer vorzeitigen Kündigung seinerVerträge bekommen würde. Rund 97000Euro, lautete die Antwort der Ergo – in-klusive 6112 Euro „Sockelbeteiligung anden Bewertungsreserven“. Eineinhalb Mo-nate später, als seine Versicherungen tat-sächlich gekündigt war und ausgeschüt-tet wurde, waren diese Bewertungsreser-ven allerdings auf über 9000 Euro ange-schwollen.

Der Wert könne stark schwanken, ver-teidigen sich die Unternehmen. Doch wiesoll man vernünftige Entscheidungen tref-fen, wenn derart schlecht kalkuliert wird?

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Brüchiges VersprechenFinanzen Die Regierung will mit einem neuen Gesetz die Lebensversicherer retten. Doch vielenKunden drohen Verluste. Deshalb fragen sie sich, ob sie ihre Police nicht besser kündigen sollten.

Kunde Lütte: „Ich hätte 9000 Euro weniger“

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87 Mrd. €Beiträge zahlten die

Deutschen 2013 in ihreKapitallebensversicherungen

ein.

793 Mrd. €aus Lebensversicherungen

hatten die Versicherungsunternehmenbis Ende September 2013

auf dem Kapitalmarkt angelegt.

– 21 %

NeuverträgeVeränderung2013 zu 2008

Garantiezinsbei Neuverträgen,in Prozent

ErreichteAblaufrenditenbei Versicherungenmit 20-jähriger Laufzeit,in Prozent

3,25

1,75

4,01geschätzt

2014

1,25geplant

2015

2002

6,36

Quellen: GDV,map-report

sächlich auf-grund seiner

Kündigung über-wiesen wurde:

400760 Euro. Meierswirkliche „Beteiligung

an den Bewertungsreserven“lag nun bei satten 36244 Euro.

Weitere ähnlich gelagerte Fälle vonKunden, die über mangelnde Beratung kla-gen, liegen dem SPIEGEL vor. So nennt etwadie Cosmos-Versicherung einem Kundenauf Anfrage lediglich einen „nicht garan-tierten Bewertungsreserven-Mindestanteil“,der unter Umständen nur einen Bruchteilder Endsumme abbildet. Prognosen in derSache seien eben unmöglich, argumentie-ren die Versicherer.

Meiers Berater Schramm lässt das nichtgelten. „Man hat das Gefühl, viele Versi-cherer wollen die Kunden bewusst im Un-klaren lassen, um wie viel Geld es geradefür sie geht.“

Schließlich sind Massenkündigungen dasLetzte, was die gebeutelten Versichererderzeit brauchen können. Das Geschäftmit der kapitalgedeckten Lebensversiche-rung, einst eine Gelddruckmaschine, istfür viele längst eine unerfreuliche Angele-genheit geworden. Allein in den vergan-genen fünf Jahren ging die Zahl der Ver-träge um mehr als fünf Millionen zurück.

Wenige Neuabschlüsse, dafür viele Kün-digungen – für die Unternehmen ist dasnicht einmal das größte Problem. Vielmehrplagen sie sich mit ihren üppigen Verspre-chen aus der Vergangenheit. Wer zwischen1994 und 2000 einen Vertrag abgeschlossenhat, dem garantieren sie vier Prozent Ver-zinsung pro Jahr, zumindest auf den Spar-anteil ihrer Einzahlungen nach Abzug derKosten. Im Zweifel ein Leben lang.

Inzwischen liegt die Garantieverzinsungnur noch bei 1,75 Prozent. Zum 1. Januar2015 schmilzt sie sogar, so der Plan, auf 1,25Prozent zusammen. Doch was der BrancheErleichterung verschaffen soll, macht die Pro-dukte für Neukunden nur noch unattraktiver.Bei Altkunden gilt in dieser Hinsicht das Ge-genteil: In Zeiten allgemeiner Minirenditensind die hohen Zusagen umso wertvoller.

77DER SPIEGEL 24 / 2014

Das Problem ist nur, dass die Verspre-chen brüchig sind, denn die Versicherer erwirtschaften mit ihren Anlagen immerweniger Rendite. Ein großer Teil der rund800 Milliarden Euro, die Kunden in die Pro-dukte gesteckt haben, liegt in sicheren An-leihen – etwa zehn Jahre laufenden deut-schen Schuldscheinen. Die allerdings wer-fen derzeit nur mickrige 1,4 Prozent ab.

Immer wieder äußern Experten deshalbdie Sorge, so manche Assekuranz könntedie hohen Garantiezusagen aus früherenJahren demnächst nicht mehr stemmen.Allein anhand öffentlich zugänglicher Da-ten sei die Gesamtlage der Branche jedochnur „schwer einzuschätzen“, sagt LarsHeermann von der auf Versicherungen spe-zialisierten Ratingagentur Assekurata.

So müssen sich Kunden auf Aussagender Finanzaufsicht Bafin verlassen, die denAssekuranzen „kurz- bis mittelfristig“ Sta-bilität bescheinigt. Solch allgemeine Aus-sagen helfen jedoch wenig: Wenn es derBranche im Schnitt passabel geht, gibt eseben womöglich auch Unternehmen, diedem Tod näher als dem Leben sind.

Mehrere Firmen haben das Neugeschäftin den vergangenen Jahren schon einge-stellt, sie wickeln nur noch die bestehendenVerträge ab. Andere Lebensversicherun -gen versuchen es weiter mit dem überkom-menen Vertriebsmodell, Kunden einfachandere Produkte aufzuschwatzen. Dabeiverzichten die Versicherten bei neuen Pro-dukten auf den Garantiezins, also einenGrundbaustein des einstigen Vorsorge -klassikers. Im Gegenzug sollen die Rendi-ten höher sein – wenn es gut läuft. „Damitwerden die Erträge noch unkalkulier barer“,sagt Experte Nauhauser.

Das Geschäftsmodell grundlegend zu än-dern, wirklich neue und kostengünstigeProdukte auf den Markt zu bringen, dieselbst bei niedrigen Zinsen noch so etwaswie eine Rendite erwirtschaften – dazufehlt der Branche offenbar die Kraft.

Die Verunsicherung der Versicherungenhat skurrile Folgen: Obwohl die Konzernesonst bei jeder sich bietenden Gelegenheitdie Überregulierung beklagen, forderteneinige Branchenvertreter die Regierung inden Verhandlungen über das Rettungs -paket auf, doch endlich die Vertriebspro-visionen gesetzlich zu begrenzen – weildie oft freien Versicherungsverkäufer vielzu hohe Provisionen beanspruchten.

Dieser Forderung sind Union und SPDin ihrem Entwurf allerdings nur bedingtnachgekommen. Zwar müssen die Vermitt-ler künftig ihre Vertriebskosten offenlegen,gedeckelt werden die Gesamtprovisionenaber nicht. „Wenn ein guter Kompromissdarin besteht, dass am Ende niemand wirklich zufrieden ist“, sagt Verbraucher-schützer Kleinlein, „hat das Finanzminis-terium ganze Arbeit geleistet.“

Sven Böll, Anne Seith

Rolf Meier* zog bei seiner Entscheidung,ob er die Lebensversicherung kündigensoll, deshalb einen freien Versicherungs-mathematiker zurate. Weil er aus dem Zah-lenwirrwarr seines Anbieters, der Provin-zial, nicht schlau wurde, fand er im Inter-net Peter Schramm. Der kalkulierte denVertrag durch und riet zur Kündigung –selbst vier Wochen vor dem Ablaufdatum.„Die Beratung hat zwar 700 Euro gekostet,aber sie hat sich gelohnt“, sagt Meier.

Das erfuhr er allerdings erst in allerletz-ter Minute. Nach seiner Kündigung schick-te ihm die Provinzial irrwitzige Kalkula-tionen. Zunächst schrieb ein Berater einendramatischen Brief, um Meier von seinemSchritt abzubringen. „Sind Ihnen die fi-nanziellen Nachteile Ihrer Kündigung be-wusst?“, fragte er – und rechnete Meiervor, welche Summe er in diesem Fall an-geblich nur erwarten könne: 364516 Euro.

In der kurzen Aufstellung, wie sich die-ser Betrag zusammensetzt, war von Be-wertungsreserven keine Rede. Zwei Wo-chen später erhielt Meier ein weiteresSchreiben, diesmal wurde ihm vorgerech-net, was ihm zum regulären Ablaufterminseiner Versicherung zustehen würde – dem1. Juli. Das Ergebnis: 373380 Euro. Darinenthalten: eine „Sockelbeteiligung an Be-wertungsreserven“ von 8019 Euro. „Da hatscheinbar irgendwer nicht einmal gemerkt,dass ich schon gekündigt hatte.“

Das Schreiben wurde automatisch ver-schickt, erklärt die Versicherung.

Fünf Tage später bekam Meier erneutPost. Es ging um die Summe, die ihm tat-

* Name von der Redaktion geändert.

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Wirtschaft

In der MGM Grand Arena in Las Vegashatte der britische WeltergewichtsboxerAmir Khan in der Nacht zum 4. Mai

einen großen Auftritt. Vor rund 10000 Zu-schauern schickte er seinen KonkurrentenLuis Collazo dreimal auf die Bretter undgewann überlegen.

Ganz nahe am Ring jubelte sein SponsorMohammad Safdar Gohir, 56, genannt On-kel Saff, wie Khan britischer Staatsbürgerpakistanischer Abstammung. „GroßartigeBoxnacht. Bin glücklich, dabei gewesenzu sein als sein Fan“, twitterte Gohir, deraus Dubai für den Kampf eingeflogen war.

Sein Glück währte nicht lange. Noch be-vor die Nacht zu Ende war, nahmen Fahn-der der US-Marshalls Gohir fest und sperr-ten ihn ein. Grund war ein Haftbefehl ausDeutschland. Gohir wird verdächtigt, alsDrahtzieher eines Umsatzsteuerbetrugs mitEmissionsrechten dem Staatshaushalt min-destens 136 Millionen Euro gestohlen zu ha-ben. Ihm droht laut Staatsanwaltschaft eineGefängnisstrafe von mehr als zehn Jahren.

Gohir gehört zu einer kleinen Gruppebritischer Staatsbürger, die über ein Netzzahlloser Firmen und Komplizen seit vielenJahren Umsatzsteuerkarusselle betriebenhaben sollen, auch mit anderen Produkten.Dabei werden Waren über Ländergrenzenim Kreis gehandelt, mit dem primärenZweck, Steuern zu hinterziehen.

Allein der Handel mit Emissionsrechtendurch Gohir und andere Banden soll dendeutschen Steuerzahler 800 MillionenEuro gekostet haben. Und offenbar hat dieDeutsche Bank dabei eine entscheidendeRolle gespielt. Gohir hat den größten deut-schen Geldkonzern „fast ausschließlich“an einer entscheidenden Stelle in seineHandelsketten eingebunden.

Seit mehr als vier Jahren ermittelt dieStaatsanwaltschaft Frankfurt, 25 Bankmit-arbeiter hat sie im Visier, darunter KochefJürgen Fitschen und Finanzvorstand StefanKrause. Sie sollen eine falsche Steuer -erklärung unterzeichnet haben. Die Bankverwies auf frühere Stellungnahmen: Siehabe die Erklärung rechtzeitig und freiwil-lig korrigiert. Sie kooperiere weiter voll-umfänglich mit den Behörden.

Insgesamt geht die Staatsanwaltschafteuropaweit gegen 160 Beschuldigte in 150 Unternehmen vor, davon 50 inDeutschland. 127 Millionen Euro an Beutekonnten die Ermittler sicherstellen.

Einfallstor für die Betrüger ist eine Be-sonderheit im Umsatzsteuerrecht. Danach

sind Lieferungen von einem Unternehmeran einen anderen über EU-Ländergrenzenhinweg von der Umsatzsteuer befreit. Dererste Käufer hinter der Grenze – Ermittlerbezeichnen ihn als „Missing Trader“ –schlägt beim Weiterverkauf 19 ProzentUmsatzsteuer auf, führt sie aber verbote-nerweise nicht an den Fiskus ab. Die Warewird dann zur Verschleierung über meh-rere Firmen, sogenannte Buffer, weiterge-reicht. Der Letzte verkauft die Ware anden sogenannten Distributor, der sie aus-führt und sich die Steuer erstatten lässt.

In Gohirs Karussell war der Distributorfast immer die Deutsche Bank, sie expor-tierte aus Frankfurt die Zertifikate an ihreFiliale in London, von dort sollen sie er-neut in den Kreislauf eingespeist wordensein.

Deutsche Behörden glauben, neben Go-hir zwei weitere mutmaßliche Drahtziehervon Emissionsrechte-Karussellen ausge-macht zu haben: Mohsin S. und Peter V.,wie Gohir britische Staatsbürger indisch-pakistanischer Abstammung. Gohir sollüber gute Beziehungen bis in höchste Krei-se der britischen Politik verfügen. Ein Foto

zeigt ihn zusammen mit dem britischenPremierminister David Cameron. Peter V.,der sich gern mit seinen Ferraris, Bugattisund Mercedes zeigt, war vergangenes Jahrin den Buckingham Palace eingeladen, woer Queen Elizabeth II. die Hand schüttelte.

V. verwaltet heute nach eigenen Anga-ben unter anderem Immobilien im Wertvon vier Milliarden Pfund und sponsertden FC Chelsea.

Gohir stammt aus einem Multikulti -Viertel in Huddersfield in der Nähe vonLeeds, West Yorkshire. Es ist eine Gegend,aus der sowohl Boxer Amir Khan als auchandere mutmaßliche Akteure des Umsatz-steuerkarussells stammen. Zeitweise warGohir in Huddersfield als Geschäftsführermehrerer Firmen eingetragen. Als Händlervon Telefondienstleistungen war er bereitsin den USA und Großbritannien ins Visierder Behörden geraten.

Diese Männer, sagt ein deutscher Ermitt-ler, „haben enormen Reichtum angehäuft“.Und zumindest Teile davon sollen aus denHaushalten europäischer Staaten stammen,die mithilfe der Umsatzsteuerbetrügereiengeplündert wurden.

Laut Haftbefehl hat Gohir den betrüge-rischen Rechtehandel von Dubai aus ge-steuert. Ermittler gehen davon aus, dassvon dort ein Großteil des Startkapitalskommt – und viel fließe aus den Steuer -karussellen auch wieder dorthin zurück.

Die Erträge aus dem Umsatzsteuer -betrug schleuste Gohir über Konten derFirst Bancorp Ltd. in den Offshore-ZentrenZypern und Hongkong, um Spuren zu ver-wischen, ehe er die Gelder anderweitig investierte. Millionen sollen in Dubai inImmobilien angelegt worden sein, unteranderem auf einer der künstlichen Inseln,die, bebaut mit Luxusresorts, vor derWüsten stadt im Meer liegen.

Doch die Betrüger nutzen Dubai auchals Plattform, um Startkapital zu sammeln,Scheinfirmen zu gründen, Anwälte zu be-schäftigen und vor allem: Emissionszertifi-kate zu kaufen – all das kostet Geld. Etwa30 bis 40 Millionen Euro, haben die Ermitt-ler herausgefunden, waren dafür notwen-dig. Deutsche Fahnder gehen sogar davonaus, dass Gohir in Dubai Fonds aufgelegthat, um den deutschen Fiskus zu plündern.

Das Spiel mit den Verschmutzungsrech-ten beginnt 2009 in London. Seit 2005 ha-ben viele Industrieunternehmen in EuropaVerschmutzungsrechte und können mitdiesen handeln. Wer wenig verschmutzt,

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Die Dubai-ConnectionKriminalität Mit dem Handel von CO

²-Emissionsrechten erleichterten Betrüger den deutschen

Fiskus um Hunderte Millionen Euro. Jetzt haben Ermittler erstmals einen der mutmaßlichen Drahtzieher festgesetzt. Eine Schlüsselrolle spielte die Deutsche Bank.

Beschuldigter Gohir (hinten), Premier Cameron

Von Dubai aus das Karussell gesteuert

Queen Elizabeth II., Verdächtigter V.

„Enormen Reichtum angehäuft“

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der verkauft die Rechte, wer viel CO² aus-stößt, kauft Rechte zu. Allerdings kannman auch mit den Rechten handeln, ohneein Industrieunternehmen zu sein – wes-halb die Deutsche Bank Ende 2005 begann,in London ein Team für den Handel mitCO²-Zertifikaten aufzubauen. Angesiedeltim Geschäftsbereich Global Markets, dendamals Anshu Jain verantwortete.

Viele Stufen unter dem heutigen Kochefder Bank arbeitete die Vertriebsmitarbei-terin Marisa C. Am 15. Juni 2009 telefo-nierte sie mit dem CO²-ZwischenhändlerSVS. Gut eine Woche später war die Deut-sche Bank mit SVS im Geschäft, der Han-del entwickelte sich gerade hier besondersschwunghaft.

Dabei ermittelten bereits damals Behör-den in mehreren Ländern wegen des Ver-dachts der Steuerhinterziehung im Zusam-menhang mit Verschmutzungsrechten.Ende Juli 2009 kündigte Großbritanniendeshalb an, die Umsatzsteuer auf CO²-Ge-schäfte abzuschaffen.

Zum Stillstand aber kam das Karusselldadurch nicht. Obwohl die britischen Steu-erbehörden die Deutsche Bank im Herbstdes Jahres mehrfach auf die Probleme imCO²-Handel hingewiesen hatten, verlager-te diese die Geschäfte nach Deutschlandund betrieb sie dort in großem Stil.

Fortan endeten Handelsketten, die etwabei der DGU Unternehmensberatung mitSitz in Köln als Missing Trader begannen,bei der Deutschen Bank in Frankfurt. Überdie DGU und weitere Firmen wurdenEmissionsrechte aus Polen, den Niederlan-den oder den Vereinigten Arabischen Emi-raten nach München weitergereicht, wo ineinem fünfstöckigen Mietshaus am etwasschmuddeligen Heimeranplatz der BriteFaisal Zahoor Ahmad wohnte.

Der 34-Jährige hatte dafür die Firma Ro-ter Stern gegründet. Der Sterbeprozess ei-ner untergehenden Sonne soll ihn zu demNamen inspiriert haben. Neben Ahmad

war bei Roter Stern Paula C. verantwort-lich, die zugleich für eine jener Firmen Gohirs in Dubai tätig war, über die dasganze Karussell gesteuert wurde.

Roter Stern mietete zwei Räume in ei-nem Bürozentrum in der Dachauer Straßein München, viel mehr als Laptop und In-ternetanschluss brauchte Ahmad nicht, umbinnen sechs Monaten 58 Millionen Euroabzuzocken. Diese Zahl steht in dem in-ternationalen Haftbefehl gegen Ahmad,der vor wenigen Wochen veröffentlichtwurde.

Das Geld zweigte er meist schnell nachZypern ab, manchmal dauerte es nur we-nige Wochen, ein Konto zu eröffnen, einenMillionenbetrag auf- und wieder abzubu-chen und das Konto wieder zu schließen.

Einmal ist Ahmad den Fahndern schondurch die Lappen gegangen. Im April 2010verweigerte das Amtsgericht Frankfurt denErmittlern zunächst die Ausstellung einesHaftbefehls. Als die Ermittler ihn schließ-lich doch bekamen und die Wohnungstürmten, war Ahmad bereits ausgeflogen.Die Spülmaschine lief noch.

Die Zertifikate, die Ahmad von zahlrei-chen kleineren Zulieferern erwarb, soll erzum Teil direkt an die Deutsche Bank ver-kauft haben. Dort liefen nach bisherigenErkenntnissen der Ermittler fünf Handels-ketten zusammen. Im Mittelpunkt standoffenbar Dominic H., Firmenkundenbe-treuer im Marktgebiet Frankfurt. Einigeder Umsatzsteuerbetrüger nannten ihnden „main carbon guy“ der DeutschenBank, den „Haupt-CO²-Jungen“.

Dem Carbon Guy und einigen Kollegenwerfen die Ermittler Mittäterschaft zuguns-ten der Deutschen Bank vor. Sie sollenihre Geschäfte getätigt haben, obwohl siewussten, dass dabei Umsatzsteuern hinter-zogen werden. Mitgemacht haben sollensie auch, um sich persönlich zu berei-chern – über höhere Provisionen und Boni.So prahlte etwa Dominic H. in einem Tele -

fongespräch, man habe an einem Tag870000 Euro verdient, man habe 21 Mil-lionen gefeiert, es sei unfassbar.

Die Zahlen mögen unfassbar gewesensein, ahnungslos waren der Carbon Guyund seine Kollegen wohl nicht. Sie kauftenZertifikate teilweise deutlich unter Börsen-kurs, was zumindest als Hinweis daraufgilt, dass die Herkunft der Papiere frag-würdig war. Die Geschäftsführer einesHändlers, mit dem die Deutsche Bank zu-sammenarbeitete, erwogen einmal, demZweiradfan Dominic H. zum Dank ein Motorrad zu schenken, beschlossen dannaber, ihn auf ihr Boot einzuladen.

Die Sache lief für die Täter wunderbar,und sie scheffelten so lange Millionen, bisFahnder am 28. April 2010 die DeutscheBank und Räumlichkeiten Hunderter wei-terer Verdächtigter durchsuchten.

Zwar steht heute fest, dass der Einsatzverraten wurde und die Ermittler nicht alleInformationen bekamen, auf die sie ge-hofft hatten. Der Emissionshandel aber istzumindest in Deutschland inzwischen insich zusammengebrochen, weil auch dieBundesregierung im Sommer 2010 die Umsatzbesteuerung änderte.

Betrugsanfällig bleibt der Handel mitden CO²-Verschmutzungsrechten trotz-dem – weil die Besteuerung EU-weit nachwie vor nicht einheitlich geregelt ist. Schonim April 2010 soll sich der Deutsche-Bank-Manager Dominic H. mit einer Kollegindeshalb darüber unterhalten haben, denHandel nach Italien, Polen, Österreichoder Schweden zu verlagern.

Und selbst wenn deutsche Fahnder maleinen Erfolg vorweisen können, bringt siedas nicht unbedingt weiter. 2010 durch-suchte auch die Polizei in Dubai. Weil sichaber die damalige BundesjustizministerinSabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP)nicht zu einem Rechtshilfeabkommen mitdem Golfstaat durchringen konnte, blie-ben viele Erkenntnisse dort liegen.

Das immerhin könnte sich jetzt mitNachfolger Heiko Maas (SPD) ändern. Esgebe Gespräche zur Verbesserung derRechtshilfe mit den Vereinigten Arabi-schen Emiraten, sagte eine Sprecherin desMinisters. Die deutschen Ermittler wartenderweil auf den Auslieferungsbescheid ausAmerika und hoffen auf die Beichte desMohammad Safdar Gohir.

Der Drahtzieher ahnte wohl schon, wasihm droht, in einem Telefonat vor einigerZeit äußerte er sich besorgt, dass er selbstins Visier der Ermittler geraten sein könnte.Er erwog, sich an einen sicheren Ort abzu-setzen, etwa nach Dubai, wo er einenWohnsitz hat.

Seine Angst hinderte ihn freilich nichtdaran, noch in den vergangenen Monatennach Deutschland zu fahren. Die Fahnderließen ihn unbehelligt.

Martin Hesse, Andreas Ulrich

79DER SPIEGEL 24 / 2014

+ 19 %Umsatz-steuer

DEUTSCH-

LAND

FRANK-

REICH

DEUTSCH-LAND

FRANK-REICH

+ 19 %Umsatz-steuer

1 Eine Firma (MissingTrader) führt eine Waresteuerfrei aus dem Aus-land nach Deutschlandein.

2 Weiterverkauf der Ware in Deutschlandzuzüglich 19 Prozent Umsatzsteuer, die nichtan das Finanzamt abgeführt wird.

3 Erneuter Weiter-verkauf an eine Kettevon Firmen (Buffer),um die Handelswegezu verschleiern.

4 Der Distributor verkauftdie Ware zurück ins Auslandund lässt sich die nie entrich-tete Umsatzsteuer zurück-erstatten.

SteuerkarussellWie Unternehmen das Finanzamtum die Umsatzsteuer betrügen

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Wirtschaft

zur Herrschaft der Rechtsgelehrten. Ob-wohl das Finanzministerium mit seiner Gestaltungsmacht über Steuern, Haushaltund Eurorettung die Schaltzentrale für dieWirtschaftspolitik nicht nur in Deutsch-land, sondern mittlerweile auch in Europaist, wird es vor allem von Juristen geführt.Wirtschaftswissenschaftler sind auf derFührungsebene des Ressorts zu einer sel-tenen Spezies geworden.

In seinem engsten Arbeitsumfeld setztder promovierte Volljurist Schäuble vor al-lem auf Absolventen der eigenen Fachrich-tung. Die drei beamteten Staatssekretärehaben Jura studiert. Unter den neun Ab-teilungsleitern sind sieben Juristen undzwei Wirtschaftswissenschaftler.

Das Ungleichgewicht setzt sich auf al lenEbenen des Ministeriums fort. Von 23 Unter -abteilungsleitern sind 14 Juristen, den Restbilden Wirtschaftswissenschaftler. Derzeitarbeiten 333 Juristen für Schäuble, abernur 214 Ökonomen. Traditionell haben sichAngehörige beider Akademikergruppendie Arbeit geteilt. Juristen schreiben dieGesetzestexte, etwa in der Steuer abteilung,die Wirtschaftswissenschaftler beobachtenden Zustand der Volkswirtschaft und ana-lysieren die Auswirkungen politischen Han-delns auf Konjunktur und Haushalt.

Unter Schäubles Vorgängern – gleich-gültig ob Peer Steinbrück, Hans Eichel, Oskar Lafontaine oder Theo Waigel – fandsich mindestens ein Ökonom im Kreis derStaatssekretäre, auch ihr Anteil unter denAbteilungsleitern fiel größer aus. Seitheraber hat sich die Balance zu ihren Unguns-ten geändert.

Wie sehr die Juristen an der BerlinerWilhelmstraße den Ton angeben, offen -barte sich während der Eurokrise. Häufighantierte das Finanzministerium in Brüsseloder Athen nicht mit ökonomischen, son-dern mit juristischen Argumenten. Banken-union, Wirtschaftsregierung, Eurobonds:Stets machte Schäuble vor allem rechtlicheBedenken geltend. Bevor Reformen ein -geleitet werden könnten, seien zuerst die europäischen Verträge zu verändern, lau-tete sein Standardargument.

Im Ausland stieß die Vorfahrt von Para-grafentreue vor Pragmatismus auf wenigVerständnis. „Während der Eurokrise hatlegalistische Kleinkariertheit vernünftigePolitik verhindert“, lästerte der britischeEconomist kürzlich über das Berliner Kri-senmanagement.

Aus seiner Verachtung für Ökonomenmacht Schäuble kein Geheimnis. Ihre Aus-sagen sind ihm zu schwammig. Stets stehe

Von Wolfgang Schäuble ist bekannt,dass er die Jurisprudenz für eineder vornehmeren akademischen

Disziplinen hält und sich selbst für einenihrer würdigsten Vertreter. Gern glänzt derBundesfinanzminister mit Paragrafenwis-sen, Bemerkungen zum Reformbedarf inder EU ufern häufig in Vorträge über eu-ropäisches Verfassungsrecht aus. Besucheraus Schwellenländern können sich sichersein, in badischem Englisch über die Vor-züge der „rule of law“ belehrt zu werden.

Dieser Herrschaft des Rechts hat Schäub-le in seinem Ministerium nun zu einer be-sonderen Ausprägung verholfen: Sie wird

Herrschaftder JuristenRegierung Das Finanzministeriumhat viel ökonomische Macht.Doch Ressortchef Schäuble be-setzt Posten bevorzugt mitRechtswissenschaftlern. Wieso?

Page 81: Der Spiegel 2014 24

er vor dem Problem, „welchen der oftunter schiedlichen, wenn nicht gegensätz -lichen Empfehlungen man folgt“, klagteer einmal.

In ihren Ausführungen vermisst er dielogische Stringenz, die er aus der Juristereigewohnt ist. Die Klage Winston Churchillsist ihm nicht fremd. Wenn er zwei Öko -nomen frage, hatte sich der britische

Premier einst beschwert, bekomme er von jedem eine andere Antwort, es seidenn, John Maynard Keynes, der damalige Doyen der Zunft, sei darunter. Dann be-komme er drei.

Schäubles Vorliebe für Juristen hat dieGrabenkämpfe im Haus verschärft. EtlicheTalente verlassen das Ministerium nichtmehr nur, weil sie in dem CDU-dominier-

ten Haus aus parteipolitischen Gründennicht zum Zug kommen. In den vergange-nen Monaten gingen vor allem Ökonomen.Einige fanden Zuflucht in den Fraktionendes Bundestags, andere beim Berliner Senat. Ein Unterabteilungsleiter wechseltekürzlich als stellvertretender Chefökonomzur OECD nach Paris.

Bei einer Schlüsselposition hat Schäublesein Rekrutierungsmuster allerdings durch-brochen. Sein neuer Sprecher Martin Jägerist weder Jurist noch Ökonom, er hat Völ-kerkunde und Politik studiert. Er wird derbestbezahlte Sprecher aller Bundesminis-terien. Als Abteilungsleiter bekommt erden Rang eines Ministerialdirektors undwird nach der Besoldungsgruppe B9 be-zahlt (Grundsalär: 10515 Euro im Monat).Üblicherweise bekleiden Ministeriumsspre-cher den Posten eines Referats-, höchstensden eines Unterabteilungsleiters.

Die größte Herausforderung für Schäub-les Hausverwaltung besteht derzeit darin,dem neuen Abteilungsleiter einen passen-den Unterbau mit der notwendigen An-zahl von Referaten zu konstruieren, damitsich die hohe Bezahlung rechtfertigen lässt.

Das aber ist ein verwaltungsrechtlichesProblem, kein ökonomisches.

Christian ReiermannFO

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Minister Schäuble,

Staatssekretär Werner Gatzer

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Palästinenser

„Wahlen wärenschön“

Ghassan Chatib,

60, Vizepräsident

der Birseit-Univer -

sität bei Ramallah

und früherer Minis-

ter einer palästi -

nensischen Regierung, über den

Stand der Versöhnung zwischen

der islamistischen Hamas und

seiner Fatah

SPIEGEL: Haben sich die ver-feindeten Fraktionen tatsäch-lich ausgesöhnt?Chatib: Zunächst einmal wur-de ein Abkommen unter-zeichnet, das die Bildung ei-ner Übergangsregierung vor-sieht. Das scheint geklappt zuhaben. Der wichtigste undschwierigste Teil kommt abernoch: Die Versöhnung mussinstitutionell umgesetzt wer-

den. Behörden, die jetzt doppelt existieren, müssen zusammengelegt werden.SPIEGEL: Ist das überhauptmöglich?Chatib: Es ist sehr schwierig,ja. Aber die Entscheidungs -befugnis der Minister ist oh-nehin gering. Alle folgen der

politischen Linie des Präsi-denten, also Mahmud Abbas.SPIEGEL: Damit wird die Ha-mas kaum glücklich sein.Chatib: Ist sie auch nicht. Siehat aber im Moment keineandere Wahl, als sich daraufeinzulassen. Sie ist seit demSturz Mohammed Mursis in

82 DER SPIEGEL 24 / 2014

Kerzen fürTiananmenRund 200000 Menschen

versammelten sich am ver-

gangenen Mittwoch im

Victoria Park in Hongkong

zu einer Mahnwache mit

Kerzen, um an den 25. Jah-

restag der blutigen Nieder-

schlagung der Studenten-

proteste auf dem Tianan-

men-Platz zu erinnern. Die

Regierung in Peking ver-

schärft derweil die Zensur

und hat zahlreiche Kritiker

festgenommen.

Ägypten politisch völlig iso-liert und so gut wie bankrott,weil die ägyptische Armeedie Schmuggeltunnel in denSinai zerstört hat.SPIEGEL: Was bedeutet die Einigung für den sogenann-ten Friedensprozess?Chatib: Gäbe es einen wirk -lichen Prozess, hätte Abbasdieses Abkommen vielleichtgar nicht ausgehandelt. EinemArrangement mit Israel stehteine Einigung zwischen derHamas und der Fatah abernicht im Weg, im Gegenteil.Wenn daraus etwas wird, kön-nen wir endlich tun, was dieIsraelis seit Jahren fordern:mit einer Stimme sprechen.SPIEGEL: Wird es wie verein-bart zum Jahresende Wahlengeben?Chatib: Wahlen wären schön,wir brauchen sie. Aber nochglaube ich nicht so recht da-ran. ahe

Präsident Abbas (l.), Regierungsmitglieder in Ramallah

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Syrien

Assads Afghanen

Erstmals bestätigen sich seitMonaten kursierende Gerüch-te über asiatisch aussehendeMänner, die in Uniformen desRegimes kämpfen, aber keinArabisch sprechen. In Aleppoist nun der erste Kämpfer um-gekommen, der von einer Bri-gade der Aufständischen alsAfghane identifiziert werdenkonnte: Sein Mobiltelefonund zwei Speicherkarten ent-hielten Videoaufnahmen, aufdenen er sich in der Spracheder Hazara mit anderen Af-

Ausland

Ukraine

Krieg gegen die ReichenIm Konflikt mit Kiew ver-sucht Russland, dem neuenFeind auf jede denkbare Wei-se zu schaden. Auch Oligar-chen bekommen das zu spü-ren – jedenfalls jene, die denKampf gegen die prorussi-schen Separatisten unterstüt-zen. Serhij Taruta, Geschäfts-mann und seitMärz Gouverneurdes Donezker Ge-biets, wurden jetztsämtliche Aktivaauf den British Vir-gin Islands ge-sperrt. Den Ge-richtsbeschluss er-wirkte die BankWTB, das zweit-größte russischeKreditinstitut, beidem der Gouver-

falle unter Artikel 205.1 desStrafgesetzbuchs, weil er„terroristische Handlungen“unterstütze. Die Ukraine willsich Enteignungen nicht ge-fallen lassen und kündigt ihrerseits die Konfiszierungrussischen Besitzes an. Justiz-minister Pawlo Petrenko willso den Verlust der Krim kompensieren – durch deren Annexion sei ein Schadenvon fast 90 Milliarden Dollarentstanden. cne

Fußnote

1,5 Millionenchinesische Touristen besuchten Frankreich im vergangenen Jahr

und gaben pro Kopf etwa 1500 Euro fürs Shoppen aus – meist für

Luxusgüter und in bar. Bei Pariser Taschendieben gelten Chine-

sen deshalb als lohnende Opfer, Banden haben sich auf sie spe-

zialisiert. Nun sollen mehr Sicherheitskräfte vor Kaufhäusern

und Sehenswürdigkeiten aufpassen. Zuvor hatte das Innenminis-

terium erwogen, chinesische Polizisten einzusetzen. ptr

83DER SPIEGEL 24 / 2014

neur direkt oder indirekt Verpflichtungen haben soll.Der Unternehmer hat aufden Virgin Islands acht Unter-nehmen registriert, daruntereine Bergbaufirma und dasKiewer Nobelhotel Hyatt. Einen ähnlichen Gerichts -beschluss hatte die russischeBank bereits auf Zypern erreicht. Die Duma, PutinsParlament, will noch einenSchritt weitergehen: Abge-

ordnete fordernden General-staatsanwalt auf,alle in Russlandbefindlichen Firmen des Unter-nehmers Ihor Kolomoisky zu „liquidieren“ –Kiew hat ihn alsGouverneur desGebiets Dnipro-petrowsk einge-setzt. Kolomoisky

ghanen über Kämpfe unter-hält – dabei habe seine Grup-pe von 28 Männern 5 verlo-ren. Auch seine Reise lässtsich durch die Videos nach-zeichnen: Über Iran gelangtendie Afghanen per Linienflugnach Beirut und von da ausweiter nach Syrien. Dort nah-men sie, bevor sie in denKampf zogen, an einer Zere-monie im schiitischen Schreinvon Sajjida Sainab in Damas-kus teil und erholten sich offenbar am Strand. Afghani-sche Hazara sind die jüngsteGruppe ausländischer Schii-ten, die zum Kampf für ihrenGlaubensverwandten Bascharal-Assad vor allem von deriranischen Führung rekrutiertwerden. Insgesamt handelt essich dabei wohl um mehr als10000 Milizionäre, darunterLibanesen der Hisbollah-Mi-liz, Iraner, Iraker und Jemeni-ten. Die Militärführung As-sads versucht, die Existenzdieser Gastkämpfer so weitwie möglich geheim zu halten:Der syrische Ausweis des Toten trug sein Foto und eineneunstellige Nummer, aberkeinen Namen. cre

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Ausweis des gefallenen Afghanen

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Rückkehr eines SuperstarsUSA Zwei Jahre vor der Wahl wird Hillary Clinton als nächste Präsidentin gehandelt.Das war 2008 schon einmal so. Hat sie aus ihrer Niederlage gelernt?

84 DER SPIEGEL 24 / 2014

Page 85: Der Spiegel 2014 24

Ausland

Über dem Podium erscheint ihr Por-trät, Hillary Clinton, 20 Quadrat-meter groß, weichgezeichnet durch

einen Filter. Sie sieht darauf weder jungaus noch alt, die ewige Hillary.

Es ist nur ein kurzer Weg bis dorthin,von ihrem Platz hinter der Bühne zum Podium unter dem Bild. Gleich wird Hil -lary Clinton  ihn gehen und die Menge an der Universität von Miami begrüßen,mit einem langgezogenen, aufgekratzten„Uuuuuh!“, um danach ihre Rede zu Ame-rika und zur Weltpolitik zu beginnen.

Aber zuerst hat Donna Shalala, die Uni-versitätspräsidentin, eine Frage an ihre Stu-denten. Sie möchte wissen, wie viele vonden 3000, die gekommen sind, und die bisauf den Parkplatz Schlange gestanden ha-ben, vor 1992 geboren sind.

1992 war das entscheidende Jahr im Le-ben von Hillary Clinton. An der Seite ihresMannes zog sie in den Präsidentschafts-wahlkampf, sie wurde berühmt. Dann wur-de sie First Lady. Seither gab es keinenMoment mehr in ihrem Leben, in demnicht die ganze Welt sie beobachtete.

Shalala schaut in die Runde. Keine Hän-de, niemand meldet sich. Sie gibt HillaryClinton ein Zeichen, die nun nach vornetritt, im dunkelblauen Kostüm. Und Sha-lala ruft ihren Studenten zu: „Für euchwar sie immer schon da. Eine Welt ohneHillary Clinton könnt ihr euch nicht vor-stellen!“

Vor 15 Monaten hat Hillary Clinton ih-ren Posten als Außenministerin aufgege-ben. Es war ihr vorerst letztes Amt. Sie istseither, genau genommen, nur noch Pri-vatperson. Eine Frau im Rentenalter, 66Jahre alt, die für Reden bis zu 200000 Dol-lar bekommt. Sie tritt überall auf, beimFrauenkongress, beim Jahrestag des Ver-bandes der Autohändler, vor Pharmarefe-renten und dem Marketinginstitut derFrischwarenhersteller. Sie redet über Frau-enrechte, Afghanistan, den Krieg gegenden Terror, frühkindliche Erziehung undWahlrechtsreformen.

Aber jedes ihrer Worte, jede Geste wirdnur auf die eine Frage hin untersucht: Willsie 2016 erste Präsidentin der VereinigtenStaaten werden?

Sie stellt sich umso drängender, je näherdas Ende von Barack Obamas zweiterAmtszeit im Weißen Haus rückt. Und ob-wohl alle längst die Antwort zu kennenglauben, haben die großen Tageszeitungenjeweils einen Reporter allein dazu ver-pflichtet, ihr nachzugehen. Vor einem Mo-nat titelte das Magazin Time: „Kann über-haupt jemand Hillary stoppen?“

Das klang schon 2008 einmal so, als Hil-lary Clinton in den Vorwahlkampf der De-mokraten zog und dann gegen Barack Oba-ma verlor. Sieben Jahre lang hatte sie sichdavor als Senatorin von New York in diestrenge Hierarchie des Oberhauses einge-

reiht, Gesetze geschrieben, an die sich heu-te kaum jemand erinnert. Sie wurde ge-schätzt von ihren Kollegen, war 2006 miteinem Traumergebnis von 67 Prozent wie-dergewählt worden und galt damals schonfast als erste Präsidentin der VereinigtenStaaten. Es kam anders. Kann sie diesmalgewinnen? 

Die Meinungsexperten sagen HillaryClinton einen ungefährdeten Sieg im Prä-sidentschaftswahlkampf 2016 voraus, egal,gegen welchen Kandidaten der Republika-ner sie antreten muss. Sie ist der größteStar ihrer Partei, beliebt bei weißen Frau-en, der Wählergruppe, auf die Demokra-ten für einen Sieg traditionell angewiesensind. Obama hatte Mühe, sie 2012 für sichzu begeistern, gewann aber trotzdem klar

gegen Mitt Romney. Clinton könnte nochviel deutlicher siegen als Obama.

Auch Geld ist kein Problem, ihre Unter-stützer spenden bereits gewaltige Summen.Fast sechs Millionen Dollar hat allein dieWahlkampforganisation Ready for Hillarygesammelt. Dazu kommt Priorities USAAction, die Großspenden eintreiben soll.Clinton hat mit diesen Organisationen of-fiziell nichts zu tun. Das Gleiche gilt fürCorrect the Record, die unliebsame Me-dienberichte klarstellt, den Thinktank Cen-ter for American Progress und die Frauen-organisation Emily’s List.

Zugleich signalisierten andere demokra-tische Bewerber vorsorglich den Verzichtauf eine Kandidatur, falls sie antreten soll-te, unter ihnen Vizepräsident Joe Bidenund die Senatorin Elizabeth Warren, eineIkone des linken Flügels. Die Republikanerrichten ihren Wahlkampf ebenfalls auf Hil-lary Clinton aus – sie suchen jemanden,der gegen sie bestehen kann. Ganz Ame-rika wartet auf ihren Wink. Kommt erbald?

Shalala, die Universitätspräsidentin undehemalige Gesundheitsministerin unterBill Clinton, blättert in ihren Karteikartenmit den Fragen. Hillary hat schon viel ge-redet, über Krieg und Frieden, Libyen, Afghanistan, die Gesundheitsreform. Jetztfehlt nur noch die eine, die große Frage.Shalala sagt, sie sei nicht von ihr, sondernvon ihren Studenten. Es ist ihr sicht-lich peinlich, sie weiß, dass sie keine Ant-wort erhalten wird. Also versucht sie esmit einem Umweg über Hillarys Twitter- Account.

Den hatte sie sich vor einem Jahr zuge-legt, er wurde als weiterer Hinweis dafürinterpretiert, dass sie mit ihrer Ankunft imdigitalen Zeitalter den baldigen Einstiegins Rennen ankündigen wolle. In ihre Kurz-biografie schrieb sie: „Ehefrau, Mutter,

Rechtsanwältin, Vorkämpferin für Frauen& Kinder, First Lady von Arkansas, FirstLady der Vereinigten Staaten, US-Sena-torin, Außenministerin, Autorin, Hundebe-sitzerin, Haarikone, Hosenanzug-Liebha-berin, und was noch so kommt …“

„Was kommt denn noch?“, fragt Shalala,und Hillary Clinton lacht. Sie erinnert da-ran, dass man bei Twitter nur 140 Zeichenfür eine Nachricht zur Verfügung hat. Undalle lachen mit ihr, als sie sagt: „Ich habeleider keine Buchstaben mehr.“ Das Spiellautet: „Ihr wisst es ja längst, aber ich sagees euch noch nicht.“ Und Hillary Clintonspielt es jeden Tag.

„Sie könnte sich vor das Weiße Hausstellen und  sagen, dass sie keinerlei Inter -esse hat, Präsidentin zu werden“, sagt ein

Vertrauter. „Es würde ihr trotzdem nie-mand glauben.“

Manche ihrer Weggefährten fragen sich,ob sie die besten Jahre, die ihr noch blei-ben, wirklich im Weißen Haus verbringenwill. Bald schon wird ihre Tochter Chelseasie zur Großmutter machen. Aber Männerwie Ronald Reagan oder John McCainstrebten in noch höherem Alter nach demmächtigsten Amt der Welt.

Es gäbe aber auch echte Gründe für Hil-lary Clinton, 2016 nicht noch einmal an-zutreten. Seit über drei Jahrzehnten stehtsie in der Politik und hat dafür teuer be-zahlt. Ihr Leben wurde zur Seifenoper,eine Abfolge von Erfolgen und Skandalen,sie sah sich im Dauerkampf mit einer „gro-ßen rechten Verschwörung“, wie sie esnannte.

An der Seite Bill Clintons wurde sie vonihren Gegnern erst dafür gehasst, dass siekeine Hausfrau sein wollte, und später,nach dem Lewinsky-Skandal, dafür ver-höhnt, dass sie sich nicht scheiden lassenwollte. Ständig musste sie sich verteidigen,für die Untreue ihres Mannes, für zwie-lichtige Finanzinvestitionen in Arkansas,für ihr Netzwerk aus einflussreichen undwohlhabenden Freunden. „Skandale lie-ben die Clintons“, titelte jüngst das Maga-zin New York. Soll das immer so weiter -gehen? 

Konservative Medien haben bereits dienächste Kampagne gegen sie begonnen.Im Februar streute der ultrarechte Radio-moderator Rush Limbaugh Gerüchte überihre angeblich fragile Gesundheit. „Es gibteine Flüsterkampagne, Leute“, sagte er,„dass Mrs. Clinton krank ist, dass sie nichtals Präsidentschaftskandidatin antritt, weilsie krank ist.“ Auf der konservativen In-ternetseite The Daily Caller schrieb einBlogger, er sei sich „zu 95 Prozent sicher:Hillary Clinton hat wahrscheinlich einen

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Seit über drei Jahrzehnten steht sie in der Politik, sie hatdafür teuer bezahlt. Ihr Leben wurde zur Seifenoper.

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Ausland

bösartigen Hirntumor“. Sie werde dahernicht antreten.

Einen weiteren Hinweis darauf, dass siesehr wohl antreten wird, gibt es am Diens-tag der kommenden Woche: Am 10. Juniveröffentlicht Clinton ihre neue Autobio-grafie „Entscheidungen“, die zweite nach„Gelebte Geschichte“, die 2003 erschien,kurz nach ihrer Wahl zur US-Senatorin.Zwei Millionen Exemplare sind vorbestellt,große Fernsehauftritte geplant, um die sichdie Sender wochenlang bewarben. Es sollin dem Buch um die letzten sechs Jahregehen, die Zeit nach ihrer schmerzhaftenNiederlage gegen Barack Obama. Vor al-lem aber wird es als Bewerbungsschreibengelesen werden, für ihre mögliche Präsi-dentschaftskandidatur.

Es gab für die Presse keine Vorabexem-plare, aber in einem Video verspricht Clin-

ton, dass zwei private Momente darin vor-kommen sollen: die Hochzeit ihrer TochterChelsea, die sie plante, während sie alsAußenministerin um die Welt reiste, undder Tod ihrer Mutter an Halloween 2011.Doch in erster Linie wird das Buch wohleine Bilanz ihrer Jahre als 67. Außenmi-nisterin der Vereinigten Staaten sein.

Es war, von dem Anschlag auf die US-Vertretung in Bengasi einmal abgesehen,eine weitgehend fehlerlose vierjährigeAmtszeit, in der sie allerdings auch keinegroßen Risiken einging. Anders als ihrNachfolger John Kerry, der wohl kein ho-hes Amt mehr anstrebt, stieß sie keineneuen Nahostverhandlungen an, in denensie möglicherweise politisches Kapital ver-braucht hätte. Sie bewegte sich stets indem engen Rahmen, den das Weiße Haus

traditionell dem Außenminister setzt. Undsie legte Wert auf die Feststellung, dassaus Obama und ihr, den erbitterten Riva-len von 2008, Freunde geworden seien.

Am meisten bleibt aus dieser Zeit ihrDrängen auf einen Nato-Militärschlag inLibyen in Erinnerung, ihr Verhandlungs-geschick beim Abschluss des Start-Vertragsmit Russland, und die Tatsache, dass siehäufig auf der richtigen Seite der Geschich-te stand: beim Truppenausbau in Afgha-nistan wie bei der Entscheidung, OsamaBin Laden in Pakistan zu töten. Sie pflegtevon Anfang an eine enge Beziehung zuVerteidigungsminister Robert Gates, undRegierungsmitglieder sagen, das Verhältniszwischen den beiden Ministerien sei seit50 Jahren nicht so gut gewesen. Das trugzu ihrem Image bei, ein außenpolitischerFalke zu sein.

Die Terrorakte gegen die USA in Ben-gasi sind die einzige Angriffsfläche, diesie ihren Gegnern bietet, und diese habenseither alles versucht, sie auszunutzen. Inder Nacht des 11. September 2012 starbenvier Amerikaner, darunter BotschafterChristopher Stevens. Trotz zahlreicherHinweise unternahm ihr Ministeriumnichts gegen die ungenügenden Sicher-heitsvorkehrungen in Libyen. Deswegen,und weil Clinton zunächst behauptete, eshabe sich nicht um einen Anschlag gehan-delt, sondern um außer Kontrolle gerateneProteste, musste sie im Kongress aussa-gen. Dennoch hielt sich der Schaden fürsie in Grenzen.

Die große Frage aber wird sein, welcheLehren sie aus ihrer gescheiterten Bewer-bung gezogen hat. Was wird der Unter-

schied sein zwischen Hillary 2008 und Hil-lary 2016? „Hillary lernt aus ihren Feh-lern“, sagt Melanne Verveer, ihre Stabs-chefin im Weißen Haus, die bis heute zuihren engsten Beratern gehört.

Als Clinton gegen Obama antrat, galtsie zu Beginn als die sichere Siegerin, und sie benahm sich auch so. In einemYouTube-Video erklärte sie im Januar 2007von ihrem Sofa in Chappaqua aus ihre Be-werbung: „I’m in. And I’m in to win.“ Esklang, als erhebe sie Anspruch auf einAmt, das ihr nach all den Jahren nun end-lich zustehe. Es fehlten ihr Demut und derWille zu zeigen, dass es ihr nicht allein umihre Karriere ging, sondern um ihr Land.

Sie hatte Erfahrung, Einfluss und Macht,und sie hatte Bill Clinton. Doch der stelltesich als Problem heraus, denn stellenweisebeherrschte er ihren Wahlkampf und weck-te Erinnerungen an die alten Skandale. DieWähler wünschten sich nach acht Jahrenunter Präsident George W. Bush einen tief-greifenden Wandel beim politischen Per-sonal, nicht die Erfahrung, mit der Clintonwarb. Auch deshalb fing die Kandidaturvon Barack Obama, dem jungen Senatoraus Illinois, so schnell Feuer, auch deshalbgingen die Republikaner das irrwitzige Risiko ein, die unerfahrene Sarah Palin als Vizepräsidentschaftskandidatin zu no-minieren.

Ihren sympathischsten Moment hatteHillary Clinton, nachdem sie im Januar2008 die Vorwahl in Iowa verloren hatte.In einem Café in New Hampshire hatte sieplötzlich Tränen in den Augen, ihre Stim-me brach, zum ersten Mal in diesem Wahl-kampf zeigte sie menschliche Schwäche.Aber es war nur ein winziger Augenblick.Sie trat ansonsten stets kontrolliert auf,manchmal schroff.

Im Nachhinein glauben viele ihrer Be-rater, ihr Fehler sei es gewesen, sich nichtstärker als die mögliche erste Frau im Amtpräsentiert zu haben. Als sie im Juni ihreNiederlage gegen Barack Obama eingeste-hen musste, hatten 18 Millionen Amerika-ner für sie gestimmt. Sie weigerte sich zu-nächst, das als Fortschritt im Kampf fürdie Gleichberechtigung anzuerkennen. „Esging hier doch nicht um Frauen“, sagte sie.Aber ihre Mitarbeiter drängten sie, undschließlich willigte sie ein, in ihrer Redevon „18 Millionen Rissen in der Glasdecke“zu sprechen, die unsichtbare Grenze, andie viele Frauen stoßen. Es sollte der ammeisten zitierte Satz ihrer gesamten Redewerden.

Als Barack Obama ihr im November2008 das Amt der Außenministerin anbot,zögerte sie wochenlang. Es war schonschwierig genug für sie gewesen, Wahl-kampf für den Mann zu machen, der ihrdie größte Niederlage ihrer Karriere zuge-fügt und nun das Amt gewonnen hatte, fürdas sie sich weitaus qualifizierter fühlte.

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Ehepaar Clinton im Wahlkampf 1992 (1), Außenministerin Clinton beim Amtseid 2009 (2),

mit Burmas Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi 2011 (3), mit Bundeskanzlerin Merkel 2011 (4)

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Aber sie sagte zu, nach Hunderten Te-lefonaten und zwei Reisen in die Wahl-kampfzentrale in Chicago. Es war eineZweckgemeinschaft zunächst, aber für Hil-lary Clinton war es die beste Chance, dieAmerikaner davon zu überzeugen, wiesehr sie bereit war, ihren eigenen Stolz zu-rückzustellen, zum Wohle des Landes.

Auch deshalb erzählt sie von ihrer Zeitim Außenamt vor allem von den 956733Meilen, die sie geflogen ist, von den 112Ländern, die sie innerhalb von vier Jahrenbesuchte, den 401 Reisetagen, und all denZeitzonen, die sie durchflog. Dass sie sichdieser Tortur unterzog, ist heute vielleichtihr wichtigstes Vermächtnis.

Hillary nutzte die Zeit im Außenminis-terium, um sich wieder mit ihren alten Ver-trauten zu umgeben, ihrem „A-Team“,nachdem sie sich im Wahlkampf vor allemauf ehemalige Berater ihres Mannes ver-lassen hatte. Zu „Hillaryland“, ihrer engs-ten Truppe, gehören ihre Beraterin Ver-veer, die sie zur ersten Botschafterin fürglobale Frauenrechte machte, Philippe Reines, der ihr Sprecher wurde, und HumaAbedin, ihre persönliche Assistentin, dienur selten von ihrer Seite wich.

Von ihrem Mann, sagen Vertraute, re-dete Hillary Clinton im Außenministeriumkaum noch. Sie wollte sich auch politischvon diesem Mann befreien, hinter dem sie so lange zurückstehen musste.

Im August 2009, in ihrem ersten Jahr alsAußenministerin, kämpfte sie noch um ihreUnabhängigkeit. Die Zeitungen schriebenüber ihren beschränkten Einfluss in der Re-gierung Obama, und sie war nach Kinshasagereist, um für Frauenrechte einzutreten.In der Universität meldete sich ein Studentin der ersten Reihe, und wollte von ihr wis-sen, was ihr Ehemann davon halte, dass dieWeltbank sich im Kongo einmische, wenndie Chinesen dort Finanzgeschäfte mach-ten.

Wütend sagte sie: „Mein Ehemann istnicht der Außenminister, das bin ich!Wenn Sie meine Meinung wissen wollen,sage ich sie Ihnen. Aber ich bin nicht hier,um meinen Ehemann zu vertreten.“

Bald gehörte sie als Außenministerin zuden beliebtesten Politikern, sie überholtenicht nur Obama, sondern auch ihrenMann. Zwei Drittel der Amerikaner drück-ten ihr in Umfragen zeitweise ihre Wert-schätzung aus. Aber sie weiß, wie schnellSympathien vergehen können, wenn siewieder als Politikerin wahrgenommen wirdund nicht als oberste Diplomatin Amerikas.

Hillary Clinton ist immer noch kein poli -tisches Naturtalent wie ihr Mann, der mitbeneidenswerter Leichtigkeit Sympathienauslöst. Eine Umfrage unter demokrati-schen Aktivisten in Iowa ergab jüngst, dassnicht einmal sie als Erstes Hillary Clintonzum Essen einladen würden. Sie wird

mehr respektiert als geliebt. Aber nachsechs Jahren unter Barack Obama, nachden vielen Enttäuschungen die auf die gro-ßen Emotionen folgten, wächst bei vielenWählern der Wunsch nach Verlässlichkeit,nach Kompetenz und Erfahrung. 

Als Clinton im März auf einem Podiumspricht, beim Kongress „Women in theWorld“ in New York, sitzt neben ihr Chris-tine Lagarde, die Chefin des Internationa-len Währungsfonds. Lagarde wird in jenenTagen mal wieder als nächste Präsidentinder Europäischen Kommission gehandelt.Das Thema des Gesprächs sind Frauen, diesich in der Männerwelt durchgesetzt haben.

Lagarde hat gerade gesagt, dass Frauenden Männern gefährlich werden können.„Wir sind eine Bedrohung für sie.“ Daspricht der Moderator, New-York-Times-Kolumnist Thomas Friedman, seine beidenGesprächspartnerinnen darauf an, dasshier womöglich gerade die künftige Präsi-dentin Europas mit der künftigen Präsi-dentin Amerikas zusammensitze.

Hillary Clinton lacht. Sie sagt nichts, siehebt nur die Hand und klatscht ChristineLagarde ab, High Five. Das war sie docheigentlich schon, die Antwort. Marc Hujer

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Video: Marc Hujer über

Clintons Karriere

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Außenministerin Clinton nach Landung in Paris 2012: Den eigenen Stolz zurückgestellt, zum Wohle des Landes

Page 88: Der Spiegel 2014 24

Ausland

In ihrer Ballettkompanie hat Bowe Berg-dahl es bis zum „Lifter“ geschafft, demPartner der Ballerina. Er war ein Junge,

der alles ausprobierte, Tanzen, Skifahren,Fechten, Schießen und schließlich, vorsechs Jahren, die Armee. Sherry Hortontraute ihm eine Menge zu, Bergdahl warihr bester Schüler, ein echtes Talent. Undnun sitzt die Ballettlehrerin in Zaney’s Cof-fee Shop in Hailey, Idaho, überall hängenBilder von Bowe Bergdahl, als Soldat undauf einem Motorrad. Er hat hier frühermal gejobbt, jetzt ist das Café eine ArtHeldenschrein. Sherry Horton trägt einenKnopf im Ohr, weil Fox News ein Fernseh-interview mit ihr führen will. Sie soll dieFrage beantworten, die viele Amerikanersich stellen: Ist Bowe Bergdahl ein Heldoder ein Verräter?

Fünf Jahre lang haben die Taliban denSoldaten Bowe Bergdahl, 28, in Afghani -stan gefangen gehalten, nun wurde er aus-getauscht, gegen fünf hochrangige Taliban-Häftlinge in Guantanamo. Und hier, in sei-ner Heimatstadt Hailey, feiern sie jetzt,sein Bild ist in jedem Schaufenster, an je-den Laternenpfahl ist ein gelbes Bändchengeknotet, an den Autos kleben Sticker.Und seit dieser Woche hängen überall die-se Plakate: „Bowe ist endlich frei!“

Doch es gibt nicht nur Freude, der Ge-fangenenaustausch hat auch eine politischeDebatte entfacht, die die GrundwerteAmerikas berührt: Darf man mit den Tali-ban verhandeln? Und darf man einen Sol-daten freikaufen, der vielleicht nicht ent-führt wurde, sondern sich freiwillig vonseiner Einheit entfernte, also sein Landund seine Kameraden im Stich ließ?

Sherry Horton starrt in die Kamera. Siekennt die Gerüchte, Bergdahl habe die Ar-mee am Ende verachtet und sei deshalbdesertiert. „Haben wir nicht alle mal einenschlechten Tag und würden gern hin-schmeißen?“, fragt sie den Interviewer.„Ist das nicht normal?“ Dann steht sie auf.Sie habe keine Zeit mehr, sagt sie, viel-leicht hat sie auch keine Lust mehr auf die-se Art von Fragen.

Sie sagt lieber Sätze wie diesen: „Bowehat jede Herausforderung angenommen.Er war neugierig und hat alles zu Ende ge-bracht. Er war keiner, der abgehauen ist.“

Aber es geht längst um mehr als dieEhre des Bowe Bergdahl, des letztenKriegsgefangenen der USA. Es geht umden politischen Preis, den Präsident Ba-rack Obama dafür zahlen muss, dass erfünf Taliban gegen einen Feldwebel aus-

tauschte und den Kongress darüber nichtvorher informierte. „Wir holen einen ame-rikanischen Soldaten zurück, wenn er inGefangenschaft ist, egal wie die Umständeam Ende ausgesehen haben mögen“, sagteObama. Doch der Deal rüttelt gleich anmehreren Tabus – und jeder Zweifel anBergdahl macht es Obama schwerer. BoweBergdahl ist nun eine Schachfigur in die-sem Spiel, bei dem es um einen politischenPunktsieg in Washington geht.

Es half dabei nicht, dass Bowe BergdahlsVater Robert sich einen Bart hatte wachsenlassen, und dann, als er neben Barack Oba-ma im Garten des Weißen Hauses stand,selbst aussah wie ein Talib. Was als Zei-chen der Solidarität gemeint war, war fürviele Amerikaner ein verstörendes Bild.Der Fall Bergdahl erinnert an die Fernseh-serie „Homeland“, in der der UnteroffizierNicholas Brody befreit wird und seinemEntführer nach seiner Rückkehr näherzu-stehen scheint als seinem Heimatland.

Harsch fielen die Reaktionen aus, vorallem vonseiten der Konservativen. Beiden für Bergdahl freigelassenen Talibanhandele es sich „um die Härtesten der Här-testen“, sagte der republikanische SenatorJohn McCain. „Dieser Preis ist höher alsjeder andere in unserer Geschichte.“ UndNathan Bradley Bethea, der im selben Ba-taillon wie Bergdahl gedient hatte, erklärteöffentlich: „Es ist an der Zeit, die Wahrheitauszusprechen. Bergdahl war ein Deser-teur, und Soldaten seiner Einheit sind beider Suche nach ihm gestorben.“ Mancheredeten von bis zu acht Soldaten, die dabeigestorben seien, aber sie rechneten alle inder Provinz Getöteten zusammen. Seinfrüherer Zugführer behauptete sogar, Berg-dahl habe den Taliban Informationen für

Anschläge auf die Amerikaner geliefert.Noch bevor Bergdahl sich äußern kann,wird die Forderung laut, er gehöre vor einKriegsgericht.

War Bergdahl ein Deserteur? Oder wur-de er entführt, wenn auch unter ungewöhn-lichen Umständen? Von der Antwort aufdiese Frage hängt nun vieles ab.

Im März 2009 begann der damals gerade23-jährige Soldat seinen ersten Einsatz inder Provinz Paktika im Osten Afghani -stans, beim 1. Bataillon des 501. Fallschirm-jäger-Regiments. Sie nannten sich „Black-foot Company“, die Schwarzfüße. Er wargerade drei Monate lang dort, bis zu jenem30. Juni, an dem die Soldaten wieder malausrückten, um einen Außenposten zu si-chern. Nachts stellten sie ihre gepanzertenSchützenwagen im Kreis auf, eine Wagen-burg wie im Wilden Westen. Bergdahl undseine Kameraden schliefen in den Fahrzeu-gen oder unter Zeltplanen. Am nächstenMorgen war Bowe Bergdahl verschwun-den. Dagelassen hatte er: Helm, Gewehr,die schusssichere Weste. Es fehlten: Notiz-block, Wasser, Messer, Laptop, Digital -kamera, Rucksack und Kompass.

Soldaten aus seiner Kompanie berichte-ten, dass Bergdahl früh Zweifel an demEinsatz in Afghanistan geäußert habe. InE-Mails an seine Familie malte er ein düs-teres Bild von der Realität vor Ort. Er hör-te auf, Fleisch zu essen, und lernte Ara-bisch, Dari und Paschtu, während die an-deren grillten, so erzählte es sein frühererKamerad Cody Full. Einmal soll Bergdahlgefragt haben, ob man von Paktika auswohl China zu Fuß erreichen könne.

Die Familie Bergdahl, sagte sein VaterRobert einmal, sei „keine typische Militär-familie“. Er sei überrascht gewesen, als seinSohn ihm erzählte, er wolle Soldat werden.Die Eltern hatten ihren Sohn zu Hause un-terrichtet, er lernte früh reiten und schie-ßen, interessierte sich für Buddhismus. Erjobbte hier und da, trieb durch sein Leben,aber er träumte von etwas Größerem. Des-halb bewarb er sich bei der französischenFremdenlegion, ohne Erfolg. Also probier-te er es bei der Armee, er dachte, er würdeden Menschen in Afghanistan helfen. Einwenig spiegelt sein Schicksal den ganzenKrieg in Afghanistan wider, mit dieser Mi-schung aus Idealismus und Abenteuerlust,Überforderung und Versagen.

Bergdahls Heimatort Hailey ist ein klei-nes Idyll zwischen den Bergen, kein Ortfür junge Menschen, die die Welt sehenwollen. In den Sechzigerjahren war die

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Die Ehre des Bowe BergdahlUSA Fünf Jahre lang war ein Soldat in der Hand der Taliban, nun wurde er gegen fünf Islamistenausgetauscht. In seiner Heimatstadt ist er ein Held, für seine Kameraden ein Verräter.

Soldat Bergdahl vor der Freilassung

„Dieser Preis ist höher als jeder andere“

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Kleinstadt in den Rocky Mountains eineHochburg der Hippies, heute ist sie nurnoch ein Stopp auf dem Weg ins Sun Val-ley, eines der berühmtesten SkigebieteAmerikas. 7900 Menschen leben hier, eineMischung aus linken Aussteigern und rech-ten Waffenliebhabern. Es gibt eine Haupt-straße, zwei Sushi-Läden, ein paar Knei-pen, einen Goldschmied und ein Modege-schäft, das sich „Puppenhaus“ nennt. DerSheriff hat wenig zu tun, das Böse fällthier nur mit den Waldbränden ein. Sindsie gelöscht, gibt es ein Festessen für dieFeuerwehrleute. Abenteuer muss man sichsuchen, beim Klettern, Fallschirmspringen,Mountainbiken.

„Wenn man zwischen 15 und 22 Jahrealt ist, hält man es hier nicht lange aus,dann muss man raus“, sagt Zeke Watkins.Er trägt für UPS Pakete aus, ein frühererKollege von Robert Bergdahl, 34 Jahre alt,mit Hornbrille und braunem UPS-Basecap.Nachdem Vater Bergdahl in den Ruhe-stand ging, übernahm er dessen Route, biszu 100 Kilometer jeden Tag. Knapp 200Pakete hat er heute ausgetragen. In achtWochen hat er statistisch gesehen bei je-dem Bürger von Hailey einmal geklingelt,er weiß, was im Ort passiert. Fünf Jahrelang hat er alle Fragen zu Bowe BergdahlsSchicksal beantwortet, Neuigkeiten ver-kündet und Trost gespendet. Es gebe inganz Hailey keinen, sagt er, der den Sol-daten als Verräter sehe.

Die Gemeinde hält zusammen, man hilftsich gegenseitig, aber so viel Nähe kann

auch erdrückend sein, so hat es vielleichtBowe Bergdahl damals empfunden. Wat-kins sagt, er könne sich vorstellen, dassauch seine Söhne irgendwann Hailey ver-lassen werden, getrieben vom Wunsch, dieWelt zu entdecken. Er selbst ging als jun-ger Mann ebenfalls fort, zur U.S. Navy.

Das erste Lebenszeichen von Bergdahlnach seinem Verschwinden stammte vom4. Juli 2009, er wurde in einem schwarzenToyota Corolla gesehen, mit einem Sacküber dem Kopf. Offenbar war er in derHand von Kämpfern des Haqqani-Netz-werks, eines besonders radikalen Flügelsder Taliban. Später sendeten die Kidnappervon Zeit zu Zeit Videos des Gefangenen.Im September 2013 meldeten sich die Tali-ban und sondierten, ob die US-Regierungbereit war, Bergdahl gegen fünf Häftlingeaus Guantanamo auszutauschen, darunterKhirullah Said Wali Khairkhwa, ein Ver-trauter von Taliban-Führer Mullah Omar.

Der letzte Versuch eines Gefangenen-deals scheiterte 2012 am damaligen Vertei-digungsminister Leon Panetta und dem Na-tionalen Geheimdienstdirektor. Doch dies-mal war Obama entschlossen, sich durch-zusetzen, um das Kapitel Afghanistan end-lich zu beenden. Anfang Mai unterzeich-neten die Taliban und die US-Regierungeine Absichtserklärung. In der Nacht zum23. Mai traf dann eine US-Delegation inKatar ein, letzte Details wurden geklärt.

Am vorigen Samstag fand die Übergabeim Osten Afghanistans statt: US-Soldatennäherten sich 18 Taliban-Kämpfern. 30 Se-

kunden dauerte die Begegnung, dann warder Mann aus Idaho frei. Zum Abschiedwinkten die amerikanischen Spezialkräfteden Taliban noch einmal höflich zu.

Im Hubschrauber soll Bergdahl nur zweiBuchstaben auf einen Pappteller geschrie-ben haben: „SF?“ Special Forces, hieß das.Die Soldaten bejahten. Das Reden in Eng-lisch, heißt es, falle ihm schwer, nach fünfJahren bei den Taliban. Er wird jetzt imdeutschen Landstuhl behandelt, danachsoll er in eine Spezialklinik in Texas ge-bracht werden. In den Verhören wird ihmsicher auch die Frage gestellt werden, ober die Militärbasis freiwillig verlassen habe.

Die eigentliche Debatte könnte dahernoch bevorstehen, dann, wenn Bergdahlseine Version der Geschichte erzählt. Eswird jetzt verbreitet, er habe in der Haftgrünen Tee lieben gelernt und seinen Wa-chen Badminton beigebracht. Tee mit denTaliban, das empfinden viele Amerikanerals Provokation. Da spielt es auch keineRolle, dass Bergdahl in den Videos abge-magert aussah, kränklich, die Augen in tiefen Höhlen. Sein Schicksal wirft dieschmerzhafte Frage auf, ob dieser Kriegmit all seinen Toten sinnvoll war; er ver-wischt Gut und Böse, Richtig und Falsch.

Bergdahl sei „unschuldig bis zum Be-weis des Gegenteils“, sagte General MartinDempsey, Vorsitzender der VereinigtenStabschefs. „Wenn es aber ein Fehlverhal-ten gegeben haben sollte, wird die Armee-führung nicht wegschauen.“

Marc Hujer, Holger Stark

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Eltern Bergdahl mit Präsident Obama: „Wir holen einen Soldaten in Gefangenschaft zurück, egal wie die Umstände ausgesehen haben mögen“

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Ausland

Der spanischen Demokratie scheinen die Zeitläufte mit derReife nicht mehr Stabilität zu bringen, sondern eine wach-sende Unsicherheit, die in gleicher Weise Vergangenheit

und Zukunft erfasst. „Weder das Morgen noch das Gestern sindgeschrieben“, sagt Antonio Machado in einem Gedicht. Es gibtkein Element des politischen Systems in Spanien, das dieser Tagenicht infrage gestellt würde, von der territorialen Einheit desLandes bis zum Fortbestand der Parteien, die ihm in mehr alsdrei Dekaden seine Gestalt gegeben haben. Und so ist es nichtverwunderlich, dass auch die Monarchie auf dem Prüfstand steht.

Die unmittelbarste und sichtbarste Folge der Abdankungs -ankündigung des Königs waren Demonstrationen für die Republikin Madrid, Barcelona und einigen wichtigen Provinzstädten. DieSprecher der Regierung und der großen überregionalen Parteiensowie die Zeitungskolumnisten feiern die Entscheidung des Königsund kommen zu einer positiven Bilanz seiner Jahre auf demThron und seiner entscheidenden Rolle für den Einzug der De-mokratie. Aber unter den jungen Leuten undbei den Sympathisanten der neuen radikalenParteien, die sich aus der Protestbewegung ge-gen die Sparpolitik speisen, schwankt der Ton-fall zwischen offener Feindseligkeit, Gleichgül-tigkeit und Sarkasmus. Eine ungeduldige Sehn-sucht macht sich breit, so schnell wie möglicheine Institution loszuwerden, die mit der ran-zigsten Vergangenheit verbunden scheint unddie nicht länger als Garant für den Fortbestandder Demokratie gesehen wird, sondern als Hin-dernis für ihre volle Entfaltung.

In einer Kultur, die auf Gleichheit bedachtist, die Hierarchien misstrauisch gegenüber-steht, scheint die Idee, dass das höchste Staats-amt ein vererbliches Privileg sein soll, nichtsehr verständlich. Im Unterschied zu Groß britannien oder zu denNiederlanden hat die Mon archie in Spanien nicht die Aura einer Institution, die seit Anbeginn der Zeit da war, einen gewissenRespekt einflößt und so selbstverständlich ist, dass es kaum je-mandem einfallen würde, sie infrage zu stellen.

Alfonso XIII., der Großvater des Königs Juan Carlos, zerstörteseine eigene Legitimität, indem er in den Zwanzigerjahren desvergangenen Jahrhunderts die Diktatur von General Primo deRivera unterstützte und sich ungeniert mit den reaktionärstenKräften des Landes verbündete, den Oligarchen, den Großgrund-besitzern, der Kirche und dem Militär. Eine Republik, die ebensogut gemeint und schwach war wie die Weimarer Republik, wurde1931 ausgerufen. Doch König Alfonso XIII. unterstützte aus sei-nem Exil im Italien Mussolinis aktiv die Verschwörer, die sich1936 in Spanien erhoben und nach drei Jahren Bürgerkrieg einefinstere und blutige Diktatur errichteten.

Nach dem Tod Francos 1975 nahm der Enkel dieses wenig glor-reichen Königs den Thron ein, weil das der Wille des Diktatorswar. Und wir, die wir ungeduldig und voller Unsicherheit dieAnkunft der Demokratie erwarteten, hatten keinerlei Vertrauenzu ihm. In diesem Moment, nach fast 40 Jahren Franco-Macht,war im Volk jegliches Gefühl der Verbundenheit mit der Monar-chie zerstoben, sollte es in der Ära von Alfonso XIII. noch vor-handen gewesen sein.

Dennoch wurde innerhalb weniger Jahre für eine große Mehr-heit der Bevölkerung klar, dass der König eine entscheidendeRolle bei der Verankerung der Demokratie gespielt hatte. Mirfällt die Titelseite eines längst verschwundenen kommunistischenMagazins ein, die Ende Februar 1981, wenige Tage nach demmisslungenen Putschversuch des Militärs, gedruckt wurde. Daprangte ganzseitig ein Porträt von Juan Carlos mit der Schlagzeilein großen Lettern: Es lebe der König. Heute erscheint es ganzunglaublich, dass es eine Zeit gab, in der die Linke dem Königweniger Argwohn entgegenbrachte als die Rechte.

Jahrelang schien das Ansehen des Königs über jeden Zweifelerhaben. Aber die Achtung, die seine Person erfuhr, erstrecktesich nie auf die Institution, die er repräsentierte, und im Laufeder Zeit passierte zweierlei: Erstens verlor der König mit zuneh-mendem Alter den politischen Instinkt. Es erschien ihm selbst-verständlich, dass er ungestraft tun und lassen könne, was erwolle, war doch die Öffentlichkeit, von den politischen Parteien

bis zu den Medien, übereingekommen, seinePerson und sein Privatleben zu respektieren.In Spanien war und ist einer der schwerstenMängel der Demokratie das Fehlen von Trans-parenz der staatlichen Organe und deren „Re-chenschaftspflicht“, für die es im Spanischenkeine exakte Übersetzung gibt.

Im Laufe der Jahre ist der König nachlässigergeworden in seinem öffentlichen und privatenBenehmen, zum Teil wegen eines Realitäts-verlusts, der eintritt, wenn jemand jahrzehn-telang eine hochrangige Stellung bekleidet.Teilweise aber auch, weil ein Verhalten, dasihm in anderen Epochen die Nachsicht seinerGeschlechtsgenossen eingetragen hätte, inak-zeptabel geworden ist. In einer Kultur, in der

die Gleichstellung von Frauen und Männern sehr wichtig ist, er-wecken donjuaneske Abenteuer eines alternden Monarchen keineSympathie. Und in einem Land, das von einer Wirtschafts -krise grausam getroffen ist, scheint die Fotografie des Königs unverzeihlich, der mit dem Gewehr stolz neben einem in Afrikaerlegten Elefanten posiert.

Zum Zweiten hat der Generationenwechsel vielleicht sogarunrettbar das Prestige der Krone geschwächt. Wir, die wirden so schwierigen Übergang der Diktatur zu einer De-

mokratie persönlich erlebt haben, können die entscheidende Rol-le des Königs in diesen Zeiten nicht vergessen. Damals war dieUnsicherheit über die unmittelbare Zukunft genauso beängsti-gend wie die Last der entsetzlichen Vergangenheit. Und genausodie überhaupt nicht unwahrscheinliche Möglichkeit, dass wir voneinem Tag auf den anderen alles wieder verlieren könnten, waswir zu einem so hohen Preis erreicht hatten.

Aber für die Generation, die heute erwachsen ist, die danachgeboren wurde, scheint die Welt von damals ganz fremd, ja lästig,weil an sie so oft und auch noch offiziell erinnert wird. Wir er-lebten die Geburt der Demokratie mit, und weil wir am eigenenLeib erfahren haben, was vorher war, vergessen wir niemals dieÜberlegenheit des demokratischen Systems, so wenig perfekt esauch sein mag. Selbst wenn wir zugesehen haben, wie es über

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Das ungeschriebene MorgenEssay Die Abdankung von König Juan Carlos offenbart Spaniens Zerrissenheit.

Von Antonio Muñoz Molina

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König Juan Carlos

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die Jahre verfiel, großenteils wegen der Unverantwortlichkeitund Inkompetenz der politischen Eliten. Für uns sind dennochdie Freiheiten, der Pluralismus, das staatliche Bildungs- und Ge-sundheitswesen, die Zugehörigkeit zu Europa Errungenschaften,für die wir dankbar sind. Vielen jungen Menschen, die mit derSelbstverständlichkeit all dessen aufgewachsen sind, was für unsunwahrscheinlich und wunderbar war, fallen zuerst die Irrtümerins Auge, die Schwächen, die Unbeweglichkeit der Parteien, dasFehlen von Medizin gegen die verheerenden Wunden der Wirt-schaftskrise, die Perspektivlosigkeit.

All das hat zu einer seltsamen kognitiven Dissonanz geführt,die die Monarchie mindestens genauso stark in Mitlei-denschaft zieht wie alle anderen Institutionen des politi-

schen Systems in Spanien. Das Gestern wird beschleunigt undradikal umgeschrieben. Objektiv, und welche Messmethode auchimmer man anwenden mag, waren die Jahre von 1977 bis 2014,von der ersten demokratischen Parlamentswahl bis zur Europa-wahl kürzlich, die besten, friedlichsten und demokratischsten inder Geschichte Spaniens. Wir haben, bei all seinen Mängeln, einuniverselles Gesundheits-, Bildungs- und Rentensystem. Obwohlwir aus der schwärzesten religiösen Intoleranz kommen, habenwir die Homosexuellen-Ehe eingeführt und als normal akzeptiert.Die Autonomie-Kompetenzen unserer Regionen gehen sogarnoch weiter als die der deutschen Bundesländer.

Und trotzdem erscheinen diese Jahrzehnte im vorherrschen-den öffentlichen Diskurs vieler junger Leute und in Kreisen derLinken, die nicht immer die radikalsten sind, als mehr oder we-niger gut maskierte Verlängerung der Diktatur. Ihnen erscheinensie als Kapitulation vor der Macht der Franco-Erben, als Zeitder Schande, in der die Nationalitäten an der Peripherie Spa-niens, wie die Basken und die Katalanen, unterdrückt wurden,sodass deren einzige Hoffnung jetzt die Unabhängigkeit wäre.Es ist, als hätten sie nicht seit mehr als 30 Jahren ihre eigenenRegierungen, Fernsehsender und Schulunterricht in ihren Sprachen.

Das in dieser Zeit Erreichte ist für die Kritiker nicht mehr einErbe, das es zu bewahren und zu verbessern, sondern ein Hin-dernis, das es niederzureißen gilt, ein geisterhaftes Dekor, das,einmal zerstört, endlich den weißen Raum freigibt, in dem manauf der Tabula rasa beginnen kann zu bauen. Die Demokratieder Verfassung von 1978, die zufällig eine Monarchie ist, funktio-niert seit 35 Jahren, und sie hat uns zu Bürgern des wohlhabends-ten, freiesten und gerechtesten Teils der Welt gemacht. Aber invielen Bereichen der öffentlichen Meinung in Spanien gibt eseine rasende Lust, sie auseinanderzunehmen, eine populistische

Sehnsucht nach Wundermitteln, die sich in fetischhaft wieder-holten Floskeln ausdrückt: Unabhängigkeit, für Katalonien; Re-publik, für viele, die zu Recht enttäuscht und empört sind, dassAntworten fehlen auf die wachsende Ungleichheit, die allgegen-wärtige Korruption und die Verwüstungen der Krise.

Wenn man etwas zu spät tut, ist es fast dasselbe, wie wennman es schlecht macht: Der König hat sich zu lange Zeit gelassenmit seiner Abdankung, vielleicht aufgrund derselben Blindheitund Instinktlosigkeit, die ihn daran hinderten, drastisch durch-zugreifen, als die schamlose Gier seines Schwiegersohns offenbarwurde. Kronprinz Felipe ist ein fähiger Mann, gut auf sein Amtvorbereitet, mit einer gefestigten Vorstellung, wie er dem Volkdient, mit einer Fähigkeit, herzliche Nähe herzustellen zu seinenGesprächspartnern. Das ist natürlich deutlich weniger auffälligals der ungezwungene Kasernenhofton, den sein Vater pflegt.

Diese Fähigkeit Felipes ist nützlich, um die Stimmung, dieSchwierigkeiten, die Sehnsüchte der einfachen Leute zuerfassen. In einem so zerrissenen Land, in einer so unsi-

cheren Zeit, hat Felipe die Eignung und den Willen, eine prakti-sche Aufgabe zu erfüllen, die der gleicht, die sein Vater bewältigthat: Eintracht herzustellen. Und wenn es etwas gibt, das wir jetztgar nicht brauchen, dann ist es eine weitere Gelegenheit für Un-einigkeit in einer wesentlichen Frage, nämlich der Staatsform.

Aber alles ist flüchtig, und wir, die wir uns an die Siebzigerjahreerinnern, entdecken erstaunt und alarmiert, dass wir wieder diegleiche Unsicherheit verspüren wie damals. Statt uns zu zwingen,aufmerksam auf die Realität zu schauen und nüchtern die Grund-probleme zu diskutieren, um praktische und gerechte Lösungenzu finden, hat uns das Zusammentreffen von wirtschaftlicherund politischer Krise zurückgeworfen in eine Welt der kollektivenSinnestäuschungen. Das hat den Boden bereitet für Demagogenund selbst ernannte Retter. Während wir voller Wut über dieMonarchie oder die Republik oder das Wesen von Katalonienstreiten, lassen wir außer Acht, dass wir lebenswichtige Pakteschmieden müssten, beispielsweise über die Nachhaltigkeit derRenten und eine professionellere Verwaltung, um die Korruptioneinzudämmen. Nach 35 Jahren Demokratie und demokratischerDebatte in Toleranz, Gewissensfreiheit und Willen zur Einigungist all das schwieriger denn je.

In Spanien scheinen das Morgen und das Gestern immer nochungeschrieben. Es gibt nicht einmal plausible Entwürfe.

Übersetzung: Helene Zuber

Antonio Muñoz Molina, 58, ist einer der bekanntesten spanischen

Autoren, zuletzt erschien auf Deutsch „Die Nacht der Erinnerungen“.

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Thronfolgerpaar Felipe und Letizia

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SPIEGEL: Herr Brahimi, Ihre Aufgabe galtschon als unlösbar, bevor Sie Ihren Postenübernommen haben. Worauf haben Sie gehofft, was wollten Sie erreichen?Brahimi: Im Idealfall, dass Präsident Bascharal-Assad sich darauf einlässt abzutreten,wenn er dafür seinen Nachfolger mitbestim-men kann. Ich träumte von einem geord-neten Übergang zu einem neuen Syrien.SPIEGEL: Wann merkten Sie, dass es Zeitwurde aufzugeben?Brahimi: Nach der zweiten Diskussionsrun-de bei der sogenannten Genf-II-Konferenzzu Beginn des Jahres. Da stellte ich fest,dass das nirgendwohin führt.SPIEGEL: Was war geschehen?Brahimi: Weder die Russen noch die Ame-rikaner konnten ihre Freunde überzeugen,mit ernsthaften Absichten zu verhandeln.SPIEGEL: Welche Rolle spielte dabei die Zukunft Assads?Brahimi: Assad war der schwierigste Punkt.Die Vertreter des syrischen Regimes kamen nur nach Genf, um den Russen einen Gefallen zu erweisen. Ich mussteihnen sagen: Ich weiß, dass ihr die An-weisung habt, keine ernsthaften Gesprä-che zu führen.SPIEGEL: Und die Opposition?Brahimi: Die Mehrheit der Oppositionellenwar ebenfalls gegen Verhandlungen, siewollten eine militärische Lösung und ka-men völlig unvorbereitet. Aber zumindestwaren sie gesprächsbereit.SPIEGEL: Sie hatten also keine Chance?Brahimi: Ich habe den Amerikanern undden Russen gesagt: Ihr zerrt diese beidenDelegationen gegen deren Willen hierher.

SPIEGEL: Warum kann Assad nicht den Wegfür einen Präsidenten frei machen, mitdem alle Seiten leben können?Brahimi: Alles ist auf Assad fixiert, er hatimmer noch so viel Autorität, dass genugMenschen ihre Zukunft auf ihn bauen wol-len. Er sagte mir: „Mein Volk will michhier, und ich kann nicht Nein sagen.“ Und:„Solange ich 50 Prozent plus eine Stimmehabe, bleibe ich. Sonst trete ich ab.“ Nunhat er sich gerade wiederwählen lassen,mit 89 Prozent. Da gibt es keine Lösung.Denn die eine Seite sagt, es gibt keine Ver-handlungen mit Assad, und die andere, esgibt keine ohne Assad. Diese Aufgabe istwie die Quadratur des Kreises.SPIEGEL: Weiß Assad, wie seine Armee die-sen Krieg führt?Brahimi: Hundertprozentig.SPIEGEL: Auch dass von HubschraubernFassbomben auf Zivilisten abgeworfenwerden? Dass Zehntausende systematischgefoltert und ermordet werden?Brahimi: Er weiß verdammt viel. Vielleichtnicht jedes Detail, aber sicherlich, dassMenschen jeden Tag gefoltert und getötetwerden, dass Städte zerstört werden. Erkann auch nicht ignorieren, dass es zwei-einhalb Millionen Flüchtlinge gibt, nächs-tes Jahr werden es vier Millionen sein.Dass zudem sechs Millionen innerhalb Sy-riens vertrieben sind. Dass bis zu 100000Menschen in seinen Gefängnissen sitzen.SPIEGEL: Haben Sie ihn damit konfrontiert?

Brahimi: Natürlich! Ich habe ihm eine Listemit den Namen von 29000 Menschen ge-geben, die in seinen Gefängnissen sitzen.SPIEGEL: Begeht auch die Gegenseite Kriegs-verbrechen?Brahimi: Kriegsverbrechen werden jedenTag begangen, von beiden Seiten. Das Aus-hungern von Menschen wird gezielt alsWaffe eingesetzt. Wie soll man das andersnennen, wenn das Regime verhindert, dassWasser und Essen 250000 Menschen errei-chen? Natürlich benutzt auch die Opposi-tion Zivilisten als Schutzschilde. Aber dasRegime hat einen Staat, es hat eine Armeemit 300000 Soldaten und Flugzeuge. Alldas hat die Gegenseite nicht.SPIEGEL: Wer dominiert in Ihren Augen diebewaffnete Opposition?Brahimi: Sie ist sehr, sehr fragmentiert.Selbst die sogenannte Freie Syrische Ar-mee ist es, und alle sind sich einig, dassdie Dschihadisten von Isis nicht wirklichan Syrien interessiert sind. Sie wollen eineneue Ordnung in der Region schaffen. So-lange es keine Verhandlungen gibt, wirdes bei dieser Zersplitterung bleiben.SPIEGEL: Kann eine dieser Gruppen siegen?Brahimi: Nein, der Uno-Generalsekretärund ich sind uns einig, dass es keine mili-tärische Lösung gibt. Keine Seite kann ge-winnen.SPIEGEL: Welche Folgen hat dieser Konfliktfür Syriens Nachbarländer?Brahimi: Auf lange Sicht wird die ganze Region explodieren, wenn keine Lösunggefunden wird. Dieser Konflikt bleibt nichtauf Syrien beschränkt, er destabilisiert bereits den Libanon. Insbesondere auchwegen Isis ...SPIEGEL: ... der radikalsten und brutalstenGruppierung „Islamischer Staat im Irakund in Syrien“.Brahimi: Isis ist in Syrien und im Irak tätig.Jordanien hat schon jetzt große Mühestandzuhalten. Genauso die Türkei. In denvergangenen drei Monaten hat Isis 100 An-schläge in Syrien verübt und 1000 im Irak.SPIEGEL: Und was wird aus Syrien?Brahimi: Ein zweites Somalia. Es wird nichtzu einer Teilung kommen, wie viele voraus -sagen, es wird ein „failed state“, beherrschtvon Warlords.SPIEGEL: Was kann die internationale Ge-meinschaft jetzt noch tun, was können vorallem die Europäer tun?Brahimi: Ihre Regierungen wissen, wie ge-fährlich diese Krise ist.SPIEGEL: Angeblich sind 320 Kämpfer ausDeutschland bei Isis.Brahimi: Und 500 bis 600 Franzosen, etwagleich viele Briten und so weiter. TausendeNichtsyrer kämpfen dort. Meine Güte! AllIhre Landsleute, die sich in Syrien ausbildenlassen und glauben, dass sie auf der Weltein islamisches Reich errichten müssen. Dasist eine ziemlich große Bedrohung für Sie,nicht wahr? Interview: Susanne Koelbl

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Vermittler Brahimi

Verwundete nach Fassbombenabwurf in Aleppo

„Kriegsverbrechen werden jeden Tag begangen“

„Keiner kanngewinnen“Syrien Der jüngst zurück -getretene Uno-SondergesandteLakhdar Brahimi über seinen gescheiterten Versuch, denBürgerkrieg zu beenden

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Unter ihren Schutzhelmen tragen dieArbeiter auf den Baustellen vonKatar dünne helle Baumwollhau-

ben, gegen die Kälte am Morgen und dieHitze am Mittag. Die Hauben lassen nureinen schmalen Sehschlitz frei, sodass esaussieht, als würde die Stadt von Gespens -tern errichtet. Die Männer sollen den Golf-staat in ein glitzerndes Paradies verwan-deln, mit Hotels, Büros, Shoppingmallsund Fußballstadien. Und das Erste, wasdie Wüste ihnen raubt, ist das Gesicht.

Ganesh war einer der Geister. Mittler-weile ist er zurück bei seiner Familie imSüdosten Nepals, er konnte es kaum er-warten, Katar zu verlassen. Ganesh hat

sich geschworen, nie wieder einen Fuß aufden Wüstenboden zu setzen.

An diesem Abend im Frühjahr aber liegter erschöpft auf seinem Bett am Stadtrandvon Doha, nachdem er die Schicht auf derBaustelle beendet hat. Sein Zimmer ist viermal vier Meter groß, zehn Männer lebenhier. Die Luft ist stickig, der Ventilator funk-tioniert nicht, und das kleine Fenster überseinem Bett hat jemand mit Alufolie zuge-klebt. Draußen stampft ein Dieselgenerator.Ganesh ist 26 und ein fröhlicher, etwasschüchterner Mann mit pechschwarzemHaar, das ihm bis zur Schulter reicht. Er musssich Mühe geben, den Frust hinunterzuschlu-cken und die Müdigkeit zu verbergen.

Das Haus, in dem er lebt, ist ein grauerKlotz aus Beton; es steht dort, wo Dohain Wohnsilos, Busparkplätze und Fabrik-hallen ausfranst. Auf der Landkarte heißtdieser Ort nur „Industriegebiet“. Es ist dieHeimat der Gesichtslosen. Tausende vonihnen wohnen in dieser Gegend, das heißt:Sie schlafen und essen hier. In GaneshsHaus sind hundert Arbeiter auf drei Eta-gen untergebracht. Die funkelnden Hotelskönnen die Männer von hier nur erahnen.Sie leben am Rande eines Traums, den dieScheichs verwirklichen wollen.

Zu dem Traum gehört auch die Fußball-weltmeisterschaft, die Katar 2022 ausrich-ten will. Noch steht kein einziges der neu-

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Die Geister von DohaKatar Die Nepalesen Ganesh und Anil wollten mitverdienen am Traum von der Fußball-WM. Doch sie kamen an einen Ort, wo Arbeiter wie Sklaven behandelt werden. Von Christoph Scheuermann

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Ausland

en Stadien, im März haben die Vorarbeitenzu einer Austragungsstätte südlich vonDoha begonnen. Eine Weltmeisterschaftaber ist mehr als nur Sportstadien, manbraucht Hotels, Straßen, Brücken, Parks,Bahnhöfe für die Metro. Daran arbeitenMänner wie Ganesh; auch wenn die Orga-nisatoren gern betonen, diese Bauten hin-gen nicht unmittelbar mit der WM zusam-men. Das WM-Komitee in Katar will umjeden Preis den Eindruck vermeiden, dassder Fußball in der Wüste bereits Todes -opfer gefordert hat.

Allein in den Jahren 2012 und 2013 star-ben 964 Arbeiter aus Indien, Nepal undBangladesch, die katarische Regierung hatdas mittlerweile bestätigt. Einige der Män-ner kamen im Sommer um, in der Hitze,oder bei Arbeitsunfällen. Schon jetzt klebtBlut an der WM – und die Frage wird lau-ter, ob ein Fußballturnier es wert seinkann, dass Menschen dafür sterben.

Zu allem Überfluss wurden vergangeneWoche neue Hinweise auf Korruption rundum die WM-Vergabe öffentlich. So hat der

frühere katarische Fußballfunktionär Mo-hammed Bin Hammam angeblich Mitglie-der des Fifa-Exekutivkomitees bestochen.Insgesamt fünf Millionen Dollar soll er anafrikanische Fifa-Mitglieder verteilt haben,damit sie 2010 für Katar stimmten. Wieauch immer damals die absurde Entschei-dung für ein Turnier in der Wüste zustandekam – es sind Männer wie Ganesh, die un-ter den Folgen leiden.

In seinem Zimmer haben sich jetzt dreiDutzend Männer versammelt, alle barfuß,zwischen ihnen laufen Kakerlaken überden Boden. Die Arbeiter diskutieren, wa-rum die Räume immer noch überbelegt,die Toiletten dreckig und die Mahlzeitenspärlich sind. Hatte nicht Amnesty Inter-national bereits im November die men-schenunwürdige Situation von Gastarbei-tern in Katar beschrieben? Doch seitdemhat sich ihre Lage kaum verbessert. Esgebe im Haus nur drei kleine Waschräumefür die hundert Arbeiter, ruft einer derMänner. Der Nächste beschwert sich, dasshäufig Vertreter von Hilfsorganisationenkämen, um Interviews zu führen, dochnichts ändere sich. Ein Gerüstbauer ausdem Westen Nepals sagt, er arbeite seitMitte November hier und habe seinen ers-ten Lohn noch immer nicht bekommen.Die Männer werden lauter, bis Dipak, einälterer Vorarbeiter, einige seiner Kollegenhinausschickt. Ganesh sagt nichts mehr, esist ihm unangenehm, dass seine Kollegenlaut geworden sind.

Sie sind nervös, jeder fürchtet, dass derFluch der Wüste ihn als Nächstes trifft.Knapp die Hälfte der 1,4 Millionen Gast-arbeiter in Katar stammt aus Indien undPakistan, 16 Prozent sind aus Nepal, dieübrigen aus Iran, von den Philippinen, ausÄgypten und Sri Lanka.

Vor allem die Nepalesen schleppen sichin stummer Ergebenheit auf die Baustellen,selbst wenn ihr Körper schmerzt. „Manch-mal ist mir morgens so schwindlig, dassich nicht aufstehen kann“, sagt Ganesh lei-se, als würde er eine Schwäche eingeste-hen. Für jeden Tag, an dem er nicht arbei-tet, werden ihm fünf Prozent von seinemMonatsgehalt abgezogen. Er sagt, er seifreiwillig gekommen. Doch seine rechtli-che Stellung ist kaum besser als die einesSklaven.

Viele Bauunternehmen in Katar behan-deln ihre Arbeiter wie Leibeigene, dafürsind vor allem die Gesetze verantwortlich.Jeder Ausländer, der hier arbeiten will,muss einen katarischen Bürgen vorweisen,das sieht das sogenannte Kafala-Systemvor. Ohne die Erlaubnis des Bürgen darfman nicht den Job wechseln und nicht dasLand verlassen. Auch Gewerkschaftengründen dürfen die Arbeiter nicht.

Mitte Mai hatte die katarische Regierungeine Reform des Kafala-Systems angekün-digt; unter anderem sollen Ausreisevisa

einfacher zu bekommen sein und die Stra-fen für Firmen verschärft werden, die diePässe ihrer Arbeiter einbehalten. DochMenschenrechtler kritisierten die Reformals Augenwischerei. Amnesty Internatio-nal nannte sie eine „verpasste Chance“.

Dabei ist Katar reich, vor der Küste liegteines der größten Gasvorkommen, dasBruttoinlandsprodukt pro Kopf ist mit dashöchste der Welt. Eigentlich könnte dasLand seinen Arbeitern problemlos höhereLöhne zahlen. Der Bauboom vor der WMlockt aber auch viele ausländische Unter-nehmen an, aus Frankreich, Großbritan-nien, China, Deutschland, die ihren Profitungern mit Indern oder Nepalesen teilen.Für sechs Tage Arbeit pro Woche, acht biszehn Stunden pro Tag, bekommt Ganesham Monatsende etwa 300 Euro.

Seine Eltern und seine Schwester lebenin einem 150-Familien-Dorf im Morang-Distrikt, im Südosten Nepals. Sein Vaterbaut dort Reis und Gemüse für die Familiean, seine Schwester ist unverheiratet. AuchGaneshs Bruder arbeitet in Doha, als Hel-fer eines Camp-Aufsehers, und verdientdamit 180 Euro im Monat. Das Geld, dasdie Brüder über Western Union nach Ne-pal überweisen, ist das einzige Einkommender Familie.

Ganesh geht morgens mit der düsterenGewissheit eines Mannes auf die Baustelle,der weiß, dass ihm keine andere Wahlbleibt, als sich den Gesetzen der Scheichszu unterwerfen. Der Agentur in Nepal, dieihm die Stelle verschaffte, überwies erzwei Monatslöhne als Provision im Voraus.So hatte er bereits Schulden, bevor er inKatar aus dem Flugzeug stieg. Der Handelmit Billigarbeitern ist ein einträgliches Ge-schäft für Personalvermittler; das Zynischedaran ist, dass die Arbeiter für ihre eigeneAusbeutung bezahlen.

Trotzdem geht es Ganesh noch gut, inKatar leben größere Verlierer. Man findetsie in Holzbaracken, eine halbe Autostun-de von Ganeshs Zimmer entfernt. Sie sindmit Wellblech gedeckt und ducken sichzwischen Lagerhallen und Schrotthandlun-gen am Stadtrand von Doha. Die Straßentragen keine Namen, ein Sandweg führtzu den Hütten, die Luft schmeckt faul.Hier leben diejenigen, die der katarischeTraum ausgespuckt hat.

Drei Doppelstockbetten stehen in jederHütte, 60 Männer wohnen hier, sie sindaus Sri Lanka, Nepal, den Philippinen,Bangladesch und China; Maurer, Schwei-ßer, Trockenbauer. Bis Ende vorigen Jah-res waren sie Angestellte von Lee Trading& Contracting, einer Firma, die sich aufden Innenausbau von Bürotürmen spezia-lisiert hat. Inzwischen befindet sich dasUnternehmen in Auflösung. Der Chef, einMann aus Singapur, sitzt in Katar im Ge-fängnis, seine Angestellten warten seitdem Frühjahr 2013 auf ihren Lohn. Kaum

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Nepalesische Gastarbeiter in Doha

Schon jetzt klebt Blut an der WM

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jemand hat das Geld für den Rückflug. Siesind Gestrandete in Doha.

Einer der Männer heißt Ram Achal Ko-har, genannt Anil. Er ist 26 und in einemDorf in der Nähe der nepalesischen StadtSiddharthanagar aufgewachsen, südwest-lich von Katmandu. Anil trägt Dreiviertel-hosen, ein T-Shirt und Plastiksandalen,von Weitem könnte man ihn für einen Ur-lauber halten, der in ein Elendsviertel ge-stolpert ist. Vor zwei Jahren kam er hier-her, ein stets zu Scherzen aufgelegter Jun-ge. In Katar hat er das Lächeln verlernt.

Anil und Ganesh stammen beide ausNepal, sie sind gleich alt und besitzen nichtmehr, als in einen Koffer passt. Dennochgibt es Unterschiede: Anil hat keinen Jobund viel Zeit, Ganesh hat keine Zeit undeinen Job, der ihn zermürbt. Anil ist bitterund verzweifelt, Ganesh müde und er-schöpft. Anil wirkt älter und reifer, andersals Ganesh ist er verheiratet und hat zweiKinder. An diesem Sonntagmittag im Früh-jahr sitzt er auf seinem Bett und erzähltleise seine Geschichte.

Seine Firma, sagt Anil, hatte 2012 denAuftrag bekommen, den Innenausbau desBidda-Turms in Doha zu übernehmen. Alser das Gebäude zum ersten Mal betrat, be-fand es sich im Rohbau. Inzwischen habenin dieser funkelnden, kunstvoll verdrehtenSäule der katarische Schwimmverband,der Fußballverband und das Vorbereitungs-komitee für die WM 2022 ihre Büros.

Anil arbeitete als Elektriker. Er verlegteStromkabel, baute Deckenfluter ein und

installierte Dimmschalter. Der Auftrag -geber wünschte sich alles in Weiß: Tische,Stühle, Boden und Wände. Anil ist immernoch stolz auf seine Arbeit, auf seinemMobiltelefon hat er Fotos gespeichert. Rie-sige, schneeweiße Konferenztische sind zusehen, indirekt beleuchtete Seifenspender,heller Marmor. Die Räume nutzt jetzt an-geblich Scheich Dschassim Al Thani, einSohn des früheren Emirs von Katar. Anilkann sich dagegen nicht einmal das Rück-flugticket leisten. In seiner Baracke fälltregelmäßig der Strom aus.

Die ausstehenden Löhne für die Arbei-ter summieren sich auf rund 300000 Euro.Schon im September schickte ein Vertretervon Lee Trading & Contracting dem Auf-traggeber eine Mahnung. Doch bis jetztkam keine Antwort, die die Arbeiter zu-friedenstellt, erst recht kein Geld. Anilschuldet die Firma etwa 2200 Euro sowiedas Rückflugticket nach Katmandu. Erglaubt, dass er sein Geld nicht bekommenwird, wenn er Katar verlässt. Deshalbbleibt er. Bis vor Kurzem war er auf dieWohltätigkeit reicher Spender angewiesen,die ab und zu eine Kofferraumladung vollBrot, Kartoffeln, Fleisch und Gemüse zuden Baracken am Stadtrand fahren.

Zuletzt konnte Anil seiner Familie imOktober etwas Geld schicken, aber daswar nicht viel. Seine beiden Söhne sindfünf und sieben Jahre alt, sie leben mit sei-ner Frau Punam, seiner Mutter und seinerGroßmutter in einem Haus. „Sie mussteneinen Kredit aufnehmen“, sagt Anil. Es ist

ihm peinlich, dass er seine Familie nichternähren kann, auch wenn es nicht seineSchuld ist. Um ein paar zusätzliche Rialzu verdienen, hat er sich zwischendurchals Tagelöhner verdingt. Er schreinerteoder baute bei Privatleuten Haustüren ein,für 18 bis 20 Euro am Tag.

Ganeshs Arbeitstag beginnt im Wohn-heim morgens um halb vier. Nach demAufstehen wäscht er sich schnell unter demWasserhahn neben den Toiletten und trot-tet benommen zur Essensausgabe, die imErdgeschoss eines Nachbarhauses unterge-bracht ist. Zwei Köche stehen vor riesigenBottichen, Ganesh füllt eine Blechkannemit Suppe, Reis, Fleisch und Brot; es mussbis abends reichen.

Er und die anderen Männer aus der Stra-ße 33 im Industriegebiet sind für ihre FirmaArbeitsmaterial, wie Radlader oder Bagger,die man von einer Baustelle zur nächstenkarren kann, von einem Job zum anderen.Männer, die einen Vertrag als Fliesenlegerunterschrieben haben, schaufeln nun Lö-cher in die Wüste, Schreiner ziehen Wändehoch oder verlegen Teppiche. Kaum einerwehrt sich, weil niemand riskieren will,seinen Job zu verlieren. Ganesh stieg imFebruar 2012 in Doha als Elektriker ausdem Flugzeug, sein Chef wies ihn einerGerüstbauerkolonne zu.

Ganesh steht schon seit zwei Stundenauf der Baustelle, als Anil einen Saal inder sechsten Etage des Justizgebäudes inDoha betritt. Das Gericht ist nur wenigeMeter von dem Bidda-Turm entfernt, in

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Bustransfer zur Baustelle (1), Nepalesen Ganesh (2) und Anil (3), Universitätsneubau in Doha (4)

Das Zynische ist, dass die Arbeiter für ihre eigene Ausbeutung bezahlen

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dem Anil die Lampen installiert hat. Zu-sammen mit Kollegen ist er gegen Lee Tra-ding & Contracting vor Gericht gezogen,um das Geld einzuklagen. Die Entschei-dung fiel ihm nicht leicht, weil er eine Ge-bühr von 120 Euro dafür bezahlen musste,fast die Hälfte seines früheren Monatslohns.Alle paar Wochen hat Anil nun hier einenTermin. Jedes Mal, wenn er das Hochhausbetritt, hofft er auf ein Urteil, stattdessenhört er meistens den Satz: „Inschallah, duwirst dein Geld schon noch bekommen.“Inschallah, so Gott will. Anil hasst diesenSpruch. Er fragt sich, ob es für ScheichDschassim, der vermutlich die Büros nutzt,sehr schmerzhaft wäre, den Arbeitern die300000 Euro einfach zu überweisen.

Im Saal sitzen und stehen etwa 50 Män-ner in T-Shirts und mit Plastikschlappen,einige tragen ihre Unterlagen in Tüten mitsich. Anil ist zum siebten Mal hier, er hofft,dass er an diesem Tag sein Urteil erhält.Er sitzt links außen in der zweiten Reihe,er sieht den Richter oben auf dem Podium,kaum älter als Mitte dreißig, er sieht rechtsvorn einen dicken Mann, der Papierzettelvon den Arbeitern entgegennimmt, etwasUnverständliches murmelt, die Zettel un-terzeichnet und zurückgibt. Über keinender Fälle wird länger als eine Minute ver-handelt. Ein Saalpolizist schickt einen fle-henden Alten aus dem Raum.

Man könnte im Arbeitsgericht von Dohaeine moderne Version von Franz Kafkas„Prozess“ spielen lassen. Die meisten derMänner begreifen nicht, was geschieht,

weil sie kein Arabisch verstehen. Anildenkt an Punam und seine Söhne. SeineStimme wird brüchig, er sagt, er könnenicht schon wieder mit leeren Händen ge-hen. Vorn blickt der abgedankte EmirScheich Hamad Bin Chalifa Al Thani auseinem Bilderrahmen. Als Anils Name nacheiner Stunde aufgerufen wird, springt erauf und kehrt nach einer Minute mit einerUnterschrift zurück. Er solle sich am Mitt-woch in der 14. Etage einfinden, hat manihm gesagt. Vielleicht gebe es nächstes Malein Urteil, Inschallah.

Ganesh muss an diesem Tag an einer Brü-cke arbeiten. Sie steht in der Nähe von Lu-sail City, ein Puzzleteil in der neuen Infra-struktur Katars. In Lusail City, nördlich vonDoha, entsteht eine Retortenstadt mit künst-lichen Kanälen, Villen und Luxushotels, di-rekt am Meer. Ganesh trottet zur Baustelleund verschwindet in der Masse der Gespens-ter. Wenn ihn der Bus in der Dämmerungzurück zum Betonklotz am Stadtrand bringt,wird er bereits auf der Fahrt einschlafen.

Das Problem ist nicht, dass Katar keineArbeitsgesetze hätte, sie werden nur nichtentschieden genug kontrolliert und vonden Behörden durchgesetzt. Bis vor Kur-zem hatte das Arbeitsministerium lediglich150 Inspektoren zur Verfügung, die nur ei-nen kleinen Teil der Firmen kontrollierenkonnten. Die Zahl wurde zwar aufgestockt,doch gleichzeitig wachsen die Baustellen.Allein in den nächsten vier Jahren will Ka-tar über 151 Milliarden Euro in seine Infra-struktur investieren, dann wird es noch

schwerer, die Einhaltung der Arbeitsstan-dards zu überwachen. Sepp Blatter, derFifa-Präsident, nannte die WM-Vergabe anKatar vor Kurzem erstmals „einen Fehler“.

Die ganze Welt schaut jetzt auf das klei-ne Land. Und eine Winzigkeit hat sich im-merhin schon getan: In einigen Unterkünf-ten soll es künftig Gemeinschaftsräumemit Satellitenfernsehen geben, kostenlosesInternet und nicht mehr als vier Bettenpro Zimmer. Außerdem soll für jeden Ar-beiter ein eigenes Konto in Katar eröffnetwerden. Allerdings gelten diese neuen Re-geln nur für diejenigen, die auf den WM-Baustellen beschäftigt sind. Im Momentbetrifft das 200 Männer. Ein Großteil derübrigen Gastarbeiter in Katar wird weiteram Stadtrand in stickigen Zehnbettzim-mern schlafen müssen. Im Vergleich zu Ga-nesh und Anil werden die WM-Arbeiterbequem wohnen, wie Luxusmigranten.

Im Gegensatz zu Ganesh konnte Anildas Land nicht verlassen, weil er sich denRückflug noch immer nicht leisten kann.Er hat in Doha einen festen Job als Elek-triker gefunden, bei einer anderen Firma.Das Gehalt, das ihm sein alter Arbeitgeberschuldet, hat er nicht bekommen. Auchauf das Gerichtsurteil wartet er noch, abervielleicht wird es bald kommen, wer weiß.Inschallah.

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Barackensiedlung in Doha

„Inschallah, du wirst dein Geld schon noch bekommen“

Video: Das Leiden der

WM-Arbeiter

spiegel.de/app242014katar oder in der App DER SPIEGEL

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Kochen und Essen sind für Michael Björklund „ein StückKultur“. Und weil Kultur einer besonderen Fürsorge be-darf, hat der rundliche 39-jährige Küchenchef sein erstes

eigenes Restaurant „Smakbyn“ nicht in der Stadt, sondern anseinem Geburtsort eröffnet: auf der kleinen Åland-Insel Sundmit gut tausend Einwohnern mitten in der Ostsee zwischenSchweden und Finnland, wo Björklund jeden Bauern und Fischer persönlich kennt. Hier experimentiert er an seinemTraum von einer neuen nordischen Küche, die mehr ist als nurRäucherlachs, Trockenfisch und eingeleg-ter Hering; die im Einklang mit der Natursteht und auf lokale Produkte setzt.

Björklund hatte eine eigene Kochshowim Fernsehen, er hat unter anderem inFrankreich gelernt und wurde als „Kü-chenchef des Jahres“ in Finnland und inSchweden ausgezeichnet. Sein Restaurantist ein Geheimtipp für Feinschmecker, sei-ne Gäste nehmen eine lange Anreise aufsich, mit der Fähre zum Hafen von Ma-riehamn auf der Hauptinsel, dann 30 Mi-nuten Autofahrt mitten in die Schären-landschaft. Im Frühjahr kommen vor al-lem Schweden und Finnen, im SommerDeutsche und Italiener, und zu jeder Jah-reszeit neuerdings auch Russen.

Doch selbst bis hierher, bis auf dieseszerklüftete Eiland, das so abgelegen ist,dass die Einheimischen die benachbarteHauptinsel mit rund 25000 Einwohnern„Festland“ nennen, reicht die BrüsselerBürokratie. Ihr Ziel: Björklunds kleine De stillerie, die er gekauft hat, nachdemder Vorbesitzer gestorben war. Er wollteden „Geist des Schnapsbrennens lernen“,sagt Björklund, und „wie der Geist des Es-sens und der Geist des Schnapses zusammenkommen“. Er des-tilliert in seiner kleinen Schnapsbrennerei unter anderem vonHand einen hochwertigen Branntwein aus Äpfeln, genannt Ålvados, der „Geist von Åland“. Doch eines Tages muss sichein Franzose in den hohen Norden verirrt und den feinenBrand probiert haben. Und das ist nun Björklunds Problem.

Mitte 2012 erhielten das zuständige Ministerium in Helsinkiund später auch die Regionalregierung der teilautonomen In-selgruppe, die trotz schwedischer Geschichte und Sprache zuFinnland gehört, Post aus Frankreich. Die Erzeugergemein-schaft des berühmten Calvados aus der Normandie moniertedie „missbräuchliche Nutzung des Namens Calvados“ unddrohte den Åländern mit Konsequenzen.

Björklund glaubte zunächst an einen Witz. Gerade mal 450bis 600 Liter produziert seine Destillerie im Jahr, die Konkur-renz in der Normandie stellt ein Vielfaches her. Rund 1,5 Mil-lionen Flaschen Calvados, ein Viertel des Gesamtexports, gehenjährlich allein nach Deutschland. Wo also ist das Problem?

Das Lachen verging ihm, als sich Brüssel einschaltete undseine Beamten auf „Maßnahmen zur Verhinderung des Miss-brauchs“ drängten. Das Ministerium in Helsinki und die Re-gionalverwaltung hielten dagegen: Ålvados sei ausschließlichein „lokaltypisches Produkt“. Durch den Namen, bei dem derAnfangsbuchstabe „Å“ wie im englischen „ball“ oder „small“ausgesprochen wird, sei der Brand „deutlich an finnisches Ge-biet gekoppelt“. Der Schnaps werde nicht exportiert und nichteinmal in finnischen Geschäften ausgestellt, schrieb das Minis-terium, weil Werbung für Getränke mit mehr als 22 ProzentAlkohol gesetzlich verboten sei.

Aber die Europäische Union ließ sich von den Finnen nichterweichen. In Brüssel hatte sich längst ein „Komitee für alko-holische Getränke“ mit der Causa Calvados befasst und damitden amtlichen Nachweis geliefert, dass es auch für Schnapseine EU-Expertenkommission gibt. Die Hüter des europäischenGedankens kamen zu der Erkenntnis, dass beide konkur -rierende Produkte „gleichartig sind, das heißt ein alkoholischesGetränk, hergestellt aus Cider“. Und dass im Namen „zweiSilben gleich sind“, Verwechslung nicht ausgeschlossen. Die finnischen Behörden wurden aufgefordert, den „unbefug-

ten Nutzen“ durch den Namen zu unterbinden. Björklundmusste alle Flaschen mit der Aufschrift „Ålvados“ aus demVerkehr ziehen.

Der finnische Koch versteht nun die europäische Welt nichtmehr, er findet das alles „ein bisschen verrückt“. Aber wassollten sie machen, sagt seine Frau Jenny, „so viele Anwälte,wie die in Brüssel beschäftigen können“.

Seit drei Monaten steht der „Ålvados“ nun als „Apelbrand“neben dem Calvados in den Regalen der zollfreien Einkaufs-shops auf den Fähren. Eine Verwechslung ist nicht mehr mög-lich. Schon deshalb, weil die Qualität des Apelbrands viel bes-ser sei, wie Björklund sagt: „Bei uns schmeckt man den Apfelund nicht den Sprit.“ Manfred Ertel

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Ausland

Der Brand von ÅlandGlobal Village Warum ein finnischer Koch

und Schnapsbrenner

seinen Ålvados an die EU verlor

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Koch Björklund: „Missbräuchliche Nutzung des Namens Calvados“

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Sportpolitik

„Sinnvoll und nachhaltig“

Andrea Gotz-

mann, 56, Vorsit-

zende der Anti-

Doping-Agentur

Nada, über feh-

lende Mittel im Kampf gegen

den Betrug

SPIEGEL: Sie fordern eine Er-höhung Ihres Jahresetats von 7,7 auf 10 Millionen Euro.Warum?

Gotzmann: Ab 2015 gilt derneue Code der Welt-Anti-Doping-Agentur. Er siehtvor, dass die Nada künftigsämtliche Wettkampfkontrol-len übernimmt. Bislang wur-den 75 Prozent der Tests vonden Sportverbänden ge-macht. Für die Mehrbelas-tung müssen wir Mitarbeitereinstellen, das kostet Geld. SPIEGEL: Der Bund gibt fürdas Dopingkontrollsystemrund eine Million Euro jähr-lich aus. Erwarten Sie mehrvon der Politik?

Gotzmann: Die Nada-Finan-zierung steht im Koalitions-vertrag, das ist ein Anfang.Allerdings bekommen wirvon den Bundesländern insgesamt nur 78000 Euro,das ist gerade mal ein Prozent unseres Budgets.Hamburg und Berlin überle-gen, sich für OlympischeSpiele zu bewerben, andereLänder machen sich für einAnti- Doping-Gesetz stark.Dann sollten sie aber auchdie Nada besser unter -stützen.

SPIEGEL: Die Bundesregierunggibt 2014 rund vier MillionenEuro für Sport-Entwicklungs-hilfe aus, damit wird Frauen-fußball in Afghanistan oderder Bau von Bolzplätzen in Südafrika unterstützt. Wun-dern Sie sich manchmal überdie Prioritäten der Politik?Gotzmann: Es ist Sache desGeldgebers, darüber zu ent-scheiden. Die Politiker machen sich sicherlich Ge-danken, wie Geld sinnvollund nachhaltig ausgegebenwerden kann.

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WM

Bündnis für RandaleVerbrecherbanden wollen offenbar gemeinsam mitden gefürchteten Anarchisten der „Schwarzen Blö-cke“ während der Fußball-WM in Brasilien Randalemachen. Die Zeitung O Estado de S. Paulo berichtet,dass inhaftierte Mitglieder der Schwarzen Blöcke inSão Paulo Kontakt zu der Verbrecherorganisation Pri-meiro Comando da Capital (PCC) aufgenommen haben. Beide Gruppen planen demnach gewaltsame Aktionen während der Demonstrationen gegen dieWeltmeisterschaft. Das PCC beherrscht den Drogen-handel in der größten brasilianischen Stadt, außer-dem sind die Gangster für viele Überfälle auf Geld-transporter und Banken verantwortlich. Die Gang ent-stand als Gefangenenhilfsorganisation, sie kontrolliert

die meisten Gefängnisse im Bundesstaat São Paulo,ihre Chefs steuern die Aktionen der Gruppe aus ihrenZellen. Im Jahr 2006 legte das PCC die 20-Millionen-Metropole mit einer Reihe von Attentaten auf Polizis-ten und Omnibusse mehrere Tage lang lahm. DieGangster wollten so die Verlegung ihres AnführersMarcola in ein anderes Gefängnis verhindern. Vertre-ter der Schwarzen Blöcke suchen der Zeitung zufolgebei Mitgliedern des PCC Rat, wie sie die Stadt wäh-rend der WM ins Chaos stürzen können. Die Gangs-ter hätten sie im Gefängnis äußerst freundlich emp-fangen, bekannte ein Demo-Veteran in O Estado

de S. Paulo. Präsidentin Dilma Rousseff hat jetzt zu-sätzlich zu den rund 100000 Polizisten auch das Militär zum Schutz der WM beordert. Allein in São Paulo, wo am 12. Juni die WM eröffnet wird, sollen4500 Soldaten zum Einsatz kommen. jgl

Ausschreitungen in Salvador da Bahia

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SPIEGEL: Herr Löw, sind Sie auf Facebook?Löw: Nein.SPIEGEL: Twitter?Löw: Nein! Noch schlimmer. Ich meide das.SPIEGEL: Auf diesen Kanälen verbreitensich fieberhaft Nachrichten, richtige undfalsche. In der WM-Vorbereitung der deut-schen Mannschaft galt da schnell mal einerals schwer verletzt, wenn er im Traininghingefallen war. Was tun Sie dagegen?Löw: Ich habe das mitbekommen. In diesenMedien fehlt halt die Recherche. UnsereSpieler werden von uns vorbereitet, waspassieren kann. Sie sollen sich auch genauüberlegen, was sie in ihren Account stellen.Unsere Kabine, unser Mannschaftshotel,das sind geschützte Räume. Man muss auf-passen, was herausgeht.SPIEGEL: Es hieß in den Medien auch schon,Deutschland werde nicht Weltmeister, weilSie als Wiederholungsraser den Führer-schein abgeben mussten.Löw: Klar.SPIEGEL: Das wurde schließlich im selbenSüdtiroler Trainingslager öffentlich, indem auch bekannt geworden war, dass der Spieler Kevin Großkreutz in eine BerlinerHotellobby gepinkelt hatte. Einem Trai-ningslager, in dem dann bei einer PR- Aktion auch noch ein schlimmer Auto -unfall passierte. Können sich Ihre Spieler

Das Gespräch führten die Redakteure Jörg Kramer undAlexander Osang.

so überhaupt noch auf Fußball konzen-trieren?Löw: Der Unfall, bei dem zwei Menschenverletzt wurden, hat uns alle betroffen ge-macht. Darüber wurde im Quartier gespro-chen, sicherlich. Die anderen Dinge warenbei uns kein Thema.SPIEGEL: Bei der verunglückten PR-Aktionwaren Rennfahrer von Mercedes, demHauptsponsor der Nationalmannschaftund des DFB, im Teamquartier zu Gast.Gehen Ihnen die Sponsorentermine beiTrainingslagern auf die Nerven?Löw: Wir sind alle Profi genug, um zu wis-sen, dass sie dazugehören. Natürlich hätteich als Trainer die Mannschaft in einer sol-chen Phase vor einem Turnier amliebsten zu hundert Prozent. Ichweiß aber, dass es nicht möglich ist. SPIEGEL: In Südtirol wurde öffent-lich über Ihren Fahrstil moralisiert.Wie gefiel Ihnen das? Löw: Es war natürlich ein großerFehler von mir. Wenn jemandmeint, es sei moralisch verwerflich:gut. Ich bin zu schnell gefahren. Ich binnicht unter Alkoholeinfluss gefahren. Ichbin nicht in einen Unfall verwickelt gewe-sen. Ich fahre manchmal von Fußballspie-len nachts heim, die Autobahn ist dann frei.Ich bin keiner, der andere gefährden will.Ich will keine Entschuldigung suchen. Esist passiert. Und ich lerne meine Lektion.Ich fahre gern mal Bahn. Und ich werde

meinen Führerschein wiederbekommen,dann werde ich mich an die Regeln halten.SPIEGEL: Es wurden schon Vergleiche an -gestellt, wer das schlechtere Vorbild sei,größere Schuld auf sich geladen habe, Sieoder Großkreutz. Oder der SteuersünderUli Hoeneß. Auch nicht schön. Löw: Was Kevin Großkreutz anbetrifft: Wirwussten, dass der Spieler von seinem Ver-ein, von Borussia Dortmund, bestraft wird.Ich habe mit Kevin über seine BerlinerNacht gesprochen. Vom Schluss wusste ernichts mehr. Ich habe ihm gesagt, wir sindjetzt hier bei der Nationalmannschaft, dadürfen solche Dinge nicht vorkommen.Wir bereiten uns auf ein Turnier vor. Er

hat sich noch einmal entschuldigt,dann gab es die Gelbe Karte. Da-mit war für uns der Vorfall vorbei.SPIEGEL: Der österreichische Ski-held Hermann Maier hat IhreMannschaft im Quartier besucht.Was hat er erzählt?Löw: Es war kein Referat, mehr einGespräch. Er hat seine Karriere be-

schrieben, seinen Weg. Es war informativund lehrreich, mit Botschaften.SPIEGEL: Welchen Botschaften?Löw: Eine war, dass Hermann Maier nur inwenigen Momenten seiner erfolgreichenKarriere das Gefühl hatte, sich in einemoptimalen Zustand zu befinden. Meistenshat er irgendwo ein Defizit gespürt. Oderwenig Energie. Für ihn war es eine Heraus-

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Der tiefe PunktSPIEGEL-Gespräch Bundestrainer Joachim Löw, 54, über Störfeuer in der WM-Vorbereitung,die angemessene Spielart in Brasilien und seinen Schlüssel zum Erfolg

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forderung, unter eher schlechten Voraus-setzungen optimale Leistungen abzurufen.SPIEGEL: Wir ahnen die Lehre: Auch schwie-rige Klimabedingungen, diverse Wehweh-chen können zu einem guten Ende führen.Löw: Die zweite Botschaft war: HermannMaier hatte Leute, die für ihn Tag undNacht arbeiteten, zum Beispiel sorgten siedafür, dass am frühen Morgen seine Ski inperfektem Zustand waren. Dann seinePhysiotherapeuten und, und, und. DiesenLeuten gegenüber hat er sich verantwort-lich gefühlt. Er sagt, sie alle hätten immereine Vorleistung gebracht.SPIEGEL: Und das lässt sich auf Ihr WM-Team übertragen? Löw: Natürlich. Wir haben einen großenStab. Unsere Mediziner und Physiothera-peuten etwa arbeiten rund um die Uhr mitden Spielern.SPIEGEL: Hermann Maier schaffte nach ei-nem schweren Motorradunfall ein sensatio-nelles Skicomeback. Hat er davon erzählt?Löw: Das war auch ein Thema.SPIEGEL: Sie hätten auch Ihren Mittelfeld-spieler Sami Khedira einen Vortrag haltenlassen können. Er schaffte in Rekordzeitnach einem Kreuzbandriss die Rückkehrins Team von Real Madrid. Ist er, der erstwieder langsam in Form kommen muss,vor allem als Ansporn und Leitbild in Ih-rem Spielerkreis?Löw: Es gibt Spieler, die einen Mehrwertfür uns haben, auch wenn sie körperlichnicht zu hundert Prozent fit sind. Sami hatQualitäten als Leader. Deshalb ist er fürdiese WM gesetzt, nachdem ich gesehenhabe, dass er es gesundheitlich zurück aufden Platz schafft. Fitness ist wahnsinnigwichtig in Brasilien, aber auch Charisma,Erfahrung und Selbstbewusstsein sind Attribute, die bei einem internationalenGroßereignis zählen. Die besitzt Sami.Sein ungeheurer Wille war bei uns immerfestzustellen, nicht erst nach seiner Verlet-

zung. Seine Widerstandsfähigkeit. Er kannjungen Spielern den Rücken freihalten. SPIEGEL: Viele Trainer setzen neuerdingseher auf kleinere, wendige Spieler – auchim Mittelfeld. Wie Philipp Lahm, ToniKroos. Oder Luka Modrić bei Real Madrid.Löw: Wenn kleine, wendige Spieler den Un-terschied ausmachen können, dann vor al-lem im vorderen Bereich. Viele Defensiv-reihen sind mittlerweile wie ein Bollwerkzusammengestellt, mit großen, körperlichstarken Spielern. Um dieses Bollwerk zudurchbrechen, ist es gut, wenn man kleine,flexible, wendige Spieler hat, mit besonde-ren technischen Fähigkeiten, gutem Orien-tierungsvermögen auf dem Platz, gutemReaktionsvermögen. Bei Mario Götze, Mar-co Reus, André Schürrle, Mesut Özil sinddiese Fähigkeiten nun mal stärker ausge-prägt als bei 1,90-Meter-Hünen.SPIEGEL: Und im Mittelfeld?Löw: Ich möchte im Zentrum nicht den Ab-räumer, der nur defensive Aufgaben erfülltund sonst nicht am Spiel teilnimmt. Ichmöchte variable Spieler, die mal die Posi-tionen tauschen können, auch mal mit indie Spitze gehen, die ballsicher sind, hand-lungsschnell. Sami Khedira ist auch im Of-fensivbereich ein technisch hochbegabterSpieler, mit seiner Dynamik. Und in derBalleroberung ist er ebenfalls gut.SPIEGEL: Sie wollen zur WM die Zweikämp-fe schulen. Ist das die Rückkehr zu dendeutschen Tugenden, nach dem ehrwürdi-gen Motto: Wer die meisten Zweikämpfegewinnt, gewinnt das Spiel?Löw: Die Statistik spricht da eine andereSprache. Nein. Aber am Anfang von allemsteht doch die Balleroberung. Das ist heut-zutage eine andere Art von Zweikampf. Esist nicht mehr nur gefragt, das Spiel desGegners zu unterbinden oder zu zerstören.Wir wollen den Ball erobern. Und dannschnell auf Angriff umschalten, weil derGegner in diesen Situationen häufig nicht

organisiert ist. Ballgewinn und schnellesUmschaltspiel, das ist der Schlüssel. Dennviele Mannschaften sind sehr schwer aus-zuspielen, wenn sie erst mal organisiert sind.SPIEGEL: Sie planen Überfälle?Löw: Nach dem Ballgewinn möglichst dentiefen Punkt anspielen und schnell zumTorabschluss kommen, das dürfte ein Mit-tel sein, um Erfolg zu haben. SPIEGEL: Tiefer Punkt?Löw: Der tiefste Punkt ist der Spieler, derdem gegnerischen Tor am nächsten steht.Es geht darum, im ersten Moment den of-fensiven Gedanken zu haben. Das zu ver-innerlichen. Ich will nicht den Ball gewin-nen und dreimal quer spielen oder einmalzurück. Dann ist die Chance vorbei.SPIEGEL: Ist das dauernde schnelle Umschal-ten angemessen bei der Witterung in Bra-silien?Löw: Wir wollen natürlich auch variieren.Man erwischt nicht immer sofort den rich-tigen Moment, um eine Offensivaktion zustarten. Natürlich sind die Temperaturen inBrasilien in manchen Regionen nicht gerademild. Damit müssen wir uns beschäftigen.Welche Luftfeuchtigkeit haben wir in denSpielorten? Unsere Spieler wissen noch garnicht, wie sich das im Spiel auswirkt.SPIEGEL: Nämlich wie?Löw: Es wird wahrscheinlich nicht möglichsein, 90 Minuten lang ständig zu attackie-ren, Pressing zu spielen. Wenn das Pres-sing nicht klappt und man ausgespielt wird,dann hat man unendlich lange Wege zu-rückzulaufen. SPIEGEL: Sie waren als Beobachter vor Ort.Wie sind Ihre Erfahrungen?Löw: Vergangenes Jahr beim Confed Cupwar ich in Recife. Von São Paulo über Sal-vador dorthin geflogen. Beim Ausstieg kameinem eine Wand entgegen. Bei 30 Gradeine unglaublich hohe Luftfeuchtigkeit. Ichhabe die Spiele gesehen. Cesare Prandelli,Italiens Trainer, sagt, in der Halbzeitpause

105DER SPIEGEL 24 / 2014

Trainer Löw, deutsche Nationalspieler

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hätten einmal acht seiner Spieler ausge-wechselt werden wollen. Nur raus. Nichtmehr weiterspielen. Sie waren mit ihrerkörperlichen Leistungsfähigkeit am Ende. SPIEGEL: Was folgt daraus?Löw: Ballbesitzspiel kann ja gut sein, inmanchen Phasen, für eine ballsichereMannschaft. Aber wenn du gegen eine gutorganisierte, gut stehende Mannschaftspielst, musst du vorn im letzten Dritteldes Spielfelds auch extrem viele Wege ge-hen, häufig umsonst, mit hoher Intensität,um eine Torchance herauszuspielen. Nurmit Quergeschiebe gibt es keine Chancegegen solche Mannschaften. Also mussman wohl den Gegner auch mal rauslo-cken. Daran arbeiten wir. Wieder.SPIEGEL: Warum wieder?Löw: Zuletzt war uns das, was uns 2010 aus-gezeichnet hatte, immer mehr verloren gegangen. Gutes Umschalten mit dem Ziel,in wenigen Sekunden im gegnerischenStrafraum zu sein. Das haben wir in denletzten Monaten nicht mehr so geschafft.SPIEGEL: Das war wohl der Einfluss der Bay-ern-Spieler, die in München in Pep Guar-diolas Spielart geschult werden?Löw: Die haben übers gesamte Spiel gese-hen eine andere Idee: viel, viel Ballbesitz.SPIEGEL: Ist das falsch?Löw: Es hängt von der Qualität der Gegnerab. Ich weiß nicht, ob 80 Prozent Ballbesitzgegen Portugal, Chile, Brasilien zum gro-ßen Erfolg führen. Oder gegen Argenti-nien, mit Abwehrspielern dieser Klasseund Organisation. Diese Mannschaften ha-ben eine andere Qualität als einige Teamsaus der Bundesliga. SPIEGEL: Ist von Khediras Einsatzfähigkeitabhängig, auf welcher Position KapitänPhilipp Lahm spielt?Löw: Nicht nur von Khedira. Von der Ge-samtkonstellation.SPIEGEL: Wenn Lahm im Mittelfeld ge-braucht wird, ist dann dessen MünchnerTeamkamerad Jérôme Boateng eine Op -tion für die Rolle des rechten Verteidigers?Löw: Er kann eine sein. SPIEGEL: Sie sagten, die Spieler sollten sichauf ihrer Position wohlfühlen. Boatengwürde sich bestimmt nicht freuen, seinenPlatz in der Innenverteidigung verlassenzu müssen.Löw: Ich kann Ihnen garantieren, dass erdiese Aufgabe annehmen würde, und zwarmit höchster Konzentration. Und er würdees gut machen. Ich kann Ihnen sagen, warum: Bei einer WM wird nämlich jederSpieler die Entscheidungen des Trainersakzeptieren, wenn er auf dem Platz steht.SPIEGEL: Herr Löw, wir danken Ihnen fürdieses Gespräch.

lich in Europa anzuheuern. In der Akade-mie von Traffic Sports werden 80 Kickerausgebildet. Die Firma spekuliert mit ih-rem Talent. Die jungen Fußballer habenzweimal am Tag Training und am Abendfünf Stunden Schulunterricht. Vier Millio-nen Euro steckt Traffic Sports pro Jahr indie Ausbildungsstätte. Im Schnitt schaffenjedes Jahr sieben Spieler den Sprung inden Profifußball.

„Ein normales Geschäft“, sagt Lösch.Eduardo de Nascimento, 17, Außenver-

teidiger, wohnt seit vier Jahren in der Aka-demie. Seine Knie und Schienbeine sindvoller Narben. „Aber das Fußballgeschäftist eben sehr hart. Es geht ja auch um vielGeld“, sagt er. „Ich gucke nicht nach hintenund nicht nach vorn. Nur heute ist wichtig.“

Aus der Kantine weht der Geruch vonBolognese herüber. Vor dem Eingang inden Speisesaal müssen alle Handys abge-geben werden, am Buffet herrscht großesGedränge. Nudeln, Salat, Würstchen sta-peln sich auf den Tellern der Sportler. DieAusbildung zielt darauf ab, die Talente sogut wie möglich auf Europa vorzubereiten.In der Kantine gibt es einmal in der WocheKartoffeln. Die Mannschaften der Akade-mie nehmen auch an Nachwuchsturnierenin Europa teil, gern im Winter, damit dieSpieler Kälte und Schnee kennenlernen.

Eduardos Zukunft wird sich in den kom-menden Monaten entscheiden. Wenn biszu seinem 18. Geburtstag kein Angebot ausEuropa oder wenigstens von einem brasi-lianischen Topklub für ihn vorliegt, musser die Akademie verlassen. So sind die Re-geln. Ein neuer Kandidat rückt nach. Edu-ardo kennt diesen Druck. Alle drei Monatewerden die Spieler von den Trainern be-wertet. Wem die große Profikarriere nichtzugetraut wird, der muss sofort ausziehen.

„Ich musste mich schon von vielenFreunden trennen“, sagt Eduardo.

Jochen Löschs Handy klingelt, es er-schallt die berühmte Melodie aus dem Film

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Jochen Lösch ist ein Menschenhändler.Der Jurist aus Deutschland betreibteine Fußballakademie in Porto Feliz,

knapp zwei Autostunden von São Pauloentfernt. Fünf Fußballfelder, drum herumWohnanlagen, Schulungs- und Verwal-tungsräume. Kinder und Jugendliche ausganz Brasilien trainieren hier, sie alle träu-men davon, Fußballprofi zu werden. Löschhat sich die Transferrechte an den Talentengesichert. Bei der Fifa, dem Weltfußball-verband, nennen sie ihn einen „modernenSklavenhalter“, einen „Ausbeuter“.

Er zuckt nur mit den Schultern.Lösch, 49, groß gewachsen, Glatze, steht

neben einem der Spielfelder der Akade-mie. Die Temperatur liegt bei 30 Grad,sein weißes Hemd hat Schweißflecken.Das Training wird unterbrochen, Trink-pause. Die Spieler balgen sich am Wasser-spender, die Trainer warten, bis jeder ge-nug getrunken hat.

„Ganz ehrlich, hier wäre ich auch sehrgern Sklave“, sagt Lösch.

Die Academia de Futebol gehört der Fir-ma Traffic Sports, Lösch ist einer von zweiGeschäftsführern. Das Unternehmen ver-dient Millionen mit dem Handel von Fuß-ball-TV-Rechten und mit Spielertransfers.Etwa tausend brasilianische Talente ver-lassen jährlich ihre Heimat, um vornehm-

Kartoffelnund SchneeTransfermarkt Jochen Lösch handelt in São Paulo mit brasilianischen Talenten. Kritikerwerfen dem Manager ausDeutschland Ausbeutung vor.

Fußballer der Academia de Futebol in Porto Feliz

Video: Die Karriere von

Joachim Löw

spiegel.de/app242014loew oder in der App DER SPIEGEL

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Sport

„Spiel mir das Lied vom Tod“. Der Mana-ger steht auf dem Balkon seines Apart-ments in einer bewachten Wohnanlage.Fünfter Stock, Blick auf die Skyline vonSão Paulo, im Wohnzimmer steht ein auf-blasbares Tor. Lösch stammt aus Worms,studierte Jura in Hamburg und stieg 2007bei Traffic Sports ein. Er ist verheiratet miteiner Brasilianerin, sie haben zwei Söhne.

Vor einigen Tagen lief in der ARD derDokumentarfilm „Mata Mata“, für denjunge brasilianische Fußballer über dreiJahre mit der Kamera begleitet wurden.Geschildert wird auch der Fall des 17-jäh-rigen Außenverteidigers Carlinhos, denTraffic Sports fast fünf Jahre lang aufbauteund anschließend zu Bayer Leverkusentransferierte. Carlinhos schaffte es bei demBundesligisten nur zum Ersatzspieler undwurde an Zweitligist Jahn Regensburg aus-geliehen. Dort kam er mit dem polnischenTrainer nicht klar und kehrte frustriertnach Brasilien zurück.

Carlinhos wird in „Mata Mata“ als Opfervon Traffic Sports dargestellt. Lösch winktab. „Bürgerliches Gutmenschentum“, sagter und zeigt ein paar Handyfotos. Zu sehenist das frühere Zuhause von Carlinhos Fa-milie. Eine Zwei-Zimmer-Bretterbude ineiner Favela in São Paulo. Lösch zeigt Car-linhos’ Schlafplatz, eine Luftmatratze inder Küche. Löschs Finger sausen jetzt überdas Telefon. Er zeigt weitere Fotos. Dasneue Haus, in dem Carlinhos’ Familie jetztwohnt. Vier Schlafzimmer, zwei TV-Flat -screens, eine große, teure Küche.

„Das hat ein Jahr Deutschland dem Jun-gen gebracht. In der Zeit ist einer seinerFreunde in der Favela erschossen worden,ein anderer ist an einer Überdosis gestor-ben. Wo wäre Carlinhos jetzt, wenn er unsnicht kennengelernt hätte?“

Lösch kommt aus einer linksalternativenFamilie. Seine Mutter war Übersetzerin,sein Vater Grundschullehrer, sein BruderVolker ist ein angesehener Theaterregis-seur. „Wenn ich nach Deutschland komme,werde ich immer ,Kapitalist‘ genannt“, er-zählt Lösch.

Er glaubt, dass Geld für vieles entschä-digt. Für Anstrengungen, für Schmerzen,für Heimweh. Die meisten Spieler derAkademie kennt er nicht persönlich. DieTrainer kümmern sich um seine kickendenInvestments. Nur jene, die reif sind für ei-nen Profivertrag oder bereits ein Angebothaben, werden dem Investor vorgestellt.Lösch ärgern Spielertypen wie Carlinhos,die in schweren Zeiten gleich losjammern,statt sich durchzubeißen. „Profifußball ist brutal. Nur die Allerbesten kommendurch“, sagt Lösch.

Die Stadt ist erfüllt vom abendlichenLärm des Berufsverkehrs. Am Himmelknattern Dutzende Hubschrauber. VieleGeschäftsleute in São Paulo fliegen zu Ter-minen, um dem chaotischen Verkehr zu

entgehen. Auch Lösch wird oft mit demHubschrauber abgeholt. Er gehört zu dengroßen Playern der Stadt. Im Fußball inBrasilien steckt viel Geld, man muss es nureinsammeln.

Gleich um die Ecke von Löschs Woh-nung gibt es eine Skybar. Viele junge Frau-en in kurzem Kleidchen und Männer mitleichtem Bauchansatz stehen vor dem Ein-gang in der Schlange. Lösch geht an allenvorbei, er ist Stammgast.

Vor einiger Zeit hat er hier mit OliverKreuzer und Joachim Hilke gefeiert. Diebeiden Funktionäre des Hamburger SV wa-ren zu Besuch in São Paulo, um sich dieAkademie anzuschauen. Auch DietmarBeiersdorfer, Sportdirektor bei Zenit SanktPetersburg und jetzt als neuer Vorstands-chef beim HSV im Gespräch, besucht Löschregelmäßig. Genauso wie Michael Reschke,der neue Technische Direktor vonBayern München. Sie alle wollenLöschs Ware – Talente mit dem Gü-tesiegel Made in Brasil.

Lösch bestellt Caipiroschka, dasLimetten-Erdbeer-Wodka-Gemischkommt mit viel Eis. Er trinkt durcheinen Strohhalm. Lösch erzählt,dass er immer davon geträumthabe, einen Fußballverein zu leiten. Erglaubt aber, dass sich dieser Traum nichterfüllen werde, weil er selbst nie profes-sionell Fußball gespielt habe. Dass er, derMann ohne Balltalent, nun wenigstens mitPräsidenten, Sportdirektoren und Beraternüber die Perspektiven von Nachwuchsfuß-ballern fachsimpelt, gefällt ihm.

Am darauffolgenden Morgen hat Löscheinen Termin bei Carlos Maluf, dem Chef -einkäufer des Sportsenders ESPN Brasil.Es geht um Fernsehrechte für den ameri-kanischen Markt. Die Männer umarmensich zur Begrüßung. Das Geschäft istschnell gemacht, man kennt sich. Über ei-nem Tisch in Malufs Büro hängen sechsFlachbildschirme. Auf allen ist Luiz FelipeScolari zu sehen, der Trainer der brasilia-nischen Nationalmannschaft, der geradeden Kader für die WM bekannt gibt. Esfallen die Namen Henrique und Hernanes.

Lösch blickt auf. Die beiden Spieler ge-hörten einst Traffic Sports. Bei ihrenTransfers zu Lazio Rom und dem FC Bar-celona ließ Lösch sich die komplettenRechte abkaufen. Wohl zu früh. Denn eineTeilnahme an der WM wird ihren Markt-wert noch mal in die Höhe treiben.

Zum Spekulieren gehört auch das Ver-zocken.

Derzeit haben die Investoren von TrafficSports knapp 20 Fußballer in Europa lau-fen, darunter Stars wie Dodô (AS Rom),Carlos Eduardo (FC Porto) oder RafaelMarques (Hellas Verona). Der Firma ge-hört auch der portugiesische Erstligist GDEstoril Praia, der vorige Saison in derEuropa League spielte. Der Klub dient alsUmschlagplatz. Spieler aus der Akademiein Porto Feliz, die für den europäischenMarkt infrage kommen, werden hier zwi-

schengeparkt, um sich zu akklima-tisieren und sich für die lukrativenLigen in England, Spanien, Italienund Deutschland anzubieten.

Bruno Nascimento hat die kom-plette Verwertungskette von Traf-fic Sports durchlaufen. Der athle-tische Verteidiger sitzt im Vereins-heim des 1. FC Köln. Nascimento

stammt aus einem Armenviertel in Santos,fünf Jahre war er in der Akademie vonTraffic Sports. „Es war die härteste Zeitmeines Lebens“, sagt er. Der Druck, esnicht zu schaffen. Die Sorge, die Hoffnun-gen der Eltern zu enttäuschen. „In meinenersten Wochen habe ich viel geweint“, sagtNascimento. Er hielt durch. Die Investorenschickten ihn zu GD Estoril Praia. Bereitsnach seiner zweiten Saison in Portugal be-kam er ein Angebot des 1. FC Köln. In-zwischen hat Nascimento einen Vierjah-resvertrag bei den Rheinländern unter-zeichnet. Er schaffte mit dem Team denAufstieg in die Bundesliga.

„Ich habe mein Ziel erreicht“, sagt Nas-cimento. Er hat jetzt auch einen eigenenBerater. Wer sonst noch an ihm verdient,weiß er nicht. „Der 1. FC Köln hält alleRechte an mir“, glaubt Nascimento.

In São Paulo sitzt Jochen Lösch an sei-nem Schreibtisch, er überlegt, dreht sichzu seinem Rechner um. Auf dem Bild-schirm erscheint ein Dokument: 50 Pro-zent aller Transferrechte an Bruno Nasci-mento gehören bis 2017 Traffic Sports.

Es sei schwer zu sagen, wie viel Gelddie Firma bislang in den Verteidiger ge-steckt habe, sagt Lösch, 50000 Euro, viel-leicht viel mehr. Die ganz große Renditehabe die Investition jedenfalls noch nichtgebracht. Aber schon mit dem nächstenTransfer Nascimentos könne sich das än-dern. Kommende Saison spielt er auf derBundesligabühne, und wenn der Brasilia-ner auch dort einschlage, sei alles möglich,sagt Lösch.

Er wartet. Rafael Buschmann

107DER SPIEGEL 24 / 2014

Investor Lösch

„Zu Hause nennen sie mich Kapitalist“

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The Iron Lady“ wird Izetta Wesley ge-nannt, die frühere Präsidentin desFußballverbandes von Liberia, ei-

nem kleinen Land in Westafrika. Aberauch eine eiserne Dame kann dahinschmel-zen. Auf Geschenke und Geld reagiertWesley geradezu überschwänglich. 2009schrieb sie in einer E-Mail an einen Mit -arbeiter des katarischen Geschäftsmannesund Fußballfunktionärs Mohamed BinHammam: „Ich habe die Überweisung er-halten. Bitte richten Sie Mohamed Dankund Wertschätzung aus. Möge Allah derAllmächtige seine Quellen hundertfachwieder auffüllen.“

10000 Dollar hatte sie damals bekom-men. Viel Geld für sie, wenig für Bin Ham-mam, der zu jener Zeit ein Füllhorn überdie Chefs der Fußballverbände aus Afrikaergoss, sie samt Familien in Luxushotelseinlud und jedem bei Ankunft 5000 Dollarin die Hand drücken ließ, um gleich maldie Stimmung zu heben.

Auf diese und ähnliche Weise wurde einKontinent bestochen. Im März 2009 be-warb sich Katar offiziell darum, dieWM 2022 auszurichten, und rund um dieseZeit flossen unzählige Beträge von BinHammams Konten ab, unter anderem:22400 Dollar nach Togo, 10000 nach Gam-bia, 50000 nach Sambia. Das entfachte eineGier, die manchmal sogar dem Spender zu

viel wurde. Manuel Dende, Präsident einerbeschaulichen Fußballgemeinde des Insel-reichs São Tomé und Príncipe, bat BinHammam um 232000 Dollar für Kunstra-senplätze, zahlbar auf sein Privatkonto. Alszu seiner Enttäuschung nur 50000 aufliefenund ihm klargemacht wurde, dass er nichtmehr zu erwarten habe, schrieb Dende ein-silbig zurück: „Okay, danke.“

Etwa fünf Millionen Dollar hat Bin Ham-mam in Afrika verteilt. Das Geld hat sei-nen Zweck erfüllt. Als der Fußball-Welt-verband Fifa am 2. Dezember 2010 in Zü-rich die WM an Katar vergab, stimmtenim Exekutivkomitee 14 der 22 Mitgliederfür das Emirat. Darunter ziemlich sicherauch die 3 Vertreter Afrikas.

Seit einigen Tagen kann sich die Weltein Bild davon machen, wie korrupt es zu-geht, wenn eine Fußball-WM einem Aus-richter zugeschanzt wird. Der LondonerSunday Times sind nach eigenen AngabenMillionen Dokumente zugespielt worden,die Daten bestehen vor allem aus E-Mails,Faxen und Kontobelegen. Sie wurden aus-gewertet, nun hat die Zeitung begonnen,darüber eine Serie zu veröffentlichen,Sonntag für Sonntag. Das Kapitel Afrikawar erst der Auftakt.

Während in Brasilien in den kommen-den Wochen ein neuer Weltmeister ermit-telt wird, werden parallel dazu weitere Vor-

gänge um Katar und die Fifa enthüllt.Wenn nicht alles täuscht, wird zu erkennensein, wie sich das Emirat auf allen Konti-nenten die Mehrheit für sein Votum be-schaffte; wie es in Ländern vorging, in de-nen es nicht ausreicht, Verbandsfürsteneine Handvoll Dollar in die Taschen zustopfen und ihre Verwandtschaft auf Well-nessfarmen zu verwöhnen. Wie lief das inSüdamerika? Wie in Europa?

Wenn bislang daran gezweifelt wurde,dass Katar als Veranstalter taugt, dann lagdas am schwer verträglichen Wüstenklima.Die Debatte drehte sich darum, ob das Tur-nier besser in den Winter verlegt werdensollte. Jetzt steht alles infrage. Darf Katardie WM überhaupt austragen? Muss es dasTurnier nicht wieder zurückgeben? Mussdie Fifa es ihm notfalls entziehen?

Freiwillig wird Katar nicht weichen. Das WM-Organisationskomitee des Emi-

rats teilte vergangenen Sonntag schriftlichmit, man habe bei der Bewerbung „diehöchsten ethischen Standards und Integri-tätsnormen“ eingehalten und das Turnier„auf fairem Wege“ gewonnen. Man bestrei-te „vehement“ alle Anschuldigungen.

Katar ist das reichste Land der Erde. Eshat sich für die Zeit nach Öl und Gas die„National Vision 2030“ verordnet, ein breitgefächertes Investitionsprogramm, das dieZukunft öffnen soll und vor Ehrgeiz und

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Geschenke aus dem Brutofen WM 2022 Enthüllte Dokumente lassen kaum Zweifel daran, dass sich Katar den Zuschlag durchBestechung gesichert hat. Muss das Turnier nun neu vergeben werden?

Katars Hauptstadt Doha

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Sport

Geld nur so strotzt. Katar möchte sich alsSportnation einen Namen machen. 30 Mil-liarden Dollar will es für die WM in Stra-ßen, Hotels und Stadien investieren. Dasneben Olympia größte Sportereignis derWelt in einer unwirtlichen Gegend wahrwerden zu lassen und allen zu zeigen,wozu man fähig ist – darum wollte undwill Katar dieses Turnier unbedingt.

Verwunderlich blieb lange, warum sichdie Zeremonienmeister der Fifa darauf ein-ließen, ihre größte Bühne im Jahr 2022 aufeinem Wüstensprengsel aufzustellen, derhalb so groß ist wie Hessen und seit an-derthalb Jahrhunderten absolutistisch vomClan der Thani regiert wird; wieso sie ihrPrunkstück in einen Brutofen zu schiebengedachten, in dem Sommertemperaturenvon über 40 Grad herrschen. Für Katarsprach nur ein Argument – der Reichtum,mit dem es seine märchenhafte WM wahrwerden lassen wollte.

Angesichts der massiven Bestechungs-vorwürfe muss man sagen: EbendieserReichtum hat die Sache wohl entschieden.

Mohamed Bin Hammam, der Mann, derunter anderem Afrikas Fifa-Stimmen ein-kaufte, ist die Schlüsselfigur in demschmutzigen Spiel. Bei der WM-Kampa-gne gehörte er dem Exekutivkomitee derFifa an und war einer der Könige im Welt-fußball. Außerdem stand er der Herrscher-familie sehr nahe. Vor vier Jahren nochsagte Hassan al-Thawadi, Chef der katari-schen Bewerbung: „Ich bin dankbar fürseine Unterstützung. Er hat immer verstan-den, wie sehr Katar und der Nahe Ostenvon einer WM profitieren würden.“ Er sei„das wichtigste Kapital“ der Kampagne.

Heute klingt das ganz anders. Das Or-ganisationskomitee behauptet, Bin Ham-mam habe bei der Bewerbung „keine offi-zielle oder inoffizielle Rolle“ gespielt.

Dabei war der WM-Zuschlag für KatarBin Hammams Meisterstück, der Erfolg er-munterte ihn sogar, im März 2011 als Fifa-Präsident zu kandidieren und Sepp Blatterabzulösen. Doch noch vor der Wahl wurdeBin Hammam in seiner Kampagne gegenBlatter der Korruption überführt und imSommer 2011 lebenslang für alle Ämter ge-sperrt. Als Chef des Asiatischen Fußball-verbandes (AFC) hatte er selbstherrlich re-giert. Bin Hammam verfügte nach Gutdün-ken über die Konten, veruntreute Gelder,schloss Verträge mit ihm genehmen Rech-tehändlern ab, ohne Konkurrenzangebotezu prüfen, bereicherte sich an Kickback-Geschäften. Und er schmierte Funktionäre,unter anderem Jack Warner. Dem Chefdes nord-, zentralamerikanischen und ka-ribischen Verbands ließ er 1,5 MillionenDollar zukommen, dessen Söhnen 750000.

Ein halbes Jahr nach dem Triumph sei-nes Landes bei der WM-Vergabe war BinHammam erledigt. Katar blieb von demSkandal weitgehend verschont. Vorerst.

Im Auftrag des asiatischen Verbands hat-ten Wirtschaftsprüfer von Pricewater -houseCoopers (PwC) das Geschäftsgeba-ren Bin Hammams untersucht und Mate -rial für einen 56-seitigen Bericht zusam-mengetragen. Zur gleichen Zeit hatte dieFifa ihre Ethikkommission zu neuem Le-ben erweckt und den New Yorker AnwaltMichael Garcia bevollmächtigt, die Um-stände zu ermitteln, unter denen die WMan Katar gegangen war. Der Verdacht, dassKorruption die Vergabe entscheidend be-einflusst hatte, war offenkundig.

Garcia bekam den PwC-Bericht in dieHände und recherchierte weiter. Er hatteBin Hammam sofort im Visier. Inzwischenhat er Dutzende Zeugen befragt. Und erverfügt über eine gigantische Datensamm-lung, darunter womöglich jenes belastendeMaterial, das irgendwie an die Sunday

Times geraten ist.Bei Garcias Ermittlungen war allem An-

schein nach das FBI behilflich. Um einesolche Masse an Mails und Kontobelegen

abzufischen, bedarf es einer Organisationdieser Größe und Ausstattung. Garcia darfallerdings das FBI nicht beauftragen, ihmunter die Arme zu greifen. Wahrscheinlichhatten deshalb andere die Bundesbehördeeingeschaltet. In Amerika gibt es genügendeinflussreiche Leute in Politik und Wirt-schaft, die brennend interessiert, mit wel-chen Mitteln Katar die Abstimmung fürsich entschied. Denn der große Gegenkan-didat um die Vergabe der WM 2022 warendie USA. Sie unterlagen erst im viertenWahlgang mit 8:14 Stimmen.

Garcia ist dabei, seine Arbeit abzuschlie-ßen. Sein Dossier geht an den deutschenRichter Hans-Joachim Eckert, der in dennächsten Monaten darüber entscheidenwird, welche Sanktionen gegen korrupteFifa-Delegierte verhängt werden. Waskommt da noch alles hoch?

Katar hatte auch auf politischer Ebenemassiv Lobbyarbeit betrieben. In Europahatten sich der deutsche BundespräsidentChristian Wulff und der französischeStaatspräsident Nicolas Sarkozy für dasEmirat starkgemacht. Bei einem Essen im

* 2010 in Doha.

Elysée-Palast ermunterte Sarkozy offenbarMichel Platini, den Uefa-Chef, im Fifa- Exekutivkomitee für Katar zu stimmen.Mittlerweile hat eine katarische Investo-rengruppe den Fußballklub Paris Saint-Germain, dessen Fan Sarkozy ist, über-nommen und mit viel Geld zu einer euro-päischen Spitzenmannschaft aufgepumpt.

Wulff pflegte schon seit seiner Zeit alsniedersächsischer Ministerpräsident guteVerbindungen in den Wüstenstaat, derüber eine Holding Anteile am VW-Kon-zern erwarb und in den Aufsichtsrat ein-zog. Später, als Wulff deutsches Staatsober-haupt war, trafen er und der Emir sich beigegenseitigen Visiten. Ein Jahr vor der Ab-stimmung in Zürich erhielt die DeutscheBahn aus Katar den Auftrag, dort einSchienennetz zu errichten – für 17 Milliar-den Euro. Bahnchef Rüdiger Grube ließsich im aufwendigen WM-Bewerbungsfilmgar beim Daumendrücken filmen: „I’llkeep my fingers crossed for Qatar.“

Es ist strittig, ob Wulff den deutschenFifa-Vertreter bei der Wahl, Franz Becken-bauer, auf irgendeine Weise beeinflussthat. Sicher ist, dass Beckenbauer Bin Ham-mam rund um die Wahl Katars mehrfachgetroffen hat. Das geht aus den Dokumen-ten hervor, die der Sunday Times vorlie-gen. Ende Oktober 2009 begleitete BinHammam Beckenbauer zu einem Besuchbeim Emir. Im darauffolgenden Februaraß Beckenbauers Vertrauensmann, derLobbyist Fedor Radmann, im ZürcherEdelhotel Baur au Lac mit Bin Hammamzu Abend. Im Mai 2011 traf BeckenbauerBin Hammam geheim im Londoner Hilton,kurz bevor der Katarer seinen Abschiedaus dem Weltfußball nehmen musste.

Dass die Weltmeisterschaft in acht Jah-ren tatsächlich in Katar stattfinden wird,ist trotz des Bestechungsskandals nicht un-wahrscheinlich. Nur die Fifa-Vollversamm-lung könnte dem Land das Event entzie-hen, dazu wäre eine Mehrheit der 209 Mit-glieder nötig. Dagegen würde Katar sichmit allen Mitteln wehren und auf Schadens-ersatz klagen, ein Verfahren könnte Jahredauern. Angesichts solch einer unsicherenRechtslage wäre wohl kaum ein anderesLand bereit, Katar zu ersetzen und für einefragliche WM Milliarden zu investieren.Was, wenn ein Gericht am Ende urteilt,dass Katar doch die WM ausrichten darf?

Es würde sich wohl nur ein Land trauen,in dem alles bereits steht: Stadien, Hotels,moderne Flughäfen, ein dichtes Netz vonStraßen und Schienen. Die USA vielleicht,Japan oder Australien.

2022 wird also um den WM-Titel entwe-der in der Wüste gespielt – oder in einerWeltgegend, die wie das Gegenteil davonaussieht.

Maik Großekathöfer, Detlef Hacke, Christoph Scheuermann, Jens Weinreich,

Michael Wulzinger

109DER SPIEGEL 24 / 2014

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Fifa-Boss Blatter, WM-Beschaffer Bin Hammam*

Wie lief das in Südamerika, wie in Europa?

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PC-12 kaum verloren gehen,denn sie wird über Satelliten-dienste permanent mit demInternet verbunden sein. Ear-

hart plant, die Welt über ih-ren Flugverlauf via Twitterund Facebook in Echtzeit zuinformieren. me

Abenteuer

Amelia Earhartmacht sich startklarEine neue Amelia Earhartwill die Mission der berühm-ten US-Flugpionierin zuEnde führen. Amelia MaryEarhart war am 2. Juli 1937im Pazifik mitsamt Flugzeugund Begleiter verschollen.Die damals 39-Jährige hatteversucht, die Erde in Äqua-tornähe zu umrunden; bis zu ihrem rätselhaften Ver-schwinden hatte sie dreiViertel der Strecke geschafft.Jetzt bereitet sich in denUSA eine junge Pilotin na-mens Amelia Rose Earhart

auf ihre eigene Weltumrun-dung vor. Am 23. Juni willdie 31-Jährige, die mit ihrerVorgängerin nicht verwandtist, im kalifornischen Oak-land mit einer einmotorigenPilatus PC-12 starten. DieFlugstrecke von etwa 45 000Kilometern hofft Earhart mit17 Zwischenstopps in 15 bis18 Tagen zu bewältigen. IhreRoute führt zunächst nachBrasilien, dann über den At-lantik nach Afrika, via In-dien nach Südostasien undweiter nach Australien, be-vor sie über Hawaii nachOakland zurückkehrt. An-ders als die erste Earhart- Maschine kann die Pilatus

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Das großeFressenfällt hier der Putzergar-

nele zu. Gründlich säu-

bert sie das Maul eines

Zackenbarschs von Para-

siten und Essensresten.

Für den Dienst gewährt

der Raubfisch freies Ge-

leit: Ein kurzes Zucken

vor dem Schließen der

Kiefer – und die Garnele

macht sich unbeschadet

davon ins Meer vor Bali.

Pilotin Earhart

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111DER SPIEGEL 24 / 2014

Wissenschaft+TechnikMedizin

„Wir könnten 10000Leben retten“

Der Kölner Anästhe-

sist, Intensiv- und

Notfallmediziner

Bernd Böttiger, 55,

über die Notwendig-

keit, Wiederbele-

bungsmaßnahmen flächende-

ckend in den Schulen zu lehren

SPIEGEL: Warum sind dieDeutschen so chronischschlecht im Fach Erste Hilfe? Böttiger: Hier macht man ei-nen Kurs zum Führerschein,und das reicht eben nicht. DerDruckverband eines Laien hatmeines Wissens bisher kaumeinen Schwerverletzten geret-tet. Viel wichtiger wäre es,Laien speziell in der Reanima-tion auszubilden.SPIEGEL: Was bringt das?Böttiger: 70000 Menschen inDeutschland sterben jedesJahr nach einem Kreislauf-stillstand, weil sie nicht er-folgreich reanimiert werden.Davon könnten bis zu 10000Leben gerettet werden –wenn mehr Leute wüssten,wie man an einem Bewusst-losen ohne Lebenszeicheneine Herzdruckmassage vor-nimmt.

SPIEGEL: Ist die denn soschwierig?Böttiger: Im Gegenteil. Sie istkinderleicht. Selbst Schülerkönnen die Wiederbelebungbeherrschen. In Dänemark istsie seit 2005 Pflichtfach schonin den Grundschulen. Seithergelingt dort die Reanimationdurch Laien in der Hälfte derFälle – zuvor funktioniertedas nur bei einem Fünftel. InDeutschland hingegen liegenwir immer noch bei unter 20Prozent. Darum schlagen wirvor, dass künftig auch hieralle Schüler in Reanimationunterrichtet werden.SPIEGEL: Wäre es nicht besser,mehr Notärzte auszubilden?Böttiger: Wenn jemand einenKreislaufstillstand erleidet,fängt das Gehirn nach drei bis

fünf Minuten an abzusterben.Bis der Notarzt kommt, ver -gehen aber selbst in der Stadtacht bis zehn Minuten. Wirmüssen also alles dafür tun,dass mehr Helfer die überle-benswichtige Zeit bis zum Ein-treffen des Notarztes durchWiederbelebungsmaßnahmenüberbrücken können.SPIEGEL: Wie viel Trainingbrauchen die Schüler?Böttiger: Es reicht, wenn sieim Alter von zwölf Jahrenanfangen und jedes Schuljahrzwei Stunden trainieren. DieKinder zeigen dann ihren Ge-schwistern, Eltern und Groß-eltern, wie die Reanimationrichtig geht. Das ist beson-ders wichtig, denn der plötz-liche Herztod ereilt die Leutemeist zu Hause. me

Fußnote

5Erdbeben

der Stärke 4 und mehr

haben sich im Gebiet um

Los Angeles allein in den

vergangenen fünf Monaten

ereignet. Eine solche Häu-

fung stärkerer Erd stöße

hat es dort seit 20 Jahren

nicht gegeben. Warum das

so ist, wissen die Forscher

nicht – auch nicht, ob die

vielen kleinen ein großes

Beben ankün digen.

Kann es sein, dass Vernunft einkehrt im Landder Auto-Erfinder? 30 Prozent der Haushaltein deutschen Metropolen besaßen Anfang2013 kein eigenes Auto mehr und setztenstattdessen aufs Fahrrad, wie das StatistischeBundesamt jetzt mitteilte. Zehn Jahre zuvor,so die Behörde, kamen nur 22 Prozent ohneeigenen Pkw aus. Wie autofixiert und in -dustriegesteuert müssen Regierungen inBund, Ländern und Städten sein, um hiernicht einen eindeutigen Trend zu sehen unddem Wandel auch Rechnung zu tragen? Wer sich auf schlechten (wenn überhaupt vor-handenen) Radwegen durch Berlin, Hamburgoder Stuttgart müht, erlebt Deutschland alsAutoland. Wer dagegen Kopenhagen oderAmsterdam besucht, kann sich ein Bild davonmachen, wie die Lebensqualität steigt, wennder Autoverkehr zugunsten von Fahrrädernzurückgedrängt wird. Sogar Rom hat inzwi-schen einen Bürgermeister, der dem Auto den

Kampf ansagt und selbst Dienstfahrrad fährt.Gute Radwege und öffentliche Verkehrsmittelsind die nachhaltigen Lebensadern einerGroßstadt. Die Bundesregierung glaubt indestreu an ihren Nationalen EntwicklungsplanElektromobilität, ohne sich bewusst zu ma-chen, dass damit ein Kardinalproblem derMetropolen ungelöst bleibt: Auf den Straßenist nicht genug Platz für so viele Autos, egalob Strom oder Benzin sie antreibt. Das Elek-tromobil braucht darüber hinaus noch eineneue Steckdosen-Infrastruktur.Verkehrsminister Alexander Dobrindt hatsich immunisiert gegen eine Betrachtung desAutos als Problem. Manchmal, verriet er Auto

Bild, werde er nachts um halb eins heim-chauffiert, steige in seinen Wagen und fahreziellose 30 Kilometer weit: „Nur um das Gefühl fürs Autofahren nicht zu verlieren.“Deutschlands Autolobby kann beruhigt sein.Auf den Mann ist Verlass. Christian Wüst

Kommentar

Die Autonarren

Wiederbelebung

Prüfen. Atmet der Bewusstlose?

Rufen. Notruf 112 wählen.

Bis zur Ankunft des Rettungswagens:Drücken. Mit beiden Händen den Brustkorb in der Mitte fünf Zentimeter tief eindrücken und loslassen, mindestens 100-mal pro Minute. Auf diese Weise gelangt Restsauerstoff ins Gehirn. Idealerweise nimmt der Helfer auch die Mund-zu-Mund-Beatmung vor. Auf 30 Kompressionen folgen zwei Beatmungen.

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Tal des Terrors Archäologie Eine Schlucht am Rio Grande ist mit Hunderten Felszeichnungen

der Komantschen übersät. Die Graffiti erlauben erstmals einen Blick auf die wahre Geschichte der wehrhaftesten Indianer Nordamerikas.

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Wissenschaft

Als Christoph Kolumbus die NeueWelt entdeckte, lebten sie noch inden Rocky Mountains und gingen

zu Fuß auf die Pirsch. Statt Bisons jagtensie Kaninchen. Hunde zogen ihr armseligesGepäck.

Doch im 17. Jahrhundert änderte sichfür die Komantschen alles. Zunächst stah-len sie den weißen Siedlern die Pferde,später kauften sie ihnen Pulver und Ge-wehre ab. So aufgerüstet, kontrollierte derStamm bald ein Gebiet von der GrößeFrankreichs: die Komantscheria (siehe Gra-fik Seite 114).

In Wildwestfilmen dienen Vertreter die-ses Indianerstamms meist als Fallobst, daslaut jaulend vom Ross stürzt. Bei Karl Mayspielen sie den Part der Bösewichte. Neue-re historische Untersuchungen zeigen in-des, welch eine Macht da einst in der Prä-rie regierte: eine Armee von etwa 10000Reitern, ausgerüstet mit Pfeilen, Lassosund Gewehren. Einige Historiker sprechenvon einem „Reich“ mit „imperialen Am-bitionen“.

Die Komantschen, schrieb der US-For-scher Theodore Fehrenbach, „zerstörtenden lang gehegten Traum der Spanier vonder Herrschaft über Nordamerika, sie ver-hinderten das Vordringen der Franzosenin südwestliche Richtung, und sie verzö-gerten die endgültige Eroberung des Kon-tinents durch die Angloamerikaner um fast60 Jahre“.

Wer also waren diese Ureinwohner, dienicht Federschmuck, sondern eingefetteteZöpfe trugen und sich selbst „Numunu“(Menschen) nannten? Selbstauskünfte, soschien es lange, hat das Volk nicht hinter-lassen. Es kannte weder Schrift noch stei-nerne Bauten. Seine Kultur – nahezu un-sichtbar.

Nun tut sich doch noch eine Spur auf.In einem Talkessel des Rio Grande im Bun-desstaat New Mexico hat der New YorkerArchäologe Severin Fowles verblasste Rit-zungen und reliefierte Basaltsteine ent-deckt. Der Fundort in der lang gezogenenSchlucht, „Vista Verde“ genannt, ist voll-gekritzelt mit Bildern, die vom Leben dervermeintlich „abgefeimtesten Indianer derVereinigten Staaten“ (Zeitzeuge RichardDodge 1882) erzählen.

Eigentlich habe er am Rio Grande nach„10000 Jahre alter Kunst aus der Vorzeit“gesucht, erzählt Fowles. Stattdessen stießer auf Felswände und Steinbrocken, aufdenen Strichmännchen, krakelige Pferdeund seltsame Dreiecke prangten. Letzterestellen Tipis dar, mit Büffelfellen bespann-te Zelte.

Derzeit werden die Gravuren vonFowles abgezeichnet und dokumentiert.Der Professor bereitet eine Veröffentli-chung über den „Archetyp des Komant-schen“ vor. Untertitel seiner Arbeit: „Ar-chäologie des Terrors“.

Viele der Bilder stellen Gewalt dar.Man sieht Räuber beim Pferdeklau. Lei-ber werden von Pfeilen durchbohrt. Esgeht Mann gegen Mann mit Schilden ausTierhäuten. Ein Graffito zeigt einen In-dianer mit einem katholischen Käppi,wahrscheinlich eine Beute aus einem spa-nischen Missionsdorf.

Besonders spannend ist eine Darstel-lung, die einen Schweifstern neben einerriesigen Sonne zeigt. Historischen Quellenzufolge zog im Jahr 1680 tagsüber ein glei-ßend heller Komet über den Himmel derGreat Plains. Sollten sich die Botschaftenvon Vista Verde auf diese Weise datierenlassen, wäre das eine Sensation. Der frü-

heste Hinweis auf die Komantschen ent-stammt bislang einer französischen Land-karte von 1701.

Klar ist mittlerweile, dass die Ethnie ur-sprünglich in Wyoming lebte und von dortin den Süden des Kontinents drängte. Mitihren Hundeschleppen überquerten einzel-ne Clans den Arkansas River und gerietenso in die Nähe des spanischen Kolonial-reichs.

Dessen Nordgrenze zog sich in Formweit versprengter Wehrdörfer, Festungenund Missionssiedlungen durch die endlo-sen Trockentäler des heutigen Texas undNew Mexico.

Glockentürme erblickten die Komant-schen dort und sensenschwingende Hispa-nier mit breitkrempigem Strohhut. Vor allem aber: struppige Pferde, robust, ge-

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Komantsche Quanah Parker, Gattin 1875

Kriegsführer in Gefangenschaft

nügsam und belastbar. Solche Geschöpfehatten sie noch nie gesehen. Die Komant-schen nannten die Tiere „Gotteshunde“.

Und sie stahlen sie. Aus Aufzeichnun-gen spanischer Behörden ist bekannt, dassvor 1650 kein einziger Mustang in der Prä-rie lebte. Schon 50 Jahre später besaßenfast alle Numunu geraubte Gäule, die siebald zu züchten und akrobatisch zu reitenverstanden.

In ihrer Blütezeit verfügten sie übermehr als eine Million Mustangs.

Es waren letztlich die Pferde, die denIndigenen die Möglichkeit eröffneten,beim Poker um die Aufteilung Nordame-rikas mitzumischen. Zuvörderst erlaubten

sie ihnen, einen neuen, riesigen Lebens-raum zu erobern. Hoch zu Ross verließensie die schützenden Hänge der RockyMountains und drangen in die lebensfeind-lichen und fast menschenleeren GreatPlains ein. „Wenige blieben zurück, ande-re ritten in die Geschichte“, schreibt Theo-dore Fehrenbach.

Endlos, wie ein Meer aus Gras, erstreck-te sich das hügelige Land. Im Sommerherrschte dort glühende Hitze, im Winterfegten Blizzards über die Weiten. Rund 60Millionen Bisons lebten hier; die Indianerkonnten sie nun im Galopp erlegen.

In jedem Tipi der Komantschen gab esfortan Hörner, Hufe, Häute. Das zotteligeWildrind bot den Nomaden alles: Aus sei-nem Fell stellten sie Kleidung her, aus denKnochen Werkzeuge und Musikinstrumen-

Felsbild eines vom Blitz getroffenen Komantschen: Brutaler Natur ausgesetzt

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Wissenschaft

te. Selbst den Schwanz nutzten sie – alsFliegenklatsche.

Lange hatten die Komantschen in kol-lektiver Ohnmacht gelebt. Wettergegerbt,dreckig und halb verhungert waren sie einer brutalen Natur ausgesetzt, die siestumm und duldsam ertrugen. Nun wen-dete sich das Geschick, sie beherrschtenjetzt das Grünland. Ihre Zahl wuchs. Nach-barn wie die Apachen wurden zurückge-drängt. Bald reichte ihr Einfluss bis in dieweiten Feuchtgebiete des Missouri, wo an-dere Stämme Mais und Kürbis pflanzten.

Für moralische Erwägungen hatten dieexpandierenden Angreifer wenig Platz.Folterriten waren bei ihnen an der Tages-ordnung. Den Mescalero-Apachen (von ih-nen „graue Scheiße“ genannt) schnittensie als Skalpjäger die Kopfhaut ab. Auchihre Frauen zelebrierten das blutige Hand-werk am Marterpfahl.

„Waren die Numunu in Eile, schlitztensie junge Mädchen auf und ließen sie ver-bluten“, notiert Fehrenbach.„Häufig spießten sie Gefangeneam Boden fest – ohne Augenlidermit dem Gesicht zur Sonne.“Ähnliche Gräuel sind auch aufden Felsbildern von Vista Verdedargestellt.

Bei Angriffen ritten die Ban-den meist schräg im Sattel, umden Waffen der Feinde zu entge-hen. Den kostbaren Speer knote-ten sie an ein Seil aus Rosshaar.Nach dem Wurf konnte er zu-rückgeholt werden.

Am Ende waren fast alle Kon-kurrenten aus den Jagdgründender südlichen Plains verdrängt.Nun hatten dort die Bezopftendas Sagen. In Verwandtschafts-gruppen von 100 bis 300 Personenzogen sie durch die Prärie. EinenHäuptling oder Stammesrat kann-ten die Komantschen nicht.

Auch die Spanier bekamenihre Schlagkraft bald zu spüren.Auf Anmarschrouten von 500und mehr Kilometern bewegten sich diePlünderer aus der Tiefe der Wildnis heraus,um die spanischen Vorposten und Bauern-dörfer anzugreifen, in denen Großgrund-besitzer Haciendas betrieben und die Fel-der von Mestizen und versklavten Indiosbestellen ließen.

In vielstimmiger Klage berichten spani-sche Chroniken, wie die roten Feinde wes-penstichartig kleine Weiler überfielen,Greise metzelten, Frauen vergewaltigtenund Kleinkinder gegen Felsen und Bäumeschleuderten.

Nach 1740 bekamen die Überfälle nochmehr Durchschlagskraft. FranzösischeHändler, die von Louisiana aus tief in denKontinent eindrangen, hatten den India-nern Gewehre verkauft.

Die Taktik indes änderte sich nicht. DieKomantschen führten einen Partisanen-krieg. Heimlich wie Wölfe schlichen siesich an, nie wurde ein Lagerfeuer entfacht.Man aß Trockenfleisch und marschiertenachts.

Auch die Graffiti-Schlucht vom RioGrande weist dieses Merkmal des Verstoh-lenen auf. Nirgendwo gibt es Brandspuren.Nur mithilfe von Luftbildern konnten dieForscher Unregelmäßigkeiten im Bewuchsnachweisen: Einst standen dort Tipis imKreis.

Zwei Reihen großer Steine dienten denWächtern als Deckung. Am Ende desCamps befand sich ein großer Viehpferch.Gleich daneben prangt das Bild eines Rei-ters. Von Vista Verde war es nur ein Halb-tagesritt bis zur nächsten spanischen Sied-lung.

Es waren diese zermürbenden Gueril-laattacken, die den Elan der Konquistado-ren stoppten und den geplanten Durch-

marsch nach Norden verhinderten. AufLandkarten hatten die Spanier die Gren-zen ihres Weltreichs bereits im Gebiet desMissouri eingezeichnet. Doch in Wahrheitwagte sich bald kaum noch ein Soldat überSan Antonio hinaus. Santa Fe war umzin-gelt.

Die kupferhäutigen Gegner griffen imGegenzug bis nach Chihuahua aus. Weres wagte, dort Frauen, Skalps und Gäulezu stehlen, galt daheim als Held.

Erschwert wurde die Situation, weil derallgewaltige König in Madrid in seinemImperium den Privatbesitz von Feuerwaf-fen verbot. Anders als bei den britischenSiedlern gab es für die spanischen Farmerkein Recht auf Selbstverteidigung. „Beiunserer völligen Schutzlosigkeit kann dies

nur zur gänzlichen Zerstörung und zumVerlust dieser Provinz führen“, jammertebereits 1780 der damalige Gouverneur vonTexas.

So kam es dann auch. Die blutigen Dau-erangriffe der Komantschen schwächtendas Militär. Viele Einwohner von Texasflohen. Die Armee konnte sie nicht mehrbeschützen. Bald lebten dort nur nochrund 4000 Menschen.

Als sich Mexiko im Jahr 1821 für unab-hängig erklärte, brach die Nordgrenzeganz zusammen. Im „Krieg der 1000 Wüs-ten“ verlor der frisch gegründete Staat sei-ne schönsten Provinzen Texas und NewMexico. Dort traten nun die Komantschenals Bosse auf. Die Siedler mussten Tributezahlen, ihre Dörfer verwandelten sich inSatelliten, die wie Inseln in der Komant-scheria lagen.

Aufgerieben und blockiert durch die wil-den Pferdediebe, mussten die Lateiname-rikaner das Feld am Ende anderen Land-

räubern überlassen. Etwa ab 1820brandeten diese neuen Abenteu-rer ins fast entvölkerte Texas:Diesmal kamen Briten und Deut-sche in Planwagen. Es waren Leu-te, beseelt von protestantischemFleiß, die Blockhütten bautenund um jeden Meter Bodenkämpften – und sie schossenschnell.

Gegen diese Invasoren hattendie Numunu keine Chance. IhrStern begann zu sinken.

Was dann folgte, mutet nurnoch bitter an. Die Herrscher derPrärie stolperten von einer Nie-derlage zur nächsten. Eigentuman Grund und Boden war den In-dianern fremd. Vielleicht war esdas unpersönliche Verhältnis zurScholle, das ihre Vertreibung be-förderte.

All diese späten Tragödien undGrausamkeiten sind in Vista Ver-de nicht mehr dargestellt – nicht,wie Oberst Kit Carson die Ko-

mantschen nach 1860 mehrfach besiegteund in Reservate zwang. Wie die US-Ka-vallerie 1874 erst die Bisons und dann allePferde der Komantschen schlachtete. Undwie im Jahr darauf ihr letzter KriegsführerQuanah Parker in Gefangenschaft ging.

Die Bilder vom Rio Grande erzählennur von den Triumphen der Komantschenund von der Morgenröte ihres erstaunli-chen Großreichs. Immer wieder sind aufden Felswänden Pferde dargestellt, malfast lebensgroß, mal mit wallender Mähneoder mit Strichen vor den Nüstern, als wür-den die Tiere in der Winterluft kaltenAtem ausdampfen.

Es sind einfache Bilder, voller Schönheit,wie Botschaften aus der Steinzeit, nahezuverblasst. Matthias Schulz

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L O U I S I A N A(französisch bis 1803)

heutige Grenzen derUS-Bundesstaaten

heutigeGrenze

Mexiko/USA

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K O M A N T S C H E R I A

1750 bis 1840

Fundstelle der Felszeichnungen

Golf von Mexiko

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115DER SPIEGEL 24 / 2014

Gegen Ende seiner Reise durchs Allverging dem Mann vollends dieLust: „Ich kann nicht glauben“,

schrieb er, „dass andere Astronauten nichtgenauso frustriert waren, wie ich es bin.“Unter solchen Umständen, heißt es an an-derer Stelle, hätte selbst der berüchtigteRaketenforscher Wernher von Braun„wohl nie etwas vollbracht“.

So haben es die Astronauten ihren Tage-büchern anvertraut – und damit auch JackStuster. Seit elf Jahren sammelt der An-thropologe private Aufzeichnungen ausdem All. Er will ergründen, was in Men-schen vor sich geht, die sechs Monate langeingesperrt um die Erde kreisen.

Vor Flügen zur Internationalen Raum-station (ISS) bittet Stuster Nasa-Astronau-ten, ihr Leben an Bord zu beschreiben:wie sie sich fühlen („ausgesprochen mür-risch“), was sie nervt (Houston), wonachsie sich sehnen (Tortillas). Der Forscherverspricht, die Einträge zu anonymisieren.

Die Ehrlichkeit, mit der die Astronautenseiner Bitte nachkamen, hat Stuster über-rascht. Einer von ihnen sinniert: „Ich werdewahrscheinlich mein Leben damit verbrin-gen, zu verarbeiten, was ich hier oben ge-sehen habe.“ Der Weltraum, grübelt ein

anderer, „scheint unsere Gefühle zu ver-stärken, positive wie negative“. Sie schwan-ken zwischen Euphorie: „Schwerelosigkeitist ein Wahnsinnsspaß! Ich liebe es“, undMelancholie: „Ich zögere, das Wort ,De-pression‘ zu verwenden. Aber nichtsscheint mich aufmuntern zu können.“

Zehn solcher Tagebücher hat Stuster bis-lang ausgewertet. Zusammengenommendecken sie fünf Jahre ab und füllen 1100Buchseiten.

Trotz Stimmungsschwankungen, stellteStuster fest, zeigen sich die Astronautenzufriedener, als sie es vor der Reise selbstbefürchtet hatten. Sie loben die Kamerad-schaft: „Der beste Kumpel, um sechs Mo-nate in einer Blechbüchse zu verbringen“,und manchmal sogar das Essen: „Sie schi-cken Eiscreme.“ Raumfahrer untereinan-der, so scheint es, lästern selten, falls doch,sind es Kulturunterschiede, die den Miss-mut provozieren.

Etwa dann, wenn ein bestimmter Kos-monaut stets ein Nickerchen hält, wenn dieNasa sich meldet, um zu fragen, wie sichdie Besatzung fühlt. Was der Amerikanerfür sozial hält, findet der Russe unnötig.

Stusters erste Untersuchung stammt al-lerdings noch aus der Zeit vor Mai 2009.Damals teilten sich die ISS-Bewohner dieStation nur zu zweit oder zu dritt, jetztwohnen sechs Astronauten an Bord. EinFolgeprojekt erfasst bereits die neue Situa-tion, und demnächst werden auch Europä-er und Russen eigene Programme starten.

Er habe erwartet, sagt der Isolationsfor-scher, dass das Miteinander an Bedeutunggewinne. Doch da die Station im Laufeder Jahre vergrößert wurde, können sichdie Astronauten eher zurückziehen – da-bei macht es sie glücklicher, nicht alleinzu sein.

Zusammen schauen sie Filme, am bes-ten solche übers Weltall. „Ich habe meineCrew durch alle ‚Star Trek‘-Filme ge-schleift.“ Er sei vor Lachen fast gestorben,berichtet der Astronaut weiter, als seinerussischen Kollegen zum ersten Mal im Le-ben versuchten, den Gruß der Vulkaniernachzuahmen: die flache Hand erhoben,Mittelfinger und Ringfinger gespreizt.

Ein halbes Jahr bleiben die meistenRaumfahrer an Bord der ISS. Nach vierMonaten etwa, beobachtete Stuster, fallenviele in ein Loch. Dann trete das sogenann-te Dreiviertel-Phänomen auf. Das ist eineHypothese, der zufolge die Laune gegenEnde einer Reise sinkt, unabhängig vonderen Dauer. So beschreiben die Astro-nauten plötzlich, wie sie nicht mehr dieTage seit ihrer Ankunft zählen, sonderndie verbleibenden bis zum Abflug. EinCountdown beginnt.

„Ich bin bereit, heimzukehren“, schreibteiner, „der Stress setzt mir etwas zu.“ EinKollege gesteht: „Ich bin wohl nicht fürLangzeitmissionen geschaffen.“ Anderesehnen das Ende herbei: „Ich will einfachnur noch heim, in unserem Bett schlafen,am Tisch essen und in meinem Liegesesselsitzen.“

Doch nur äußerst selten lassen die As-tronauten ihren Frust aneinander aus. DieGruppe gilt als festgefügte Gemeinschaft,die unter allen Umständen geschützt wer-den muss. Der Ärger entlädt sich stattdes-sen über die Kollegen auf der Erde. „Wa-rum haben die am Boden ihre Hausaufga-ben nicht gemacht?“, schimpft einer.

Dahinter vermutet Stuster die Psycho-logie der Verschiebung – die Suche nacheinem Ersatzprügelknaben. Die gehe imPrinzip so, erklärt der Forscher: „Der Chefschreit mich an. Zu Hause schreie ich mei-ne Frau an. Sie schreit unser Kind an. DasKind tritt den Hund.“

Dabei hat Houston durchaus Schuld amFrust im All. Für Aufgaben kalkuliert dieNasa häufig zu wenig Zeit ein („Statt 30 Mi-nuten brauchten wir drei bis vier Stunden“),sie vergibt sinnlos anmutende Aufträge(„Müll nummerieren“) und gewährt wenigFreizeit („Sonntage, die sich wie Montageanfühlen“). Auf der Rangliste der Nervig-keiten nehmen die Anweisungen der Welt-raumbehörde daher den ersten Platz ein.

„Offensichtlich haben die Nasa-Managermeinen Report nicht gelesen“, sagt JackStuster. „Denn sie veranschlagen noch im-mer zu wenig Zeit.“

Dass Astronauten nicht wie Roboterfunktionieren, hätte Houston allerdingsschon in den Siebzigerjahren lernen kön-nen: Die Nasa hatte der Besatzung der da-maligen Raumstation „Skylab“ über Wo-chen hinweg die freien Tage gestrichen.Nach einem Monat widersetzte sich dieMannschaft: Sie bestand auf Urlaub.

Laura Höflinger FO

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ISS- und Space-Shuttle-

Crew gemeinsam an

Bord der Raumstation

„Ich will heim“Raumfahrt Öffentlich preisen Astronauten ihre Missionen –in ihren Tagebüchern aber haben sie notiert, wie es ihnenwirklich im All ergeht.

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Wissenschaft

Wer gern einen Nobelpreis gewin-nen möchte, sollte sich an dieMax-Planck-Gesellschaft halten:

Ganze 17-mal ging die Auszeichnung bis-her an Wissenschaftler der deutschen For-schungsorganisation. Das bringt interna-tionales Renommee; und dass die Gesell-schaft einzig der Allgemeinheit dient, trägtzu ihrem Glanz bei. Nur Grundlagenfor-schung, keine kommerziellen Interessen.Könnte man denken.

Größtenteils finanziert der Steuerzahlerdie Gesellschaft. Fast zwei Milliarden Eurodürfen die Max-Planck-Institute jedes Jahr

ausgeben. So viel Geld für die Forschungs-freiheit führt im besten Fall zu wahrer Exzellenz – im schlechtesten allerdingskönnte es den Boden bereiten für Betrug,Untreue, Vetternwirtschaft.

Offenbar, so hat sich jetzt herausgestellt,ist ein Institut der Organisation über Jahrehinweg um viele Forschungsmillionen er-leichtert worden. Das folgt aus einem un-ter Verschluss gehaltenen Gutachten desBayerischen Obersten Rechnungshofs,aber auch aus internen Dokumenten, diedem SPIEGEL und dem ARD-Magazin „Re-port Mainz“ vorliegen.

Alles dreht sich dabei um das Gebareneiniger Mitarbeiter am Institut für extra-terrestrische Physik in Garching bei Mün-chen. Eigentlich der Erforschung Schwar-zer Löcher, fremder Galaxien und über-haupt den Geheimnissen unseres Uni -versums zugewandt, hat man sich dort anscheinend auch um Antworten auf dieFrage bemüht, wie sich das eigene Bank-konto am trickreichsten füllen lässt.

Ein wichtiger Bestandteil des Institutsist das Halbleiterlabor. Dort stellen For-scher in Reinräumen Siliziumchips her, die

beispielsweise als Sensoren in Kamera -systeme von Satelliten eingebaut werden.

Mit der Verarbeitung dieser Chips hatdas Max-Planck-Institut über Jahre hinwegeine externe Firma namens PNSensor beauftragt. Was jeden Wirtschaftsprüfersofort stutzig gemacht hätte, beim Max-Planck-Institut jedoch zunächst nieman-den interessierte: PNSensor gehörte da-mals mehrheitlich der Ehefrau des dama -ligen Projektleiters am Halbleiterlabor,Heike Soltau. Auch ihr Gatte selbst, Phy-sikprofessor Lothar Strüder, hält Anteilean der Firma. In den Jahren von 2002 bis

2010 gewann das Unternehmen Aufträgeim Wert von sieben Millionen Euro – ohneAusschreibung.

Die Beamten des Rechnungshofs mo-nierten deshalb in einem Gutachten ausdem Jahr 2011: Alle Beteiligten hätten sichauf die Einschätzungen des Physikers „ver-lassen müssen. Interessenkonflikte könnendeshalb nicht ausgeschlossen werden“.

Strüder allerdings sieht das anders: Erhabe „keine Verträge gestaltet oder garunterschrieben“, schreibt er in einer Stel-lungnahme. Damit seien die Institutsver-waltungen und die Rechtsabteilung befasstgewesen, die auch geprüft hätten. Zudemsei PNSensor 2002 „in enger Absprachemit der Generalverwaltung der MaxPlanck Gesellschaft gegründet worden“.Auch ehemalige Direktoren seien als Ge-sellschafter eingetragen.

Einfacher geht’s nicht: Niemand verlang-te Leistungsnachweise oder Belege vonPNSensor. Das Max-Planck-Institut legteeine Auftragssumme fest, und die Firmakassierte den Betrag.

Überschüssige Chips, die bei der Pro-duktion anfielen, durfte PNSensor weiter-

verarbeiten und verkaufen, damit sie nichtweggeschmissen werden mussten. Ein loh-nendes Geschäft, denn solche Halbleiter-sensoren sind Zehntausende Euro wert.Ein Teil der Erlöse floss zurück an das Max-Planck-Institut; der Rest blieb bei PNSen-sor. Allerdings war vertraglich geregelt,dass PNSensor diese Gewinne für gemein-nützige Zwecke verwenden muss.

Eine Alternative bot ein raffiniertes Fir-menkonstrukt. Der Rechnungshof vermu-tet, dass PNSensor die Detektoren an eineTochterfirma – PNDetector – verkaufte,die sie wiederum verarbeitete und gewinn-bringend an die Industrie veräußerte.

Da es sich nun nicht mehr „um eine ge-meinnützige Gesellschaft handelt, könnendie Gewinne an die Gesellschafter aus -geschüttet werden“, schrieben die bayeri-schen Prüfer. Gesellschafter sind auch hier,unter anderen: Strüder und seine Frau.

Doch der Sumpf könnte noch tiefer ge-wesen sein, als man beim Rechnungshofwissen konnte. Denn manch heikles Schrift-stück, das in der Max-Planck-Gesellschaftkursiert, bekamen die Prüfer nie zu Gesicht.So heißt es in einem internen Vermerk ausdem Jahr 2012: „Gelegentlich scheint es,dass Projekte nur deshalb durchgeführt wer-den, um die Fertigung der Driftdetektorenzu rechtfertigen.“ Diese seien dann mehr-heitlich in den Vertrieb gegangen. Genährtwird der Verdacht auch durch ein weiteresProtokoll: Man habe es nun „schwarz aufweiß, dass es sich tatsächlich nicht umÜberschussstücke gehandelt hat, sondernum eine absichtliche Produktion des Halb-leiterlabors für den Verkauf durch PNS“.

Die Vorwürfe seien „haltlos“, demen-tiert Strüder. Es habe sich um – im Rahmenvon Wissenschaftsprojekten entstandene –Überschussstücke gehandelt, „die erstnachdem sie für die Forschung keine Rele-vanz mehr hatten, zur Veräußerung bereit-standen“. Die Forschungsvorhaben seien„mit den zuständigen Direktoren der Max-Planck-Institute inhaltlich besprochen“worden. Trotzdem sagt auch ein Mitar -beiter der Max-Planck-Gesellschaft, dass„ganze Chargen“ eigens für den Verkaufproduziert worden seien.

Eine interne Auswertung zeigt: Mehr alsdrei Millionen Euro jährlich hat allein dieProduktion gekostet. Davon bekam das Institut nur einen Teil über den Erlös derChips wieder. Der Rest ist – verloren.

Es sieht jetzt nicht mehr gut aus für Strü-der. Zumindest lässt sich nicht mehr aus-schließen, dass die Ermittlungsbehörden

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Physik des GeldesSkandale Im Halbleiterlabor eines Max-Planck-Instituts soll ein Professor jahrelang in die eigeneTasche gewirtschaftet haben. Die Verantwortlichen decken den Mann bis heute.

Halbleiterlabor in München, Physiker Strüder: Raffiniertes Firmenkonstrukt

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„mit Blick auf den Straftatbestand der Un-treue einen Anfangsverdacht annehmenmüssen“, schreibt ein externer Rechtsex-perte, der die Sache im Auftrag der Max-Planck-Gesellschaft bewerten sollte.

An die Staatsanwaltschaft hat man sichbisher trotzdem nicht gewandt. Obwohldie Brisanz auch an oberster Stelle be-kannt war: Selbst Martin Stratmann, deram Donnerstag vereidigte Präsident derMax-Planck-Gesellschaft, kannte denRechnungshof-Bericht nachweislich min-destens seit 2012.

Statt die Ermittlungsbehörden zu infor-mieren, lösten Strüders Chefs nur die Ver-träge auf, führten neue Kontrollinstanzenein, und der Professor kündigte seinen Pos-ten. Geld verlangte man von PNSensornicht zurück. Auch Strüder selbst ist demHalbleiterlabor erhalten geblieben: Nochimmer hat er einen Gaststatus.

Aufgrund kritischer Nachfragen desRechnungshofs habe man „vorsorglich eineWirtschaftsprüfungsgesellschaft eingeschal-tet“, erklärt die Max-Planck-Gesellschaft.Im Ergebnis seien „keine Sachverhalte zu-tage getreten, welche ein strafrechtlichesVerhalten der Beteiligten zugrunde legen“,heißt es weiter. Bislang habe die Gesell-schaft „keine Belege für einen ihr entstan-denen finanziellen Schaden“. So seienetwa Projekte mit PNS „nicht ausschrei-bungspflichtig“ gewesen. Allerdings räumteine Sprecherin ein, dass eine Einsicht indie Unterlagen von PNSensor gar nichtmöglich gewesen sei. Man habe mittler-weile ein entsprechendes Auskunftsersu-chen gestellt.

Rechtsexperten zufolge hätte die Max-Planck-Gesellschaft längst die Staatsan-waltschaft einschalten müssen, um die Angelegenheit vollständig aufzuklären.Schließlich stehe der Verdacht auf Betrug,Untreue und Korruption im Raum.

Wieso also haben sich die Verantwort -lichen nicht engagierter an der Aufklärungbeteiligt? „Das Ganze ist vollkommen ausdem Ruder gelaufen“, sagt ein Mitarbeiter.„Bei der Max-Planck-Gesellschaft ist dieAngst vor einem Imageschaden riesig.“ Au-ßerdem sei der Physiker „eine große Num-mer“ in seinem Bereich. Man habe seinKnow-how gebraucht.

Tatsächlich dürfte vor allem Strüdervom Max-Planck-Institut profitiert haben:PNSensor arbeite am Aufbau eines eige-nen Labors, heißt es in einem internenProtokoll der Forschungsorganisation. Fak-tisch habe man „PNSensor über Jahre ali-mentiert“ und so in die Situation gebracht,„zum direkten Konkurrenten“ des Halb-leiterlabors aufzusteigen.

Was wohl bereits geschehen ist. Auf ihrer Homepage jedenfalls bewirbt Strü-ders Firma PNDetector unverhohlen ihrnagelneues Labor. Eröffnung: noch diesenSommer. Katrin Elger

117DER SPIEGEL 24 / 2014

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Wissenschaft

118 DER SPIEGEL 24 / 2014

Von allen seelischen Erkrankungen gilt die

Psychopathie als besonders verstörend. Die

Betroffenen fühlen keine Angst und können

die Empfindungen anderer Menschen nicht

erspüren; deshalb zählen sie zu den beson-

ders gefähr lichen Straftätern. Der kanadische

Psychologe Robert Hare vermutet, dass gut

zwei Prozent der Bevölkerung Psy chopathen

sind, die allerdings rund die Hälfte aller schwe-

ren Delikte begehen. Die meisten Forscher

halten diesen Menschenschlag für unverbes-

serlich; insofern stellt sich der renommierte

Psychologe Niels Birbaumer, 69, gegen seine

Zunft, wenn er behauptet: „Selbstverständlich

kann man auch Psychopathen helfen.“ Bir -

baumer, der in seiner Jugend Mitglied einer

Straßengang in Wien war, will genau dies in

mehreren Testreihen mit Schwerverbrechern

bewiesen haben. Diese Untersuchungen be-

schreibt der Neurowissenschaftler in einem

neuen Buch*.

SPIEGEL: Herr Birbaumer, Sie behaupten,Sie hätten selbst Adolf Hitler erfolgreichbehandeln können. Nicht Ihr Ernst, oder?Birbaumer: Ich will vor allem einen Punktklarmachen: Wir können den Zustand un-seres Gehirns verändern, jeder kann das,auch ein schlimmer Psychopath. Andersübrigens als etwa Adolf Eichmann war Hit-ler noch nicht mal ein Psychopath! Nachallem, was man über ihn weiß, ist er denparanoiden Neurotikern zuzurechnen.Wenn man also einen Psychopathen be-handeln kann, mit dem Verfahren, das ichschildere, dann erst recht einen Typen wieHitler. SPIEGEL: Erklären Sie uns Ihr Verfahren?Birbaumer: Wir sind in Gefängnisse gegan-gen und haben Dutzende Schwerverbre-cher untersucht. Wir wollten wissen, wiegut bei ihnen jene Areale im Gehirn ent-wickelt sind, in denen Empfindungen wieAngst und Mitgefühl entstehen.SPIEGEL: Mit welchem Ergebnis?Birbaumer: Zunächst war da nicht viel los,vergleichbar mit einem sehr schwach ent-wickelten Muskel. Unsere psychopathi-schen Patienten lagen in einem Magnet -resonanztomografen, und wir haben denBlutfluss, etwa in der Insula und derAmygdala, gemessen. Auch ein Psycho-path zeigt in diesen sogenannten Emo -tionszentren eine Mindestdurchblutung.Den Grad des Blutflusses haben wir dem

* Niels Birbaumer (mit Jörg Zittlau): „Dein Gehirn weißmehr, als du denkst“. Ullstein Verlag, Berlin; 272 Seiten;19,99 Euro.

„Angst kann man lernen“Psychologie Bislang galten Psychopathen als unheilbare Monster. Doch der Tübinger Forscher Niels Birbaumer will die seelisch schwer Gestörten nun mit einem neu entwickelten Hirntraining therapieren.

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Hirnforscher Birbaumer: „Ein gebildeter Psychopath könnte ein perfekter Bundeskanzler sein“

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Patienten in Echtzeit in Gestalt eines Fie-berthermometers angezeigt. Dann sagtenwir ihnen, sie sollten versuchen, die Fie-berkurve nach oben zu lenken. SPIEGEL: Und das hat funktioniert?Birbaumer: Ja. Wir nennen diese MethodeNeurofeedback. Wir haben damit außer-ordentliche Erfolge in der Kommunikationmit unseren Locked-in-Patienten erzielt.Diese Menschen konnten überhaupt kei-nen Muskel mehr bewegen, und wir ver-ständigten uns mit ihnen, indem wir ihreHirnströme auswerteten. Gesunde Men-schen steuern ihre Fieberkurve schon nachzwei bis drei Sitzungen ziemlich effizient.Psychopathen brauchen das Fünffache anZeit, aber dann funktioniert es auch beiihnen. SPIEGEL: Woher wussten Sie, dass die Psy-chopathen nach dieser Behandlung tat-sächlich mehr Angst empfanden?Birbaumer: Wir haben ihnen davor Bildermit grausamen Szenen gezeigt, beispiels-weise von verhungerten Kindern oder entstellten Kriegsopfern. Sie reagierten relativ gleichgültig. Nach dem Trainingwaren unsere Patienten deutlich sensibler,ihre Schweißdrüsen arbeiteten stärker alszuvor. SPIEGEL: In Ihrem Buch erwähnen Sie Psychopathen wie den Serienkiller TedBundy, der in den Siebzigerjahren in denUSA Dutzende Frauen vergewaltigte undtötete, oder Stefan K., der 2008 vom Land-gericht Verden wegen Menschenhandelsund Vergewaltigung verurteilt wurde.Glauben Sie allen Ernstes, dass Sie Täterdie ses Kalibers mit Ihrer Methode zähmenkönnen?Birbaumer: Natürlich. Mein zentrales Ar-gument ist: Die Angstzentren im Hirn, diebei Psychopathen besonders schwach ent-wickelt sind, sind nicht statisch, sondernim Gegenteil besonders flexibel. Man kannsie fördern und aufbauen, und es sprichtnichts dagegen, dass man sie dauerhaftverändern kann. Auch Psychopathen kön-nen lernen, etwas zu fühlen, Angst zumBeispiel, sich regelrecht zu gruseln. Dabeispielt es übrigens überhaupt keine Rolle,ob die Störung eine genetische Ursachehat oder durch eine frühe extreme Jugend-erfahrung ausgelöst wurde. SPIEGEL: Und was gibt Ihnen die Sicherheit,dass der Effekt Ihres Trainings nicht nachein paar Wochen oder Monaten verpufft?Birbaumer: Ich glaube im Gegenteil, dasssich der Lerneffekt mit der Zeit verstärkt.Das ist wie beim Radfahren: Wenn Sie dieTechnik einmal grundsätzlich beherrschen,werden Sie darin immer besser.SPIEGEL: Mit dieser These nehmen Sie eineAußenseiterposition unter Ihren Kollegenein. Selbst der kanadische Psychologe Robert Hare, der die Psychopathie-Check-liste entwickelt hat, hält diese Art Täterfür kaum therapierbar.

Birbaumer: Aber auch Ro-bert Hare hat keine Daten,die meinen Ansatz wider-legen könnten. Und die Lo-gik spricht für mich. Jeder,der sich mit Lerneffektenim Gehirn beschäftigt, mussdas so sehen.SPIEGEL: Würden Sie dennfür die Freilassung eines Intensivtäters plädieren,wenn er bei Ihnen ein er-folgreiches Training durch-laufen hat?Birbaumer: Im Moment ha -be ich damit noch großeSchwierigkeiten. Ich wür-de keinem der Gefängnis -direktoren, die uns erlaubthaben, diese Täter zu un-tersuchen, empfehlen, ei-nen von ihnen freizulassen.Dazu fehlen schlicht nochdie Langzeitdaten. Deshalbbrauchen wir Nachunter -suchungen: Wie verhaltensich zu lebenslanger HaftVerurteilte, bei denen einNeurofeedback angewen-det wurde und die nach 20 Jahren freikommen?Werden sie rückfällig odernicht? SPIEGEL: Was waren das fürMenschen, mit denen Sieim Gefängnis gearbeitet haben?Birbaumer: Diese Leute sindsehr geschickt darin, ein positives Bild von sich zuvermitteln. Wenn sie einenetwas höheren Intelligenz-quotienten haben, könnensie ihren emotionalen De-fekt sehr gut verschleiern.Rein äußerlich sind dassympathische Leute. ImStillen erhofften sie sichvon den Untersuchungen wohl strafmil-dernde Effekte. SPIEGEL: Die Fähigkeit der Psychopathenzur Manipulation haben Sie am eigenenLeib erfahren?Birbaumer: Ja, klar, da geht es mir als Psy-chologen nicht anders als beispielsweiseeinem Richter, der von diesen Leuten getäuscht werden kann. Andererseits ge-winnt man mit der Zeit ein Gespür fürdiesen Typus. Das werden Sie doch sicherauch im Umgang mit Ihren Kollegen er-fahren. Wenn Sie Übung haben mit die-sem Thema, dann können Sie halbwegssicher sagen: Handelt es sich bei dem ei-nen oder anderen um einen Soziopathenoder nicht.SPIEGEL: Nehmen sich die Betroffenenselbst auch als außergewöhnlich wahr?

Birbaumer: Die weniger er-folgreichen Psychopathenschon. Sie merken, dass siebei der Mehrheit der Bevöl-kerung dauernd anecken,dass sie abgelehnt werdenund nur schwer Fuß fassenkönnen. Andererseits ver-fügen sie aber ja durchausüber außergewöhnliche Ei-genschaften – im Kriegwäre ein angstfreier Mannein Held. Bei gefährlichenSportarten oder in Füh-rungsetagen finden Sie heu-te viele solcher Leute! SPIEGEL: Was genau machtsie so erfolgreich? Birbaumer: Der Psychopathkann negative Emotionennicht nachvollziehen wieein gesunder Mensch. Des-wegen beeinflussen oderbehindern ihn solche Emp-findungen nicht. Er nimmtsich die Dinge, die er an-richtet, nicht zu Herzen.Anders gesagt: Ein intelli-genter und gebildeter Psy-chopath könnte ein perfek-ter Bundeskanzler sein.SPIEGEL: Anders als die meis-ten Ihrer Kollegen behaup-ten Sie, dass Psychopathiebei Frauen ähnlich weit ver-breitet sei wie bei Männern.Warum?Birbaumer: Mir fällt keinGrund ein, warum das nichtso sein sollte. Die Angst-areale im Gehirn sind beiMännern und Frauen ähn-lich strukturiert und kön-nen die gleichen Defiziteaufweisen. Der einzige Un-terschied ist, dass Frauendeutlich seltener gewalttätigwerden und im Gefängnis

landen. Was wahrscheinlich daran liegt,dass sie nicht über dieselben Kräfte ver -fügen wie Männer, ihre Ziele also weni-ger zielbringend mit Gewalt durchsetzen können.SPIEGEL: Woran liegt es eigentlich, dass inden USA deutlich häufiger psychopathischeSerienkiller auftauchen als bei uns?Birbaumer: Es gibt die Theorie, dass be-stimmte amerikanische Werte die Entwick-lung der Psychopathie begünstigen, etwadie besonders stark ausgeprägte Individua-lisierung oder die Neigung, Rücksichts -losigkeit besonders zu belohnen. Was diedeutsche Gesellschaft angeht, kann ich mirvorstellen, dass sie sich in der Zeit des Nationalsozialismus sehr viel deutlicherpsychopathisch zeigte als heute.

Interview: Frank Thadeusz

Psychopath Eichmann 1961

Serienkiller Bundy 1979

Neurotiker Hitler 1927

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Transport-verschlüsselung(z.B. Cloud-Dienste,

E-Mail-Anbieter)

End-to-End-Verschlüsselung

(z.B. Qabel)

Herkömmlich Sicherer

1 Der Nutzer lädt eineDatei in die Cloud, um siebestimmten Personen zurVerfügung zu stellen.

2 3

2 Transportverschlüsselung Nur der Transport der Daten überdas Netz ist verschlüsselt. Auf denServern können sie dann von denBetreibern, aber auch von Polizeiund Geheimdiensten eingesehenwerden.

3 End-to-End-VerschlüsselungDie Datei bleibt auch in der Cloudund beim Herunterladen verschlüs-selt. Erst auf dem Computer oderSmartphone des Empfängers wirddie Datei entschlüsselt.

DatenschutzWarum die übliche Transportverschlüsselungnicht sicher ist

Technik

120 DER SPIEGEL 24 / 2014

Der Mann, der die Regierung einstdas Fürchten lehrte, ist 64 und trägtzum Sakko gern T-Shirt. Ansons-

ten geht er als gediegener Anwalt undBuchprüfer durch: Meinhard Starostik.

Starostik hat Rechtsgeschichte geschrie-ben, als er mit einer Verfassungsbeschwer-de in Karlsruhe 2010 die Vorratsdatenspei-cherung stoppte. Noch im selben Jahr zoger vor dem Verfassungsgericht gegen „Ele-na“ zu Felde, den elektronischen Entgelt-nachweis. Das reichte, um ihn als Angst-gegner der Regierung zu qualifizieren. Vorzwei Jahren wurde er zum Landesverfas-sungsrichter in Berlin gewählt.

Nun hat Starostik ein neues Projekt, esist ausnahmsweise keine Klageschrift, son-dern eine Software namens „Qabel“, diemehr als 100000 Zeichen Code umfasst.Qabel soll Verschlüsselung kinderleichtund private Daten sicher machen. AmMittwoch wollen Starostik und seineMitstreiter in Hannover eine ersteTestversion der Plattform vorstellen.

„Das Briefgeheimnis sowie dasPost- und Fernmeldegeheimnis sindunverletzlich“, heißt es im Grundge-setz, Artikel 10, Absatz 1. Doch dieausgefeilte Überwachungstechnik derNachrichtendienste zermürbt das Grund-recht immer weiter. Starostik will es nunwieder stärken – nicht mit Paragrafen, son-dern ebenfalls mit ausgefeilter Technik.

Sie kommt aus Hannover, von der Si-cherheitsfirma Praemandatum. Dort ko-ordiniert Peter Leppelt die Entwicklungvon Qabel. Der Enddreißiger mit demexakt rasierten Bart begrüßt Besuchergern mit dem Credo des Unternehmens:„Bitte vertrauen Sie uns nicht. Es ist nichtnötig.“

Noch eine Verschlüsselungssoftware?Der Markt ist überschwemmt von angeb-lich absolut sicheren Kryptoprodukten.„Aber bislang sind das Insellösungen“, sagtLeppelt. Und verspricht: „Qabel dagegenwird ein ganzes Ökosystem.“

E-Mails, Fotos, Adressen, Kalender: Bis-her werden derlei Daten direkt in Spei-cherwolken wie Dropbox oder iCloud ge-pustet. Viele Firmen bieten dabei lediglicheine „Transportverschlüsselung“ an, also

die Sicherung auf dem Weg vom Privat-rechner ins Rechenzentrum.

Qabel dagegen soll alle Daten bereitsvor dem Versand komplett in digitale Brief-umschläge hüllen. „Der Provider hat keineAhnung, was Kunden auf seinen Servernspeichern“, sagt Leppelt.

Verschlüsselung gilt als Spezialistenhob-by, selbst Anwälte und Ärzte verzichtenmeist darauf. Qabel will es nun einfachmachen: indem es sich mit handelsübli-chen Programmen kombinieren lässt. Undfalls der Empfänger nicht „verqabelt“ ist,

geht die Nachricht trotzdem raus – dannploppt jedoch eine Warnung auf.

Allerdings, das wissen auch die Qabel-Erfinder, kann jedes Schloss geknackt, jeder Code gebrochen werden. „Wer hun-dertprozentige Sicherheit verkauft, ist einScharlatan“, sagt Leppelt.

Daher nimmt die Firma ihr Motto, dieAufforderung zum Misstrauen, ernst biszur Selbstkarikatur: Die 20 Mitarbeiter ver-trauen sich nicht einmal selbst. So habensie die Plattform zwar zum Patent ange-meldet, wollen aber das Schutzrecht ver-schenken, an Starostik. „Wir entmachtenuns selbst“, sagt Leppelt, „präventiv fürden Fall, dass unsere Firma irgendwanneinmal böse oder gierig wird.“

Es geht darum, die Macht der eigenenSoftware von Anfang an zu begrenzen.Anders als dies Facebook, Amazon oderGoogle taten, die als harmlose Start-upsbegannen und sich mehr und mehr in ge-waltige Datenkraken verwandelten, denenviele Nutzer hilflos gegenüberstehen.

Die Qabel-Macher haben die Selbstkon-trolle auf mehreren Ebenen eingebaut.Zum einen gestalteten die Programmiererdie Software modular – wenn ein Teil ver-sagt, kann er leicht ausgetauscht werden.Und zum anderen steht der Code jedemProgrammierer offen; wer will, kann ihnnach Fehlern und Hintertüren durchsu-chen. Zusätzlich will Leppelt die Softwareeiner professionellen Qualitätsprüfung(„Audit“) unterziehen, finanziert über dieStart-up-Plattform Indiegogo.

Aber was, wenn die Qabel-Verschlüs-selung missbraucht wird, um illegale

Tauschbörsen aufzubauen? „Es kannnicht unsere Aufgabe sein, Polizei zuspielen“, sagt Starostik. „Man sollte

lieber auf klassische Ermittlungsarbeitsetzen statt auf Massenüberwachung.“Früher hat Starostik in der Plattenindus-

trie gearbeitet: beim Indie-Label RoughTrade. 1982 erzählte ihm ein Freund inLondon bei einem Bier von diesem komi-schen Internet. Er ahnte damals, dass esseine Branche umkrempeln könnte. Nunsei es an der Zeit, das Internet selbst um-zukrempeln, findet Starostik. Qabel ist ge-dacht als Grundstein für ein sicheres Netz.

Wobei dieser Plan viel zu groß ist fürdie kleine Firma: „Wir brauchen dringendHilfe“, sagt Leppelt. „Was wir liefern, istlediglich eine Plattform, die andere hof-fentlich in ihrer Software berücksichtigen.“Qabel, das sagt auch Starostik, könne „nurals Massenbewegung erfolgreich sein“.

Ob der Richter und die Nerds aus Han-nover so weit kommen, bleibt abzuwarten.Die Netzgemeinde jedenfalls dürften sieleicht für sich gewinnen, allein schon mitdem Firmennamen. „Qabel“ kommt ausder Science-Fiction-Sprache Klingonischund bedeutet so etwas wie: schwer abzu-hören. Hilmar Schmundt

Misstrauenist gutInternet Viele Nutzer haben sichdamit abgefunden, dass sie ihreDaten nicht schützen können.Eine neue Software versprichtnun maximale Sicherheit.

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122 DER SPIEGEL 24 / 2014

Ethnologie

Love Parade der HerzenWenn es ums Feiern geht, istder Berliner an sich ziemlichunkompliziert: Ist was los,geht er hin. Zum BeispielPfingstsonntag, zum Karne-val der Kulturen, einem riesi-gen Straßenumzug in denStadtteilen Kreuzberg undNeukölln. Über 5000 Teilneh-mer machen mit, verteilt auf82 Gruppen, 700 000 Besu-cher erwarten die Veranstal-ter in diesem Jahr, bei gutemWetter sind es wahrscheinlichmehr. Es ist der größte Um-zug der Hauptstadt, jedesJahr wieder ein schönes Fest.Eines bleibt allerdings auchim 19. Jahr des Bestehens be-

merkenswert: das eigentümli-che Beharren auf dem Begriffder „Kulturen“. Damit habenwir Deutschen es ja, von denKampfparolen des ErstenWeltkriegs, als es hieß, wirmüssten unsere „Kultur“ ge-gen die französische „Zivili-sation“ verteidigen, bis zuden Debatten um Multikultiaus den Neunzigern: Zeigemir deine Kultur, und ichsage dir, wer du bist. Als dieNeuköllner Werkstatt derKulturen 1996 den ersten Kar-neval vorbereitete, sollte ereine Feier der ethnischenVielfalt Berlins sein. Vorbildwar der Notting-Hill-Karne-val in London, der in denSiebzigerjahren von blutigenStraßenschlachten begleitetwurde und nicht von Anfang

an staatlich gefördert war wiein Berlin. Doch die Idee gingnie auf. Nicht nur, weil diegrößten Berliner Migranten-gruppen bis heute keine Lustdazu haben, es gab und gibtso gut wie keine türkischenoder arabischen Wagen. Son-

dern auch, weil die Samba-gruppen, die auf den erstenBlick aussehen wie aus Brasi-lien importiert, im Wesent -lichen aus Deutschen beste-hen. So wie die Kung-Fu-Gruppen. Oder die verkleide-ten Regenwaldgeister. Mankönnte nun spotten und sa-gen, so müsse wohl der Traumder Deutschen von Integra -tion aussehen: Anstatt dernervigen Ausländer machtman sich den Fremden ein-fach selbst. Wahrscheinlich istes aber ganz anders. DiesesJahr fährt etwa ein Veganer-Wa gen mit. Offensichtlich hatder Begriff der „Kultur“ seinealte Bedeutung einfach ein -gebüßt. „Kultur“ heißt heuteeinfach Lebensstil. Wenn daskein Fortschritt ist. rap

Zeitgeschichte

Zur Sonne, zur FreiheitDer Kalte Krieg wurde auch mitPlakaten geführt, mit Propaganda -slogans und Zeichnungen. Die Bot-schaften, die das DDR-Regime aufPostern verbreiten ließ, waren malkämpferisch-aggressiv („Ami, GoHome!“), mal demonstrativ ent-spannt („Frohe Ferientage für alleKinder“), mitunter auch dreist ge -logen („Unentwegt kämpft die Sow-jetunion für den Weltfrieden“).Mehr als 9000 solcher Plakate ausvier Jahrzehnten liegen im Archivdes Deutschen Historischen Muse-ums in Berlin. Jetzt, 25 Jahre nachdem Fall der Berliner Mauer, hatder britische Autor David Heathereine Auswahl für einen prächtigenneuen Bildband zusammengestellt:„DDR Posters – Ostdeutsche Propa-gandakunst“ (Prestel Verlag, Mün-chen) zeigt kuriose bis gruseligeBeispiele für das Sendungsbewusst-sein der Parteibonzen und ihrerPropagandakünstler. Sogar dieHimmelsrichtungen wurden damalsideologisch aufgeladen. „Die Sonnegeht im Osten auf!“ lautet der Slo-gan auf einem Plakat von 1959, daseine mit einem roten Stern verzier-te Rakete zeigt – eine Verneigungvor dem großen Bruder Sowjetunion,der auch im Weltraum den Sozia -lismus verbreiten wollte. mwo

DDR-Propagandaplakate

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„Karneval der Kulturen“

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123DER SPIEGEL 24 / 2014

Literatur

Ein Bub in Berlin

Ein durch und durch verblüf-fendes Buch: „Die Berlin -reise“ hat ein Zwölfjährigergeschrieben und seinem Vater einst zum Geschenk ge-macht. „Für Papa zu Weih-nachten 1964 – von seinemBub“ lautet die Widmung.Den mehrtägigen Besuch in der damals geteilten Stadthatten Vater und Sohn imFrühjahr desselben Jahres un-ternommen, und anhand von Notizen war dem Jungenin den Monaten danach ein detailreiches, von großerEmpfänglichkeit geprägtesJournal gelungen. Erst einhalbes Jahrhundert späterstieß der heute 62 Jahre alteSchriftsteller Hanns-JosefOrtheil wieder auf das früh-reife Jugendwerk, selbst er-staunt darüber, was er damals„alles beobachtet und wahr -genommen hatte“. Tatsäch-lich ist das Verblüffendste an diesem nach Angaben Ort-heils jetzt nahezu unredigiertpublizierten Berlin-Porträtdie erzählerische Perfektion,

die sich sowohl einer nochkindlichen Neugier als auchder großartigen Beobach-tungsgabe verdankt. Erklär-lich ist das überhaupt nur,weil der Sohn eines liebevol-len Vaters und einer nachdem Verlust von vier Söhnenzeitweise verstummten Mut-ter schon im Alter von siebenJahren mit dem Schreiben begann. Jedenfalls fängt derBub die Atmosphäre jenervon der DDR umzingeltenStadt im Jahr 1964 großartigein – inklusive des Ostteils,wo „alle so umher gingen, alshätten sie eigentlich dazu keine Lust“. In Klammernfügt der Jungschriftsteller mitFeingespür hinzu: „Die meis-ten gingen sogar so umher,als hätten sie zu überhauptnichts mehr richtig Lust.“ vha

Hanns-Josef OrtheilDie Berlinreise

Luchterhand Literaturverlag,München; 288 Seiten; 16,99 Euro.

Kultur

Kino in Kürze

Schöner sterben

Die 16-jährige Hazel Grace(Shailene Woodley) hatKrebs: In ihrer Schilddrüsewuchert ein unheilbarer Tumor, sie hat unzählige Che-motherapien und Bestrahlun-gen hinter sich. Aber abgese-hen von einem dezent unterder Nase drapierten Sauer-stoffschlauch und einer modi-schen Kurzhaarfrisur sieht sieso gesund und schön aus wieein Hollywoodstar. Ansons-

ten macht Josh Boones Verfil-mung von John Greens Best-seller „Das Schicksal ist ein mie-

ser Verräter“ fast alles richtigund trifft den sarkastischenund ganz und gar unsentimen-talen Ton der Vorlage. Dennweder Hazel Grace noch derKnochenkrebs-ÜberlebendeGus (Ansel Elgort) wollen sichvon irgendwelchen tödlichenKrankheiten ihre erste undvielleicht einzige große Liebeverderben lassen. Ein Film,der das Leben feiert, ohneden Tod auszulassen. das

Irgendwo in seinen „PhilosophischenUntersuchungen“ schreibt LudwigWittgenstein, bestimmte Probleme lie-ßen sich nicht „lösen“, sondern nur„zum Verschwinden bringen“. Ich fin-de den Satz nicht mehr wieder, auchdas Stichwortverzeichnis bringt michnicht weiter. Möglicherweise habe ichihn mir auch nur zurechtgelegt, so

wie häufig gerade die Erinnerung, auf die wir schwörenwürden, eine falsche ist; man kennt das Problem. Dasnatürlich nur eines ist, wenn es um die Feststellung eines Sach verhalts geht, zum Beispiel vor Gericht. Im zivilen Leben tauschen wir ständig Erinnerungen aus,die nicht den Tatsachen entsprechen, sondern den eigenen Empfindungen oder dem, was wir gedanklichdaraus gemacht haben. War ich tatsächlich enttäuscht,als mein Zeugnis nicht den Erwartungen entsprach?Oder habe ich die Enttäuschung vorweggenommen,die ich bei meiner Mutter erwartete, und war das zutreffend oder eine Projektion? Und habe ich die Ent -täuschung womöglich empfunden, um die von ihr er-wartete gewissermaßen abzupuffern, oder habe ich sieunbewusst übersteigert, um einem Tadel auszuweichenund stattdessen Trost zu empfangen?

Man sieht: Praktisch lässt sich aus allem ein Problemmachen, wenn man allein darüber nachdenkt. Herauskommt man aber nur, indem man sich in die sozialeWirklichkeit begibt, zögernd, vorsichtig oder auch rück-haltlos. Dann können Probleme „verschwinden“.

Ob Wittgenstein das gemeint hat?Er gehörte, wie Søren Kierkegaard, zu den stillen

Brütern der Philosophie: verzweifelnd und radikal, be-schwert vom Mantel der einsamen Größe, der sich ihmfrüh um die Schultern legte und dessen Saum doch immer im Staube des Lebens schleift. Zu seinen selbstgestellten Aufgaben zählte, Probleme zu sehen, die andere nicht sehen. Zum Beispiel: „Wie meint man, wasman vor sich sieht, mit Worten?“

Als er 1918 antrat, die Philosophiegeschichte mit sei-nem „Tractatus logico-philosophicus“ zu erledigen, warer ein junges Genie, ein Soldat auf Fronturlaub. In sei-nem späteren Werk, das nach Stationen als Volksschul-lehrer und Klostergärtner auch in Cambridge und einereinsamen Hütte in Norwegen entstand, beschränkte ersich auf Bemerkungen, Beobachtungen und Fragen –wie die, was eigentlich ein „Problem“ sein kann. Er warzweifellos ein Kauz, eine Spielart des Menschlichen, für die es früher, so kommt es mir vor, mehr Raum imSozialen gab. (Ein Kauz gibt vielleicht mehr „Probleme“auf, als er hat.)

Inzwischen sind viele Zustände, die zum Erleben gehören, zu Problemen geworden, die es zu lösen gilt,zum Beispiel Trauer nach einem Tod oder einer Tren-nung. Vielleicht könnten diese Probleme verschwinden,wenn sie nicht mehr Probleme heißen? (Und hat mannicht gleich zwei Probleme, wenn man eins nicht lösenkann?)

An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nächste Woche istDirk Kurbjuweit an der Reihe, danach Claudia Voigt.

Darsteller Woodley, Nat Wolff

Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht

Stilles Brüten

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Dirigent Strauss um 1944

Groß ohne GrößeMusik Die Bedeutung von Richard Strauss als Komponist der „Elektra“ und des „Rosenkavaliers“ ist unbestritten. Doch jetzt, zu seinem 150. Geburtstag, muss auch über seine fragwürdige Rolle in der Nazi-Zeit gesprochen werden.

124 DER SPIEGEL 24/ 2014

Page 125: Der Spiegel 2014 24

Kultur

Es ist der erste Frühling nach demKrieg. Im Garten seiner Villa in Gar-misch-Partenkirchen empfängt ein

alter, grauhaariger Herr seine Gäste. Der80-Jährige mit den wasserblauen Augenist der berühmteste Komponist der Gegen-wart.

Einer seiner Besucher an diesem Früh-sommertag im Jahr 1945 ist der AutorKlaus Mann, Sohn des berühmtesten deut-schen Schriftstellers, Thomas Mann. Klausreist als Soldat der amerikanischen Streit-kräfte durch Deutschland. Die gesamte Fa-milie Mann ist 1933 emigriert. Indirekt hatRichard Strauss, der Gastgeber an diesemNachmittag, dazu beigetragen.

1933, in dem Jahr, in dem Hitler Reichs-kanzler wurde, hatte Thomas Mann einenAufsatz veröffentlicht, der sich kritischmit Richard Wagner befasste. In einer Zei-tung erschien kurz darauf der Aufruf:„Protest der Richard-Wagner-Stadt Mün-chen“ gegen Mann. Unterzeichnet hattediesen Aufruf auch Strauss. Die öffentli -che Verunglimpfung war für Mann einletzter Anstoß, Nazi-Deutschland zu ver-lassen.

Thomas Mann nahm den Weg in die Emi-gration, Richard Strauss blieb in Deutsch-land. Beide waren die bedeutends ten deut-schen Künstler der Zeit. Mann wurde vonden Nazis verfolgt, Strauss wurde bedin-gungslos hofiert. So nahm Strauss es jeden-falls lange Zeit wahr. Ein fataler Irrtum.

In den unterschiedlichen Lebenswegendes Dichters und des Komponisten spie-geln sich zwei unterschiedliche Arten, aufdie Diktatur zu reagieren: fliehen – oderdableiben und sich arrangieren.

Strauss hielt sich für unantastbar. Erwollte vom System profitieren. Er war keinNazi, kein Parteimitglied und kein Anti -semit. Er war ein lupenreiner Opportunist.

So jemand musste sich zwangsläufig ver-stricken. Strauss, dessen Name schon da-mals im Lexikon stand, glaubte, die Na-tionalsozialisten benutzen zu können. InWahrheit benutzten sie ihn.

Strauss wusste früh, was er kann. EinKomponist, so hat er einmal gesagt, müsseauch eine Speisekarte vertonen können.Er, da war er sich sicher, kann das, ja mei!

Klaus Mann fand Strauss im Frühjahr1945, so beschreibt er die Begegnung imGarmischer Garten in seinen Erinnerun-gen „Der Wendepunkt“, „in ungewöhnlichguter Form“ vor. Strauss wusste anschei-nend nicht, wer da bei ihm im Garten saß.Unbekümmert plauderte er drauflos. Dochje länger das Gespräch dauerte, desto kla-rer wurde Mann, dass er es hier mit „völligamoralischem Egoismus“ zu tun habe, mitder „Naivität“ eines Mannes, der – „einGenie beinah“ – nichts gelernt habe: „Eingroßer Mann – so völlig ohne Größe!“

Was hatte den Dichtersohn so empört?Es ist Strauss’ nahezu penetrante Verwei-

gerung, sich mit der Nazi-Zeit auseinander-zusetzen und mit seiner Rolle im System.

„Mit sanft-sonorer Stimme teilte er unsmit“, so Mann, „daß die Nazi-Diktaturauch für ihn in mancher Beziehung lästiggewesen sei.“ Man habe versucht, Ausge-bombte in seinem Haus unterzubringen:„Man stelle sich das vor!“, beklagt sichStrauss bei Klaus Mann.

Richard Strauss, der mit seiner Musikdie Zuhörer bis heute betört, war als Kom-ponist ein Magier der Effekte, ein Meisterder Zwischentöne, feinsinnig, elegant undvoller Raffinement, ein Feinmechanikerder Töne.

Als Mensch war er bisweilen grob-schlächtig, schwer zugänglich und offen-sichtlich ohne Gespür für das eigene Ver-sagen.

Jetzt, 150 Jahre nach seiner Geburt am11. Juni, erscheinen neue Biografien, dieversuchen, Strauss’ Verhalten in der Nazi-Zeit und seine musikhistorische Bedeutungauseinanderzuhalten.

Als Strauss 1864 geboren wurde, warLudwig II. seit gerade mal drei MonatenKönig von Bayern. Der junge Monarch warein glühender Bewunderer Wagners, dener generös förderte. Franz Strauss, Ri-chards Vater, war damals Solohornist anLudwigs Hofoper.

Richards musikalische Begabung wurdefrüh erkannt und gefördert. Als er vierJahre alt war, bekam er Klavierunterricht,lernte Geige, übte sich in Musiktheorieund wurde später, 21-jährig, HerzoglicherHofmusikdirektor am damals renommier-ten Theater in Meiningen. Es ging raschvoran: 3. Kapellmeister in München, As-sistent in Bayreuth, Kapellmeister in Wei-

mar und 1894 endlich Königlicher Kapell-meister in München sowie Leiter der Kon-zerte des Philharmonischen Orchesters inBerlin. Strauss war eine Art komponieren-der Karajan seiner Zeit. Sein lässig-phleg-matischer Dirigierstil war berühmt. Weni-ge Bewegungen, keine sichtbaren Emotio-nen. Wenn er auf dem Podium oder imOrchestergraben stehe, müsse nicht erschwitzen, so seine Erklärung, sondern dasPublikum müsse warm werden.

In den nächsten Jahren entstanden eini-ge der bis heute bekanntesten und belieb-testen Werke: „Don Juan“, „Tod und Ver-klärung“, „Till Eulenspiegels lustige Strei-che“ und 1896 die mächtige Tondichtungnach Nietzsche „Also sprach Zarathustra“,eine Komposition, deren majestätischerAnfang von Stanley Kubrick für seinenFilm „2001: Odyssee im Weltraum“ von1968 benutzt wurde und seitdem zur Pop-geschichte gehört.

Strauss machte Karriere. Er wurde 1898Erster Königlich-Preußischer Kapellmeis-ter in Berlin, wurde zum Ehrendoktor pro-moviert und war bald der berühmtestekomponierende Dirigent seiner Zeit.

Über Nacht wurde er der berühmtestedirigierende Komponist. Am 9. Dezember1905 hatte in Dresden sein bis dahin unge-heuerlichstes Werk Premiere. Eine einak-tige Oper voller Erotik und Sinnlichkeitüber eine verbotene Liebe – die Vertonungvon Oscar Wildes Stück „Salome“.

Es basiert auf einer biblischen Geschich-te. Salome, die Stieftochter des Königs He-rodes, hat sich in Jochanaan, Johannes denTäufer, verliebt, der in einer Zisterne ge-fangen gehalten wird. Herodes begehrt Sa-lome. Ihr Liebesrausch, der von Jochanaan

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Aufführung der „Salome“ an der Komischen Oper Berlin: Peepshow der Töne

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Kultur

nicht erwidert wird, steigertsich in Mordfantasien. Salo-me fordert von Herodes „denKopf des Jochanaan in einerSilberschüssel“. Mit einemStriptease macht sie Herodesgefügig. Der Kopf des Pro-pheten wird ihr gebracht. Sieküsst den Mund des Toten.Herodes greift ein und be-fiehlt seinen Wachen: „Mantöte dieses Weib!“ Vorhang.

Die Wucht dieser Ge-schichte und die Unerbittlich-keit der Musik machten dieOper zu einem Skandalerfolg.Noch nie war weibliches Be-gehren so ungehemmt, so de-kadent deutlich auf einerOpernbühne zu hören und zusehen gewesen. Eine Peep-show der Töne, die bis heutefunktioniert. Der Schlussge-sang der Salome ist so aufrei-zend-erotisch, dass er bis heu-te wie ein gesungener Sexu-alakt wahrgenommen wird.

„Salome“ ist die Oper, dieden Geist der Zeit symbo -lisiert: Psychoanalyse, Befreiung von denKonventionen der Bürgerlichkeit, Bo-heme, Dekadenz, letzte Ausläufer des Finde Siècle.

Der Komponist wurde wohlhabenddurch seinen Geniestreich. Mit den Tantie-men konnte er sich seine Villa in Garmischbauen. Der Avantgardist als Bourgeois.

Nur drei Jahre nach der „Salome“ kam,wieder in Dresden, „Elektra“ heraus, einnoch gewagteres Werk. „Strauss geht daan die Grenzen der Tonalität“, sagt Chris-tian Thielemann, heute Chefdirigent derSächsischen Staatskapelle in Dresden, woin diesem Jahr unter seiner Leitung einefulminante „Elektra“ herauskam.

Die antike Rachegeschichte um Elektraund ihre Geschwister Orest und Chryso-

themis ist ein einziger Gewaltrausch. Erendet damit, dass Orest aus Rache seineMutter Klytämnestra und ihren GeliebtenÄgisth erschlägt.

Nach der ekstatischen „Elektra“ hatStrauss nie wieder so ein an den Grenzender Tonalität rüttelndes Werk geschrieben.Thielemann meint, Strauss habe mit bei-den Opern „zeigen wollen, was er kann“,und habe dann „einen wohlbedachten an-deren tonalen, aber nicht weniger moder-nen Weg eingeschlagen“.

Denn zwei Jahre später brachte Strauss,wieder in Dresden, die Oper heraus, fürdie er wohl bis heute am meisten geliebt

wird, „Der Rosenkavalier“; musikalisch istsie ein Rückfall.

Auf die Bühne kam die Geschichte derMarschallin Werdenberg, der reifen, un-glücklich verheirateten Frau, die ihren jun-gen Liebhaber an eine Jüngere verliert undes lebensklug hinnimmt. Der weise Textstammt von Hugo von Hofmannsthal.

Die Uraufführung 1911 war ein derarti-ger Erfolg, dass aus Berlin Sonderzüge ein-gesetzt wurden. Die bittersüße Liebesge-schichte aus der Zeit Maria Theresias istden einen bis heute ein anachronistischesOpernnaschwerk, andere schätzen sie alskluge Komödie über die Kunst zu lieben.

Strauss schrieb nun vor allem für dieBühne, „Ariadne auf Naxos“, „Die Frauohne Schatten“, „Intermezzo“. Schon 1914

wurde in München eine Straße nach ihmbenannt. Er bereiste Süd- und Nordameri-ka, wurde Offizier der französischen Eh-renlegion, Mitglied von Akademien undwurde mit Festwochen geehrt, alles, wäh-rend in Europa der Erste Weltkrieg tobteund die feudale Ordnung hinwegfegte, un-ter der Strauss groß geworden war. Nungab es keine Hofopern mehr. Deutschlandund Österreich waren Republiken.

Strauss stieg 1919 in die Leitung der Wie-ner Staatsoper ein, er war auf dem Höhe-punkt seines Ruhms, ein Mann von unan-gefochtener Autorität und ausgeprägtemErwerbstrieb. Wer sollte einem solchen

Genie schon etwas anhabenkönnen?

1933 zog Hitler, ein Musik-freund (Lieblingskomponis-ten: Richard Wagner undFranz Lehár), in die Reichs-kanzlei ein.

Er wollte das Land umbau-en und auf Linie bringen.Auch die Kultur. Es wurdeeine Reichsmusikkammer ge-gründet. Präsident sollte derangesehenste deutsche Kom-ponist werden. Strauss wardas recht. Er wollte keine Politik machen, sondern denUrheberschutz für Kompo-nisten verbessern, die Tan -tiemen sollten länger fließen,er dachte dabei an seine Fa-milie.

Der US-Autor Bryan Gil -liam kommt in seinem Buch„Richard Strauss. Magier derTöne“ zu dem Schluss: „Sei-ne Berufung zum Präsiden-ten war in Wirklichkeit vonAnfang an zum Scheiternverurteilt“*.

Strauss habe „paradoxerweise an derRolle eines Künstlers jenseits der Politik“Gefallen gefunden, sei sich aber bald derSchwierigkeit bewusst geworden, „unterdiesem neuen Regime eine apolitische Hal-tung einzunehmen“. Strauss saß, selbstverschuldet, in der Falle.

Nachdem Hugo von Hofmannsthal, der für Strauss unerlässliche Librettist,1929 an einem Schlaganfall gestorben war,musste sich der Komponist nach einemanderen Textdichter umsehen. Er gewannStefan Zweig. Der schrieb ihm den Textzu der Oper „Die schweigsame Frau“. Als die Arbeit beendet war, ließ ZweigStrauss feinfühlig wissen, dass eine weitere Gemeinschaftsarbeit unter denpolitischen Verhältnissen schwierig wer-den könne. Zweig, dem Juden, war klar,dass er in der Kunstwelt der Nazis keinenPlatz mehr hatte. 1942 sollte sich Zweigim Exil umbringen. Strauss leuchteten die Be denken des Schriftstellers keines-wegs ein.

Er schrieb Zweig am 17. Juni 1935 einenwütenden Brief: „Dieser jüdische Eigen-sinn! Da soll man nicht Antisemit wer-den!“ Strauss weiter: „Glauben Sie, daßich jemals aus dem Gedanken, daß ichGermane (vielleicht, qui le sait) bin, beiirgend einer Handlung mich habe leitenlassen? Glauben Sie, daß Mozart bewußt,arisch‘ komponiert hat?“ Für ihn gebe esnur zwei „Kategorien Menschen; solche

* Bryan Gilliam: „Richard Strauss. Magier der Töne“.Aus dem Englischen von Ulla Höber. C.H. Beck Verlag,München; 240 Seiten; 19,95 Euro.

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„Das Volk existiert für mich erst in dem Moment, wo es Publikum wird und den vollen Kassenpreis bezahlt.“

Starkomponist Strauss, Minister Goebbels 1938

Autorität mit ausgeprägtem Erwerbstrieb

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Kultur

die Talent haben und solche die keins ha-ben“. Für ihn existiere „das Volk erst indem Moment, wo es Publikum wird“. Vorallem, wenn es „den vollen Kassenpreisbezahlt“ habe.

Dieser Brief wurde abgefangen, kopiertund Hitler zugeleitet. Das Schreiben wur-de als Beweis für Strauss’ angeblich man-gelhafte völkische Gesinnung ausgelegt.Hitler war, genauso wie sein oberster Kulturbeauftragter, PropagandaministerJoseph Goebbels, wütend. Man ließ esStrauss wissen, der antwortete kleinlautschriftlich und legte Hitler dar, dass seinBrief keineswegs seine „wahre Gesinnung“wiedergebe. Zu spät.

Goebbels wollte, dass Strauss „ohneEclat“ sein Amt als Präsident der Reichs-musikkammer nach nur 20 Monatenräumt. Strauss gehorchte.

Als Präsident des „Ständigen Rates fürinternationale Zusammenarbeit der Kom-ponisten“ blieb Strauss im Amt. Der öster-reichische Musikwissenschaftler DanielEnder urteilt in seiner Biografie „RichardStrauss. Meister der Inszenierung“: „Fürdas Dritte Reich war er hier als internatio-nales Aushängeschild ebenso unverzicht-bar wie für die gesamte Propaganda imAusland“**.

Zumal von Strauss öffentlich nichts da-rüber zu hören war, dass aus ideologischenGründen die Werke jüdischer Komponis-ten nicht mehr aufgeführt wurden. Auchdie des großen Mendelssohn nicht.

Der Komponist war auch aus familiärenGründen inzwischen in den Händen derNazis. 1924 hatte sein Sohn Franz die Prager Jüdin Alice Grab-Hermannswörthgeheiratet, das Paar bekam zwei Söhne.Mutter und Kinder wurden von den Nazisdrangsaliert, vor allem um Richard Strausszu demütigen und zu verunsichern. Alicewurde öffentlich bespuckt, die Jungen mit Steinen beworfen. Strauss hatte tat-sächlich geglaubt, dass Mitglieder seiner

* Mit Anne Schwanewilms und Evelyn Herlitzius. ** Daniel Ender: „Richard Strauss. Meister der Inszenie-rung“. Böhlau Verlag, Wien; 352 Seiten; 24,90 Euro.

Familie bei den Nazis unantastbar seien.Noch so ein Irrtum.

Strauss versuchte, sich bei den Nazislieb Kind zu machen. Er dirigierte ein Kon-zert in Berlin anstelle des abgesetzten jü-dischen Dirigenten Bruno Walter, sprangin Bayreuth beim „Parsifal“ für ArturoToscanini ein, der wütend wegen HitlersRegierungsübernahme hingeschmissenhatte, und komponierte eine „OlympischeHymne“ für die Nazi-Spiele 1936 in Berlin.Hitler bekam ein Werk mit Widmung.

Als die Nazis in Dresden den ihnen un-liebsamen Generalmusikdirektor FritzBusch unter unwürdigsten Umständen ab-setzten, schwieg Strauss, obwohl er Buschdie Uraufführung seiner „Arabella“ ver-sprochen und ihm diese Oper auch gewid-met hatte.

Die militärische Lage war für Deutsch-land, das die Welt seit 1939 mit einem ver-heerenden Krieg überzogen hatte, aus-sichtslos geworden, die Siegesmeldungenblieben aus. Hitlers Deutschland stand vorder Niederlage. Die Feierlichkeiten zum80. Geburtstag von Richard Strauss 1944fielen auf Anweisung der Regierung rechtbescheiden aus.

Und doch setzten Hitler und Goebbelskurz vor Ende ihres Regimes den GreisStrauss noch auf ihre „Gottbegnadeten-Liste“, eine Aufstellung derjenigen Künst-ler, die vom Kriegsdienst befreit warenund für die Nazis aus Propagandagründenunerlässlich schienen: Kunstelite für dieHeimatfront.

Der Historiker Michael Kater fasst denUmgang der Nazis mit ihrem Parademusi-ker so zusammen: „Die Strategie bestanddarin, den Komponisten zugleich zu ge-brauchen und zu missbrauchen.“ Goeb-bels, so beschreibt es Biograf Gilliam,weist Strauss einmal kühl zurecht: „DieWelt sieht anders aus, Herr Dr. Strauss,als Sie es sich in Ihrem Garmischer Stu-dierzimmer vorstellen.“

Am Ende war Strauss in seinem Studier-zimmer in Garmisch der Welt da draußen,mit der er nichts zu tun haben wollte, nä-her gekommen, als er es sich je hatte vor-

stellen können. Die Opernhäuser in Mün-chen, Berlin, Dresden und Wien, die vierBühnen, die am engsten mit dem Aufstiegvon Richard Strauss verbunden sind, lagenzerbombt in Trümmern. Nun, nach derKapitulation, musste sich der deprimierteStrauss vor den Alliierten für seine Nähezum Regime rechtfertigen. Das Entnazifi-zierungsverfahren zog sich bis zum Juni1948 hin. Das Ergebnis: „Nicht betroffen.“

Seine über so lange Jahrzehnte unge-bremste Produktivität war erlahmt. Ihmfiel nur noch wenig ein. Musikalisch gerietsein Abschied von der Welt entsprechenddüster. Strauss, der ein Orchester flirren,jubeln und triumphieren lassen konntewie kein Zweiter, ließ im Januar 1946 inZürich die Komposition „Metamorpho-sen“ für 23 Streicher uraufführen. Einesder dunkelsten und pessimistischsten Wer-ke, die er je geschrieben hat. Ein knapphalbstündiges Adieu im Seelennebel.

Am 8. September 1949 starb RichardStrauss in Garmisch-Partenkirchen.

Doch der Komponist sorgte für einNachspiel. 1950 wurden in London vierOrchesterlieder für Sopran uraufgeführt.Kompositionen auf Texte von Joseph von Eichendorff und Hermann Hesse. Siesind melancholisch, lebenssatt und vonzärt licher Sinnlichkeit. Diese „Vier letz -ten Lieder“ sind das Vermächtnis von Ri-chard Strauss. Postum zeigte er noch ein-mal, was er am besten gekonnt hatte: un-vergängliche Melodien schaffen, vollerSchmelz und glitzerndem Oberflächen-glanz.

Hermann Hesse mochte das Werk nicht.Die Lieder seien „virtuos, raffiniert, vollhandwerklicher Schönheit, aber ohne Zen-trum, nur Selbstzweck“.

Und vielleicht hat er mit diesem Satzdas wahre Wesen des Komponisten getrof-fen: ein Virtuose des Selbstzwecks.

Joachim Kronsbein

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Zerbombte Semperoper in Dresden 1949, aktuelle „Elektra“-Produktion in Dresden*

Abschied von der Welt mit 23 Streichern

Video: Joachim Kronsbein

über Strauss’ Musik

spiegel.de/app242014straussoder in der App DER SPIEGEL

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Kultur

129DER SPIEGEL 24 / 2014

SachbuchBelletristik

1 (19) Donna LeonDas goldene EiDiogenes; 22,90 Euro

2 (1) Jan Weiler Das Pubertier Kindler; 12 Euro

3 (13) Marc ElsbergZERO – Sie wissen, was du tust

Blanvalet; 19,99 Euro

4 (3) Frank SchätzingBreaking News

Kiepenheuer & Witsch; 26,99 Euro

5 (4) Jonas JonassonDie Analphabetin, die rechnenkonnte Carl’s Books; 19,99 Euro

6 (2) Donna Tartt Der Distelfink Goldmann; 24,99 Euro

7 (5) Martin Walker Reiner Wein Diogenes; 22,90 Euro

8 (9) Veronica RothDie Bestimmung –Letzte Entscheidung cbt; 17,99 Euro

9 (8) Romain PuértolasDie unglaubliche Reise desFakirs, der in einem Ikea-Schrankfeststeckte S. Fischer; 16,99 Euro

10 (10) Simon BeckettDer Hof Wunderlich; 19,95 Euro

11 (–) Karen RoseTodesschuss Knaur; 19,99 Euro

12 (7) IldikÓ von KürthySternschanze Wunderlich; 17,95 Euro

13 (11) John Williams Stoner dtv; 19,90 Euro

14 (6) C. J. Daugherty Night School – Um der Hoffnungwillen Oetinger; 18,95 Euro

15 (14) Horst EversVom Mentalen her quasi Weltmeister Rowohlt Berlin; 18,95 Euro

16 (15) Timur Vermes Er ist wieder da Eichborn; 19,33 Euro

17 (20) Joachim MeyerhoffWann wird es endlich wieder so,wie es nie war

Kiepenheuer & Witsch; 19,99 Euro

18 (12) Graeme Simsion Das Rosie-Projekt

Fischer Krüger; 18,99 Euro

19 (16) John GrishamDie Erbin Heyne; 24,99 Euro

20 (17) Suzanne CollinsDie Tribute von Panem –Flammender Zorn Oetinger; 18,95 Euro

1 (1) Wilhelm SchmidGelassenheit – Was wir gewinnen,wenn wir älter werden Insel; 8 Euro

2 (2) Roger WillemsenDas Hohe Haus S. Fischer; 19,99 Euro

3 (3) Glenn GreenwaldDie globale Überwachung

Droemer; 19,99 Euro

4 (4) Dieter HildebrandtLetzte Zugabe Blessing; 19,99 Euro

5 (6) Susanne Fröhlich / Constanze KleisDiese schrecklich schönen Jahre

Gräfe und Unzer; 17,99 Euro

6 (5) Guido Maria KretschmerAnziehungskraft Edel Books; 17,95 Euro

7 (9) Matthias Weik / Marc FriedrichDer Crash ist die Lösung

Eichborn; 19,99 Euro

8 (7) Volker WeidemannOstende – 1936, Sommer der Freundschaft

Kiepenheuer & Witsch; 17,99 Euro

9 (12) Christopher ClarkDie Schlafwandler DVA; 39,99 Euro

10 (8) Michelle Knight mit Michelle BurfordDie Unzerbrechliche

Bastei Lübbe; 19,99 Euro

11 (13) Andreas EnglischFranziskus – Zeichen der Hoffnung

C. Bertelsmann; 19,99 Euro

12 (15) Jenke von WilmsdorffWer wagt, gewinnt

Bastei Lübbe; 14,99 Euro

13 (11) Peter WensierskiDie verbotene Reise DVA; 19,99 Euro

14 (19) Stefan Aust / Dirk LaabsHeimatschutz

Pantheon; 22,99 Euro

15 (14) Florian Illies1913 – Der Sommer desJahrhunderts S. Fischer; 19,99 Euro

16 (16) Monika GruberMan muss das Kind im Dorf lassen

Piper; 19,99 Euro

17 (–) Axel HackeFußballgefühleKunstmann; 16 Euro

18 (10) Joachim FuchsbergerZielgerade

Gütersloher Verlagshaus; 19,99 Euro

19 (–) Peter HahneRettet das Zigeuner-Schnitzel!

Quadriga; 10 Euro

20 (17) Christine WestermannDa geht noch was

Kiepenheuer & Witsch; 17,99 Euro

Gemächlicher Krimi im herbstlichen Venedig, wo Commissario Brunetti in der Nachbarschaft ermittelt

Mischung aus Reportage, Essay und Feuilleton von einem Fußballversteher der Sonderklasse

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin buchreport; nähere Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

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Kultur

Wie wäre es, wären wir alle wie Angela Merkel? Für dieeinen ist diese Vorstellung womöglich ein Horror, an-dere finden sie ganz angenehm oder witzig. Aber egal

wie wir das sehen, wir sind auf dem Weg dorthin, soweit wir dasInternet rege nutzen. Der Mensch des digitalen Zeitalters, derHomo digitalis, gleicht sich der Bundeskanzlerin allmählich an.Es geht dabei um Identität, um die Struktur des Ich. Sie wandeltsich gerade bei vielen Menschen, sie wandelt sich in RichtungMerkel. Im Juli wird sie 60, und wir könnten ihr zu diesem Anlasssagen, dass ihr Erfolgsmodell nach und nach unseres wird. Viel-leicht freut sie sich. Und wir? Können wir uns darüber freuen,dass sich unser Ich politisiert?

Wie ist Merkel? Was ist ihre Identität, also unsere Zukunft?Das Dasein eines Spitzenpolitikers wird von der Öffentlichkeitgeprägt. Er steht unter permanenter Beobachtung, und Öffent-lichkeit ist eine Instanz, die belohnt und straft. Je größer das Publikum, desto herrlicher sind die Triumphe, und niederschmet-ternd sind die Niederlagen und Fehltritte. In diesem System redetund handelt Merkel, um Zustimmung zu finden, in Sälen, in denMedien, in Umfragen, bei Wahlen. Sie richtet ihr Verhalten aufdie Öffentlichkeit aus.

Es gilt nicht: Was will ich? Sondern: Was kommt an? Also:Wie komme ich zu Belohnungen? Wie kann ich Bestrafungenvermeiden? Merkel ist die Meisterin dieser Lebensform.

Die Frage nach ihrer Identität ist daher schwer zu beantworten.Ihr Leben begann in einem Pfarrhaus in der DDR, sie hatte ur-sprünglich eine ostdeutsche Identität, aber mit der konnte sie inder bundesdeutschen Politik wenig anfangen. Sie musste sich zuTeilen neu erfinden und war gern dazu bereit. Sie merkte bald,dass es ihr wenig nützt, eindeutig konservativ oder eindeutigneoliberal zu sein. Also begann sie ihre Worte zu behüten, undheute redet sie meist so, dass ihr kaum einer böse sein kann. Dasie sich ständig so reden hört, denkt sie wahrscheinlich auch so.Ihre Identität ist flüssig geworden.

Wie steht es um die Identität der Bürger? Da hat sich schonvor der digitalen Revolution einiges getan. Ein Ich ist zum großenTeil ein soziales Konstrukt. Es entsteht auch durch äußere Ein-flüsse, es gilt: Das Ich sind auch die anderen. Das waren lange:Familie, Kirche, Partei, Gewerkschaft, Verein. Sie füllten dasDenken und Sein der Mitglieder mit Werten, Traditionen, Über-zeugungen. Man fiel da hinein, übernahm das von den Eltern.Das gab Sicherheit, war Heimat, war Identität.

Allerdings schwindet die Bedeutung dieser Gruppen beständig.Die Menschen sind freier, das Ich ist offen für neue, andere Ein-flüsse. In diesem flockigen Zustand treffen wir auf das Internet.

Das Netz ist eine neue Form von Öffentlichkeit, also ein Reso-nanzraum, eine Quelle von Feedback, und zwar für jeden. Auchdie Kirchengemeinde, der Ortsverband der Partei oder der Vereinsind Öffentlichkeiten, aber begrenzte und im Prinzip wohlwol-lende. Zwar heißt es, dass kein Feind schlimmer sei als der Par-teifreund, und tatsächlich wird hart gefochten, und doch herrschteine Solidarität, die sich aus der gemeinsamen Identität speist.Die Versöhnungskräfte sind groß. Spätestens im Wahlkampf stehtman Schulter an Schulter.

Für die Struktur der alten Öffentlichkeit war der Torwächterbestimmend, der „gatekeeper“. Das waren und sind meistensJournalisten, die darüber bestimmen, was in die Zeitung oderins Programm kommt. Sie sind oft gnadenlos gegenüber der Pro-

minenz, Politikern, Spitzensportlern oder den Stars aus Film undMusik, aber der Bürger muss sie in der Regel nicht fürchten. Erlebt unterhalb von deren Wahrnehmungsschwelle oder wird geschützt, soweit Journalisten verantwortungsvoll handeln, wasallerdings nicht alle tun.

Das Internet dagegen ist eine Öffentlichkeit fast ohne Tor-wächter, und es ist im Prinzip nicht wohlwollend, ist nicht wieKirchengemeinde oder Ortsverband. Das sind die großen Unter-schiede zu früher. Wer will, kann so leicht prominent werdenwie nie zuvor. Auch wer nicht will. Für Talent, Witz, Ruchlosig-keit, Dummheit, Ungeschick, Glück und Pech gibt es eine großeChance, weltweit wahrgenommen zu werden.

Öffentlichkeit ist die Möglichkeit der Prominenz. Sie ist einungeheurer Reiz, weil das Berühmtsein dem Ego so schmeichelt.Es multipliziert das eigene Ich in die Welt hinein. Ruhm! Auf-merksamkeit! Bedeutung! Doch was erst paradiesisch ist, wirdzur Hölle, wenn sich das Vorzeichen ändert. Christian Wulffweiß das. Karl-Theodor zu Guttenberg weiß das. Prinzessin Dianawusste das. Michael Jackson wusste das.

Im Ablauf der Prominenz gibt es einen Kipppunkt. Das Ichsendet in die Welt hinaus und wird mit der Wahrnehmung größerund stärker. Aber die Welt sendet zurück. Sie kriecht in diesesIch hinein und verändert es, macht es kleiner und schwächer.Denn wer prominent ist, positiv prominent ist, will es in derRegel bleiben, will mehr davon und fängt an, sich so zu verhalten,dass er wahrgenommen wird und beliebt bleibt. Die Identität ändert sich, verschwimmt. Das Ich sind die anderen. Prominenzheißt auch: die innere und äußere Zurichtung für die Öffentlich-keit. Je größer diese ist, desto stärker wirkt sie auf das Gemüt.

So entstehen Kunstgestalten, denen Aufmerksamkeit allesgilt. Boris Becker ist so eine, Dieter Bohlen, Angelina Jolie,Cristiano Ronaldo. Michael Jackson dachte, er würde mehr

geliebt (und mehr Musik verkaufen), wenn er kein dunkelhäutigerMenschentyp wäre, und ließ deshalb Chirurgen und Chemikerdaran arbeiten, es nicht zu sein. Sein Gesicht wurde blasser undspitzer. Auf einer anderen Ebene machen Politiker das Gleiche.Merkel war nach dem Wahlkampf von 2005 klar, dass sie als neo-liberaler Haudegen nicht lange Kanzlerin bleiben würde, wendetedie politische Chirurgie und Chemie auf sich selbst an und er-schien uns plötzlich als Sozialdemokratin, blassrot statt schwarz.

Das sind Extreme. Aber habenwir nicht schon ein bisschen davonübernommen? Zählen wir nicht die„Gefällt mir“ bei Facebook, die Fol-lower bei Twitter, die Klicks bei YouTube, die Einträge bei Google? „Scoring“ ist eine wachsende Lei-denschaft, Punkte sammeln, Zustim-mung einheimsen. Das sind Umfra-gen über uns selbst, das ist Demo-skopie über das Ich. Damit sind wirden Politikern schon recht nahe.Und wir zählen nicht nur, sondernvergleichen auch. Wie viele Klickshabe ich, wie viele hat der Kollege?Wir stehen im Wettbewerb, im per-manenten Wahlkampf für uns selbst.

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Wir werden BundeskanzlerinEssay Wie das Internet unsere Identität verändert / Von Dirk Kurbjuweit

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Die Privat- sphäre schwin-det für alle. Die NSA liest im Netz mit, und jeder kann eines jeden Paparazzo sein.

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Es liegt nahe, dass wir uns bald Gedanken darüber machen,wie wir Zustimmung und Aufmerksamkeit generieren, wie wirunseren „score“ steigern, unsere Prominenz, dass wir unserewachsende Erfahrung über das, was ankommt und was nicht,nutzen und vor allem Dinge schreiben oder tun, die ankommen.Manche machen aus ihrem Leben auf Facebook eine permanenteErzählung, und vielleicht versuchen sie irgendwann, das zu er -leben, was ihnen Punkte einträgt.

Damit fängt es an, das Sein für andere, die innere Zurichtung,die Reform der Identität. Anders gesagt: Das Ich wird demokra-tisiert. Die jeweilige Öffentlichkeit im Internet, das digitale Volk,mischt sich ein, nimmt Einfluss, stimmt ab und entscheidet überSieger und Verlierer.

Das kann schön sein für den, der gewinnt. Er wird berühmt,vielleicht reich. Nahezu jeder hat nun diese Chance. Wer kannteschon Friedrich Liechtenstein vor seiner viralen Werbekampagnefür eine Handelskette? YouTube hat ihn zum Star gemacht.

Aber die digitale Öffentlichkeit macht sich gern über ihreOpfer lustig, sie schimpft, sie verdammt, sie straft. Ein Shitstormtut weh, kann vernichten. Das erfuhr Justine Sacco, als sie inSüdafrika aus einem Flugzeug stieg. Vor dem Start hatte sie ge -twittert, dass sie hoffe, auf dieser Reise kein Aids zu bekommen,dann schrieb sie: „War nur ein Scherz, ich bin ja weiß.“ Das warunsäglich, und früher hätte sie das ihren Freunden gesagt, unddie hätten gelacht oder das Gesicht verzogen. Aber Justine Saccosetzte sich der digitalen Öffentlichkeit aus, war für ein paar Tageder Paria der Welt und verlor ihren Job. Abgewählt.

Eine andere Parallele zur Politik ist neuerdings die ständigeBeobachtung. Merkel kann jederzeit fotografiert werden, jedesihrer Worte kann in die Medien dringen, auch aus den Hinter-zimmern. Für Prominente ist die Öffentlichkeit nahezu total, sielässt sich kaum beschränken.

So ähnlich geht es uns nun auch. Facebook ist die freiwilligeSeite der digitalen Öffentlichkeit. Aber da nahezu jeder einHandy mit sich trägt und diese Handys fotografieren und Wortemitschneiden können, gibt es eine unfreiwillige Seite. Das erlebteeine Koreanerin, die sich nicht darum kümmerte, dass ihr Hundin die Bahn gekackt hatte. Jemand machte Fotos von dieser Szeneund stellte sie ins Internet. Das Mädchen wurde als „Dog ShitGirl“ berühmt und verdammt. Das erlebte auch Donald Sterling,Besitzer des Basketballteams Los Angeles Clippers. Als er seiner

Freundin sagte, sie solle ihre dunkelhäutigen Freunde nicht zumSpiel mitbringen, wurde das mitgeschnitten und auf einer Websiteveröffentlicht. Auch dieser Satz war unsäglich, aber er war privatgesagt. Sterling muss die Clippers verkaufen.

Die Privatsphäre schwindet für alle. Die NSA liest im Netzmit, und jeder kann eines jeden Paparazzo sein. Beson-ders gefährlich sind Schulhöfe oder private Partys. Es feh-

len die Gatekeeper, die entscheiden, für wen eine breite Öffent-lichkeit zumutbar ist und für wen nicht. Diese Öffentlichkeit istüberdies durch Anonymität besonders gemein. Das Gift wirdhäufig ohne Namen versprüht, und manche fühlen sich dadurchbemüßigt, proletenhaft aufzutreten.

Das alles landet im ewigen Archiv des Internets. Das Archivwar bislang vor allem ein Problem für Politiker. Ihre Sätze vonfrüher sind dort aufbewahrt und können jederzeit mit ihren Sät-zen von heute abgeglichen werden. Ein Vergessen gibt es nicht.Damit muss nun auch der normale Bürger klarkommen.

Eine Folge von alldem ist die Selbstzensur. Wir hüten unsereWorte, achten auf unsere Handlungen. Damit sind wir endgültigbei Angela Merkel angekommen.

Den Politikern wird oft vorgeworfen, sie lebten in einer eigenenWelt, in einem „Raumschiff“, in einem „Treibhaus“, sie hättensich entfernt vom Leben der Bürger. Jetzt holen wir sie zurückin unsere Mitte, nicht indem sie sich ändern, sondern wir uns.Wer sich in sozialen Netzwerken rumtreibt, kennt das Leben miteiner gewissen Prominenz, kennt die Veränderungen der Identi-tät. Sie wird flüssiger, passt sich den Bedingungen der digitalenÖffentlichkeit an, dieses nervösen, unberechenbaren Resonanz-raums.

Ist man dann noch authentisch? Das ist eine Frage, die auchzu Merkel gestellt wird. Ist jemand, der seine Haltung so starkverändert hat, der sich so eifrig den Wählerwünschen anpasst,authentisch? Ja ist die Antwort, genau darin. Merkel ist in derLebensform Anpassung authentisch. Der Homo digitalis ist es inseiner Anpassung an die Lebensbedingungen des Netzes.

Muss das so sein? So wie Merkel freiwillig in der Politik arbeitet,erscheinen wir zumeist freiwillig im Internet. Wir müssen nurwissen, dass es sich in beiden Fällen um intensive Systeme han-delt, die einen nicht unverändert lassen. Dann kann jeder selbstentscheiden, ob er der Bundeskanzlerin entsprechen möchte. �

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Es gibt Augenblicke im Pop, da ändertsich das ganze Spiel. Ein neuer Startritt auf und sagt: Die alten Regeln

gelten nicht mehr. Ich bin jetzt da. DerAuftritt der neuseeländischen SängerinLorde am Donnerstag vergangener Wochein der Berliner Columbiahalle war so einAugenblick.

Der Saal ist groß, 3000 Leute haben hierPlatz. Lorde kam allein auf die Bühne. Siespielte ihr erstes Stück, tanzte, was einbisschen komisch aussah, weil sie sich inkeiner erkennbaren Choreografie beweg-te, sondern einfach nur den Kopf schüt-telte. Und sie sang. Dann ging der Vor-hang auf, und ihre Band wurde sichtbar:Sie bestand aus gerade mal zwei Musikern.Das war’s.

Keine Backgroundsänger, keine Tänzer,keine Treppe zum Herunterlaufen, ein klei-ner Kostümwechsel, keine nackte Haut. ImFolk oder Rock wäre das nichts Ungewöhn-liches. Im Pop ist es eine Sensation. BeiLady Gaga, Miley Cyrus oder Justin Bie-ber geht es um das Große, die Geste, diePerformance. Bei Lorde nicht: Ich habe et-was zu sagen, hört mir einfach zu.

Lorde ist 17. Vor einem Jahr war sie nochein unbekanntes Mädchen aus Neuseeland.Dann veröffentlichte sie ihre Single „Ro -yals“, die sich an die Spitze der US-Chartssetzte. Erst war es nur ein Internethype,doch dann blieb der Song neun Wochenlang die amerikanische Nummer eins. ImWinter bekam sie zwei Grammys, auch denfür den „besten Song des Jahres“.

Lorde ist der Popstar für den denkendenTeenager. Weil sie ein denkender Teenagerist. Ella Yelich-O’Connor, wie Lorde mitrichtigem Namen heißt, ist überraschendklein, sie hat lange lockige Haare, trägt ei-nen dreiteiligen grauen Hosenanzug, dazuBikerboots, und hat eines dieser Gesichter,mit dem andere Mädchen Model werden:großer Mund und große Augen.

Sie gibt nicht gern Interviews, vor allemweil sie keine Lust hat, die immer gleichenzwei Fragen zu beantworten: Wie ist es somit 17? Und: Worin unterscheidest du dichvon Miley Cyrus?

Dabei ist der Unterschied ziemlich klar: Cyrus ist ein seit Kindesbeinen aufErfolg getrimmter Entertainment-Kampf-roboter. Lorde ist das Mädchen aus dem

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Das Drama deshochbegabten KindesPop Die neuseeländische Sängerin Lorde ist der Star für den denkenden Teenager.

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Theaterkurs, das es in den Pop verschla-gen hat. Die Überfliegerin, die schlaueAn merkungen an den Seitenrand der Romane schreibt, die sie liest. Die Träu-merin vom anderen Ende der Welt, dieim Internet nach der Musik der coolenMetropolen sucht – und die reduziertenBerliner und Lon doner Clubsounds mitgroßen Pop melodien angereichert zurückin die Welt sendet.

Wirkt sie wie 17? Kaum. Sie hat eineAbgeklärtheit und Vernunft, die fast be-ängstigend sind. In ihrer Musik erzählt sieallerdings besser als irgendein anderer Popstar davon, wie sich genau dieses Alteranfühlt.

„Pure Heroine“ („Reine Heldin“), ihrDebütalbum, ist im vergangenen Herbst

erschienen. Es ist eine Jahrzehntplatte, dasAbbild des Lebens der Mittelschichts -jugend der westlichen Welt. Die Lange -weile der Vorstädte, mit Internetzugangund Freunden, die ein Auto haben. Es gehtum die leeren Gespräche im Tennisklub.Um die erste Party zu Hause, wenn die Eltern nicht da sind. Um die Angst, all daszu verlieren und älter zu werden.

„Royals“, ihr Hit, handelt von der freu-digen Verachtung des ganzen Bling-Blings,das in der Popkultur für das vollendete Leben steht, Luxuslimousinen und teurenWodka, Diamantringe und zertrümmerteHotelzimmer: „We crave a different kindof buzz“, singt Lorde. „Wir sehnen unsnach anderen Kicks.“ In dunkel schim-mernden Songs erzählt Lorde über einpaar gesampelten Geräuschen und einemmächtigen Bass ihre Geschichten, Liederfür das digitale Lagerfeuer.

Der normale Gang der Dinge im Teen-pop ist es, dass ein Songschreiber odereine Songschreiberin, deren Jugendtageschon länger vorbei sind, einem Jungenoder Mädchen die Gedanken und Gefühlein den Mund legen. Auf „Pure Heroine“spricht eine Jugendliche über sich selbst.

„Ich wollte der Welt ein anderes Bilddes Teenagers entgegenstellen als das, wasüberall kursiert“, sagt sie. „Die Songs spie-len alle in meiner damaligen kleinen Vor-stadtwelt. Und ich habe sie mit Figurenbevölkert, die ich kannte oder die ich hättekennen können.“

Es sind Wir-gegen-die-Welt-Songs. Wo-bei es beides nicht mehr gibt. Ihre Freundehat sie in Auckland zurückgelassen, dieWelt, die sie auf ihrer Platte bespöttelt hat,bewohnt sie nun selbst.

Und jetzt? Wie fühlt es sich an, wennman auf einmal nicht mehr draußen stehtund sich über die Statussymbole der Starslustig macht? Sondern selbst bei denAward-Shows ist und zwei Grammys be-kommt?

„Mein Album ist aus der Perspektive ei-nes Mädchens erzählt, das bei der Partyam Rand sitzt, mit dem iPhone herum-macht und versucht, alles mitzubekom-men“, sagt sie. „Daran hat sich jetzt nochnicht so viel geändert. Im Grunde sind dieGrammys ja auch nur eine Party. Nur mitgrößeren Egos. Alle kommen mit ihrer Entourage – ich komme mit meiner Ma -ma. Natürlich mache ich jetzt Erfahrun -gen, die ich mit meinen Freunden nichtteilen kann.“

Die Geschichte von den Wunderkinderndes Pop nimmt oft kein gutes Ende, fastimmer zahlen sie einen hohen Preis fürden Ruhm. Michael Jackson und BritneySpears taten es, Justin Bieber tut es gerade,und Miley Cyrus dürfte es bald tun. DerManager, der die Karriere getrieben hat,lässt sie fallen und wendet sich neuen Pro-jekten zu, die ehrgeizigen Eltern, die ihr

Kind mit auf die Bühne geschubst haben,trennen sich, weil nur die Karriere desSprösslings sie zusammengehalten hat, dasPublikum wendet sich ab.

Lorde kommt aus Neuseeland, weit wegvon den Metropolen der westlichen Welt,aus einem Vorort von Auckland, der größ-ten Stadt der Insel. Ihr Vater ist Bauinge-nieur, ihre Mutter eine in Neuseeland bekannte Dichterin. Sie haben vier Kinder,Ella ist die Zweitälteste.

Als Ella sechs Jahre alt war, ließ ihreMutter sie auf Anraten einer Lehrerin ei-nen Hochbegabtentest machen: Sie hattedas Ergebnis einer jungen Erwachsenen.Ihre Eltern meldeten sie daraufhin auf einer Schule für Hochbegabte an – undnach ein paar Wochen wieder ab, sie solltemit normalen Kindern aufwachsen.

Aber sie sorgten dafür, dass Ella sichnicht langweilte: Sie lernte singen undTheater spielen, sie las sich durch die Bibliothek ihrer Eltern und begann, Ge-schichten zu schreiben. 2009 wurde sie mitihrem Schulteam Zweite bei einem inter-nationalen Literaturquiz in Südafrika, wosie Kinder-Nerd-Fragen beantworten muss-te wie: Joanne K. Rowling hat am gleichenTag Geburtstag wie Harry Potter. WelcherTag ist das? Oder: Welche Farbe hat dasTeletubbie Tinky Winkie? Ella war dazwölf Jahre alt.

Im selben Jahr trat sie bei einem Ge-sangswettbewerb ihrer Schule auf, ein Video davon landete bei einem Managerdes neuseeländischen Ablegers der Plat-tenfirma Universal. Er wollte sie unterVertrag nehmen, weil er glaubte, mit die-sem Mädchen und einer Platte mit Cover-versionen müsse sich doch was machenlassen. Ella lehnte ab: Sie wollte eigeneSongs schreiben.

Es dauerte eine Weile, bis sie gelernthatte, wie man das macht und den richti-gen Partner findet, der sich um die Musikder Songs kümmert; die Lyrics schrieb sie.„Royals“ dichtete sie neben der Schulzeitund nahm es in ein paar Tagen in den Som-merferien auf.

Hier ist sie nun. Der erste wirklich neuePopstar der Ära nach Lady Gaga. Nachder Übertreibung, dem Barock, der großenGeste, der demonstrativen Verbrüderungmit den Außenseitern, der Verbindung mit zeitgenössischer Kunst, Design und Mode. Lorde ist der kluge, leise, erzähle -rische Star. Und sie ist wirklich erst 17 Jah-re alt.

Ob sie eigentlich einen Plan B hat? Über-rascht schaut sie hoch. „Ich hab doch ge -rade erst angefangen.“

Blöde Frage, klar. Tobias Rapp

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Kultur

Video:

So klingt Lorde

spiegel.de/app242014lorde oder in der App DER SPIEGEL

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Eine nackte Frauenleiche ist im Zentrum der Bühne auf-gebahrt, um sie herum schleichen Figuren, die wie eier-köpfige Außerirdische aussehen. Sie tragen eine Art

Fechtmaske, die wahlweise mit weißem Gips oder schwarzerPampe zugeschmiert ist. Und wie Abgesandte einer fernen Galaxis sprechen sie ihren Text, als hätte ein Sprachcomputerihn produziert: „Grollendes Afrika,bist du da?“

„Die Neger“ heißt das Stück desfranzösischen Schriftstellers JeanGenet, das 1959 uraufgeführt wurde:Ein Spielleiter namens Ar chibaldhetzt darin einen Trupp afrikani-scher Ureinwohner gegen eineHandvoll weißer Kolonialisten auf,zu den Weißen gehören eine Köni-gin, ein Missionar und ein Gouver-neur. Es wird geschrien und ge-jauchzt, es geht um Geilheit, Mord,Gestank, Blut und Sperma. DerSchriftsteller Genet (1910 bis 1986)war ein stolzer Homosexueller undein Krimineller; ein durch den Ein-satz von Jean-Paul Sartre aus demGefängnis befreiter Kämpfer für dieRechte aller Unterdrückten und einProvokateur. Sein Werk „Die Ne-ger“ nannte er eine „Clownerie“.Im Text wünscht sich Genets Spiel-leiter von seinen Schwarzen-Dar-stellern: „Sie sollen sich nicht da-rauf beschränken, Weiße zu fressen,sie sollen sich gegenseitig kochen.“Das Ziel: „Alles schwillt zu einemtödlichen Jazz, einem Gemälde, einem kriminellen Tanz.“

Nun hat der Regisseur Johan

Simons, Chef der Münchner Kam-merspiele, „Die Neger“ für die Wiener Festwochen inszeniert,in den nächsten Wochen wird die Aufführung auch im Ham-burger Schauspielhaus und in München zu sehen sein.

Schon vor der Premiere gab es in allen drei Orten zornigenProtest: Afrikanischstämmige Aktivisten fanden den Titel „DieNeger“ und ein Ankündigungsfoto, das weiße Darsteller mitschwarz angemalten Gesichtern zeigte, böse rassistisch. In einerPetition forderten sie die Absetzung des Stücks.

Simons dachte kurz darüber nach, ob er das Drama, das derMeisterregisseur Peter Stein ins Deutsche übersetzt hat, in„Die Weißen“ umbenennen sollte. Das verbot Stein. Im Pro-grammheft rechtfertigt Simons die Aufführung von „Die Neger“damit, dass es sich um ein „wichtiges Stück zum Thema rassis-tischer Gewalt“ handle. Simons sagt, die „europäische Kultur“habe ihre rassistische Vorstellung der „Schwarzen“ keineswegs

überwunden. Deshalb wolle er das Publikum mit „Vorurteilenund Klischees konfrontieren“ und diese „vielleicht exorzieren“.

Statt einer Geisteraustreibung ist auf der Bühne des WienerTheaters Akzent, das in den Achtzigerjahren zur kulturellenErbauung der Arbeiterklasse gegründet wurde, aber nur einlahmes Passionsspiel zu bestaunen, zu Ehren eines in Wahrheitdoch arg kitschigen Dramatikers und großmäuligen Rebellen.Die aufgeblasene Rhetorik von Genets Stücken wollte die klas-sische französische Tragödiendichtung veräppeln.

„Madame, was in mir vorgeht, ist sehr geheimnisvoll“, ächzenseine Figuren zum Beispiel, was heute allerdings null komischklingt. In einer Parade rassistischer Parolen lässt er einen derWeißen sagen: „Man kann sagen, was man will – aber fickenkönnen diese Kerle.“ An die Schwarzen ergeht die Anweisung:„Hartnäckig bis zum Wahnsinn sollen sie auf dem bestehen,was zu sein man ihnen vorwirft: auf ihrer Ebenholzfarbe, ihremGeruch, ihrem gelben Auge, ihren kannibalischen Gelüsten.“

Das ist viel priapistisches Pathos, das man vor 50 Jahren offenbar todschick fand. Als „Die Neger“ 1964 in Darmstadt

erstmals in Deutschland gezeigtwurden, fand der SPIEGEL dasStück jedenfalls „brutal poetischund theatralisch raffiniert“.

Heute wirken „Die Neger“ wieein verstaubtes Fundstück aus demTheatermuseum. Und Johan Si-mons, der eigentlich einen Ruf zuverteidigen hat als Kraftmensch,der allzu pompösen Texten mitsinnlichem Dampf zu Leibe rückt,flüchtet sich in Eleganz.

Oft lässt er seine maskiertenDarsteller als Schattenspieler hin-ter einem Papiervorhang auftreten,was schöne Effekte ergibt, weil dieProjektion die Spektralfarben auf-leuchten lässt. Die aus Wachs ge-fertigte Frauenleiche auf dem Altarin der Bühnenmitte schmilzt der-weil unter Stromzufuhr tropfendvor sich hin. Überhaupt sieht manhier eine Leichenfeier mit luxuriö-sem Aufwand: Schauspieler-Spit-zenkräfte wie Maria Schrader, Bet-tina Stucky, Hans Kremer und Ben-ny Claessens, die zu den Stars desdeutschsprachigen Theaters gehö-ren, treten eindreiviertel Stundenlang in Totalvermummung auf.

Menschliche Gesichter habennur zwei Darsteller: Beide sehen

fast identisch aus und verkörpern den Spielleiter Archibald,der die weißen und schwarzen Ballonköpfe zum gegenseitigenAbmurksen aufeinanderhetzt. Der von Natur aus hellhäutigeSchauspieler Stefan Hunstein ist so als Schwarzer geschminkt,dass er dem dunkelhäutigen Schauspieler Felix Burleson fastbis ins kahlköpfige Detail gleicht. Ist diese Verdopplung der Einpeitscherfigur Archibald nun klug oder bloß seltsam,weil Simons den Darsteller Hunstein fast allen Text sprechenlässt und den Darsteller Burleson zum Zigarettenraucher degradiert?

Darüber könnte man als Zuschauer an diesem Abend sehrlange nachdenken – wäre einem die Archibald-Dopplung nichtschon bald genauso schnurzegal wie Johan Simons’ ganzerAusflug auf den Schrottplatz der Theaterliteratur.

Wolfgang Höbel

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Kultur

Murks den AfrikanerTheaterkritik Die Wiener Festwochen zeigen

Jean Genets Kolonialismusstück „Die Neger“,

vor der Premiere gab es lauten Protest.

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Z„Die Neger“-Inszenierung in Wien

Huldigung an einen kitschigen Rebellen

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Zeitungen

Länge läuft

Auf der Suche nach Antwor-ten auf die Printkrise erfor-schen die Verlage die Ge-wohnheiten der Leser. DieFAZ und ihre SchwesterFrankfurter Allgemeine

Sonntagszeitung etwa führenderzeit einen Readerscandurch. Damit wird getestet,welche Texte die Leser bevorzugen und bei welchensie aussteigen. Die finale

Auswertung wird es erst imJuli geben, doch eines istschon erkennbar: Entgegenallen Vorurteilen mögen dieLeser lange und komplexeTexte. „Unser Readerscanwiderlegt die Behauptung,der moderne Leser wolle nurnoch einen schnellen Über-blick und kurze Artikel, zu-mindest für die FAZ total“,sagt FAZ-Herausgeber FrankSchirrmacher. Zu ähnlichenErgebnissen kommt auch derReaderscan, den Die Zeit

gerade in zwei vierwöchigenTests durchgeführt hat. Zwarist die kleine Rubrik „Pro -minent ignoriert“ das meist-gelesene Format der Wo-chenzeitung, aber vor allemeinspaltige Texte ohne Bildfallen durch, ebenso ver-meintlich leserfreundlicheKästen. Dagegen schätzenZeit-Leser lange Stücke wiedas Dossier. ih

Boulevard

Rechtliche RealsatireAusgerechnet das Klatsch-blatt Closer aus dem Ham-burger Bauer-Verlag, welchesnicht selten in persönlich-keitsrechtlichen Grauzonenagiert, erteilt seinen Lesern

Nachhilfeunterricht in Sa-chen „Recht am eigenenBild“. Der Closer-„Experte“,Sat.1-Fernsehrichter Alexan-der Hold, beantwortet in seiner Kolumne so drängen-de Fragen wie die, ob manEssen im Restaurant immerfotografieren darf (nein)oder ob die Veröffentlichungeines Bilds vom Eiffelturmbei Nacht legal ist (nein). Allerdings werden HoldsAusführungen fast absurd,wenn er sich mit „Schnapp-schüssen“ beschäftigt, dieProminente abbilden. Diesedürften nur dann gezeigtwerden, wenn die Stars zu-fälliges Beiwerk oder Teil eines öffentlichen Ereignissesseien, so seine Einschätzung.Ob sich die Zeitschrift zu-künftig an den Rechtsrat ih-res Haus kolumnisten haltenmöchte, lässt Hold in seinemText unbeantwortet. mum

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TV-Phänomene

Fernsehballett darf nicht„DFB“ heißen

Das Deutsche Fernsehballett und die Nationalelf ähneln einander zwar insofern, als beide ihren Erfolg hartem Trai-ning und der Kraft ihrer Beine verdanken. Dass das Fernseh-ballett sich für die Dauer der Fußball-WM „DFB“ nennenwollte, erregte nun allerdings das Missfallen des DeutschenFußballbunds. DFB-Justiziar Jörg Englisch untersagte demEnsemble Anfang der Woche die Verwendung der drei Buch-staben. Auslöser war eine Anfrage von Peter Wolf, dem Be-

sitzer des Balletts, an DFB-Präsident Wolfgang Niersbach.Wolf hatte darin die Zustimmung erbeten, die Initialen inden kommenden Wochen als Kürzel benutzen zu dürfen,„so wie es der Deutsche Fechter-Bund in Bonn oder der Demokratische Frauenbund in Berlin auch tun“. DFB-Justi -ziar Englisch verwies in seiner Absage auf die Entscheidungdes Landgerichts München, das der Truppe bereits 2012 dieVerwendung des Namens „DFB Ballett“ untersagt hatte.Dem Fußball wollen sich die Tänzerinnen und Tänzer den-noch widmen. In der von Wolf produzierten ZDF-Show„Willkommen bei Carmen Nebel“ wird das Ballett an diesemSamstag mit einem Medley von WM-Hits vertreten sein,auch ein Auftritt auf der Fanmeile in Berlin ist geplant. akü

Tänzerinnen im Fußballdress

Hold

Medien

Page 138: Der Spiegel 2014 24

Medien

Roth, 46, ist Schriftsteller und beschäftigt

sich mit Satire und Fußball. Er veröffentlicht

regelmäßig sprachkritische Beiträge in Zeitun-

gen und Hörfunk und hat zehn Bücher über

den Ballsport geschrieben. Fußball sei für

ihn, sagt er, „eine gute Gelegenheit, Bier zu

trinken“.

SPIEGEL: Herr Roth, Sie sind Fußballfan undSprachästhet. Ist die Fußball-WM für Siemehr Freud oder mehr Leid? Roth: Für den Fußballfan in mir ist die WMnach wie vor zunächst ein Fest. Seit 1982versuche ich tatsächlich, jedes WM-Spielzu gucken. Schon weil die Sozialaufregung,die alle Menschen und Schichten dabei ver-bindet, etwas Rührendes hat. Aber als ge-schulter Medienbeobachter, der sich dieganze Vor- und Nachberichterstattung an-tut, packt mich das kalte Grausen. GüntherKoch, ein von mir verehrter Radioreporter,sagt immer: Fußball sind die 90 Minuten,in denen der Ball spricht. Alles davor unddanach ist Geschwätz. SPIEGEL: Das klingt, als würden Sie amliebsten den Ton ausschalten, wenn SieFußball im Fernsehen anschauen. Roth: Nein, zum Fußballerlebnis gehörtauch, sich über die Reporter aufzuregen.Es gibt einige Reporter, die ich sehr schätzeund die nicht die stets gleichen Sumpfblü-ten daherschnattern. Fritz von Thurn undTaxis gehört dazu. Auch Marcel Reif isteine wohltuende Ausnahmeerscheinung.Der traut sich, ein schlechtes Spiel auchein schlechtes Spiel zu nennen. Aber gera-de bei ARD und ZDF merkt man den Mo-deratoren und vielen Kommentatoren in-zwischen an, dass es ihr Auftrag ist, dasProdukt Fußball, für das die Sender eineriesige Menge Geld auf den Tisch ge-klatscht haben, auf Gedeih und Verderbzum Großereignis hochzujazzen. Sie blä-hen alles zur Jahrhundertbegegnung, zumTitanenkampf auf. Das ist unerträglich. SPIEGEL: Das viele Geld hat die Fußball-sprache pervertiert? Roth: Die Konkurrenz um die Fußballrech-te ist groß, und sie sind deshalb teuer ge-worden. Das zwingt die Sender, ihr Pro-dukt so grell, farbig und flamboyant wiemöglich zu verkaufen. Seinen schlimmstenAusdruck findet das bei Wolff-ChristophFuß, der für Sky kommentiert. Der brülltununterbrochen. Nahezu jedes Spiel ist beiihm „Drama, Baby“ oder ein „knüppel-

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„Fußball ist humorresistent“Sprachkritik Der Autor Jürgen Roth über die Stupidität der hochglanzpoliertenFußballsprache, das Gebrüll von Kommentatoren und den ARD-Experten MehmetScholl, den er für eine List des Weltgeists hält

Page 139: Der Spiegel 2014 24

harter Nusskuchen“. Das klingt vielleichtlustig, aber wenn Sie es zum fünften Malhören, merken Sie, dass es eine Mascheist. Diese Leute halten sich für Popstarsund begreifen nicht, dass das Spiel immergrößer ist als jede Erzählung darüber. SPIEGEL: Fußball ist Emotion. Wie soll dieSprache da ohne Erregung auskommen?Roth: Natürlich ist Fußball Begeisterung,Wut, Enttäuschung. Das darf sich auch inder Reportersprache wiederfinden. Ich er-innere an Günther Koch und seine legen-däre Reportage vom letzten Spieltag1998/99, an dem der 1. FC Nürnberg ausunerklärlicher Dummheit gegen den SCFreiburg verlor und abstieg. Die ARD-Schlusskonferenz war damals noch einHochkulturamt. Koch meldete sich ausNürnberg und schrie: „Ich pack das nicht.Ich halt das nicht mehr aus. Ich will dasnicht mehr sehen.“ Das war hoch emotio-nalisiert und dem Ereignis angemessen.Aber das aseptische, plastinierte Erregungs -gebaren, das Fußballreporter heute an denTag legen, ist eine Tortur. SPIEGEL: Koch berichtete damals allerdingsfür das Radio. TV-Kommentatoren habenes schwerer: Was sollen sie dem Zuschauerbieten, was er nicht selbst sehen kann? Roth: Gerade Fernsehreporter müssten überTugenden wie Unaufdringlichkeit, Mäßi-gung und Zurückhaltung verfügen. Die ha-ben sie aber nicht mehr. Ich will von einemTV-Reporter nicht wissen, dass SamiKhedira gerade mit seiner Frau den24. Sohn gezeugt hat und 22 Spielerauf dem Platz sind. Ich verlange vonihm, dass er mir Hintergründe überAufstellung und Taktik liefert, auchZweifel an Entscheidungen zumAusdruck bringt. Er kann meinet-halben auch seine Begeisterung zei-gen, aber nicht über alles einen Fir-nis der Dramatisierung legen.SPIEGEL: Für die WM hat das ZDF das Mo-deratorenduo Oliver Kahn und KatrinMüller-Hohenstein gesprengt: KMH be-richtet jetzt aus dem Quartier der deut-schen Nationalelf. Wir nehmen an, IhreTrauer hält sich in Grenzen. Roth: Vielleicht bin ich da als Mann ja be-fangen, aber Katrin Müller-Hohenstein istmir gar nicht so unlieb. Im Gegensatz zuder allgemeinen, reflexartigen Verteufe-lung fand ich ihre angeblich politisch un-korrekte Äußerung über Miroslav Kloseund seinen „inneren Reichsparteitag“ sehrerfrischend. Denn neben der künstlichenEuphorisierungstendenz zeigt sich ja in derSportreportersprache inzwischen die Über-bedachtheit, sprachlich korrekt zu sein. Ichhabe lange auf Heribert Faßbender herum-gehauen, aber dem gingen wenigstensmanchmal die Gäule durch. In dem Spiel,in dem Rudi Völler bei der WM 1990 gegendie Niederlande von dem argentinischenSchiedsrichter Juan Loustau vom Platz

gestellt wurde, schimpfte Faßbender:„Schickt ihn ganz schnell in die Pampas,diesen Mann.“ Das war keiner dieser vor-bereiteten Sprüche, die bloß noch Füll-und Verpackungsmaterial sind. SPIEGEL: In Brasilien wird nun, wie bei derChampions League, Oliver Welke an derSeite Kahns kommentieren. In der ZDF-„heute show“ ist Welke bissig und frech,kaum taucht er im Fußballstudio auf, istder Mann wie weichgespült. Haben Sieeine Erklärung für diese Mutation?

Roth: Fußball ist humorresistent.Dieses aufgeblähte Universum Fuß-ball verträgt keine Ironisierung.Der Fußball ist im Zuge der allge-meinen Sportifizierung der Weltimmer bedeutender geworden.Wettkampf, Konkurrenz, Erster-Sein, Funktionieren – bis in jedePore dieser Gesellschaft sind dieseKategorien eingedrungen. JederPoli tiker und Konzernchef redet

heute in Fußballmetaphern. Wenn mandas lächerlich macht, trifft man das Selbst-verständnis, die eingebildete und tatsäch-liche Leitfunktion des Fußballs. Selbstiro-nie würde das Geschäftsmodell der großenFußballkonzerne zerstören. AbweichendeCharaktere sind darin nicht vorgesehen.Deshalb wird ein Welke dort so stromli -nienförmig wie alle anderen auch. SPIEGEL: Zeigt nicht Mehmet Scholl, der alsExperte in der ARD kommentiert, dassman sich der „Maschine Fernsehen, dieüber kurz oder lang jeden integren Men-schen demoliert“, wie Sie schreiben, sehrwohl erfolgreich entgegenstemmen kann?Roth: Das ist die List des Weltgeists, ummit Hegel zu sprechen, dass ein MehmetScholl dort untergekommen ist und bislangtrotz meines Unkens nicht vor die Hundegegangen ist. Aus welchem Expertenmundhört man schon Sätze wie: „Dazu will ichjetzt eigentlich gar nichts sagen, dazu istnämlich nichts zu sagen.“ Er kommentiert,

wie er gespielt hat: fintenreich, wendig.Scholl ist einer der wenigen, die Hinter-gründe ausleuchten, die man nicht sofortselbst sieht. SPIEGEL: Sein Kommentar über den erfolg-reichen Torschützen Mario Gomez, dieserhabe sich wohl „wund gelegen“, hat ihmaber viel Tadel eingetragen.Roth: Warum eigentlich? Wenn sich mal jemand abhebt vom phraseologischen Einheitsbrei, regt sich die Öffentlichkeitgleich auf. Will man nun Originalität odernicht?SPIEGEL: Ist die Paarung TV-Moderator undExfußballer der Versuch der Sender, dieDefizite beider zu kompensieren? Der eineversteht nichts vom Fußball, aber etwasvon Sprache, der andere kann nicht reden,ist aber Experte fürs Spiel? Roth: Darf ich mal ein paar Beispiele diesesvermeintlichen Expertentums zitieren?SPIEGEL: Nur zu. Roth: Franz Beckenbauer sagt bei Sky Sät-ze wie: „Man kann das Ballhalten ja auch mit Tempo machen.“ Ich habe langegegrübelt, wie das gehen soll. Oder JensLehmann: „Lass die mal 1:0 führen, dannwird das plötzlich eine ganz andere Situa-tion.“ Sapperlot. Auch schön: „Eine Mi-nute nach Spielende habe ich noch nichtdie Intelligenz, das Spiel zu beurteilen.“Ich könnte kolonnenweise solche Sätzevorlesen. Wenn man schon glaubt, dassFußball einer Deutung bedarf, sollte man Menschen da hinstellen, die deutenkönnen.SPIEGEL: Immerhin füllen Sie mit solchenStupiditäten eine Menge Bücher. In diesenTagen erscheint Ihr neues Buch*. Warumarbeiten Sie sich eigentlich so an der Fuß-ballsprache ab? Roth: Ich nehme mir immer wieder vor, dassich zu dem ganzen Schwachsinn eigent lich

* Jürgen Roth: „Nur noch Fußball. Vorfälle von 2010 bis2014“. Oktober Verlag, Münster; 253 Seiten; 16,90 Euro.

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Moderatorenduo Müller-Hohenstein, Kahn 2012: „Die stets gleichen Sumpfblüten“

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Medien

kein Wort mehr verlieren will. Aber es isthalt Teil meiner Profession.SPIEGEL: Warum wird von Fußballern über-haupt verlangt, dass sie nicht bloß gut ki-cken, sondern kluge Sätze abgeben – unddas auch dann, wenn sie nach 90 Minutenschwitzend vom Platz gezerrt werden? Roth: Diese sogenannten Field-Interviewssind tatsächlich eine Demütigung aller Be-teiligten, der Reporter und der Spieler.Selbst ein Fußballer, der über Hegel pro-moviert hat, könnte dort nicht viel Ge-scheites sagen. Eigentlich müsste ohnehinöfter geschwiegen werden, aber Schweigenhält unsere Gesellschaft nicht aus.SPIEGEL: Die meisten Bundesligaspielersind heute mediengeschult und darauf trai-niert, sich möglichst nicht in rhetorischeGefahrenzonen zu begeben. Roth: Die kommen alle aus Fußballinterna-ten, wo sie zurechtgestutzt, jedes Eigen-sinns beraubt und zu einem bewerbungs-seminaristischen Deutsch erzogen werden.Gucken Sie sich doch Spieler wie MarioGötze an: Das sind austauschbare Retor-tenfiguren, die hervorragend Fußball spie-len, aber wirken, als wären sie noch nieauf einen eigenen, abwegigen Gedankengekommen. Sie sind Teil einer gigantischenMaschine, in der alles hochglanzpoliert ist.

SPIEGEL: Ist es womöglich ein großes Miss-verständnis, an die Kommentierung vonFußballspielen überhaupt journalistischeKriterien anzulegen? Das Ganze als Unter -haltung zu verbuchen würde auch Ihneneine Menge Pein ersparen. Roth: Das ist ein guter Einwand, so habe ichdas noch nie gesehen. Ich komme da wohleher von der alten Schule, die überzeugtist, dass das Journalismus ist und sich alssolcher mit Unterhaltung nicht gemein ma-chen darf. Aber vielleicht sollte man Fuß-ballberichterstattung tatsächlich als televi-sionäre Kaffeefahrt abhandeln, auf der Fuß-ballspiele verkauft werden wie Heizdecken.SPIEGEL: Waldemar Hartmann hat nie einGeheimnis daraus gemacht, dass er sichals Entertainer versteht und Journalismuseher als „Pseudo-Verwissenschaftlichung“des Fußballs betrachtet. Verdient so vielEhrlichkeit nicht Respekt? Roth: Was Hartmann zum Besten gibt,kann man nur unter satirischen odermedien kritischen Aspekten gutheißen:Niemand hat so offen und schamlos wieWeißbier-Waldi dokumentiert, dass Sport-journalismus Kumpanei ist und man sichnur mit den Mächtigen gut stellen muss,um die Karriereleiter hinaufzupurzeln,ohne viel im Kopf zu haben.

SPIEGEL: Der Begriff der „Fußballkultur“hat Konjunktur. Wie viel Intellektualisie-rung verträgt ein Bolzsport wie Fußball?Roth: Der Kulturbegriff wird inflationär be-nutzt und damit entleert. Kultur hat etwasmit Hege, Pflege, Bedachtsamkeit zu tun.Die stumpfe Eruptivität von Fan gesängenund Bratwurstessen im Stadion haben mitKultur nichts zu tun. Und nur weil das völ-lig närrisch gewordene Grimme-Institutdem Duo Netzer und Delling mal einenFernsehpreis verliehen hat, wird aus Fuß-ball noch keine Kultur. SPIEGEL: Im Feuilleton ist der Fußball aberlängst angekommen. Roth: Feuilletonisten sind manchmal auchnur Opportunisten. Die Feuilletons habennach dem Fall der Mauer und dem WM-Gewinn 1990 angefangen, Fußball als ge-sellschaftliches und ästhetisches Phänomenwahrzunehmen. Man versuchte plötzlich,sich die Gesellschaft über den Fußball zuerklären, Fußball wurde zu einer ArtErsatz soziologie. Die taz schrieb mal, mansolle sich an dem „System“ Jogi Löw undder Art, wie der Bundestrainer seineMannschaft spielen lässt, ein Vorbild neh-men für gesellschaftliche Reformen. Damuss einem angst und bange werden.

Interview: Isabell Hülsen

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Die größte Überraschung war derAnruf der New York Times. Dafragte der Redakteur Maximilian

Schrems, warum in Europa die Privatsphä-re eigentlich so wichtig sei – und machteauch gleich zwei Antwortvorschläge: „Istdas wegen der Nazis oder wegen der Kom-munisten?“ Schrems hielt das zunächst füreinen Witz.

Doch der Journalist aus Übersee meintees ernst. Und er war damit nicht allein.„In beinahe jedem zweiten Telefonat mitamerikanischen Medien geht es um denNationalsozialismus“, sagt Schrems.

Das ist umso erstaunlicher, als es sich inden Gesprächen immer um ein uramerika-nisches Unternehmen der Jetztzeit dreht:um Facebook. Denn Schrems ist mit sei-nem Kampf gegen den Internetgigantendiesseits wie jenseits des Atlantiks einekleine Berühmtheit geworden.

Alles begann mit ein paar Mails, die eran die europäische Facebook-Zentrale inDublin schickte. Er wollte wissen, was dasweltgrößte soziale Netzwerk über ihn ge-speichert hat. Eher durch ein Versehen,wie Schrems glaubt, übersandte das Un-ternehmen ihm tatsächlich einige Daten-sätze – ausgedruckt rund 1200 Seiten.

Darunter waren intime Details, etwaChats mit einem psychisch angeschlage-nem Freund, politische Konversationen,genaue Standortkoordinaten. Viele der Da-ten hatte Schrems längst gelöscht – dachteer jedenfalls. Facebook aber hatte die Lö-schung zwar vermerkt, die Inhalte aberweiterhin gespeichert.

Schrems rief als Jurastudent daraufhindie Initiative „Europe versus Facebook“ins Leben und überzog die Firma mit 23 Anzeigen bei der irischen Datenschutz-behörde. Bislang mit Erfolg: Einen Fall ge-wann er, die anderen sind anhängig.

Was wiederum Facebook nicht unbeein-druckt ließ, stellt der 26-Jährige sie dochvor ungeahnte Herausforderungen. Dennder Wiener ist kein klassischer Technik-und Fortschrittsverweigerer, er benutzt einSmartphone, hat einen Twitter-Accountund ist nach wie vor bei Facebook aktiv.„Nur weil ich grundsätzlich lieber die Stra-ße überquere im Wissen, dass es Verkehrs-

regeln gibt, bin ich doch nicht gleich einGegner des Individualverkehrs“, sagtSchrems. Es gehe ihm nicht um das Ob,sondern um das Wie.

Will man das Wie bei Facebook verste-hen, muss man grob zwei bis drei AbendeLesezeit einplanen – so lange dauert es, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen desKonzerns und zugehörige Dokumentedurchzuarbeiten. Schrems hat genau das ge-tan: „Das ist wie im Wilden Westen. Vieleshätte in Europa niemals Bestand“, sagt er.

In einem Wiener Flughafenhotel ver-suchten zwei hochrangige Facebook-Mit-arbeiter, Schrems „einzulullen und die Klagen abzuwenden“, erinnert er sich. Alsman ihm erklärte, dass eine „Zustimmungdurch Dritte“ nach der Rechtsauffassungvon Facebook völlig ausreichend sei, umdie Daten von jedem Menschen der Weltzu verarbeiten, war Schrems endgültig sicher, den richtigen Kampf begonnen zuhaben. „Das ist so, wie wenn ich jeman-dem eine runterhaue und sage, es gebe fürdie Schläge eine Zustimmung von Dritten.“

Mittels Crowdfunding beschaffte sichSchrems’ Initiative Geld, um die Beschwer-den vorantreiben zu können. Dabei gehtes seinen Mitstreitern und ihm weniger umdie Auseinandersetzung mit Facebook alsum den generellen Kulturunterschied.Denn abgesehen von ein paar spezifischenAusnahmen ist in den USA alles erlaubt,was technisch möglich ist, wenn es um Daten geht. So geht Schrems gegen einUnternehmen vor, das vielleicht gar nichtso recht weiß, was es eigentlich falsch ge-macht hat. Was für Schrems aber nichtsändert: „Wir müssen diese Mentalität doch

* Max Schrems: „Kämpf um deine Daten“. edition a Ver-lag, Wien; 221 Seiten; 19,95 Euro.

nicht akzeptieren. Europäer haben nunmal ganz andere Vorstellungen vom Da-tenschutz, und ich finde die gut.“

Genau von diesem Grundgedanken lebtjetzt auch das Buch, das Schrems über seine Auseinandersetzungen mit Facebookgeschrieben hat*. Pointiert beschreibt erdarin die Allmacht der Netzkonzerne undwie ihnen das amerikanische Recht zurHand geht. Sie würden zu virtuellen Tür-stehern, der Menschheit stehe eine „schlei-chende Algorithmusdiktatur“ bevor.

Schrems schildert, wie bereits jetzt eineRisikoverschiebung stattgefunden hat.War es bisher das Risiko eines Unterneh-mers, dass sein Kunde nicht bezahlt oderdass Reklame bei Menschen ankommt, diedamit gar nichts anzufangen wissen, trägtdiese Last heute der Konsument. Er mussdamit leben, gläsern zu sein, damit Firmennicht auf ihren Rechnungen sitzen bleibenoder Werbung als Streuverlust abschrei-ben müssen. „Aus dem Risiko des Unter-nehmens, dass zwei Prozent der Kundennicht zahlen, wird sukzessive unser Risiko,vielleicht keinen Vertrag zu bekommen,nicht beliefert zu werden oder keinen Kredit zu erhalten“, analysiert Schrems.Er fordert analog zur sozialen Markt -wirtschaft eine „soziale Informationswirt-schaft“.

Dass Facebook seine ganz eigenen Vor-stellungen vom Geschäftemachen hat,musste Schrems gerade erst selbst feststel-len. Er wollte einen Eintrag bei Facebookbewerben, er handelt von seinem Buch.Das Netzwerk ließ die Kampagne nicht zu.Die Erklärung: „Dein Beitrag wurde nichtbeworben, weil er auf unangemessene Artauf Facebook Bezug nimmt oder ein Bildeines Facebook-Markenzeichens enthält.“

Martin U. Müller

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Kulturkampfums SpeichernDatenschutz Ein Österreicherkämpft gegen Facebook – weil erden Konzern zwingen will, sichan europäisches Recht zu halten.Bislang hat er Erfolg.

Netzaktivist Schrems: „Wie im Wilden Westen“

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142 DER SPIEGEL 24 / 2014

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HANNA MARON, 90

Sie war gerade mal acht Jahre alt,als sie in Berlin das „Pünktchen“ inder ersten Theaterproduktion vonErich Kästners Kinderroman spielteund eine Filmrolle in Fritz LangsKlassiker „M – Eine Stadt sucht ei-nen Mörder“ hatte. Aber das Lebenals Kinderstar fand für die kleineHanna Meierzak durch die Macht -ergreifung der Nazis ein jähes Ende:

1933 wanderte die jüdische Familie nach Israel aus. Dort ge-hörte sie nach der Staatsgründung zum ersten Ensembledes Kammertheaters in Tel Aviv, später auch zum National-theater Habima. Mit rund 100 Rollen wurde die großeSchauspielerin, deren Lieblingsrolle die Königin Elisabethin Schillers „Maria Stuart“ war, zur „Königin des Theaters“in Israel. Trotz eines Anschlags arabischer Terroristen aufdem Münchner Flughafen, bei dem 1970 eine Granate ihrenUnterschenkel zertrümmerte, setzte sich Maron immer für die Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensernein. Hanna Maron, die noch bis vor Kurzem auf der Bühnestand, starb am 30. Mai in Tel Aviv. kle

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KARLHEINZ HACKL, 65

Er war einer der großen Volksschauspieler Österreichs,zum Star wurde er in seiner Geburtsstadt Wien am Burg-theater, dessen Ensemble er seit 1978 angehörte. Hacklspielte den Demetrius in Shakespeares „Sommernachts-traum“, den Karl Moor in Schillers „Räubern“ oder den Al-fred in Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Erwar in dem Kinofilm „Sophies Entscheidung“ (1982) an derSeite von Meryl Streep als KZ-Arzt zu sehen und wirkte inTV-Produktionen wie „Radetzkymarsch“ (1994) mit. Hacklwar auch ein scharfsinniger Beobachter seines Landes; derSohn eines Hobbykabarettisten nahm sich die sozialen undpolitischen Missstände vor. 2008 gründete er die Partei „So-lidarische Kultur Österreichs“, fand aber nicht genügendUnterstützer. In seiner Autobiografie „Meine zwei Leben“(2009) setzte er sich mit seiner Krebserkrankung auseinan-der. Karlheinz Hackl starb am 1. Juni in Wien. lob

MICHAEL SCHMIDT, 68

Der in Berlin geborene Künst-ler, der einige Jahre im Poli-zeidienst stand, gehörte zuden ersten deutschen Fotogra-fen, denen das Museum ofModern Art in New York 1988eine Einzelausstellung („Waf-fenruhe“) widmete. Jahrzehn-telang fotografierte der Auto-didakt in Schwarz-Weiß undüberwiegend in Berlin, wo ermit realistischen Aufnahmenvon Kreuzberg oder Weddingals „Künstler der Grautöne“bekannt wurde. Für die vorKurzem in London mit demPrix Pictet ausgezeichneteBilderserie „Lebensmittel“ ar-beitete Schmidt auch mit Far-be und verließ sein Revier:Vier Jahre lang reiste er durchEuropa, um in Schlachthöfen,Brotfabriken, Milchviehbe-trieben und Lachsfarmen dieindustrielle Fertigung von Le-bensmitteln zu dokumentie-ren. Einer seiner bekanntes-ten Schüler war Andreas Gursky. Michael Schmidtstarb am 24. Mai in Berlin. kle

ALEXANDER SHULGIN, 88

Als der amerikanische Bio-chemiker in den Neunziger-jahren zum Maskottchen einer hedonistischen und feier-freudigen Generation jungerLeute avancierte, war erschon recht betagt. Shulgin,Sohn eines russischen Immi -granten, hatte 20 Jahre zuvorin Selbstversuchen die rausch-

hafte und enthemmende Wir-kung eines chemischen Stof-fes entdeckt, der bis dahin unter dem sperrigen Begriff3,4-Methylendioxy-N-methyl -amphetamin bekannt war. Erbeschrieb als Erster in einerwissenschaftlichen Arbeit dieWirkung der synthetischenSubstanz, die als PartydrogeEcstasy bekannt wurde. DassShulgin im Labor seiner Passi-on nachgehen durfte und sichvorwiegend mit der Wirkungvon psychoaktiven Stimulan-zien beschäftigen konnte, wareine Belohnung seines da -maligen Arbeitgebers DowChemical: Für den Chemie-konzern hatte er zuvor einüberaus profitables Insektizidentwickelt, das biologisch abbaubar war. Alexander Shulgin starb am 2. Juni inLafayette, Kalifornien. tha

ANDREJ MIRONOW, 60

Der Dissident blieb standhaft,als die Schergen des KGB ihn1984 in ihren Verliesen einerScheinhinrichtung unterzo-gen. Er weigerte sich, eineNotiz zu schreiben, dass erSelbstmord begehen werde.Die Geheimdienstler strangu-lierten ihn, bis er das Be-wusstsein verlor. „Sie warenaber die Schwachen. Ich warder Starke“, sagte er später.Während des Tschetschenien-krieges setzte sich Mironow,Mitglied der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“, für den Dialog zwischen Russen und Tsche -tschenen ein. Immer wiederbegleitete er Journalisten inKrisengebiete. Andrej Miro-now wurde am 24. Mai zusam-men mit dem italienischen Fo-tografen Andrea Rocchelli inder Ostukraine bei Kämpfenzwischen ukrainischen Streit-kräften und prorussischen Separatisten getötet. mas

143DER SPIEGEL 24 / 2014

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Personalien

Noble Sklavin

Der Anblick ist ungewöhnlich: eine dunkelhäutige Frau in Korsett und Reifrock. In dem Film „Belle“ stellt die Schauspielerin Gugu Mbatha-Raw, 30, die außerehelicheTochter eines britischen Admirals und einer Sklavin im 18. Jahrhundert dar. Die Geschichte ist wahr: Dido Bellewuchs in London bei ihrem Großonkel Lord Mansfield auf und war Teil des britischen Establish ments. Mbatha-Raw, Tochter eines schwarzen Südafrikaners und einer weißen Britin, sagt über ihre Rolle: „Das ist eine Geschichte,die erzählt werden musste – sie ist Teil unseres kulturellenErbes hier in Großbritannien.“

Zwanglos langsam

Mit ihrer gedruckten Zeit-schrift Block, die nun dank1000 Vorbestellungen erst-mals erscheint, will Herausge-berin Theresia Enzensberger, 27,Autoren aus ihrer Generationzu einem entschleunigtenAuftritt frei von allen Zwän-gen verhelfen. Die Tochter

des Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger hält Schnellig-keit für ein Problem und stellt sich explizit dem „Relevanz -gehechel“ im heutigen Medienbetrieb entgegen, so TheresiaEnzensberger in einem Interview mit der Fachzeitschrift Jour-

nalist. Als Vorbild ihres Magazins nennt sie unter anderemden New Yorker; die erste Ausgabe von Block soll 208 Seitenhaben und für zehn Euro zu erwerben sein.

Der Lebensberater

In einem Restaurant in Charleston, South Carolina, sprach einjunger Mann den Hollywoodstar Bill Murray, 63, an, und batihn, ein paar Worte an seinen Freund zu richten – der Freundfeierte Junggesellenabschied. Murray begann seine kleine Ansprache mit der Bemerkung: „Beerdigungen sind bekannt-lich für die Lebenden, nicht für die Toten“ und richtete sichausdrücklich an die Begleiter des Bräutigams in spe. Der sei jabereits vergeben und benötige keine guten Ratschläge mehr,so Murray. Um herauszufinden, ob eine Frau tatsächlich dieRichtige für die Ehe sei, fuhr er fort, solle man eine gemein -same Weltreise machen: „Besucht Orte, die schwer zu errei-chen und schwer zu verlassen sind“, sagte er. „Und wenn duwieder daheim gelandet bist und immer noch denkst, sie sei die Richtige, dann heirate sie gleich auf dem Flughafen.“

Klein und cool

Ob Egypt Daoud Dean, drei Jahre alt, Gage für seinen Auf-tritt bekommen hat, verraten seine Eltern nicht. Es kannihnen aber auch egal sein – der Hip-Hop-ProduzentSwizz Beatz und der R&B-Star Alicia Keys sind Multi -millionäre. Ihr kleiner Egypt lief Mitte Mai zum erstenMal auf einer Modenschau: für Ralph Lauren Kids inNew York. Egypt schien das Ereignis nicht sonderlich zubeeindrucken. Mutter Alicia Keys hingegen veröffent -lichte auf Instagram, wo sie rund 2,5 Millionen Followerhat, ein Foto ihres Sohnes in Designerklamotten undschrieb dazu: „Wooooowwww!!!!!“

144 DER SPIEGEL 24 / 2014

Stefan Heck, 31, CDU-Bundestagsabgeordneter aus

Hessen, schreibt in seiner Promotion, die Veröffent -

lichung von Nebeneinkünften von Abgeordneten sei

„verfassungswidrig“ und verstoße gegen die Berufs-

freiheit. Die Arbeit zum Thema „Mandat und Transpa-

renz“ stammt aus dem Frühjahr 2013. Die Kriterien

zur Offenlegung von Einkünften für die Parlamentarier

haben sich seither verschärft. Der Rechtsanwalt macht

bisher keine Angaben zu Mandanten – weil er keine

habe, sagt Heck: „Als Neuling konzentriere ich mich

momentan voll auf die Arbeit im Parlament.“

Monica Lewinsky, 40, einst berühmteste Praktikantin

der Welt, tritt als Zeitzeugin für National Geographic

auf. In einer Dokumentationsserie mit dem Titel „Die

90er: Die letzte große Dekade?“ werden 120 Prominen-

te, Politiker, Journalisten berichten. Lewinsky, die

zuletzt 2003 ein TV-Interview gegeben hat, wird als

eine „Mitarbeiterin des Weißen Hauses“ angekündigt,

deren „Beziehung“ zu Bill Clinton sie zu einer „Ziel-

scheibe für die Medien“ gemacht habe, wie es sie

zuvor noch nie gegeben habe. Die damals 22-Jährige

hatte mit dem US-Präsidenten Sex in dessen Büro. FO

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Page 145: Der Spiegel 2014 24

Beckhams Abenteuer

Die Schlangen, Taranteln und giftigen Frösche stellten wäh-rend seiner zehntägigen Reise am Amazonas entlang kein Pro-blem dar für David Beckham, 39, behauptet der Fußballstar. Erhabe einzig seine tägliche Dusche vermisst, sagt er. „Wie jederweiß, mag ich es gern reinlich.“ In Begleitung eines kleinenTeams der BBC, eines Fotografen und zweier Freunde durch-

querte Beckham auf dem Motorrad und mit dem Kanu Teiledes brasilianischen Dschungels. Das Abenteuer, bei dem der Brite sich als Maniok-Erntehelfer versuchte und Kindervom Stamm der Yanomami-Indianer mit seinen Tattoos beeindruckte, wird als Dokumentation am Pfingstmontag imFernsehen ausgestrahlt.

145DER SPIEGEL 24 / 2014

Pascal Bruckner, 65, französischer Philosoph, rechnet

mit seinem Vater ab. In dem Buch „Un bon fils“ („Ein

guter Sohn“) beschreibt Bruckner den Hass auf den

Mann, der ihn und seine Mutter schlug, Juden verab-

scheute und nach eigenem Bekunden die schönste

Zeit seines Lebens im Zweiten Weltkrieg als Arbeiter

bei Siemens in Deutschland verbracht hat. Als kleiner

Junge habe er jeden Abend zu Gott gebetet, dass

sein Vater bald sterben möge. Bruckners Bilanz: „Mein

Vater hat es mir ermöglicht, besser zu denken. Und

zwar, indem ich das Entgegengesetzte dachte wie er.“

Suzi LeVine, 42, US-Botschafterin für die Schweiz und

Liechtenstein, leistete ihren Amtseid mithilfe einer

digitalen Version der amerikanischen Verfassung. Da-

mit ist sie die erste Diplomatin der Vereinigten Staa-

ten, die auf einem Kindle vereidigt wurde. Bereits im

Februar sind einige Feuerwehrleute aus New Jersey

mithilfe der iPad-Ausgabe der Bibel feierlich verpflich-

tet worden – eine Papierausgabe der Heiligen Schrift

war nicht zur Hand. Die Washington Post spottet

schon, dass es nicht mehr lange dauern werde, bis ein

Präsident seinen Eid auf „einem Haufen Pixel“ leistet.

Page 146: Der Spiegel 2014 24

Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der Leonberger Kreiszeitung: „DieAuslagerung der Anlieferung ist derSchlüssel, um die langjährige Visiten -karte der Bahn dann von Nord nach

Süd, aber ohne Turm, unter laufendemBetrieb umzukrempeln.“

Aus der Frankfurter Allgemeinen überdie Autolegende „Ambassador“:

„Es gibt keinen bequemeren Ort, um Indien an sich vorbeiziehen zu lassen:die Kinder im Straßendreck, die Kühe

in den Müllhaufen, staubige Hochhäuser,Garküchen am Bordstein, Krüppel, die an die Wagenscheibe klopfen.“

Zitat

Die „Berliner Morgenpost“ zum SPIEGEL-Bericht „Lupenreine Demokraten“ über denMachtkampf zwischen EU-Parlament undden Regierungschefs der Mitgliedsländer(Nr. 23/2014):

Großbritanniens Premierminister DavidCameron hatte erstmals offen mit demAustritt seines Landes aus der Europäi-schen Union gedroht, sollte er sich mit sei-nen Forderungen in Brüssel nicht durch-setzen können. Im Streit um die Nachfol-ge von José Manuel Barroso als Präsidentder EU-Kommission hat der Brite lautSPIEGEL erklärt, er könne den Verbleibseines Landes in der EU nicht garantieren,sollte Juncker Kommissionspräsident wer-den. Gleichzeitig soll Cameron den frühe-ren Luxemburger Premierminister als„Gesicht der Achtzigerjahre“ diffamierthaben. Ein Sprecher der Downing Streetin London wollte den SPIEGEL- Bericht,der sich auf Teilnehmerkreise des EU- Gipfels vom Dienstag beruft, am Sonntagnicht kommentieren. „Wir geben keineKommentare zu ver traulichen Gesprä-chen ab“, sagte der Sprecher.

Der SPIEGEL berichtete …

… in Heft 4/2014 „Keiner wird gewinnen“über die Affäre um das vom US-Geheim-dienst NSA ausgespähte Handy von Bun-deskanzlerin Angela Merkel. In dem Arti-kel vom 20. Januar 2014 hieß es: General-bundesanwalt Harald Range sehe Gründedafür, Ermittlungen einzuleiten.

Am 27. Mai 2014 meldete die ARD-„Tages-schau“:

„Der Lauschangriff des US-Geheimdiens-tes NSA auf das Handy von Bundeskanz-lerin Merkel bleibt offenbar strafrechtlichohne Folgen. Nach Informationen vonNDR, WDR und Süddeutscher Zeitungwird Generalbundesanwalt Range keineErmittlungen in dieser Sache aufnehmen.“

Am 2. Juni 2014 schrieb der SPIEGEL:

„Entgegen jüngsten Berichten: Der Ge-neralbundesanwalt tendiert zu Ermittlun-gen wegen der Ausspähung von AngelaMerkels Handy.“

Am 3. Juni 2014 berichtete die „Tagesschau“:

„Generalbundesanwalt Range hat nachInformationen von NDR, WDR und Süd-

deutscher Zeitung Ermittlungen zu denSpähaktionen des US-GeheimdienstesNSA eingeleitet. Dabei gehe es um dasabgehörte Handy von BundeskanzlerinMerkel.“

146 DER SPIEGEL 24 / 2014

Aus einer Werbung des Bruchsaler Restaurants „Am letzten Brunnen“

Aus einer Werbung von Mix Markt

Aus der Frankfurter Rundschau

Aus dem Nationen-Register zur Fifa-Akkreditierungsliste

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