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1 Lothar Baus [Hrsg.] Der stoische Weise – ein Materialist und >Über die Freiheit< von Cicero, Epiktet und einem unbekannten griechischen Stoiker Texte und Abhandlungen zur stoischen Philosophie II. erweiterte Auflage ISBN 978-3-935288-31-6 ASCLEPIOS EDITION

Der Stoische Weise - Ein Materialist

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    Lothar Baus [Hrsg.]

    Der stoische Weise ein Materialist

    und

    >ber die Freiheit<

    von Cicero, Epiktet und einem unbekannten griechischen Stoiker

    Texte und Abhandlungen zur stoischen Philosophie

    II. erweiterte Auflage

    ISBN 978-3-935288-31-6

    ASCLEPIOS EDITION

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    Lothar Baus [Hrsg.]

    Der stoische Weise ein Materialist

    und

    >ber die Freiheit< -

    von Cicero, Epiktet und einem unbekannten Stoiker

    Texte und Abhandlungen

    zur stoischen Philosophie

    II. erweiterte Auflage

    ASCLEPIOS EDITION

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    Zeichenerklrung:

    [ ] Text in eckigen Klammern = Erluterungen des Herausgebers [...] drei Punkte in eckigen Klammern = Auslassungen des Herausgebers

    Copyright by Asclepios Edition - Lothar Baus

    D-66424 Homburg/Saar

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    jeder Art, auch durch Einspeicherung und Rckgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

    II. erweiterte Auflage

    Printed in Germany 2010

    Asclepios Edition

    ISBN 978-3-935288-31-6

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    Inhalt

    Anstatt eines Vorworts

    Der stoische Weise ein Materialist

    1. Kapitel Die stoische Physiktheorie - eine materialistische

    Naturphilosophie

    1.1: Gott ist das Naturgesetz . . . . . . . . . . . . Seite 13 1.2: Die Theorie von der Psyche . . . . . . . . . . . Seite 28 1.3: Ein angebliches stoisches Curiosum . . . . . . . Seite 32 1.4: Das Curiosum von der Dauer der Psychen . . . . . Seite 37 1.5: Die materialistische Vorsehung der Stoiker . . . Seite 38 1.6: Der wirkliche Glaube der Stoiker . . . . . . . Seite 41 1.7: Die Senatsopposition der Stoiker . . . . . . . . Seite 46

    2. Kapitel Grundzge der stoische Ethik

    2.1: Aufbau der materialistischen stoischen Ethik . . Seite 52 2.2: Die materialistische Ethik des Stoikers Epiktet . Seite 89

    >ber die Freiheit<

    1. Kapitel Marcus T. Cicero - >Stoische Paradoxien< . . . . . . Seite 101

    2. Kapitel Unbekannter Stoiker - >Nur der Weise ist frei< . . . Seite 110

    3. Kapitel Epiktet >Diatribe< IV.1: >ber die Freiheit< . . . . Seite 164

    Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 181

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    Anstatt eines Vorworts

    Und vollends der Charakter des Weisen: Wie ehrwrdig, wie erhaben, wie standhaft wird er in seiner Vollendung dargestellt! Er muss, nachdem die Vernunft ihn darin belehrt hat, dass allein das Ethischgute das hchste Glcks-Gut ist, zu jeder Zeit glcklich und wahrhaftig im Besitz all jener Namen sein, die von den Unwissenden [von den Narren und Toren] verlacht zu werden pflegen. Denn rechtmiger wird der Weise ein Knig genannt werden als Tarquinius, der weder sich selbst noch die Seinigen leiten konnte. Rechtmiger wird der Weise ein Fhrer des Volkes genannt als Sulla, denn der war ein Diktator, der zu den drei verderblichsten Lastern - der Schwelgerei, der Habsucht und der Grausamkeit - ein Anstifter war. Rechtmiger wird der Weise ein Reicher genannt als Crassus, der, wenn er nicht [trotz seines Reichtums] Mangel gefhlt htte, nie den Euphrat ohne alle Veranlassung im Kriege zu berschreiten gewnscht haben wrde. Mit Recht kann man daher alles Eigentum dessen nennen, der allein alles zu gebrauchen versteht. Mit Recht kann der Weise auch schn genannt werden, denn die Zge des Geistes sind schner als die des Krpers. Mit Recht ist der Weise allein frei, weil er weder der Herrschaft eines anderen Menschen unterworfen ist, noch den Gemtserregungen [Leidenschaften und Begierden] frhnt. Mit Recht kann der Weise der Unberwindliche genannt werden, weil seinem Geist, mag auch sein Krper in Ketten gelegt sein, keine Fesseln angelegt werden knnen. Auch braucht er nicht eine bestimmte Lebenszeit abzuwarten, um dann erst, wenn er den letzten Lebenstag durch den Tod beschlossen hat, ber sich urteilen zu lassen, ob er glcklich gewesen sei: Eine Lehre, die einer der sieben Weisen - durchaus nicht weise - dem Krsus gab. Denn wre er je vollkommen glcklich gewesen, so htte er das vollkommene Glck auch bis zu jenem von Cyros errichteten Scheiterhaufen gebracht.

    Wenn es sich nun so verhlt, dass alle Tugendhaften [alle Ethischguten] vollkommen glcklich sind und niemand als der Tugendhafte [der Ethischgute] vollkommen glcklich sein kann, was verdient mehr erstrebt und gepflegt zu werden als die stoische Philosophie?

    Cicero, >ber das hchste Glcks-Gut und grte bel

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    Macht begrndet liegt, so folgt, in wessen Macht das hchste Glcks-Gut liegt, in dessen Macht liegt auch das vollkommen glckliche Leben. Auf diese Weise ist das Leben des Weisen immer vollkommen glcklich. Da hast du nun, was sich nach meiner Ansicht auf die eines tapferen Menschen wrdigste Weise und bezglich der Wahrheit nach dem jetzigen Stand der Dinge ber das vollkommen glckliche Leben sagen lsst.

    Marcus T. Cicero, >Gesprche in TusculumBriefe an Lucilius

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    ist des Menschen einziges Glcks-Gut, die ihn allein glcklich machen kann. Wir [Stoiker] nennen all die Dinge Glcks-Gter, die aus der Tugend hervorgehen und mit ihr in Berhrung stehen, d. h. alle ihre Wirkungen.

    L. Annaeus Seneca, >Briefe an LuciliusWie Zenon sich der Wrter in ihrem eigentlichen Sinne bedientLeben und Lehre der Philosophenapodeixis< nennen, so zu definieren: >Das Vernunftverfahren, das von begriffenen Dingen zu dem [bisher noch] nicht Begriffenen gefhrt hatdogmata<

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    nennen - zweifeln darf und von denen keiner, ohne Hochverrat zu begehen, aufgegeben werden kann? Denn Verrat an einem Lehrsatz ist Verrat an dem Gesetz des Wahren und Falschen. Aus diesem Frevel geht gewhnlich auch der Verrat an der Freundschaft und am Staat hervor. Somit lsst sich auch nicht zweifeln, dass kein Ausspruch falsch sein knne, dass es aber dem Weisen nicht gengt, da ein solcher [nicht nur] nicht falsch ist, sondern dass er auch unwandelbar, fest und [allgemein] anerkannt sein muss, dass kein Einwurf ihn erschttern kann. Dies ist aber unmglich und undenkbar nach der Ansicht derjenigen, die leugnen, dass die Erscheinungen, die die Quelle aller Aussprche sind, sich vom Falschen nicht unterscheiden lassen. (28) Demzufolge stellte Hortensius die Forderung: Ihr solltet wenigstens das von den Weisen erkannt nennen, dass nichts erkannt werden kann. Antipater formulierte es folgendermaen: Derjenige, welcher behauptet, dass sich nichts erkennen lasse, muss doch notwendigerweise einrumen, es lasse sich wenigstens dies Eine erkennen, nmlich dass nichts weiter erkennbar ist. Karneades erklrte daraufhin, dem Antipater heftig widersprechend, dies sei ein offenbarer Widerspruch. Derjenige nmlich, der die Erkennbarkeit der Dinge leugne, knne nichts ausnehmen, und so knne auch jener Satz [es lasse sich zumindest dies Eine erkennen] davon nicht ausgenommen werden.

    (29) Auf diesen Punkt schien mir Antiochos [von Askalon] noch genauer einzugehen. Da nmlich die Akademiker einmal den Lehrsatz aufstellten - ihr merkt gewiss, dass ich das griechische Wort >dogmata< meine - dass nichts erkennbar sei, so drfen sie bei diesem ihrem Ausspruch nicht wie bei anderen Dingen ins Schwanken geraten, da ihre Lehre im wesentlichen hierauf begrndet ist. Denn das ist die Aufgabe aller Philosophie, das Wahre und das Unwahre, das Erkannte und das Nichterkannte zu bestimmen. Und da die Akademiker diese Methode ebenfalls annahmen und lehren wollten, was ein jeder Mensch anzunehmen und was er zu verwerfen habe, so htten sie doch wenigstens das erkennen mssen, worauf alles Urteil ber das Wahre und Falsche beruht. Denn das sind die beiden Hauptpunkte in der Philosophie: Das Erkennungsmittel der Wahrheit und die Erkenntnis des hchsten Glcks-Gutes. Derjenige kann kein Weiser sein, dem entweder das Prinzip des Erkennens oder dem das hchste Ziel allen Strebens [Telos] unbekannt ist, so dass er nicht wei, wovon er auszugehen oder welches Ziel er sich vorzunehmen hat. Hierber im Zweifel zu sein und keine unerschtterliche berzeugung zu besitzen [wie die neueren Akademiker]1, das ist mit der Weisheit vllig unvereinbar. Nur auf diese Weise lsst sich der Spruch der neueren Akademiker erklren, es lasse sich wenigstens das Eine erkennen, dass nichts erkannt werden knne.

    Marcus T. Cicero, >LucullusGesprche in Tusculum< war er mit Sicherheit ein Stoiker.

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    Der stoische Weise

    ein Materialist

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    I. Kapitel: Die stoische Physiktheorie - eine materialistische Naturphilosophie

    1.1: Gott ist das Naturgesetz

    Die Menschen der Vorzeit erkannten eines Tages, dass alles Leben auf der Erde von der wrmenden Kraft der Sonne abhngt. Seit dieser revolutionren Erkenntnis beobachteten sie den Lauf der Sonne und der anderen Himmelskrper whrend des ganzen Jahres bei Tag und bei Nacht.

    Der Wechsel der Jahreszeiten - von der hchsten Erwrmung im Sommer bis zur tiefsten Abkhlung im Winter - war den Menschen zuerst ein unerklrliches Phnomen. Jedoch merkten sie bald, dank ihres unstillbaren Wissensdrangs, dass es mit dem Stand der Sonne am Firmament zusammenhngen muss. Befand sich die Sonne am hchsten Punkt, war es auf der Erde am heiesten, stand sie am tiefsten, war es am kltesten. Diese Erkenntnis stand am Beginn der sogenannten Megalithkultur. Die Steinanlagen von Stonehenge und anderer Orte dienten der Berechnung der Sommer- und Wintersonnenwende. Aus den physikalischen Erkenntnissen der Menschheit entstand die sogenannte Naturphilosophie.

    Zenon von Kition, der angebliche Begrnder der stoischen Philosophie, war ein Samkhyin, d.h. er lehrte in Athen ein fertiges philosophisches System, das aus Indien stammte. Siehe dazu mein Buch >Buddhismus und Stoizismus - zwei nahverwandte Philosophien und ihr gemeinsamer Ursprung in der Samkhya-LehreDie Lehre vom Logos in der griechischen Philosophie

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    genannt. Der Aether ist also Materie und Naturgesetz gleichermaen. Die Materie ist passiv und das Naturgesetz - der Logos - aktiv.3

    Der Aether wird mit den verschiedensten Namen benannt: als Grundstoff, als das schpferische Urfeuer, als das Wesen, als Logos, als Natur oder Naturgesetz, als kunstverstndiges Feuer, als Schicksal und nicht zuletzt auch als Gott.

    Alles, was in der Welt vorhanden ist, ging nach der stoischen Physiktheorie - aus dem schpferischen Urfeuer - dem Aether - mit naturgesetzlicher, unabwendbarer Notwendigkeit hervor. Ein Teil des Aethers verwandelte sich zuerst in eine dunstartige Masse, diese in wssrige Flssigkeit, aus welcher sich durch die nachwirkende Kraft des Feuers das Wasser, die Erde und die Luft ausschieden. Aus der Luft wiederum kann Feuer hervorbrechen, wie wir es bei einem Gewitter sehen. Dieses irdische Feuer ist vom Aether dadurch verschieden, da es mit Luft vermischt, also unrein ist. Es gibt demnach in der stoischen Physiktheorie fnf verschiedene Elemente, wie in der Samkhya-Lehre, nmlich: das Urfeuer, alias die Urmaterie, alias der Aether, woraus wiederum vier weitere Elemente (gr. stoikeia) entstehen knnen: irdisches Feuer, Luft, Wasser und Erde. Darauf machte bereits Paul Barth, >Die StoaWer galt im Altertum als Atheist?Die Asebieklage des attischen Rechts

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    blieb daher nichts anderes brig, als ihrer materialistischen Philosophie zumindest den Schleier eines theistischen Systems umzuhngen.

    Diogenes Laertius schrieb in seinem Werk >Leben und Lehren berhmter Philosophen Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker

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    den Theisten - zu schweigen verstand, denn man musste sehr vorsichtig sein, um die eigene Existenz und die der Gleichgesinnten nicht zu gefhrden.

    Einen weiteren klaren und eindeutigen Beweis fr die Stufen- und Geheimphilosophie der Stoiker fand ich bei Klemens von Alexandria. In dem Werk >Die Teppiche< (Stromateis)7, II. Buch, 58,2 lesen wir:

    Ja auch die Stoiker sagen, dass Zenon der Erste [Zenon von Kition] manches geschrieben habe, was sie nicht leicht [im Sinne von: nicht ohne besondere Vorsichtsmanahmen] den Schlern zu lesen gestatten, ohne dass sie zuerst eine Prfung darber bestanden haben, ob sie in rechter Weise philosophieren.

    Diese Vorsichtsmanahme diente natrlich einzig und allein zum Schutz der Anhnger der stoischen Philosophie vor den Angriffen theistischer Fanatiker.

    Wenn also in der Abhandlung eines antiken Stoikers von Gott die Rede war, dann wusste ein in die stoische Physiktheorie Eingeweihter natrlich sofort, dass der Autor anstatt Gott eigentlich Aether, alias Naturgesetz meinte. Aether, alias Naturgesetz, ist synonym fr Gott zu setzen.

    Sptestens als die stoische Philosophie nach Rom kam, spaltete sie sich in ein atheistisches und in ein theistisches Lager. Poseidonios und wahrscheinlich auch Hierokles waren theistische Vertreter der Stoa, whrend Panaitios unzweifelhaft ein Atheist war. Andere, wie z. B. Seneca, Musonius und Kaiser Marcus Aurelius, haben sich nicht eindeutig und klar ber ihren persnlichen Standpunkt geuert. Sie hielten streng an den Grundmaximen der stoischen Philosophie fest, was ein gewichtiges Indiz dafr ist, dass sie dem materialistischen Lager angehrten.

    Ein Kenner der stoischen Philosophie mag einwenden, ich htte Epiktet bersehen. Dies ist keineswegs der Fall. ber Epiktets Lehre schrieb Adolf Bonhffer, >Epictet und die StoaGeschichte der griechischen PhilosophiePsychologie der StoaDiatriben

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    eine Entrckung zu seligen Geistern, sondern, wie die Stelle III, 24, 92 etc. deutlich zeigt, nichts anderes als die Verwandlung der Bestandteile in etwas Neues. Zugleich ersieht man aus Stellen wie III, 13, 15 etc., dass Epictet offenbar die Gtter und Dmonen, von welchen das ganze Weltall voll sein soll, nicht als persnliche Wesen gefasst hat: denn eben dort, wo er sagt, dass es keinen Hades gebe, sondern alles voll sei von Gttern und Dmonen, schildert er den Tod als Rckkehr zu den [stoikeia = den Elementen].

    Diese Ansichten Epictets stehen vllig klar und eindeutig auf dem Boden der stoischen Physiktheorie. Die Urmaterie, der Aether, besteht aus einer passiven Materie, der eine aktive Vernunftkraft (gr. logos) innewohnt. Die menschliche Vernunft ist ein Teil dieses Aether-Logos. Mit unserem Tod vergeht alles Irdische und kehrt in die stoikeia, in die Elemente zurck. D. h. auch unsere Vernunft ist sterblich, bzw. endlich; sie kehrt zur Urvernunft, in die Aetherregion zurck. Epiktet war sich daher der stoischen Geheimphilosophie absolut bewusst und er lehrte eindeutig danach. Nur der Eingeweihte wusste, dass mit Gott-Zeus eigentlich der materielle Aether-Logos gemeint war. Flavius Arrianus, der die mndlichen Lehrvortrge (Diatriben) Epiktets niederschrieb und der Nachwelt erhalten hat, war mglicherweise ein Theist. Er interpolierte die Lehre Epiktets ins Theistische; aber nur in geringem Umfang, denn die wahre Lehre der materialistischen Stoiker ist durchaus erhalten geblieben, siehe Bonhffer. Wir knnen daher ohne Bedenken, ja wir mssen sogar ehrlicherweise in den >Diatriben< und im >Handbchlein der stoischen Philosophie< das Wort Gott durch Naturgesetz ersetzen. Arrianus tat des fteren das genaue Gegenteil; er setzte fr Aether, alias Vernunft, alias Naturgesetz - Gott.

    Die Stoiker in der Antike waren unbezweifelbar der berzeugung, dass der Gott der Schpfung der Aether, das heit ein kunstverstndiges Feuer (gr. pyr technikn) sei. Sie hielten den Aether fr erschaffend, sie nannten ihn kunstverstndig, der methodisch zur Entstehung der belebten und unbelebten Natur voranschreitet und der all die Samenprinzipien (gr. logoi spermatikoi) enthlt, nach dem alles in der Welt entsteht und wieder vergeht. Es ist evident, dass die Samkhyin und die Stoiker damit die Evolution zu erklren versuchten. Der Aether war m. E. eine Vorahnung der Gravitationskraft, denn die Drehbewegung der Sterne und Planeten war den antiken Naturphilosophen durchaus bekannt, jedoch physikalisch unerklrlich.

    ber die materialistische Physiktheorie der Stoiker finden wir folgende eindeutige Aussagen und Zeugnisse:

    Diogenes Laertius, VII. 135 - 137: (135) [...] Alles sei eines und dasselbe: Gottheit und Logos, Schicksal und

    Zeus; und dieser werde noch mit vielen anderen Namen [darunter auch mit dem Namen Aether, Natur oder Naturgesetz] bezeichnet.

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    (136) Dieser [der Logos] sei anfangs allein gewesen und habe alles Wesen durch die Luft in Wasser verwandelt. Und wie auch bei der Zeugung der Samen wirksam sei, so sei auch der Logos gleichsam der Samen in der Welt. Er habe den Samen im Wasser zurck gelassen und dadurch die Materie wirksam [fruchtbar] gemacht, so dass alles nach der Reihenfolge entstanden ist. Die Materie habe zuerst die vier Grundstoffe erzeugt: das [irdische] Feuer, Luft, Wasser und Erde. Das erklrt Zenon in der Schrift >ber das Allber die Physik< und Archedemos in dem Werk >ber die Grundstoffe

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    Quelle: Arius Didymus epit. (fr. phys. 33 p. 467 Diels): .

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    [Zenon:] Zenon sagt, die Sonne, der Mond und alle anderen Sterne seien vernnftig und verstndig, feurig durch ein knstlerisches Feuer. Es gibt zwei Arten von Feuer, die eine ist unproduktiv und verschlingt nur ihre Nahrung, die andere ist produktiv, sie vermehrt und schtzt, wie sie in Pflanzen und Tieren ist, was Natur und Seele ist; das Wesen der Sterne ist das eines solchen Feuers; die Sonne und der Mond bewegen sich auf zwei Bahnen, die eine unter dem Himmel von Aufgang zu Aufgang, die andere dem Himmel entgegengesetzt, wobei sie von einem Tierkreiszeichen in ein anderes bergehen. Ihre Verfinsterungen entstehen auf verschiedene Weise, die der Sonne beim Zusammentreffen mit dem Mond, die des Mondes bei Vollmond. Bei beiden aber geschehen die Verfinsterungen in grerem oder geringerem Ausma.

    Quelle: Arius Didymus (fr. phys. 21 p. 458 Diels): . ,

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    [Chrysippos:] ber die Elemente des Seins legt er folgendes dar, wobei er dem Urheber dieser Anschauung, Zenon, folgt: er sagt, es gebe vier Elemente [Feuer, Luft, Wasser, Erde, aus denen sich alles zusammensetzt, sowohl die Lebewesen] als auch die Pflanzen und das ganze All und das in ihm Enthaltene und das, was sich in ihm auflst. Das Feuer werde vorzugsweise als Grundstoff bezeichnet, weil sich aus ihm als erstem alles brige zusammensetze, wenn es sich verndert und alles sich in es als letztes zerstreut und auflst; das Feuer aber heie es nicht gut, dass sich etwas in etwas anderes zerstreue oder auflse; [aus ihm setzen sich alle Dinge zusammen und werden in es als letztes zerstreut, wenn sie ihr Ende finden; deshalb wird es auch >Grundstoff< genannt, der als erster bestand, so dass es die Beschaffenheit von sich selbst weitergibt und die Zerstreuung und Auflsung der brigen Dinge in sich selbst aufnimmt]; gem diesem Argument wird das Feuer zwingend Grundstoff genannt; denn es ist rein; nach dem vorher Ausgefhrten setzt es auch andere Dinge miteinander zusammen; die erste Umwandlung ist gem seinem Wesen die von Feuer in Luft, die zweite von eben diesem in Wasser, die dritte dementsprechend von Wasser, das noch dichter zusammengesetzt ist, in Erde. Wenn es sich wieder aus diesem herauslst und zerstreut, wird das, was sich zerstreut hat, zuerst zu Wasser, dann von Wasser zu Luft und drittens und letztens zu Feuer. Feuer wird alles Feuerhnliche und Luft alles Lufthnliche genannt und genauso die brigen Dinge. Der Grundstoff wird laut Chrysippos auf dreifache Weise definiert: Auf eine Weise als Feuer, weil sich aus ihm die brigen Dinge zusammensetzen, wenn es sich verndert, und das, was sich aufgelst hat, in sich aufnimmt; auf andere Weise in so fern, dass die vier Elemente genannt werden, nmlich Feuer, Luft, Wasser, Erde [weil demnach die brigen Dinge aus einem, mehreren oder aus allen bestehen; aus vieren, z.B. die Lebewesen und alle Krper auf der Erde, die zusammengesetzt sind; aus zweien, z.B. der aus Feuer und Luft zusammengesetzte Mond; aus einem, z.B. die Sonne allein aus Feuer, denn genau betrachtet besteht die Sonne aus Feuer]; auf eine dritte Weise wird als Grundstoff bezeichnet ** , was zuerst so zusammengesetzt ist, dass es aus sich selbst nach einem bestimmten Verfahren die Entstehung gibt bis zum Ende und von jenem Ende aus das, was aufgelst wird, auf hnliche Weise in sich aufnimmt.

    SVF II. 329: Ein Sein [ein Existieren] kann nur von Krpern [von Materie] ausgesagt

    werden.

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    Etwas Unkrperliches kann aufgrund seiner Beschaffenheit weder etwas bewirken noch erleiden.

    SVF II. 1040: Die Stoiker sagen, dass Gott [alias der Aether-Logos] krperlich

    [materiell] sei und [auch] durch die gemeinste [gewhnlichste] Materie hindurch strme.

    SVF I. 159: Zenon legte dar, dass Gott [alias das Naturgesetz] auch der Urheber des

    Schlechten sei, und dass er auch in Abwssern, Spulwrmern und Verbrechern wohne.

    Cicero, >ber das Wesen der Gtterhormai< nennen; und verrichtet die diesen entsprechenden Handlungen so wie wir selbst, die wir durch den Geist und die Sinne in Bewegung gesetzt werden. Da nun der Weltgeist so beschaffen ist und deshalb mit Recht Vorsicht oder Vorsehung genannt werden kann - griechisch heit er >pronoia< - so sorgt er dafr vorzglich und es ist ihm besonders angelegen, erstens dass die Welt aufs zweckmigste zur Fortdauer eingerichtet ist, sodann dass es ihr an nichts fehle, besonders aber, dass in ihr eine ausnehmende Schnheit und jegliche Pracht sei.

    Tertullianus, >De anima

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    Neigungen [...] Ebenso seien die krperlichen und die nichtkrperlichen Leiden keineswegs identisch. Nun aber leide die Psyche mit dem Krper mit; wenn er durch Schlge, Wunden, Beulen verletzt sei, so empfinde sie den Schmerz mit; und ebenso auch der Krper mit der Psyche, mit deren Leiden er bei Sorge, Angst und Liebe seinen Zusammenhang verrt durch den Verlust der entsprechenden Munterkeit, und von deren Scham und Furcht er durch sein Errten und Erbleichen Zeugnis gibt. Folglich besteht die Psyche aus Materie, weil sie die krperlichen Leiden teilt.

    Chrysippos reicht ihm die Hand, indem er konstatiert, dass das Krperliche vom Unkrperlichen durchaus nicht getrennt werden knne, weil es sonst auch nicht davon wrde berhrt werden. Deshalb sagt auch Lukretius: Berhren und berhrt werden kann kein Ding, als nur ein Krper [Materie]; wenn die Psyche aber den Krper verlsst, so verfalle dieser dem Tode. Mithin sei die Psyche ein Krper [sie besteht aus Materie], weil sie, wenn nicht krperlich, den Krper nicht verlassen wrde.

    SVF I. 518: Kleanthes sagt: Nichts Unkrperliches leidet mit dem Krper, noch mit dem

    Unkrperlichen ein Krper, sondern [nur] ein Krper mit dem Krper. Es leidet aber die Psyche mit dem Krper, wenn er krank ist und operiert wird, und ebenso der Krper mit der Psyche, denn wenn sie sich schmt, wird er rot, und wenn sie sich frchtet, blass. Ein Krper [Materie] ist also die Psyche.

    Cicero, >Gesprche in Tusculumber die FrmmigkeitHerkulanische Studienber die

    FrmmigkeitDie Nachsokratiker

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    [die Gtter] beseitigen mit ihrer Behauptung, es gebe nur einen Gott und nicht viele oder gar alle, die der allgemeine Glaube berliefert hat, und dieser eine sei das All [alias der Aether], whrend wir [Philodemos ist Epikureer] nicht nur alle diejenigen anerkennen, von denen ganz Griechenland redet, sondern sogar noch mehr [auch die Gtter der Nachbarvlker]; ferner dass sie auch nicht, wie sie schreien, die Gtter so lassen, wie man sie allgemein verehrt und wie auch wir [Epikureer] es zugestehen. Denn sie [die Stoiker] halten sie nicht fr menschenhnlich, sondern erblicken sie in Luft und Wind und Aether. So mchte ich denn zuversichtlich behaupten, dass diese Leute [die Stoiker sind gemeint] frivoler sind als Diagoras. Denn dieser hat nur eine scherzhafte [gotteslsterliche] Schrift verfasst, wenn diese wirklich von ihm stammt und ihm nicht untergeschoben ist, wie Aristoxenos in seinen >Sitten von Mantinea< behauptet.

    Die Stoiker nennen zwar die Gtter in ihren Schriften, beseitigen sie aber in Wirklichkeit vollstndig und absichtlich und gehen mit ihrer unvornehmen Haltung noch ber Philippos und andere hinaus, welche die Gtter schlechtweg beseitigen.

    Philodemos von Gadara, >ber die Gtterber die Mantik< sagt, Gott knne nicht alles wissen, weil dies unmglich sei.

    Plutarch von Chaironeia, >ber die Widersprche der Stoikerber die Berufsarten< herzusetzen, die wrtlich so lautet: Frs erste gibt es meines Erachtens nach der richtigen Einteilung der Alten drei Gattungen philosophischer Lehrstze: die logischen, die ethischen und die physikalischen. Unter diesen mssen die logischen die erste, die ethischen die zweite, die physikalischen die letzte Stelle einnehmen; von den

    9 Philodemos, >ber die GtterDie NachsokratikerMoralische Schriften

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    physikalischen muss die Lehre von den Gttern die letzte sein. Deshalb nannten sie auch den Unterricht in diesen [Lehrstzen] Teletae11.

    Allein gerade diese Lehre, welche den Schluss bilden soll - die von den Gttern schickt er der Ethik voran und behandelt sie vor jeder ethischen Untersuchung. Denn ber die hchsten Endzwecke, ber die Gerechtigkeit, ber das Ethischgute und -schlechte, ber Ehe und Erziehung, ber Gesetz und Verfassung sagt er nicht ein Wort, ohne dass er - wie die Urheber von Volksbeschlssen ihren Antrgen [Gesetzesentwrfen] die Worte voransetzen Zu gutem Glck - den Zeus, das Verhngnis, die Vorsehung und den Satz voranstellt, dass die einzige und begrenzte Welt von einer einzigen Kraft zusammen gehalten werde; alles Dinge, von denen man sich nicht berzeugen kann, ohne in die Lehren der Physik [in die stoische Physiktheorie] tiefer eingedrungen zu sein.

    Man hre, was er im dritten Buch >ber die Gtter< hierber sagt: Es lsst sich kein anderes Prinzip, kein anderer Ursprung der Gerechtigkeit denken, als der aus Zeus und der allgemeinen Natur. Denn daher muss alles seinen Ursprung haben, wenn wir vom Ethischguten [den Glcks-Gtern] und vom Ethischschlechten [von den bel] reden wollen. Ferner in den >Physikalischen Stzenber den Vernunftgebrauch< gesagt: Wer die Logik zuerst studiert, darf die anderen Teile der Philosophie nicht ganz bei Seite lassen, sondern er muss auch sie so viel als mglich mitnehmen, so ist dies zwar richtig, besttigt aber nur den gemachten Vorwurf. Denn er ist im Widerspruch mit sich selbst, wenn er das eine Mal empfiehlt, die Lehre von der Gottheit zuletzt und am Ende vorzunehmen, weshalb sie auch Teletae heie, das andere Mal sagt, man msse auch sie mit dem ersten Teil zugleich mitnehmen.

    Es ist um die Ordnung geschehen. wenn man alles durcheinander lernen soll. Und was noch mehr sagen will, whrend er die Lehre von der Gottheit zum Prinzip der Lehre vom Ethischguten und -schlechten macht, verlangt er doch, dass man das Studium der Ethik nicht mit jener beginne, sondern bei demselben die Lehre von der Gottheit nach Mglichkeit mitnehme, dann erst von der Ethik zu

    11 Teletae hie die Einweihung in die Mysterien als das Hchste aller Mitteilung.

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    der Lehre von der Gottheit bergehe, ohne welche doch die Ethik kein Prinzip und keinen Eingang haben soll.

    Plutarch von Chaironeia, >ber die Widersprche der Stoikerber die Widersprche der Stoikerber die Natur< vergleicht er die Ewigkeit der Bewegung [des Weltalls] mit einem Getrnk, in dem alles durcheinander gerhrt wird, und fhrt fort: Da die Weltordnung auf diese Art ihren Gang fortgeht, so ist es notwendig, dass wir uns nach derselben in dem Zustand befinden, in welchem wir nun einmal sind, sei es, dass wir gegen die eigene Natur an Krankheit leiden oder verstmmelt sind oder dass wir Grammatiker oder Musiker geworden sind. Und bald darauf weiter: Nach diesem Grundsatz mssen wir auch von unserer

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    Tugend und vom Laster dasselbe sagen und berhaupt, wie gesagt, von der Geschicklichkeit und Ungeschicklichkeit in den Knsten. Und um jede Zweideutigkeit zu beseitigen, sagt er gleich darauf: Nichts Einzelnes, auch nicht das Geringste, kann anders geschehen als nach der allgemeinen Natur [den Naturgesetzen] und deren Weisheit. Dass aber die allgemeine Natur und ihre Weisheit nichts anderes als das Verhngnis, die Vorsehung und Zeus ist, das wissen selbst die Antipoden. Denn das wird berall von den Stoikern gepredigt und Chrysippos erklrt den Ausspruch Homers: So ward Zeus Wille vollendet fr ganz richtig, sofern er darunter das Verhngnis und die Natur [das Naturgesetz] des Weltalls, nach welcher alles regiert wird, verstehe12. Wie kann nun beides zugleich sein, dass Zeus an keiner Boshaftigkeit schuld ist, und doch nichts, auch nicht das Geringste, anders als nach der allgemeinen Natur und ihrer Weisheit geschieht. Denn unter allem was geschieht ist auch das Bse von den Gttern abhngig. Gibt sich doch Epikur alle erdenkliche Mhe, um irgend einen Ausweg zu finden, den freien Willen von der ewigen Bewegung frei und unabhngig [zu halten], damit das Laster nicht schuldfrei bleibe. Chrysipp dagegen rumt ihm die unbeschrnkteste Rechtfertigung ein, sofern es nicht nur aus Notwendigkeit oder nach dem Verhngnis, sondern nach gttlicher Weisheit und der besten Natur gem begangen werde. Betrachten wir noch folgende Stelle: Da die allgemeine Natur alles durchdringt, so muss auch, was immer in der Welt und in irgend einem Teile derselben geschieht, dieser Natur und ihrer Weisheit gem in bestimmter Folge und unabnderlich geschehen, weil nichts von auen her in den Gang der Weltordnung eingreifen und keiner ihrer Teile anders als nach den Gesetzen der allgemeinen Natur sich bewegen und verhalten kann.

    Welches sind nun die Verhltnisse und Bewegungen der Teile? Verhltnisse sind augenscheinlich die Laster und Krankheiten, wie Geiz, Begierde, Ehrsucht, Feigheit, Ungerechtigkeit; Bewegungen sind Diebstahl, Ehebruch, Verrat, Meuchelmord, Vatermord. Keines von diesen, weder Kleines noch Groes, geschieht nach Chrysipps Meinung der Weisheit des Zeus, dem Gesetz, dem Recht, der Vorsehung zuwider;[...]

    Plutarch von Chaironeia, >ber die Widersprche der Stoikerber die Gtter< wrtlich folgendes: Vor der ganzen Untersuchung wollen wir unseren unmittelbaren Begriff von Gott in kurzen Betracht ziehen. Wir denken uns Gott als ein seliges, unvergngliches und gegen die Menschen wohlttiges Wesen, und

    12 Anmerkung des Hrsg:: Plutarch hat vllig richtig erkannt, dass fr die Stoiker das Verhngnis

    und auch die Natur des Weltalls, d. h. die Naturgesetze, synonym gedacht sind mit Zeus. Der Stoizismus beinhaltet eine atheistische Philosophie. 13

    Vgl. K. 2, Seite 3028, Anm. 3.

  • 27

    indem er jedes dieser Merkmale erklrt, setzt er hinzu: dass sie unvergnglich seien, glauben brigens alle. Nach Antipater ist also Chrysipp keiner von den allen, denn er glaubt, dass keiner der Gtter, auer dem Feuer [dem Aether], unvergnglich sei, sondern alle ohne Unterschied entstanden seien und vergehen werden. Dies erklrt er fast berall. Ich will indessen nur eine Stelle aus dem dritten Buch >ber die Gtter< anfhren: Anders verhlt es sich mit den Gttern. Sie sind teils geschaffen und vergnglich, teils unerschaffen. Dieses von Grund aus zu beweisen, gehrt mehr der Physik an. Sonne, Mond und die brigen in gleichem Verhltnis stehenden Gottheiten sind geschaffen; nur Zeus [alias der Aether] ist ewig. Und weiterhin: Das Gleiche, was von der Entstehung, muss vom Untergang in Beziehung auf Zeus und die anderen Gtter gesagt werden: diese sind vergnglich, von jenem [Zeus-Aether] sind die Teile [die vier Elemente] unvergnglich [sie wandeln sich wieder in den Aether zurck].

    Hiermit will ich nur ein paar Worte von Antipater vergleichen. Wer den Gttern die Wohlttigkeit abspricht, der greift die allgemeine Vorstellung von ihnen an; und den gleichen Fehler begehen diejenigen, die sie der Entstehung und dem Untergang unterworfen glauben. Wenn es nun gleich ungereimt ist, die Gtter fr vergnglich zu halten oder ihnen Vorsehung und Menschenfreundlichkeit abzusprechen, so ist Chrysipp in denselben Fehler verfallen wie Epikur, denn der eine leugnet die Wohlttigkeit, der andere die Unsterblichkeit der Gtter.

    Die Werke >ber die Widersprche der Stoiker< und >ber die allgemeinen Begriffe Gegen die Stoiker< des Plutarch erscheinen wie eine Sammlung von Anklagepunkten, um einen Asebieprozess gegen die Stoiker anstrengen zu knnen. Der Vielschreiber Chrysipp scheint sich in seinem bereifer tatschlich des fteren in widersprchlichen Ansichten verfangen zu haben. Die oben aufgefhrten Zitate aus Werken Chrysipps, die man leicht verdreifachen knnte, sind meines Erachtens wiederum deutliche Beweise dafr, dass der Stoizismus eine Stufen-, bzw. eine Geheimphilosophie beinhaltet. Vor den Uneingeweihten spricht Chrysippos noch von Gttern als real existierenden gttlichen Wesen, andererseits widerlegt er sich selber, wenn er behauptet, dass die Gtter den Menschen nicht mehr ntzen knnen als diese ihnen und sie auerdem fr vergnglich erklrt, auer dem Zeus-Aether, alias dem Urfeuer.

  • 28

    1.2: Die Theorie von der Psyche

    Nach der materialistischen Theorie der Stoiker ist die Psyche des Menschen ihrer Beschaffenheit nach ein warmer Hauch (gr. Pneuma), demnach krperlich wie alles in der Welt. Sie ist ein Strahl und Ableger des Urfeuers, alias des Aethers. Das Pneuma ist an das Blut gebunden und nhrt sich von den Ausdnstungen desselben, wie die Aether-Sonne und die anderen Gestirne nach der stoischen Physik-Theorie angeblich von den Ausdnstungen der Erde ihre Energie beziehen. Die Stoiker vermuteten den Sitz der Psyche im Herzen, denn hier ist die Hauptsammelsttte des Blutes. Diogenes der Babylonier hielt die arterielle Hhlung des Herzens fr den Sitz der herrschenden Vernunft.14 Hippokrates (Ausgabe von Littr, IX, 88) erklrte in seiner Schrift >ber das Herzber die Widersprche der StoikerDie NachsokratikerPhilosophie der Griechen

  • 29

    Krper und eine Psyche um, so dass sie nun aus diesen beiden besteht und das Verhltnis ein anderes ist.

    Quelle: Tertullian, de an. 5 bers. von Wilhelm Nestle, in: >Die NachsokratikerDie NachsokratikerDie Nachsokratiker

  • 30

    Quelle: >Zenon von Cittium und seine Lehre17< von Georg P. Weygoldt Gott [alias der Aether-Logos] ist nach Zenon, wie wir schon oben sahen,

    identisch mit dem Prinzip der Aktualitt in der Welt. Er ist eben deshalb krperlich, aber sein soma ist das reinste, d. h. es ist ther (Hippolyt. Ref. Haer. I. 21). Der ther aber ist, wie wir gleichfalls schon bemerkten, nichts anderes als der uerste Teil des Feuers. Folglich ist die Gottheit, wie schon Heraklit angenommen hatte, ihrem Wesen nach eigentlich Feuer und zwar nach Stobaeos I. 538, Cicero, nat. d. II. 22. 5718 knstlerisches Feuer (griech.: pyr technikn) und als solches wohl zu unterscheiden von unserem gewhnlichen Feuer (griech.: pyr atechnn). Die beiden Begriffe Feuer und Vernunft zusammenfassend, definiert dann Zenon (Stobaeos, 1. 60) Gott [alias der Aether-Logos] auch als die feurige Vernunft der Welt [griech.: nous pyrinos]. Diese feurige Vernunft durchdringt die ganze Erscheinungswelt (Cicero, nat. deorum I. 14) und stellt sich dar als physis und psyche, d. h. als organisierende Kraft in den Pflanzen und Tieren (Stobaeos, I. 538); auf Grund dieser letzteren Stelle scheint Zenon in bereinstimmung mit der ganzen spteren Stoa auch die exis, d. h. die verbindende Kraft in der unorganisierten Welt, und den nous im Menschen fr Ausflsse der Gottheit gehalten zu haben (vgl. Krische a. a. O., S. 382 ff.). Gott ist also der Grund alles Zusammenhaltes und alles Lebens in der Welt; er ist der logos toy pantos, der durch die ganze hyle hindurchgeht (Stobaeos, I. 322), weshalb sich auch Tertullian des Bildes bediente (ad. nat. II. 4) Zenon lasse Gott durch die Welt hindurchgehen, wie Honig durch die Waben. Weil ferner die Seele, die also nach dieser Weltauffassung ein Teil der Gottheit ist, von Zenon auch ein warmer Hauch genannt wird (Diogenes, 157), so muss er auch Gott selbst als warmen, weil ja nmlich feurigen Hauch bezeichnet haben [griech.: pneuma pyrinon]; und es erklrt sich dann hieraus, wie Tertullian (adv. Marc. I. 12) sagen konnte, Zenon sehe die Luft als Gottheit an. Gott ist das die Welt erhaltende und leitende Vernunftprinzip (Cicero, nat. d. II. 8., III. 9); er teilt seine Vernunft an den Kosmos mit und zwar eben weil er selbst vernnftig ist,

    17 Inaugural-Dissertation von Georg. P. Weygoldt, Jena 1872, vom Herausgeber gekrzt und ins

    Neuhochdeutsche bertragen. 18

    Funote des Hrsg.: Cicero, nat. d. II.22.57: Zenon gibt von der Natur folgende Definition: Die Natur ist ein knstlerisches Feuer, das planmig auf Zeugung vorwrts schreitet. Schaffen nmlich und Zeugen, meint er, sei das eigentliche Wesen der Kunst; und was bei unseren Kunstwerken die Hand vollbringe, das vollbringe weit kunstreicher die Natur; das heit, wie gesagt, das knstlerische Feuer, der Lehrmeister aller Knste. Und insofern ist die ganze Natur knstlerisch, als sie gleichsam einen Weg und eine Verfahrensweise hat, die sie befolgt. (58) Die Natur der Welt selbst aber, die in ihrem Bereich alles umschliet und zusammenhlt, nennt derselbe Zenon nicht allein knstlerisch, sondern geradezu Knstlerin, Beraterin und Vorsorgerin alles Ntzlichen und Zweckmigen. Und so wie die brigen Naturen jede aus ihrem Samen entspringen, wachsen und bestehen, so hat die Weltnatur hingegen lauter freiwillige Bewegungen, Bestrebungen und Begierden, welche die Griechen hormai nennen, und verrichtet die diesen entsprechenden Handlungen so wie wir selbst, die wir durch den Geist und die Sinne in Bewegung gesetzt werden. Da nun der Weltgeist so beschaffen ist und deshalb mit Recht Vorsicht oder Vorsehung genannt werden kann - griechisch heit er pronoia so sorgt er dafr vorzglich und ist damit besonders beschftigt, erstens, dass die Welt aufs Zweckmigste zur Fortdauer eingerichtet sei, sodann dass es ihr an nichts fehle, besonders aber, dass in ihr eine ausnehmende Schnheit und jegliche Pracht vorhanden sei.

  • 31

    ganz so wie auch durch den mnnlichen Samen eine bertragung von Vernunft auf das Erzeugte notwendig stattfindet (Sext. mth. IX. 101). Ebendeshalb ist Gott aber auch im hchsten Grad selbstbewusst, weil derjenige, welcher seinem Wesen nach die personifizierte Vernunft ist und welcher selbstbewusste Geschpfe hervorruft, notwendig selbst im eminenten Sinn selbstbewusst und persnlich sein muss (ibid). Ist aber Gott die die ganze Welt lenkende Vernunft, so ist er auch identisch mit den Naturgesetzen oder mit dem, was Heraklit19 logos genannt hatte (Laktanz, de vera sap. 9; Cicero, nat. d. I. 14. 36: naturalis lex divina est), und weil ferner das durch die Naturgesetze Bestimmte notwendig eintreffen muss und also das Schicksal nichts anderes ist als der nach den Gesetzen der ewigen Vernunft verlaufende Gang der Ereignisse, so ist Gott auch identisch mit dem Schicksal; er ist fatum, necessitas, heimarmene (Stobaeos, I. 322; Diog. 149; Laktanz, d. v. sap. 9; Tertull. apolog. 21), wie schon Heraklit das Schicksal als die das All durchwirkende Vernunft definiert hatte (Stobaeos, I. 178): es sei eins, Gott und Vernunft, Schicksal und Zeus und er werde mit noch vielen anderen Namen benannt, z. B. als Athene, weil seine Herrschaft im Aether sich ausbreite, als Hera, weil er die Luft, als Hephst, weil er das knstlerische Feuer beherrsche u.s.w. (Diog. 135, 147, welche beiden Stellen dem Zusammenhang nach, in dem sie stehen, noch mehr aber ihrer Verwandtschaft nach mit dem bis jetzt Dargelegten zweifelsohne zenonisch sind). Ganz nahe lag es dann auch, Gott mit der Vorsehung zu identifizieren, welche alles weise einrichte und geordnet verlaufen lasse (Stobaeos, I. 178).

    19 Funote des Hrsg.: Heraklit war unzweifelhaft der erste Stoiker in Griechenland, d. h. er war ein

    Anhnger der indischen Samkhya-Philosophie.

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    1.3: Ein angebliches stoisches Curiosum20

    Ein angebliches stoisches Curiosum ist die Behauptung, dass Denken, Vernunft und Weisheit etwas Krperliches, d. h. etwas Materielles seien. Hier die betreffende Stelle in Senecas >Briefe an LuciliusAcademici libriBuddhismus und Stoizismus - zwei nahverwandte Philosophien und

    ihr gemeinsamer Ursprung in der Samkhya-LehreDie Samkhya-Philosophie als Naturlehre und Erlsungslehre - nach dem Mahabharata

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    Hardware besteht unbestreitbar aus Materie, aus Schaltkreisen, usw. Und was ist die Software? - Sie ist ein Rechenprogramm, von einem Programmierer erstellt. Ein Computer denkt nicht, sondern er rechnet, er be-rechnet. Er bekommt von uns eine Rechenaufgabe gestellt und er berechnet das wahrscheinlichste Ergebnis.

    Aus was besteht eigentlich unser menschliches Gehirn? - Einerseits aus organischen Zellverbindungen, aus etwas Materiellem, demnach ist es unsere Hardware. Andererseits mssen wir auch so etwas hnliches wie eine Software haben, um das erreichen zu knnen, was wir erstreben, nmlich ein glckliches Leben. Anstatt Software knnen wir auch sagen, wir besitzen eine Philosophie, die uns durch Erziehung und vermittels langer Erfahrung auf unsere Hardware fest, d. h. wohl mehrfach eingeprgt wurde. Vielleicht ist unser Denken ebenfalls eine Art Rechenprozess, ein stndiges Addieren und Subtrahieren, ein Hin- und Herberlegen, ein Abwgen von Vor- und Nachteilen? Denken ist ohne stoffliches Sein, egal ob Schaltkreise oder organische Nervenzellen, nicht mglich. Unser Denken ist daher kein absoluter Geist. Es ist abhngig von lebenden Nervenzellen, in denen elektrischer Strom und auch chemische Botenstoffe flieen. Einen Geist, ein geistiges Wesen, Weisheit und Vernunft ohne Materie kann es daher nicht geben.

    Somit ist auch unsere Vernunft und unser Denken materiell, nmlich eine Software, ein Philosophieprogramm. Denn das, wovon die Materie gedacht wird, ist selbst Materie. Ohne Materie, ohne den Zellklumpen in unserem Kopf Gehirn genannt und ohne eine Software, eine aus Erziehung, Umwelteinflssen und Lebenserfahrung selbsterschaffene Lebens-Philosophie, knnen wir nicht denken und handeln.22

    Ohne die richtige Software knnen wir nicht das erreichen, wonach wir alle streben, nmlich ein glckliches Leben. Die stoische Philosophie - die uns zu geistiger Autonomie und damit zur Freiheit fhrt - ist daher das einzig richtige Lebens-Programm, das uns dazu verhilft, dass wir in grtmglichem Mae glcklich sein werden.

    Paul Barth schrieb in >Die StoaMaschinen mit Bewusstsein Wohin fhrt die knstliche Intelligenz?

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    selbst Materie, das Subjekt identisch mit dem Objekt, was ja auch in der neuesten Philosophie als Ergebnis langer Untersuchungen erscheint23 [...]

    Dieses schpferische Feuer [= Gottheit = Vernunft] herrscht ber alles, was geschieht, sowohl in der belebten wie in der unbelebten Welt; es ist also auch identisch mit dem, was der Volksglaube Schicksal nennt, jener gewaltigen Macht, der nach Homer auch die Gtter unterworfen sind. Jener Grnder und Lenker des Weltalls hat den Schicksalsspruch geschrieben, aber er befolgt ihn auch. Immer gehorcht er, ein Mal nur hat er befohlen.24 [...]

    Ohne Gleichnis, als sachliche Bezeichnung ist es gedacht, wenn Kleanthes und Seneca von einer strkeren oder schwcheren Spannung25 des schpferischen, feurigen Hauches als dem schpferischen Vorgang sprechen. Ein Gleichnis Zenons dagegen ist es, dass die Gottheit [d. h. der Aether] die Welt durchdringt, wie der Honig die Waben, was freilich keine Durchdringung sondern nur gleichmige Verteilung bedeuten wrde.26 Ein anderes Bild ergibt sich durch den Ursprung der Welt aus dem schpferischen Feuer. Dieses ist dann gewissermaen der Same, aus dem alle Dinge hervorgehen. Es wird zur samenartigen Vernunft (gr. logos spermaticos). Und wie gewisse verhltnismige Teilchen der Glieder zum Samen sich vereinigend sich mischen und, wenn die Glieder wachsen, wieder trennen, so entsteht alles aus Einem und wiederum durch Vereinigung aus allem Eines.27

    Die Aufeinanderfolge: Same Krper neuer Same ist vorbildlich fr die Folge: Samenartige Vernunft Welt samenartige Vernunft, die nach der Verbrennung im schpferischen Feuer brig bleibt. Da sie am Anfang wie am Ende der Welt wirkt, so ist sie das Beharrende, aus dem die Vernunft des einzelnen Wesens, des Menschen, hervorgegangen ist, in das diese wieder zurckkehrt. Du wirst verschwinden in dem, was dich erzeugt hat. Oder vielmehr, du wirst nach dem allgemeinen Stoffwechsel zurckgenommen werden in seine samenartige Vernunft.28

    Wie die menschliche Vernunft aber abgesehen von der Fhigkeit, die hchsten Prinzipien zu denken zugleich die durch das Denken gewonnenen, allgemeinsten und speziellsten Begriffe und Gesetze enthlt, so sind solche auch in der Weltvernunft enthalten. Die Welt ist ja nach stoischer Ansicht nicht einfach,

    23 Funote von Barth: Bei den immanenten Philosophen (Schuppe, Ehmke, Schubert-Soldern)

    verschwindet das Objekt im Subjekt, was die eine Seite des Denkens, das Bewusstsein von der Subjektivitt der Empfindung des Widerstandes der Objekte darstellt. Im Empiriokritizismus aber (Avenarius und seine Anhnger) verschwindet das Subjekt im Objekt, um schlielich alle seine Bestimmungen durch das Objekt zu erhalten. 24

    Funote von Barth: Vergl. Seneca, de providentia, K. 5. Vergl. O. Heine, Stoicorum de fato doctrina, Naumburgi 1859, S. 27. [Anmerkung des Hrsg.: Jener Grnder und Lenker des Weltalls sprach sozusagen den Urknall, ein grollendes Donnerwort, dann war Gott auf ewig stumm.] 25

    Funote von Barth: Vergl. Kleanthes, fragm. 24 (Pearson, S. 252) und Seneca, Nat. Quaest. II,8, wo die Spannung (lat. intentio) als spezifische Eigenschaft, dem spiritus ( = psyche) zugeschrieben wird. 26

    Funote von Barth: Vergl. Pearson, S. 88. 27

    Funote von Barth: So Kleanthes bei Pearson, S. 252. 28

    Funote von Barth: Marc Aurel, IV, 14.

  • 35

    sondern von hchster Mannigfaltigkeit, so dass es kein Ding gibt, das einem anderen vllig gliche, jedes Weizenkorn z. B. von jedem anderen verschieden ist.29 Es gibt also unzhlige bestimmte Formen, die entstehen, wachsen und vergehen. Sie sind die samenartige Vernunftinhalte (logoi spermaticoi), von denen in der Stoa abwechselnd mit der einen Weltvernunft die Rede ist. So heisst es von dem schpferischen Feuer, dass es methodisch zu den Schpfungen der Welt schreitet, nachdem es alle samenartigen Vernunftinhalte nach denen jegliches in gesetzmiger Notwendigkeit wird, in sich aufgenommen hat. Diese Mehrzahl wird der Einzahl so sehr gleichgesetzt, dass Marc Aurel, von dem wir oben sahen, dass er die einzelne Seele in die samenartige Vernunft zurckgehen lsst, an einer anderen Stelle sie nach dem Tode in die samenartige Vernunftinhalte eingehen lsst.30 Es ist also diese Weltvernunft eine einzige groe Kraft, und doch, ohne ein Chaos zu werden, in unendlich viele Einzelkrfte geteilt. Es spiegelt sich darin die erkenntnistheoretische Tatsache, dass das Einheitsstreben der Vernunft uns treibt, die Mannigfaltigkeit auf einige wenige, zuletzt nur auf ein Prinzip zurckzufhren, damit aber nur die Hlfte der Erkenntnis erreicht ist, die andere Hlfte darin besteht, aus der Einheit die Vielheit als logisch notwendig abzuleiten.

    Es gibt nur eine Vernunft, eine Wahrheit, eine Logik. [...]

    Wenn wir von der Annahme ausgehen, dass die Stoiker Materialisten waren, so wird die Sache plausibel: Wenn Gott, alias der Aether-Logos, identisch ist mit dem Naturgesetz, dann gehrt er logischerweise in die Naturlehre, in die Physik.

    Neben dem Logos, der Vernunftkraft des Aethers, erscheint noch ein zweiter Begriff fr die Weltvernunft in der stoischen Physiktheorie: das Pneuma. Wie das aetherische Feuer, alias der Logos, die ganze Materie durchdringt, so durchdringt das Pneuma, ein warmer belebender Vernunft-Hauch, die Lebewesen. Das Urfeuer, der Aether, ist zugleich Vernunftkraft, der Logos zugleich Pneuma. Offensichtlich wurde mit logos die Vernunftkraft der Materie benannt, mit pneuma (verdichteter Atem) die Vernunftkraft der Lebewesen.

    Dazu lesen wir bei Max Heinze, >Die Lehre vom Logos in der griechischen PhilosophieDie Lehre vom Logos in der griechischen PhilosophieGeschichte der Logosidee in der griechischen Philosophie

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    1052.) [...] Kornutus sagt geradezu, dass unsere Seelen Feuer seien. (Vgl. Diogenes, VII, 157.) Damit ist aber keineswegs gemeint, dass dieses ein von dem Pneuma, was sonst das Wesen der Dinge ausmacht, verschiedener Stoff sei.

    [...] Alles was lebt, lebt in Folge der von ihm eingeschlossenen Wrme; und so

    hat dieser Wrmestoff eine Lebenskraft in sich, die sich durch die ganze Welt erstreckt, da ja die Welt ein lebendiges Wesen ist. Auch in den sogenannten unorganischen Stoffen sieht man deutlich die Wrme: Wenn Steine an einander geschlagen werden, sprht Feuer heraus, das Wasser gefriert erst nach Verlust der Wrme, also muss es von vornherein diesen Stoff in sich haben. Dasselbe wird von der kalten Luft nachzuweisen versucht. (Vgl. Cicero, N.D. II, 9, 24 f.) [...]

    Beide Qualitten scheinen sich in der einen Bezeichnung Aether zusammenzufinden, welche die Stoiker ebenfalls fr die Gottheit gebrauchen, wenn dieser auch meist als feurig dargestellt und von Cicero ardor bersetzt wird. Es ist dies vor allem der feurige Luftkreis, der die ganze Welt umgiebt und sich hier in seiner vollen Reinheit darstellt, whrend er sonst nur in Vermischung mit andern Stoffen vorkommt.

    Der Pneuma-Begriff der Stoiker hat wiederum ein Analogon in der Samkhya-Lehre. Auch hier wird in fast gleicher Bedeutung von einem Hauch = tman gesprochen. Hellmuth Kiowsky schreibt in seinem Buch >Evolution und Erlsung - Das indische Samkhya

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    1.4: Das Curiosum von der Dauer der Psychen

    Der Epikureer Diogenes von Oinoanda prangerte die Ansicht der Stoiker von der unterschiedlichen Dauer der Psychen von Weisen und Unweisen an:

    M. F. Smith, >Diogenes von Oinoanda - The Epicurean inscriptionLeben und Lehren berhmter Philosophen< folgendes:

    Diogenes Laertius, VII. 151: Sie [die Stoiker] behaupten auch, es gebe gewisse Dmonen, die fr die

    Menschen Teilnahme empfinden. Sie sind Beobachter der menschlichen Angelegenheiten [Handlungen], auch Heroen genannt; das sind die hinterbliebenen Psychen der Tugendhaften.

    31 bersetzung von Fritz Jr, Reimar Mller und Ernst Gnther Schmidt, abgedruckt in

    >Griechische Atomisten - Texte und Kommentare zum materialistischen Denken der Antike

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    Diese Heroen, die hinterbliebenen Psychen der Tugendhaften, erinnern mich stark an die Bodhisattvas im Buddhismus. Demnach knnte diese Ansicht bereits in der Samkhya-Lehre vorhanden gewesen sein.

    1.5: Die materialistische Vorsehung der Stoiker

    Die Vorsehung oder das Verhngnis (gr. heimarmene) ist nur eine synonym gedachte Bezeichnung der Stoiker fr Naturverlauf. Der Gang der Natur ist durch die Naturgesetze vorherbestimmt, d. h. berechenbar, daher auch von uns Menschen teilweise vorhersehbar. Das ist die materialistische Vorsehung der Stoiker.

    Der Logos, die Urvernunft, auch als das Urwesen bezeichnet, ist das aktive, erschaffende Prinzip. Er ist der logos spermatikos, der den Verlauf der Natur hier auf Erden wie in den Weiten des Weltalls lenkt. Er ist das ber allem stehende Schicksal. Die stoische Vorsehung ist daher nichts anderes als der natrliche Verlauf, das physikalische Naturgesetz, das bereits seit Milliarden von Jahren besteht und alles Geschehen beeinflusst.

    Dies wurde von Chrysippos leicht verstndlich dargestellt. Unter der Kapitelberschrift >Wie Chrysippos zwar die Macht und Unvermeidlichkeit des Schicksals anerkennt, jedoch aber auch bekrftigt, dass uns eine freie Wahl in allen unseren Entscheidungen und Urteilen verbleibtDie attischen Nchtefatum< [gr. heimarmene], das die Griechen >Bestimmung< oder >Verhngnis< nennen, gibt das Schulhaupt der Stoa, Chrysippos, eine Erklrung in folgendem Sinne ab: Das Schicksal, schreibt er, ist eine ewige und unvernderliche Reihenfolge eintretender Umstnde und eine Ringkette, fortwhrend begriffen im Umsichselbstrollen und in schmiegsamer Verschlingung durch ein ununterbrochenes, ineinandergreifendes Gliedergefge, dessen Enden durch enge Verbindung und festen Anschlu in steter Wechselwirkung bleiben. So weit ich [Aulus Gellius] mich erinnere, schreibe ich Chrysippos eigene Worte in Griechisch gleich mit her, damit, wenn einem Leser diese meine bersetzung etwas unklar sein sollte, er die Worte des Philosophen gleich selbst vor Augen hat.

    Im vierten Buche seiner Schrift >ber die Vorsehung< gibt er ber den Schicksalsbegriff folgende Definition: Schicksal ist die in der unabnderlichen Natur begrndete Notwendigkeit. Oder: Schicksal ist eine geordnete, aus den Gesetzen des Weltalls entspringende Reihenfolge aller von Ewigkeit an

    32 bersetzt von Fritz Weiss, Leipzig 1875.

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    untereinander zusammenhngender Vorgnge und ihre stndige und unabnderliche Selbstverkettung.

    Gegen diese Definition haben die Anhnger anderer Philosophenschulen allerhand Einwendungen laut werden lassen. So hrt man sagen: Wenn Chrysippos behauptet, alles werde durch ein unabnderliches Schicksal bewegt und gelenkt und es sei unmglich, die Schlge und Winkelzge des Schicksals abzuwenden und zu umgehen, so werden auch die Snden und Laster der Menschen ihren Willensantrieben weder zum Vorwurf gemacht, noch gar angerechnet werden knnen, sondern immer nur der aus dem Verhngnis entspringenden Unvermeidlichkeit und harten Notwendigkeit, die ber alles gebietet und alles vertreten muss, auf deren Machteinfluss hin alles geschehen muss, was geschehen soll. Deshalb sei auch die Einfhrung von Strafen fr beltter den Gesetzen nach durchaus nicht gerechtfertigt und billig, wenn die Menschen nicht aus eigenem freien Willen dem Verbrechen anheimfallen, sondern von der starken Hand des Schicksals unaufhaltsam hingerissen werden.

    ber diesen Einwurf hat sich Chrysippos mit groer Klarheit und Scharfsinnigkeit geuert. Seine Argumente laufen kurzgefat auf folgende Gedanken hinaus:

    Mag nun alles einem unvermeidbaren Naturgesetz unterworfen und deshalb mit einer Vorherbestimmung des Schicksals eng verknpft sein, so sind doch die Charaktereigentmlichkeiten unseres Geistes selbst je nach ihrer Individualitt und Beschaffenheit dem Schicksal unterworfen. Denn wenn die Charaktereigenschaften ihrem Wesen und ihrem Beschaffensein nach von vornherein zum Heil und Nutzen angelegt sind, werden sie damit jenen ganz gewaltigen Einfluss, der ihnen von auen her wie ein schweres Unwetter seitens des Schicksals droht, ohne groen Widerstand und mit wenig Anstrengung zu berstehen und zu vermeiden wissen. Sind dagegen diese Charaktereigenschaften ungefge, plump und roh, ferner auf keine Hilfe eines Bildungsmittels gesttzt, so werden solche Menschen durch ihre Unwissenheit und durch eigenen Antrieb sich bestndig in Laster und Selbsttuschung strzen, selbst wenn sie sich nur von einer kleinen und unbedeutenden Not oder einer vom Zufall ber sie verhngten Unbequemlichkeit bedrngt fhlen. Dass diese Vorgnge selbst auf solche Weise sich vollziehen mssen, wird verursacht durch jenes bestndige Ineinandergreifen und durch jene unabnderliche Verkettung aller Dinge, was man eben unter dem Begriff >Schicksal< versteht. Es ist nmlich im Allgemeinen eine Urnotwendigkeit und Folgerichtigkeit, dass Menschen mit gleichsam angeborenen [anerzogenen] bsen Neigungen dem Laster und dem Irrtum verfallen mssen.

    Zum Beweise dieser seiner Behauptung bedient er sich eines wahrlich ganz aus dem Leben gegriffenen, passenden und recht geistvollen Gleichnisses und sagt: Wenn man z. B. einen runden Stein ber eine schrge und abschssige Bahn stt, so wird man zwar die erste Ursache seines Herabrollens gewesen sein; bald rollt der Stein jedoch von selbst weiter, nun nicht allein mehr aufgrund

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    des Anstoes, sondern wegen seiner Eigenart [wegen seiner Schwere = Gravitationskraft] und eigentmlichen runden Form. Ebenso gilt die Anordnung, das Gesetz und die Notwendigkeit des Schicksals im allgemeinen und von vorn herein als die Ursache der Bewegung. Doch den weiteren Verlauf unserer eigenen Beschlsse, Gesinnungen und Handlungen bedingt und entscheidet erst eines jeden Menschen eigener Wille und seine angeborenen Fhigkeiten.

    Hierzu fgt er noch folgenden, mit dem von mir Gesagten ganz bereinstimmenden Satz hinzu: Wirst leiden sehen die Menschen an selbstverschuldeten beln.

    Die meisten Menschen strzen in ihr Verderben durch sich selbst. Durch ihre Begierden fehlen sie, fallen ins Verderben aus eigener Wahl und aus Vorstzlichkeit. Deshalb, sagt Chrysippos, drfe man auch die Entschuldigungen feiger Schelme oder frecher beltter nicht gelten lassen, die, selbst wenn sie ihrer Schuld oder ihres Verbrechens schon vllig berfhrt sind, immer noch Ausflchte machen und ihre Zuflucht suchen in der angeblichen Unabnderlichkeit des Schicksals, wie zu einer heiligen Zufluchtssttte eines Tempels. Sie bringen ihre ethischschlechten Handlungen nicht ihrer eigenen Unbesonnenheit in Anrechnung, sondern dem Schicksal.

    Cicero, >ber die WahrsagungPhysikalische Lehrstze der Philosophen

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    Chrysipp fr die hauchende Kraft, die das All nach einem festen Verhltnis ordnet. Dann sagt er in den Definitionen: Das Fatum ist der Begriff der Welt oder das Weltgesetz, nach welchem alles durch die Vorherbestimmung geordnet ist, oder die Vernunft, vermge welcher das Gewordene geworden ist, das Werdende wird und das Knftige geschehen wird.

    Die brigen Stoiker erklren es als Verkettung der Ursachen, d. h. als Ordnung und unberschreitbaren Zusammenhang derselben.

    Und bei Stobaeus, >Eclogaeber die Natur< das Fatum in demselben Sinne und auf dieselbe Weise als die Kraft zur Bewegung der Materie, die keinen Unterschied zur Vorsehung aufweise und Natur [oder Naturgesetz] zu nennen sei.

    1.6: Der wirkliche Glaube der Stoiker

    Marcus T. Cicero

    Cicero ist ebenso gut ein Stoiker wie ein Akademiker zu nennen. Ich halte ihn fr einen zweiten Antiochos, der von der Akademie zur Stoa wechselte. Ich glaube, Cicero wagte es nicht, seinen Wechsel zur Stoa ffentlich einzugestehen. In den tusculanischen Gesprchen (III, 6) nennt er die stoische Philosophie das beste philosophische Lehrgebude.

    Er gibt an mindestens einer Stelle seines philosophischen Oevres seine atheistische Weltanschauung unverhllt zu erkennen. Im >Lucullus< (126) sagt er:

    Denn von der Weissagekunst, an die ihr glaubt, halte ich [Cicero] gar nichts; und das Fatum, dem ihr alles unterordnet, verachte ich. Nicht einmal von dem Weltenbau glaube ich, dass ihm ein gttlicher Plan zu Grunde liege; und ich denke wohl, ich habe Recht.

    Mit dem Weltenbau knnte er sogar die stoische Physiktheorie gemeint haben. Meine Vermutung grndet sich auf folgende Tatsache. Cicero hrte nachweislich auf der Insel Rhodos den theistischen Stoiker Poseidonios. Durch ihn knnte er zu der berzeugung gelangt sein, dass die Stoa eine theistische Philosophie beinhalten wrde. Die Geheimphilosophie der Stoiker Gott gleich Aether gleich Naturgesetz knnte ihm daher mglicherweise verborgen geblieben sein, zumindest anfnglich. Zeugnisse fr meine berlegung sind seine Werke >ber das Wesen der Gtter< (De natura deorum) und >ber die

    34 Quelle: Karlheinz Hlser, >Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker

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    Weissagekunst< (De divinatione), die als stark beeinflusst von Poseidonios angesehen werden.35 Dadurch wurde Cicero getuscht. Er interpretierte nach Poseidonios ebenfalls die Stoa theistisch. Mglicherweise resultiert daher, dass die Stoa im antiken Rom und sogar bis heute als eine theistische, eine sog. pantheistische Philosophie angesehen wurde.

    An anderen Stellen gibt Cicero seinen Atheismus nur indirekt zu erkennen. Ausgerechnet den Stoiker, der sich am offensten und deutlichsten zum Materialiasmus bekannte, den Griechen Panaitios, hlt er geradezu fr den bedeutendsten Stoiker.

    Im >Lucullus< (107) schreibt er: Selbst Panaitios, nach meinem Urteil geradezu der bedeutendste Stoiker, erklrt, er hege Zweifel ber eine Sache, die alle Stoiker auer ihm fr ganz ausgemacht halten, nmlich ber die Wahrheit der Weissagungen aus den Eingeweiden, der Auspicien, der Orakel, der Trume, der Prophezeiungen und hlt deshalb mit seiner Zustimmung zurck.

    Im I. Buch der >Gesprche in TusculumGesprche in TusculumGesprche in TusculumSeele< bezeichne eigentlich gar nichts und grundlos spreche man von den Menschen als von beseelten Wesen. Weder im Menschen sei eine Seele, noch bei den Tieren. Die ganze Kraft, durch die wir etwas tun oder empfinden, sei in allen lebenden Krpern gleichmig verteilt und vom Krper untrennbar. Diese Kraft sei nur zusammen mit dem

    35 Vgl. Willy Theiler, >Pos(e)idonius - Die Fragmente

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    Krper vorhanden, der so gestaltet sei, dass er durch seine natrliche Organisation Lebens- und Empfindungskraft habe. Das sei alles.

    L. Annaeus Seneca

    Die Skepsis Senecas in Bezug auf ein Leben nach dem Tode drckt sich im 93. Brief an Lucilius deutlich aus:

    Wir wissen, von wo aus die alles beherrschende Natur ihren Aufschwung nimmt [nach der stoischen Physiktheorie von der Aether-Region aus]; wie sie [die Natur] die Welt ordnet; wie sie den Wechsel der Jahreszeiten herbeifhrt; wie sie alles, was je gewesen ist, zu einem geschlossenen Ganzen vereinigt und sich selbst zu ihrer Grenze gemacht hat. Wir wissen, dass die Gestirne durch ihre eigene bewegende Kraft dahin wandeln, dass auer der Erde [nach stoischer Physiktheorie] nichts still steht, [sondern] alles brige in ununterbrochener Schnelligkeit dahineilt. Wir wissen, wie der Mond an der Sonne vorbeigeht, warum er, als der langsamere, jene schnellere hinter sich zurcklsst, wie er sein Licht empfngt und verliert, welche Ursache die Nacht herbei- und den Tag zurckfhrt. (9) Dahin muss man [nach dem Tode] gehen, wo man dies nher erblicken kann36. Aber auch mit dieser Hoffnung, sagt der Weise, gehe ich nicht mutiger aus dem Leben, wenn ich glaube, dass mir der Weg zu meinen Gttern offen stehe. Ich habe zwar verdient, [zu ihnen] zugelassen zu werden - und war bereits unter ihnen - ich habe meinen Geist zu ihnen hingesandt und sie den ihrigen zu mir. Doch nimm an, ich wrde vllig vernichtet werden und es bliebe von einem Menschen nach dem Tode garnichts brig: [dennoch] habe ich einen gleich hohen Mut, auch wenn ich von hier weggehe, um nirgendwohin einzugehen.

    Nach Tertullianus, >ber die Seeleber den Gottesstaat

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    aus, der nach manchen Anzeichen zu schlieen zu den Zeiten unserer Apostel hervortrat, wenn auch nicht in seinem ganzen Gebaren, so doch in mancher Hinsicht. Sie war ihm nmlich eigen in seinen Schriften, in seinem Leben fehlte sie ihm. In seinem Buche >ber den Aberglauben< [leider nicht erhalten] hat er die staatliche und stdtische Theologie viel ausgiebiger und entschiedener getadelt als Varro die fabelnde und die der Theater. Er sagt nmlich an der Stelle, wo er von den Gtterbildnissen handelt: Die Heiligen, Unsterblichen, Unverletzlichen verehrt man in ganz minderwertiger, lebloser Materie; man gibt ihnen die Gestalt von Menschen, von wilden Tieren, von Fischen, mitunter gemischtes Geschlecht, zweierlei Krper; Gottheiten nennt man Gebilde, die man, wenn sie pltzlich Leben annhmen und uns entgegentrten, fr Ungeheuer ansehen wrde.

    Und etwas weiter unten, nachdem er unter anerkennenden Worten fr die natrliche Theologie die Meinungen einiger Philosophen auseinander gesetzt hat, legt er sich folgenden Einwand vor: Hier knnte man etwa sagen: Ich soll glauben, dass der Himmel und die Erde Gtter seien und dass ber dem Monde andere Gtter existierten und wieder andere unter dem Monde? Ich soll mir entweder Platon gefallen lassen, nach welchem Gott keinen Krper hat, oder den Peripatetiker Straton, nach welchem er keine Seele hat? Und er [Seneca] erwidert darauf: Nun denn in aller Welt, kommen dir die Phantasiegebilde eines Titus Tatius oder eines Romulus oder eines Tullus Hostilius wahrhaftiger vor? Tatius hat die Cloacina zur Gottheit geweiht, Romulus den Picus und Tiberinus, Hostilius den Pavor und Pallor, diese hsslichen Gemtszustnde der Menschen, der eine die Aufregung eines erschreckten Gemtes, der andere nicht einmal eine Krankheit, sondern nur die Entfrbung des ueren. An diese Gottheiten willst du lieber glauben und sie in den Himmel versetzen?

    Und wie freimtig hat er [Seneca] sich ber die entsetzlich schndlichen Gebruche ausgesprochen! Der kastriert sich, ein anderer schneidet sich in die Arme. Ja, wenn man auf solche Weise die Gunst der Gtter herabzieht, womit wird man dann seine Furcht vor dem Zorn der Gtter bekunden? Gtter, die solches verlangen, darf man berhaupt nicht irgendwie verehren. Aber so gro ist der Wahnsinn des gestrten und auer sich gebrachten Geistes, dass man die Gtter gndig stimmen will auf eine Weise, wie nicht einmal die abscheulichsten Menschen von sprichwrtlicher Grausamkeit wten. Wohl haben Tyrannen manchen die Glieder zerfleischt, aber niemandem haben sie [die Tyrannen] zugemutet, seine eigenen zu zerfleischen. Wohl sind manche, damit Knige ihrer Lust frnen knnen, verschnitten worden, aber nie hat einer auf Befehl seines Herrn an sich selbst Hand angelegt, sich zu entmannen. Aber in den Tempeln zerfleischen sie sich selbst, senden ihre eigenhndigen Wunden und ihr eigenes Blut als Gebete empor. Nimmt man sich die Mhe, zu beobachten, was sie tun und erleiden, so wird man es unziemlich finden fr anstndige Menschen, so unwrdig fr freie, so weit ab vom Normalen, dass niemand zweifeln wrde, sie seien dem Wahnsinn verfallen, wenn es sich nur um einige wenige handelte; so aber spricht die groe Zahl der Verrckten [scheinbar] dafr, dass man gesunde Menschen vor sich hat.

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    Und erst das, was er [Seneca] als Gepflogenheiten, die auf dem Kapitol im Schwange sind, anfhrt und unerschrocken in den Grund hinein verdammt, wem wre es zuzutrauen als Spottvgeln oder Tollhuslern? Nachdem er sich nmlich darber lustig gemacht hat, dass man bei den gyptischen Kultfeiern ber das Abhandenkommen des Osiris jammere und ber dessen Auffindung in groe Freude ausbreche, da doch sein Verschwinden und sein Auftauchen nur fingiert werde, whrend Trauer und Freude von Leuten, die nichts verloren und nichts gefunden haben, mit wahrer Empfindung ausgedrckt wrden, fhrt er fort: Doch diese Raserei hat ihre bestimmte Zeit. Es lsst sich noch ertragen, einmal im Jahre toll zu sein. Aber geh' ins Kapitol, du wirst dich schmen darber, welcher Aberwitz sich da an die ffentlichkeit drngt, welch gewichtige Miene hier eine ziellose Verrcktheit aufsetzt. Der eine unterbreitet dem Gotte Namen, ein anderer verkndet dem Jupiter die Stunden; der eine macht einen Bademeister, ein anderer nimmt sich des Salbens an und ahmt mit leeren Gestikulationen einen Salbenden nach. Da gibt es Zofen, die der Juno und der Minerva die Haare aufmachen - sie tun das auf Distanz, weit ab selbst vom Tempel, nicht nur vom Bildnis, und bewegen ihre Finger, als machten sie Haare auf - und wiederum Zofen, die den Spiegel halten; da gibt es Leute, die die Gtter zu Brgschaften aufrufen, und solche, die ihnen ihre Klageschriften vorlegen und sie in ihre Prozesse einweihen. Ein gelehrter Erzmime, es war ein gebrechlicher Greis, gab Tag fr Tag im Kapitol eine Mimenrolle, als ob die Gtter Freude htten an einem Anblick, der nicht einmal die Menschen mehr zu erfreuen vermochte. Alle Arten von Knstlern haben sich dort eingenistet, fr die unsterblichen Gtter sich zu bettigen. Und weiter unten sagt er: Immerhin geloben diese Leute der Gottheit wenigstens nicht einen schndlichen und unehrbaren Dienst, wenn auch einen berflssigen. Aber da sitzen im Kapitol auch weibliche Wesen, die von Jupiter geliebt zu werden glauben; und sie lassen sich nicht einmal durch die Rcksicht auf die nach den Dichtern - wer ihnen glaubte - furchtbar hitzige Juno einschchtern.

    Solchen Freimut hat Varro nicht an den Tag gelegt; er getraute sich nur die Theologie der Dichter anzufechten, nicht aber die staatliche, die Seneca zuschanden gemacht hat. Allein wenn wir die Wahrheit ins Auge fassen, mssen wir sagen: Schlimmer sind die Tempel, in denen derlei geschieht, als die Theater, wo es nur im Bilde vorgefhrt wird. Deshalb hat nach Seneca der Weise seine Rolle gegenber diesen Einrichtungen der Staatstheologie sich nicht innerlich eigen zu machen, sondern nur uerlich zu spielen. Er sagt nmlich: All das wird der Weise beobachten, weil es geboten ist durch die Gesetze, nicht weil es den Gttern annehmlich wre. Und kurz darauf: Wir stiften ja sogar Ehen von Gttern, und unfromm genug zwischen Brdern und Schwestern! Bellona verheiraten wir an Mars, Venus an Vulkan, Salacia an Neptun. Einige jedoch lassen wir unverheiratet, gleich als htte es ihnen an einer passenden Partie gefehlt, zumal da manche Witwen sind, wie Populonia, Fulgora und die Gttin Rumina, von denen es mich freilich nicht wundert, dass sie keinen Bewerber gefunden haben. Diese ganze unerlauchte Schar von Gttern, die langwhrender Aberglaube in langer Zeit aufgehuft hat, werden wir in der Weise anbeten, dass

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    wir uns erinnern, dass ihre Verehrung nicht so sehr in der Sache als in der Sitte begrndet ist.

    1.7: Die Senatsopposition der Stoiker oder Paetus Thrasea, Kaiser Nero und Musonius Rufus37

    In der Philologie der klassischen Altertumswissenschaft hat sich der Begriff der stoischen Senatsopposition bei Tacitus herausgebildet.38 Darunter werden die merkwrdigen Vorgnge im rmischen Senat unter den Kaisern Nero, Vitellius und Vespasian verstanden.

    Der Kopf der oppositionellen Stoiker unter Kaiser Nero hie Paetus Thrasea. Unter den Kaisern Vitellius und Vespasian war es Thraseas Schwiegersohn Helvidius Priscus.

    Tacitus lieferte uns ber Paetus Thrasea folgende Charakteristika:

    - als ber die Ereignisse, die zum Tode der Kaiserin Agrippina fhrten, verhandelt wurde, ging Paetus Thrasea [unter Protest?] aus dem Senat.

    - beim Festspiel der Juvenalien bewies er eine nicht erwnschte Teilnahme.

    - angeblich war dies eine Beleidigung [gegenber dem Kaiser], die um so tiefer verletzte, weil Paetus Thrasea in Patavium [Padua], woher er stammte, bei dem vom Trojaner Antenor gestifteten Caestusspiel aufgetreten war.

    - bei der Abstimmung im Senat, als ber die Majesttsbeleidigung des Prtors Antistius verhandelt wurde, stimmte Thrasea fr ein mildes Urteil.

    - als der verstorbenen Kaiserin Poppaea Gtterehre zuerkannt wurde, war Thrasea [angeblich] absichtlich nicht zugegen.

    - auch am Leichenbegngnis der verstorbenen Kaiserin Poppaea nahm Thrasea nicht teil.

    - er glaubte nicht an die Gttlichkeit der verstorbenen Kaiserin Poppaea39.

    - bei Beginn des Jahres vermied Thrasea [wie auch in den letzten Jahren] die feierliche Eidesleistung auf die rmischen Gtter.

    37 Auszug aus L. Baus, >Quo vadis Kaiser Nero? Die Rehabilitation des Nero Caesar und der

    stoischen PhilosophieDie Darstellung der sogenannten stoischen Senatsopposition bei Tacitus

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    - er fehlte beim Ablegen der Gelbde, obwohl er mit der Priesterwrde der Quindezimvirn bekleidet war.

    - Thrasea opferte nie fr das Wohl des Kaisers oder fr dessen himmlische Stimme.

    - Thrasea betrat in den letzten drei Jahren nicht mehr die Curie, das Senatsgebude.

    - Thrasea schwur nicht auf die Verordnungen der vergttlichten [Diktatoren] Julius Caesar und Augustus.

    - Thrasea verachtete [angeblich] heiligen Brauch und schaffe [angeblich] ab, was Gesetz ist.

    - Thrasea sei ein Neuerungsschtiger.

    - Thrasea trauere ber das [angebliche] Glck des Staates.

    - Thrasea halte ffentliche Pltze [Tempel und Theater] fr Einden.

    ber die Stoiker im allgemeinen berichtet Tacitus:

    - sie, die Stoiker, htten die Tuberonen und Favonier hervorgebracht.

    - die Stoiker trgen die Freiheit zur Schau, um die Oberherrschaft, das Prinzipat, zu strzen.

    - die Stoiker seien Neuerungsschtige.

    Aus den obigen Textauszgen geht klar und deutlich hervor, dass der Stoiker Thrasea ein ultraliberaler und progressiver Demokrat war. Die Ansicht von Michael Grant40, dass die stoische Senatsopposition unter ihrem Anfhrer Paetus Thrasea eine Gruppe extrem konservativer Senatoren mit Neigung zu philosophischen, stoischen Gedankengngen gewesen sei, ist geradezu ein grotesker Irrtum. Das genaue Gegenteil ist richtig: Es war eine Gruppe von Stoikern mit extrem >linken< Vorstellungen von Demokratie, Recht und Freiheit.

    Die Konservativen, sozusagen die fundamentalistisch-theistische Partei im rmischen Senat, machten mittels ihrer Mehrheit dem ultraliberalen Freidenker Thrasea den Proze, um einen gefhrlichen und unbequemen Widersacher und Querdenker loszuwerden.

    40 In Michael Grant, >Roms Csaren - von Julius Caesar bis Domitian

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    Dies setzten sie folgendermaen in Szene: Capito Cossutianus bernahm die Rolle des Anklgers im Senat. Er war ein persnlicher Feind des Paetus Thrasea. Thrasea hatte einst die Gesandten der Cilicier untersttzt, als sie den Capito Cossutianus wegen Erpressung anklagten und diesen wegen seiner Vergehen zu Fall brachten.

    Die Anklage des Capito Cossutianus war eine geschickte Mischung aus Polemik gegen den Freidenker Thrasea und aus Schmeichelei gegenber dem Kaiser. Wie einst von Julius Caesar und Marcus Cato, sprach Capito Cossutianus, so spricht heute die [angeblich] nach Zwietracht verlangende Brgerschaft jetzt von dir, Kaiser Nero, und Thrasea. Er hat auch seine Anhnger oder vielmehr Trabanten, die sich zwar noch nicht seinen Trotz beim Abstimmen, aber seine Haltung und Miene zum Vorbild nehmen, starr und finster blicken, um dir damit Leichtsinn vorzuwerfen. Allein von ihm werden deine Wohlfahrt und deine Kunstleistungen nicht geehrt. Das Glck des Kaisers verachtet er; befriedigt ihn nun seine [des Kaisers] Trauer und sein Schmerz [um Poppaea] nicht? Dieselbe Gesinnung verrt es, an Poppaeas Gttlichkeit nicht zu glauben und auf die Verordnungen des gttlichen Augustus und Julius Caesar nicht zu schwren. Er verachtet heiligen Brauch41 und schafft ab, was Gesetz ist. Die >Tagebltter des rmischen Volkes< 42 werden in den Provinzen, in den Heeren aufmerksam gelesen, um zu erfahren, was Thrasea nicht getan hat. Wenn Thraseas Einrichtungen besser sind, so lat uns zu ihnen bertreten; oder aber man nehme den Neuerungsschtigen den Rdelsfhrer und Ratgeber weg. Jene Schule [gemeint ist: die Schule der Stoiker] hat die Tuberonen und Favonier erzeugt, auch in der alten Republik nicht beliebte Namen. Um die Oberherrschaft [das Prinzipat] zu strzen, tragen sie die Freiheit zur Schau. Haben sie sie erst umgestrzt, dann werden sie die Freiheit selbst angreifen. Vergebens hast du den Cassius entfernt. Willst du es dulden, dass die Nacheiferer der Brutusse um sich greifen und Gedeihen finden? Schlielich brauchst du [Kaiser Nero] ja selbst ber Thrasea nichts zu beantragen, la den Senat richten.

    So war es in Wirklichkeit! Nicht Kaiser Nero lie Paetus Thrasea anklagen, sondern es war der konservativ-theistische Block im rmischen Senat, dem der Freigeist und Stoiker Thrasea ein Dorn im Auge war.

    Thrasea beratschlagte sich mit seinen engsten Freunden, ob er sich im Senat rechtfertigen oder ob er jede Verteidigung verschmhen solle. Die, die dafr waren, sagten, sie seinen wegen seiner Standhaftigkeit unbesorgt. Er werde nichts sagen, als etwas, wodurch er ausschlielich seinen Ruhm erhhen wrde. Nur Feige und Verzagte umgben ihr Ende mit Einsamkeit. Schauen mge das Volk den dem Tode entgegentretenden Mann, hren solle der Senat gleichsam bermenschliche Worte eines Stoikers.

    41 Das ist eindeutig eine Anklage auf Atheismus.

    42 Gab es zur Regierungszeit Kaiser Neros bereits eine politische Zeitung? Ja, die sog. Acta

    publica diurna! Sie enthielten offizielle Mitteilungen und Neuigkeiten aus der besseren Gesellschaft.

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    Bei den Beratungen der Anhnger und Freunde Thraseas befand sich auch ein junger Mann namens Rusticus Arulenus, der sich [angeblich aus Ruhmbegier] anbot, gegen den Senatsbeschlu [Anklage gegen Thrasea] Einspruch zu erheben, denn er war Volkstribun. Thrasea dmpfte seinen Eifer. Dieses Vorhaben wrde doch nichts ntzen, dem jungen Mann jedoch sehr schaden.

    Am Morgen der festgesetzten Senatssitzung besetzten zwei bewaffnete Kohorten der Prtorianer den Tempel der Venus Genetrix. Den Eingang zum Senat hatte ein Trupp mit der Toga bekleideter Mnner, die ihre Schwerter offen zeigten, in Besitz genommen. Auf den ffentlichen Pltzen, wie an den Tempeln waren Kriegerscharen aufgestellt. Unter ihren Blicken und Drohungen begaben sich die Senatoren in die Kurie. Ungewi ist, wer mit ihren gemeint ist, wahrscheinlich waren es die mit der Toga bekleideten Mnner, die ihre Schwerter offen zeigten. Waren es die Anhnger und Freunde der Stoiker und der oppositionellen Senatoren?

    Im Senat hrte man zuerst die Rede des Kaisers, von einem Qustor vorgetragen. Ohne jemand direkt beim Namen zu nennen, beschuldigte er die Senatoren, dass sie die ffentlichen Geschfte vernachlssigten und durch ihr Beispiel viele zur Nachlssigkeit verleiteten. Viele wrden erst gar nicht mehr aus ihren Provinzen zu den Senatssitzungen kommen, da sie sich, htten sie erst das Konsulat und Priesterwrden erlangt, lieber der Annehmlichkeiten ihrer Grten und Besitzungen hingben.

    Nach der Rede des Qustors hieben die konservativen Senatoren Cossutianus und Marcellus mit aller rhetorischen Polemik auf Thrasea ein. Der gesamte Staat sei wegen Thrasea [wegen eines Mannes!] in Gefahr. Durch die Halsstarrigkeit der Untergebenen werde die Milde des Kaisers herabgesetzt. Zu milde seien sie, die Senatoren, bis auf diesen Tag gewesen, da sie den Emprer Thrasea, da sie dessen ebenso verrckten Schwiegersohn Helvidius Priscus, sowie Paconius Agrippinus, den Erben des vterlichen Hauses gegen den Frsten, und den abscheuliche Gedichte verfertigenden Curtius Montanus ungestraft entschlpfen lieen. Er, Marcellus, vermisse im Senat den Konsularen, bei Gelbden den Priester, beim Eide den Brger Thrasea. Doch dieser habe sich ja gegen die Einrichtungen und heiligen Bruche der Vorfahren ffentlich zum Feinde aufgeworfen43. Mge er, der den Senator zu spielen und des Kaisers Widersacher zu beschtzen gewohnt sei, doch endlich einmal kommen und seine Meinung sagen, was er verbessert oder verndert wissen wolle. Leichter wrde man den einzelnes Tadelnden ertragen, als jetzt das Schweigen des alles Verdammenden. Mifalle ihm der Friede im Rmischen Reiche? Oder die Siege ohne Verluste? Man solle doch einen Menschen, der ber das Glck des Staates trauere, der ffentliche Pltze, Theater und Tempel fr Einden halte, der mit Selbstverweisung drohe, in seinem verkehrten Ehrgeize nicht gewhren lassen. Er wrde ja keine Senatsbeschlsse anerkennen, keine echten Staatsbeamten sehen, nicht einmal eine rmische Stadt. So mge er doch sein Leben von einem Staate losreien, dem er schon lngst seine Liebe, jetzt auch noch seine Beachtung entzogen htte.

    43 Wiederum eine Atheismus-Anklage.

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    Unter diesen und hnlichen Worten des Marcellus, wobei er finster und drohend um sich blickte, in Ton, Miene und Blick Feuer versprhend, da zeigte sich nicht mehr jene gewohnte Gelassenheit des Senates, sondern bei dem Gedanken der bewaffneten Menge drauen vor der Kurie und den Soldaten in der Stadt waren alle Senatoren von einer tiefen Bengstigung erfat.

    Die Senatssitzung, ber die Tacitus nichts weiter mehr berichtet [den Prozessverlauf gegen Soranus klammern wir aus, weil er nichts mit Thrasea zu tun hat], endete mit dem Todesurteil Thraseas. Es wurde ihm die freie Wahl des Todes gestattet, Helvidius, sein Schwiegersohn, und Paconius wurden aus Italien in die Verbannung geschickt.

    Interessant ist auch der Bericht des Tacitus ber die Belohnungen der Anklger. Eprius und Cossutianus, die Anklger des Thrasea, erhielten jeder 5.000.000 Sesterzen; Ostorius, dem Anklger des Soranus, wurden jedoch nur 1.200.000 Sesterzen zugebilligt.

    Das Todesurteil des Thrasea wurde im Senat gefllt, als der Tag sich dem Abend neigte. Thrasea befand sich zu dieser Zeit nicht mehr im Senat. Ein zahlreicher Kreis von angesehenen und natrlich auch gleichgesinnten Mnnern und Frauen hatte sich in seinem Garten versammelt. Darunter befand sich auch der stoische Philosoph Musonius Rufus, wie wir weiter unten noch erfahren werden. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich hauptschlich auf Demetrius, einen Lehrer der kynischen Schule, mit welchem Thrasea, wie aus der Spannung seiner Mienen und aus dem, was man vernahm, wenn dann und wann lauter gesprochen wurde, zu ersehen war, ber die Beschaffenheit der Seele und die Trennung des Geistes vom Krper Untersuchungen anstellte.

    Da kam Domitius Caecilianus, einer von Thraseas vertrautesten Freunden, und berichtete, was der Senat beschlossen habe. Kurz darauf wurde Thrasea der Qustor des Konsuls gemeldet, der ihm das Urteil des Senats schriftlich berbrachte. uerlich gefat las er sein Todesurteil; er freute sich sichtlich darber, dass sein Schwiegersohn Helvidius Priscus mit dem Leben davonkam.

    Nun kommen wir zu einer Tatsache, die kein Philologe bisher bedacht hatte oder in Erwgung zog: Auch Seneca wurde einst vom Senat zum Tode verurteilt. Kaiser Claudius legte jedoch Frbitte beim rmischen Senat ein und bewirkte damit, dass das Todesurteil aufgehoben und Seneca nur auf die Insel Korsika verbannt wurde. Htte nicht auch Kaiser Nero ein solches Vetorecht besessen und htte er nicht auch fr Thrasea eine Aufhebung des Todesurteils bewirken knnen? Thrasea lie jedoch Kaiser Nero gar keine Zeit mehr, um fr die Aufhebung des Todesurteils im rmischen Senat zu sprechen, denn er lie sich noch am selben Abend, an welchem des Todesurteil erging, die Adern ffnen.

    Epiktet berichtet, was Thrasea ber die Verbannung dachte44: Thrasea sagte oft [am Tage, an dem das Todesurteil erging?]: Ich will lieber heute hingerichtet,

    44 Quelle: >Epiktet - Was von ihm erhalten ist

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    als morgen des Landes verwiesen werden. Was entgegnete ihm [Musonius] Rufus hierber? Wenn du dieses als das Schwerere vorziehst, so ist deine Wahl tricht. Ziehst du es aber als das Leichtere vor, so sage mir, wer hat dir die Wahl gegeben? Willst du denn nicht lernen, mit dem, was dir [vom Schicksal] beschert wird, immer zufrieden zu sein?

    Musonius Rufus tadelte offensichtlich Thrasea, weil er erst gar nicht eine mgliche, ja sehr wahrscheinliche Begnadigung durch Kaiser Nero abwarten wollte, sondern noch am selben Abend sich die Adern ffnen lie, demnach Selbstmord beging.

    Mglicherweise war Thrasea zu stolz, um von Kaiser Nero das Leben sozusagen geschenkt zu erhalten? Vielleicht wollte er auch durch seinen Tod die Intellektuellen und die demokratisch Gesinnten in Rom wachrtteln?

    ber die Begegnungen und Gesprche Thraseas mit Kaiser Nero berichtet Tacitus uns nur ein einziges Ereignis: Anllich der Geburt von Neros und Poppaeas Tochter Claudia begab sich der Senat von Rom nach Antium, um dem kaiserlichen Ehepaar zu gratulieren. Thrasea wurde als einziger Senator zurckgewiesen, d. h. der Kaiser nahm seine Glckwnsche nicht an. Der Grund dafr knnte gewesen sein, weil Thrasea an den religisen Feierlichkeiten nicht teilnahm.

    Spter uerte sich dann Nero gegenber Seneca, dass er mit Thrasea wieder ausgeshnt sei. Seneca habe Kaiser Nero deswegen beglckwnscht. Fr den Stoiker Seneca war es gewi eine groartige Geste von Kaiser Nero, dass er mit dem Stoiker Thrasea innenpolitisch auf entspanntem Fue zu stehen versuchte.

    Diese Rekonstruktion der Vorgnge im rmischen Senat vom Jahre 66 u. Zr. beweist, dass Kaiser Nero kein Scheusal von Mensch und Herrscher war. Lesen Sie dazu ausfhrlich mein Buch >Quo vadis Kaiser Nero? - Die Rehabilitation des Nero Caesar und der stoischen Philosophie

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    2. Kapitel Grundzge der stoischen Ethik

    2.1: Aufbau der materialistischen stoischen Ethik

    Die stoische Maxime lautet: ein Leben in bereinstimmung mit der Natur.

    Der Sinn und damit das Ziel [Telos] des Lebens liegt nicht im grtmglichen Erwerb und Besitz von materiellen Dingen, Macht oder Ansehen, sondern in einer ausgeglichenen Psyche (lat. tranquilitatis animi, gr. Ataraxia). Der Weg zu einem glcklichen Leben ist nach den Samkhya-Philosophen und den Stoikern eine rein geistige Angelegenheit, keine materielle. Ein Beispiel: Es gengt nicht, ber einen groen materiellen Besitz zu verfgen oder ber ein groes Fachwissen. Das Hchste und Wichtigste ist die geistige Einstellung, die richtige Lebens-Philosophie. Ohne sie bringt der materielle Besitz kein Glck, ohne sie ist alles Wissen nichts.

    Die stoische Philosophie mchte das Wissen und die Erkenntnis vermitteln, dass zu einem glcklichen Leben vor allem die Vernunft erforderlich ist.

    Das Ziel (gr. Telos) des Philosophierens ist das glckliche Leben. Glcklich kann ein Mensch nur werden, wenn er seiner menschlichen Natur und seiner Vernunft gem lebt. Der Vernnftige unterwirft sich dem Logos, d. h. dem Naturgesetz, in freier Willensentscheidung. So vereint sich - ohne in Widerspruch mit der Physiktheorie zu geraten - die Freiheit des ethischen Handelns mit dem Naturgesetz.

    Ein eigentliches bel gibt es nicht in der Welt, denn alles ist ein Ausfluss der Natur, bzw. der Naturgesetze. Und was die Natur will, kann unmglich verwerflich sein. Was im einzelnen weniger gut erscheint, trgt oft zum Wohle der Allgemeinheit und folglich auch zu unserem bei. Das einzige bel ist das Ethischschlechte, das einzige Glcks-Gut ist das Ethischgute.

    Worin besteht ein glckliches Leben? - Die stoische Antwort lautet: Mit sich selbst, d. h. mit der menschlichen Natur und mit den allgemeinen Naturgesetzen in bereinstimmung zu leben. Dieses naturgeme Leben ist ein Leben gem der Vernunft. Und ein vernunftgemes Leben ist zugleich ein tugendhaftes. Das ganze Lebensglck besteht daher in der Vernunft, alias Tugend. Die Vernunft hat es nicht ntig, ihren Lohn auerhalb zu suchen; sie trgt ihn in sich selbst, ihr Besitz ist unmittelbar beglckend. Vernunft, Tugend und Glck sind daher synomyme Begriffe.

    Im Gegensatz zu den Epikureern schlieen die Stoiker jedes Streben nach Lust vllig aus, denn die genossene Lust versetzt uns oft in einen Zustand des Leidens und der Abhngigkeit und kann daher niemals ein Glcks-Gut sein.

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    Allerdings ist es unvermeidlich, dass wir nach jeder tugendhaften Handlung ein Gefhl des Genusses, der inneren Befriedigung empfinden. Allein diese Befriedigung darf weder der Grund sein, weswegen wir die Tugend ausben, noch ist sie das Endziel unseres Strebens und Handelns, welches auf Existenzerhalt und Wohlfluss des Lebens, nicht auf Luststeigerung ausgerichtet ist.

    Die Zweiteilung aller Dinge des Lebens, die Dihairesis, ist das Fundament der stoischen Ethik (Pohlenz, >Die StoaStoische PhilosophieEpiktets Handbchlein der stoischen Philosophie

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    VII. ber die angemessenen Handlungen (frher flschlich bersetzt mit: ber die Pflichten) VIII. ber die vollkommenen Handlungen IX. ber das Empfohlene und das Abgeratene (oder: ber Empfehlungen und Warnungen)

    Zenon von Kition und Kleanthes behandelten die einzelnen Themen noch einfacher als die spteren Stoiker.

    I. Themenbereich: >ber den ersten Trieb< oder >ber die erste Zueignung<

    Diogenes Laertius, VII, 85: Der erste Trieb eines lebenden Wesens, sagen die