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Sonntag, 5. März 2017 Jetzt ist es so weit. Schon lange wollte ich da mal hin; zu den letzten Rentiernomaden am Polarural. Unsere kleine Gruppe, oder wenigstens ein Teil davon, trifft sich am Flughafen Kloten um schon mal nach Moskau zu fliegen. Freundlicherweise tauscht noch jemand den Platz mit mir und so können wir drei, unterstützt von Luxemburgerli, die Reise antreten. Schnell landen wir in Moskau und auch die Einreise geht reibungslos vonstatten - oder doch nicht ganz, der Einreisebeamte glaubt Daniela nicht dass der Pass ihr gehört. Aber lange dauert es nicht und auch sie wird herein gelassen. Dann noch die Spannung beim Warten auf das Gepäck, ob es wohl ankommt. Die Spannung lässt nach, ich sehe meine gelbe Tasche auf dem Förderband und auch Daniela und Michi bekommen bald ihr Gepäck. Draussen wartet Rolf auf uns - und wo ist Martin? Der kann leider nicht an der Reise teilnehmen denn er liegt krank zu Hause. Wir versuchen umgehend wir unser Gepäck für den Weiterflug wieder einzuchecken und das gelingt uns auch. Kurz noch etwas im Flughafen essen und das lange Warten beginnt. Wir richten uns häuslich ein, rücken zwei Bänke so zusammen dass wir einigermassen liegen oder doch zumindest die Füsse hochlegen können. An Schlaf ist jedoch nicht zu denken. Es ist immer viel los hier und uns faszinieren die „Koffereinwickler“. Da werden Meter um Meter Haushaltfolie um die Gepäckstücke gewickelt und die einen sehen bald aus die Kokons der Seidenraupe. Und immer wieder hören wir das spezielle ratschende Geräusch. Folienhersteller sollte man sein! Der Mann vom Putzdienst schiebt sein Wägelchen unermüdlich Stunde um Stunde durch die Halle und lauert darauf endlich etwas zum Aufwischen zu finden. Der Typ der die Putzmaschine fährt stellt sich wohl vor am Steuer eines Rennwagens zu sitzen und kurvt mit "Höchstgeschwindigkeit" durch die Halle. Er fühlt sich nur etwas durch Leute gestört die ihm im Wege stehen. Die Halle ist

dermassen sauber dass man sogar vom Boden … dunkelt langsam und Selfira kommt plötzlich herein und meldet Nordlichter. Sehr schwach zwar, aber immerhin. Also kramen wir unsere Kameras

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Page 1: dermassen sauber dass man sogar vom Boden … dunkelt langsam und Selfira kommt plötzlich herein und meldet Nordlichter. Sehr schwach zwar, aber immerhin. Also kramen wir unsere Kameras

Sonntag, 5. März 2017 Jetzt ist es so weit. Schon lange wollte ich da mal hin; zu den letzten Rentiernomaden am Polarural. Unsere kleine Gruppe, oder wenigstens ein Teil davon, trifft sich am Flughafen Kloten um schon mal nach Moskau zu fliegen. Freundlicherweise tauscht noch jemand den Platz mit mir und so können wir drei, unterstützt von Luxemburgerli, die Reise antreten. Schnell landen wir in Moskau und auch die Einreise geht reibungslos vonstatten - oder doch nicht ganz, der Einreisebeamte glaubt Daniela nicht dass der Pass ihr gehört. Aber lange dauert es nicht und auch sie wird herein gelassen. Dann noch die Spannung beim Warten auf das Gepäck, ob es wohl ankommt. Die Spannung lässt nach, ich sehe meine gelbe Tasche auf dem Förderband und auch Daniela und Michi bekommen bald ihr Gepäck. Draussen wartet Rolf auf uns - und wo ist Martin? Der kann leider nicht an der Reise teilnehmen denn er liegt krank zu Hause. Wir versuchen umgehend wir unser Gepäck für den Weiterflug wieder einzuchecken und das gelingt uns auch. Kurz noch etwas im Flughafen essen und das lange Warten beginnt. Wir richten uns häuslich ein, rücken zwei Bänke so zusammen dass wir einigermassen liegen oder doch zumindest die Füsse hochlegen können. An Schlaf ist jedoch nicht zu denken. Es ist immer viel los hier und uns faszinieren die „Koffereinwickler“. Da werden Meter um Meter Haushaltfolie um die Gepäckstücke gewickelt und die einen sehen bald aus die Kokons der Seidenraupe. Und immer wieder hören wir das spezielle ratschende Geräusch. Folienhersteller sollte man sein! Der Mann vom Putzdienst schiebt sein Wägelchen unermüdlich Stunde um Stunde durch die Halle und lauert darauf endlich etwas zum Aufwischen zu finden. Der Typ der die Putzmaschine fährt stellt sich wohl vor am Steuer eines Rennwagens zu sitzen und kurvt mit "Höchstgeschwindigkeit" durch die Halle. Er fühlt sich nur etwas durch Leute gestört die ihm im Wege stehen. Die Halle ist

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dermassen sauber dass man sogar vom Boden essen könnte, die sauberste Abflughalle die ich bisher gesehen habe. Montag, 6. März 2017 Unser Weiterflug nach Salechard sollte um 3 Uhr morgens starten und eine Stunde vorher steht das Gate fest. Nun noch durch die Sicherheitskontrolle und schon nach kurzer Zeit steigen wir in die Maschine. Der Flug ist nicht ganz ausgebucht und wir haben genügend Platz für unser Handgepäck. Nun mache ich es mir gemütlich und döse vor mich hin. Ein ausgiebiges Frühstück wird serviert, aber mein Hunger ist nicht sehr gross und so lasse ich das meiste zurück gehen. Dafür falle ich nun in den Schlaf der Gerechten und als ich wieder aufwache ist es schon hell draussen. Rolf informiert mich dass wir nun schon ca. 7 mal über unseren Zielflugplatz gekreist sind und nicht landen können. Vorerst mache ich mir darüber keine Gedanken, wozu auch. Nach einer Stunde kreisen stellt sich heraus dass der Nebel in Salechard zu dick ist und wir einen

Ausweichflughafen anpeilen müssen. Wir fliegen weiter nach Osten und landen schlussendlich in Naadim, ein Flughafen mit ein paar Häusern mitten im Nirgendwo. Wir sind ungefähr 450 km über unser Ziel hinaus geschossen. Der "gemütliche" Ort wird von uns gleich in "Alcatraz" umgetauft. Hier könnte jeder Film über dieses Gefängnis gedreht werden ohne gross Kulissen bauen zu müssen. Da die englischen Durchsagen unverständlich sind und keiner von uns russisch spricht folgen wir einfach den anderen. Irgendwie geraten wir in ein falsches Gebäude und ein netter

Russe kommt uns holen und bringt uns in den Warteraum. Hier vergeht Stunde um Stunde und solange wir Mitreisende und unser Flugzeug sehen ist die Welt in Ordnung. (Übrigens Bärbel, an der Heckflosse des Flugzeugs prangt ein Eisbär!) Der eine oder andere von uns benutzt die unfreiwillige Gelegenheit für ein kleines Nickerchen. Nach ungefähr drei Stunden erfolgt die ixte Durchsage wie immer in Russisch. Die Gesichter unserer Mitreisenden fangen an zu strahlen und es kommt Bewegung in die Menge. Wir müssen nochmals durch die Sicherheitskontrolle und danach; warten….. in dieser Zeit fahrt der Bus zum Flugzeug einige Male vorbei und immer denken wir jetzt!…. jetzt! aber es war dann doch nichts. Endlich geht es los und nach einem kurzen Flug über die menschenleere Tundra mit verschneiten Bäumen und zugefrorenen Flüssen erreichen wir Salechard. Wie uns Rolf schon vorgewarnt hat findet hier nochmals eine Passkontrolle statt, und wie er uns ebenso vorbereitet hat müssen die Ausländer trotz Genehmigung mal mit ins Büro. Ich werde davon befreit und dazu abkommandiert auf den Gepäckhaufen aufpassen. Hier treffen wir auch auf Selfira, unsere Übersetzerin und dann noch beim Auto auf Andrej und Andrej. Einer der Andrejs ist unser Fahrer, die Aufgaben des zweiten sollte sich mir erst später erschliessen. Dann geht es los, unser Fahrzeug, ein sogenannter Trekol wartet auf uns und wir setzen uns zwischen dem Gepäck auf die Rückbank. Der erste Abschnitt der zu befahrenden Strasse ist ja noch ganz passabel, aber doch schon recht holprig. Wir überqueren den Ob, und zwar nicht auf der Brücke sondern übers Eis. Danach noch einkaufen in der Stadt, vor allem etwas zum „Schneugge“ für uns. Ich genehmige mir ein paar Äpfel und Orangen, Snickers und Wasser. Dann geht es richtig los. Wir fahren zu Beginn alles der nördlichsten Bahnlinie der Welt entlang. Diese bedient u.a. die Erdgasfelder im hohen Norden, man kann aber die Strecke auch als Eisenbahnabenteuer buchen Die Strasse ist völlig verschneit, ich kann mir aber vorstellen dass es im Sommer nicht viel besser ist, einfach Schottenpiste mit Schlagloch. Wir werden recht durchgeschüttelt und draussen hat es angefangen zu schneien. Mitten im „White Out“ machen wir eine Pause denn unser Fahrer Andrej

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bracht seine Portion Nikotin. Nach wenigen Minuten geht es weiter und die Strasse wird nicht besser.

Nach einigen Stunden verlassen wir die Eisenbahnlinie die hauptsächlich für Materialtransporte zu den Öl- und Gasfeldern benutzt wird. An diesem Punkt biegen wir in die Wildnis ab. Daniela hat es sich schon länger auf der Vorderbank so weit wie möglich gemütlich gemacht, wobei wohl das Wort "gemütlich" wohl eher mit Vorsicht zu geniessen ist. Ich hingegen kämpfe zum ersten Mal in meinem Leben mit Seekrankheit! Wir werden durchgerüttelt und geschüttelt und langsam bekomme ich von dem Geschaukel

Kopfschmerzen. Auslöser ist wohl dass ich während der ganzen Fahrt versuche von meinem seitlichen Sitzplatz aus durch die Frontscheibe etwas von der Landschaft draussen zu erhaschen. Nebenbei bin ich (wie auch die anderen) vollauf damit beschäftigt nicht durch meine Reisetasche erschlagen zu werden die durch das Holpern in Bewegung gerät. Bei einer weiteren Rauchpause wühle ich in meiner Tasche nach den Aspirin und werde bald fündig. Danach geht es etwas besser, für den allerletzten Rest der Fahrt begebe ich mich aber zu Daniela nach vorne. Wir müssen uns am Kontrollposten zum Nationalpark anmelden, danach machen wir uns auf die Suche nach unserer Gastfamilie. Inzwischen ist es dunkel draussen und der Schneefall wird immer heftiger. Wir sind jetzt schon ca. 6 Stunden im Trekol unterwegs. Nachdem wir mindestens ein Mal im Kreis gefahren sind treffen wir wieder beim Kontrollposten ein. Jetzt kommt ein Ranger mit uns und hilft uns unsere Nomadenfamilie suchen. Wir halten bei einem kleinen Wäldchen an und während wir im Auto warten gehen Andrej und der Ranger zu Fuss auf die Suche und finden den verlassenen Tschum. Bedingt durch einen Unfall sind die Leute nach Salechard gefahren und wir werden nun umgehend bei einer anderen Familie untergebracht wo wir schliesslich und schlussendlich nach 22 Uhr eintreffen. Wir essen noch eine Kleinigkeit, trinken Tee und der Hausherr räumt im Tschum auf um für uns Platz zu schaffen. Er brummelt dabei unentwegt in seinen nicht vorhandenen Bart. Selfira übersetzt für uns nach unserem Nachfragen: "bleibt hier", "nicht so wichtig", "kann raus" .... Nach Mitternacht können wir unsere Schlafsäcke ausrollen und fallen umgehend in den Schlaf. Da wir morgen ja schon wieder umziehen sollen klauben wir nur das absolut Notwendigste aus unseren Taschen die danach draussen auf einem Schlitten deponiert werden. Dienstag, 7. März 2017 Wir erwachen nicht so früh, ich muss nur einmal etwas von einem Holzscheit wegrücken das mich plötzlich drückt. Der Ofen wird eingeheizt und bald ist es schön warm und wir kriechen aus den Schlafsäcken. Rolf ist allerdings schon wieder draussen am Fotografieren. Zum Frühstück gibt es das gleiche wie zum Abendessen, aber wir brauchen ja Kalorien für die Kälte. Nach dem Essen sind wir dabei in unseren Taschen nach weiteren "dringend" benötigten Sachen zu wühlen denn wir fahren mit dem Schlitten zu den Moschusochsen. Aber das dauert noch eine ganze Weile bevor es wirklich los geht. Schlussendlich, nachdem wir die spielenden Kinder ausführlich fotografiert haben und sie die Scheu etwas verloren haben, geht es los. Zwei Motorschlitten führen uns zu den Ochsen, einer mit einem angehängten Schlitten auf dem wir Frauen Platz nehmen. Glücklicherweise habe ich meine Skibrille mit dabei, denn das fahrende Schneemobil "bewirft" uns laufend mit Schnee. Wir fahren durch eine abwechslungsreiche Gegend und bevor wir die Aufzuchtstation erreichen „verliert“ unser Motorschlitten den „Anhänger“. Hier erkundigen sich Stepan und Andrej wo sich wohl die freilaufenden Moschusochsen befinden und tatsächlich, es dauert nicht lange bis wir eine kleine Herde finden. Sie finden uns aber nicht so toll und schon bald trotten sie langsam von uns weg in

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ein lichtes Wäldchen. Wir steigen von den Fahrzeugen und machen uns zu Fuss auf den Weg. Die Schneeschuhe sind natürlich im Tschum und wir stapfen durch den hohen Schnee. Rolf voraus, ich hinterher und wir versinken teilweise bis zu den Knien im flauschigen Schnee. Sobald wir merken dass die Tiere unruhig werden halten wir ein paar Minuten an und so kommen wir der Herde langsam näher. Ich hoffe nur dass die Bilder gut geworden sind! Stromsparen ist angesagt da hier zwar abends der Generator

angestellt wird, aber vier Fotografen und vier Handys da sind die Akkus bald mal leergesaugt. Wir fahren wieder zurück und halten wir noch einmal an da sich zwei Moschusochsen zwischen ein paar Bäumen aufhalten die sich Rolf genauer vornimmt. Wir anderen warten denn wenn wir alle den Hügel rauf steigen besteht die Gefahr dass sie sich wieder weg bewegen. Auf dem Rückweg sitzt Daniela bei Andrej auf dem Motorschlitten, wir auf dem Schlittenanhänger hinterher. Von weitem sehen wir wie er an einer Senke stecken bleibt und fahren einen kleinen Umweg. Kurz bevor wir bei den beiden sind wird unser Schlitten ein weiteres mal abgehängt was uns zu einer Lachsalve veranlasst. Stepan wirft aber oft einen Kontrollblick und kennt dieses Phänomen wohl sehr gut. Zuerst wird mal der Scooter freigefahren, danach der Schlitten wieder angehängt und los geht's nach Hause in unserem Tschum. Wir geniessen die Fahrt durch eine von Sonnestrahlen erhellten weiten Landschaft. Zurück im Camp geniessen wir erst mal einen Tee bzw. eine Mahlzeit. und liegen etwas faul in unserer Ecke und dösen vor uns hin. Es dunkelt langsam und Selfira kommt plötzlich herein und meldet Nordlichter. Sehr schwach zwar, aber immerhin. Also kramen wir unsere Kameras nochmals heraus und machen unsere Einstellungen noch im Tschum an der Wärme. Stative raus und schon mal die ersten Versuche. Leider wollen die Nordlichter aber nicht so wie wir und nach einiger Zeit draussen geben wir das Warten auf. Kaum drinnen gibt es wieder zu Essen und wir sitzen noch lange zusammen. Daniela und Michi kriechen langsam in die Schlafsäcke und ich versuche schon mal wieder etwas an meinem Reisebericht zu arbeiten. Ich komme aber nicht weit, schon werden wir zu einer beinahe mitternächtlichen Mahlzeit an den Tisch geladen. Während des Essens taucht auch noch der Neffe unserer Wirtin auf und er wird ebenfalls verpflegt. Was würden wir sagen wenn spät nachts noch Besuch kommt? Kurz vor Mitternacht verkriechen auch wir uns in die Schlafsäcke. Unsere Wirtin hat uns noch einen Vorhang genäht und nun liegen wir in einer Stoffhöhle wie als Kinder seinerzeit. Etwas zu Sitten und Gebräuchen: Im "Hausfrauenteil" des Tschum (der Teil gegenüber des Eingangs) befindet sich ein kurzbeiniger Tisch. Schliesslich sitzt man ja in der Regel auf dem Boden, daher die kurzen Beine. Der Tisch wird von der Hausfrau auch ihrer Ecke gedeckt und mit allem was man braucht, inklusive der Speisen, versehen. Danach wird der gedeckte Tisch zum Essplatz getragen. Für jede Person steht eine Tasse mit Untertasse zur Verfügung. Die Untertasse dient gleichzeitig als Essteller. Des weiteren bekommt jeder einen Kaffeelöffel mit dem man alles isst was nicht mit der Hand gegessen wird. Jeder benutzt sein eigenes Messer, nur wir bekommen ein "Gemeinschafts-messer". Das Brot kann man locker mit einem Teelöffel mit Brot und Marmelade beschmieren. Stepan benutzt noch eine andere Methode: Ein Bissen Brot, danach einen Teelöffel Butter und hinterher die Marmelade.

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Mittwoch, 8. März 2017 Nach einer etwas unruhigeren Nacht krieche ich um 9.15 aus dem Schlafsack denn meine Blase meldet sich. Ich stecke den Kopf aus dem Tschum und bin ganz überrascht. Es hat in der Nacht

ziemlich viel geschneit und ein etwas ungemütlicher Wind weht. Schnell bin ich wieder zurück und krieche nochmals in den Schlafsack. Alle regen sich nun und langsam aber sicher treffen wir uns Frühstückstisch. Heute gehen wir nicht weit sondern sind eigentlich mehr oder weniger nur im Camp anzutreffen. Stepan ist in die Berge gefahren um einige Rentiere zu holen. Irgendwann heisst es dass es nur noch eine halbe Stunde dauert und so machen wir

uns bereit, steigen in die warmen Kleider, richten unsere Geräte und verlassen schon mal den warmen Tschum. Wir sehen noch ein paar Schneehühner, aber zum fotografieren sind sie zu weit weg, wuseln durcheinander und hin und her. Daniela versucht näher an die Schneehühner zu kommen, aber schlussendlich fliegen sie weg. Die halbe Stunde dauert doch viel länger, es ist halt eine "Nenets-halbe-Stunde". Zeit und Distanzen sind hier relativ. Nachdem wir leicht durchgefroren sind begeben wir uns wieder ins Tschum. Immer wenn die Hunde bellen steht Stepans Frau im Eingang um nachzuschauen ob er nun kommt oder nicht. Plötzlich sagt sie dass sie was hört und wir gehen wieder raus. Wir können weit und breit weder was sehen noch hören und sind schon bald der Meinung dass es wieder Fehlalarm ist. Andrej zeigt mir aber dass sich die Herde durch den Wald vom Hügel runter bewegt. Langsam kommt die Herde näher und wir freuen uns schon. Stepans gesamte Herde besteht aus ungefähr 800 Tieren, heute bringt er aber nur einen kleinen Teil ins Lager. Die ankommenden Rentiere sind sehr unruhig und Andrej bringt uns kleine Stücke trockenes Brot welches wir den Tieren geben können. Allerdings müssen sie von selbst zu uns kommen. Wenn wir auf sie zugehen ergreifen sie nicht gerade die Flucht, aber bewegen sich aber von uns weg. Kaum haben sie aber ein Brot von mir bekommen habe ich plötzlich viele neue Freunde. Interessanterweise erkennen mich die Tiere auch nach einiger Zeit wieder und kommen betteln. Wir geniessen es und können unsere Fotolust heute so richtig ausleben. Stepan fängt mit dem Lasso ein Tier ein, denn heute ist Schlachttag. Er entscheidet aber dass sich das Tier als Zugtier eignet und so kommt es nicht nur mit dem Leben davon sondern bekommt auch noch ein blaues Halsband. So kann er es später wieder erkennen und wird es nicht mehr für den Kochtopf einfangen. Das zweite Tier hat nicht so viel Glück und muss nun sein Leben lassen. Kaum ist es getötet wird sorgfältig das Fell abgezogen. Selbst das Fell der Beine wird noch für neue Schuhe, kleine Reparaturen oder zum Verzieren der Mäntel aufbewahrt und verwendet. Danach wird das ganze Tier fachmännisch zerteilt und als Besonderheit gibt es frisches Blut mit Salz zum kosten. Ich probiere mal davon. Es schmeckt nicht schlecht, aber eine ganz Tasse möchte ich trotzdem nicht trinken. Einige Teile des Fleisches werden gleich noch warm sowohl von Stepan, Svetlana wie auch dem Nachbarn verzehrt und auch eines der Kinder steht schon mit glänzenden Augen bereit. Die nicht geniessbaren Teile werden den Hunden vorgeworfen, die Sehnen werden später zu Faden für die Schuh- und Mantelherstellung verarbeitet und so bleibt schlussendlich kaum etwas übrig. Das Tier wird vollständig verwertet. Langsam wird mir nun doch wieder kalt. Zudem sollte ich mal in meiner Schlafecke etwas Ordnung schaffen. Nach und nach kommt einer nach dem anderen zurück ins Zelt. Wieder wird der Tisch in der hinteren Ecke gedeckt und danach an Ort und Stelle getragen. Heute gibt es russisches „Sushi“, d.h. gefrorene Fischscheiben mit Kaviar in der Mitte. Kaviar mag ich ja schon, aber ungekochten Fisch ist nicht gerade mein Ding. Daher halte ich mich diskret an Brot mit Butter und was sonst noch so auf dem Tisch steht. Heute gehen wir etwas früher in unsere

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Schlafsäcke, aber unsere Gastfamilie ist noch lange auf und hält wie meist noch ein Mitternachtsmahl. Informelles: Der Durchmesser eines Tschum beträgt ungefähr 7 Meter. Die Behausung wird mit je 8 grossen zusammengenähten Rentierdecken innen und aussen bedeckt und ist nach obenhin offen. Der Eingang ist ca. 1.20 Meter hoch und deshalb nur mit etwas Übung leicht zu benutzen. Zum Eintreten schlägt man zuerst die Rentierdecke zurück, geht gebückt mit dem Hintern voran durch die Öffnung um gleich mit einer eleganten Drehung das Innere zu betreten. Zum Verlassen des Tschum geht man am besten gebückt und mit Anlauf mit dem Kopf durch die Wand. Das Verlassen des Tschum ist mir allerdings nie "comme-il-faut" geglückt. Donnerstag, 9. März 2017 In der Nacht wütet ein Schneesturm und der Wind tobt um den Tschum. Daher bleiben wir heute morgen auch länger liegen. Nach dem Frühstück (mit warmem Rentierfleisch), muss ich mal in den Raum mit den blauen Kacheln. Zu meiner Freude muss ich feststellen dass in der Zwischenzeit eine "Damentoilette" gebaut wurde d.h. eine Blache wurde um vier Bäume montiert. Aber nur schon der Weg dorthin ist nicht ganz ohne. Der heftige Wind bläst den ganzen Schnee waagerecht vor sich her. Da bin ich froh dass das Stille Örtchen nun windgeschützt ist und man hat eine wunderbare Aussicht. Schnell mache ich ein paar Fotos um dann noch schneller wieder in die gemütliche Wärme des Tschum zu flüchten. Hier sollten wir nun mehr oder weniger den ganzen Tag verbringen, draussen

ist es, ausser für Rolf und Michi, doch zu ungemütlich. Stepan holt ein Rentnergeweih und beginnt daraus kleine Souvenirs zu schnitzen. Nachdem Svetlana (liebevoll Svjetna genannt) den „Haushalt“ gemacht hat beginnt sie aus kleinen Stücken Rentierfell Handschuhe für Julia zu nähen. Dazu benötigt sie erstens ein Schnittmuster, zweitens macht sie aus getrockneten Sehnen die passenden Fäden, drittens näht sie erst ein paar Fellstücke zusammen bevor sie dann aus dem ganzen Stück die Handschuhe

näht. Wir bemühen uns davon gute Fotos zu machen und Daniela verliert den Kampf gegen das Blitzgerät. So sind wir eine ganze Weile beschäftigt. Die Essenszeiten sind hier ziemlich verschoben und so begeben wir uns nach 15 Uhr wieder an den Tisch zum Mittagessen. Diesmal gibt es die Zunge des gestern geschlachteten Rentiers mit Kartoffelstock (Stocki!) und es schmeckt richtig lecker obwohl ich nicht so auf Zunge stehe. Nach dem Essen ist wieder Siesta angesagt, draussen tobt immer noch Wind und wir haben keine Lust nach draussen zu gehen. Ich wühle noch kurz in meiner Tasche um das eine oder andere zu holen, unter anderem auch mein Buch. Wenn es so weiter geht ist bald der gesamte Inhalt der Tasche im Tschum! Ich werde wohl morgen - oder so - wieder einiges in die Tasche packen. Ach ja, die Taschen befinden sich draussen auf einem Schlitten, gut zugedeckt gegen Wind und Wetter, und wenn man was haben will ist es nicht ganz so einfach den „Schrank“ zu öffnen. Neben meinem Liegeplatz hat sich schon ein beachtlicher Haufen aufgetürmt. Nach dem Eindunkeln sitzen, bzw. liegen, wieder alle gemütlich im warmen Tschum, man unterhält sich ein wenig, Svjetna kocht, näht und wir anderen plaudern. Daniela und Michi versuchen noch ihren Schlafplatz zu optimieren und ich gebe mich dem Nichtstun hin. Plötzlich macht sich ein wenig Aufregung breit, Daniela sieht ein Kabel das leise vor sich hin funkt. Zuerst denken wir es sei das rote Lametta das sich noch überall findet, es war dann doch das Stromkabel. Schnell wird alles was am Strom hängt ausgeschaltet und das Kabel frisch isoliert. Sehr wahrscheinlich würde es einen Stromer in der Schweiz in Ohnmacht treiben. Auch der

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Nachbar schaut mal gemütlich rein, geht aber schon bald wieder. Vielleicht gibt es bei ihm schon Abendessen - wer weiss. Langsam bereiten wir uns vor in die Schlafsäcke zu kriechen nachdem wir uns noch eine Weile unterhalten haben und die vielen Fragen der Russen zu unserem Leben in der Schweiz versucht haben so gut wie möglich zu beantworten. Etwas zu Sitten und Gebräuchen:

In der Mitte des Tschum steht ein sehr wichtiges Teil, nämlich der Ofen. Dieser liefert nicht nur Wärme sondern auch warme Mahlzeiten, warme Getränke (sprich Tee, bzw. Tchai) und warmes Wasser. Der Teil des Tschum der sich hinter dem Ofen befindet gehört ausschliesslich der Hausfrau und sollte keinesfalls begangen werden. Während des Kochens wird es unheimlich warm im Tschum und öfters bleibt nichts anderes übrig als etwas Kühle

durch die Eingangsöffnung zu lassen und wertvolle Wärme nach draussen zu leiten. Ansonsten blubbert der Ofen gemütlich vor sich hin und es herrscht eine angenehme Temperatur im Tschum. Freitag, 10. März 2017 Wiederum bleiben wir so lange liegen bis Svjetna den Ofen einheizt und wir heisse Füsse bekommen. Nach dem Frühstück, wiederum mit warmem Essen, fahren wir mit zwei Schneemobilen mit je einem Schlitten los. Über Nacht ist der ganze Schnee vom Winde verweht und es zeigt sich die Tundra mit Grasbüscheln zwischen dem Schnee. Dadurch ist es viel holpriger als vor zwei Tagen. Daniela, Selfira und ich sitzen auf dem „Frauenschlitten“, Michi thront alleine auf dem kleinen Gefährt. Wir gehen nochmals zu den Moschusochsen und schon bald finden wir eine kleine Truppe Bullen. Wir steigen von den Schlitten und versuchen uns anzuschleichen. Die Moschusbullen haben sich aber in einen kleinen Baumbestand verzogen und wir versuchen eine gute Fotoposition zu finden. Wir sinken bis zu den Hüften im Schnee ein, die Schneeschuhe liegen natürlich im Camp! Wir kommen recht nahe, aber plötzlich wird ein Bulle etwas "hässig" und wir blasen zum Rückzug. Das hätte gerade noch gefehlt dass sie auf uns losstürmen, die Viecher sind natürlich auch im tiefen Schnee viel schneller als wir. Wieder schwingen wir uns auf die Schlitten und suchen die Herde vom letzten Mal und finden sie

auch. Wir halten in einiger Entfernung an und schon sehen wir den "Wächter" losrennen. Wir verhalten uns einige Zeit ganz ruhig und nach und nach können wir uns Schritt für Schritt anschleichen. Wir finden recht gute Fotopositionen, die Moschusochsen bewegen sich aber kaum und bleiben im Pulk stehen, eine dunkle Masse im hellen Schnee. Wir möchten gerne ein einzelnes Exemplar oder gar einen der rennt vor die Linse bekommen. Die hauptsächliche "Action" ist jedoch dass sie ihre langen Haare im Wind wegen lassen. Nach

einiger Zeit und ein paar knackenden Gelenken kehren wir zu unseren Gefährten zurück und los geht es. Aber halt, Selfira fällt vom Schlitten, also sofort anhalten und wieder aufladen. Glücklicherweise bleibt sie bis auf den Schrecken unverletzt. Während wir an der Herde vorbei fahren bewegen sich die Ochsen ein wenig, bleiben aber bald wieder stehen. Aber wohin fahren wir? Bin ich jetzt völlig falsch orientiert? naja, Stepan muss es wissen. Wir hoppeln über die recht schneearme Tundra und sehen bald schon ein paar Schneehühner auffliegen. Da sie aber sicherlich nicht einfach zu fotografieren sind halten wir gar nicht erst an. Vor einer kleinen Bachsenke steigt Stepan vom Schneemobil und erkundet die Gegend. Danach steigt er wieder auf und los geht’s. Er freut sich wie ein Schneekönig als er erst

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langsam in die kleine Senke fährt und dann mit Karacho auf der anderen Seite den Hügel hinauf. Wir schlängeln uns zwischen den Bäumen hindurch und geniessen es wenn etwas Schnee mehr liegt denn dann werden unsere Knochen weniger strapaziert. Wir erreichen einen schwarz gefrorenen See den wir auch gleich befahren. Auf einem kleinen Schneefleck hält Stepan an und wir steigen wieder mal von unserem Gefährt und strecken die Knochen. Mit Begeisterung sehen wir viele hundert Fotomotive auf dem Schwarzeis und sind schnell dabei diese ausgiebig abzulichten. In der Zwischenzeit holt Stepan seinen Speer und beginnt ein Loch ins Eis zu hacken. Und er hackt und hackt, wir haben viel Spass mit ihm. Andrej schaufelt derweil die Eisstückchen aus dem Loch. Stepan setzt sich mal kurz in sein Loch, hackt dann wieder weiter bis er endlich auf Wasser trifft. Danach beginnt er ein zweites und drittes Loch zu hacken. Nun wollen wir doch wissen was das soll. Die Löcher dienen später dazu ein Netz zu spannen um Fische zu fangen. Aha! Er hat also nicht wegen unserer Fotos angehalten! Nach dem dritten Loch, er hat wegen der schweisstreibenden Arbeit schon lange seinen Mantel ausgezogen, fahren wir zurück zum Camp. Da erwartet uns Svjetna bereits mit dem späten Mittagessen. Aber heute gibt es keine Siesta. Sogleich heisst es wieder auf die Schlitten steigen, wollen wir doch zu den Rentieren fahren. Stepans grosse Herde muss ja wirklich ein erhebender Anblick sein. Aber erst gibt es ein Hindernis zu überwinden, der zweite Schneetöff streikt. Also wird auch noch der kleine Schlitten angehängt, ein Hund kommt auch noch mit und los geht's. Wir sind eine recht lange Zeit am Fahren. Ich habe mein Stativ schon mal gar nicht mitgenommen da wir erst sehr spät losgefahren sind. Zwei mal müssen wir vom Schlitten da erstens hier oben der Schnee höher ist und wir zweitens mit zwei Schlitten zu schwer. Beim zweiten steilen Streckenabschnitt werden wir die letzten paar Meter jeweils zu zweit den Berg hoch gefahren. Oben angekommen schauen wir blöd, es sind nur noch ein paar wenige Rentiere da. Wir hatten 800 Stück erwartet, aber nichts da, es sind nur einige wenige. Auch zum Fotografieren ist es schon zu spät, das Licht ist weg. Stepan geht noch mit dem Hund einige Rentiere suchen, wir bleiben bei den Schlitten und warten. Es hat auch wieder zu schneien begonnen und wir stehen etwas wie begossene Pudel in der Landschaft. Auf der Rückfahrt ist es schon recht dunkeln und ich kann nicht mehr viel sehen. Nachdem wir uns „entstaubt" haben geht es schon wieder ans Essen. Diesmal Rentiervoressen mit Pasta. Lecker wie immer, Svjetna ist eine sehr gute Köchin. Auch heute haben wir wieder viel gelacht und nach dem Essen geben wir heute ein wenig über die Schweizerische Politwesen Auskunft. Viele Fragen werden gestellt und wir versuchen sie so gut wie möglich zu beantworten. Samstag, 11. März 2017 Nach einer etwas unruhigen Nacht winden wir uns aus unseren warmen Schlafsäcke. Allerdings auch heute erst nachdem Svjetna den Ofen eingeheizt hat. Ein Blick nach draussen; kaum Wind und klare Sicht. Schnell gefrühstückt (ich glaube die ganzen Tage nicht so schnell wie heute), rein in die warmen Kleider und schon bald geht unser „Schlittenzug“ wieder los. Wir holpern wieder zum See um das letzte Loch zu graben und das Netz einzuziehen. Was heisst da wir, Stepan und Andrej arbeiten wie die Wilden an den Löchern und wir fotografieren etwas herum. Heute sieht der See durch den gestrigen Schneefall ganz anders aus. Zum grössten Teil ist er mit Schnee bedeckt und nur einige schwarze Löcher schauen zwischen den Schneeverwehungen heraus.

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Zuerst mal wird natürlich Stepan fotografiert wie er im Sonnenschein das Loch schlägt, später versuchen sich noch Rolf und Michi. Da können sie sehen was das für eine Knochenarbeit ist. Michi hat das Glück des letzten Schlages und schnell füllt sich das Loch mit Wasser. Wir „spielen“ mit ein paar Eisbrocken welche die Männer herausgeschlagen haben indem wir (wieder mal) auf dem Bauch liegen um die Eisbrocken im Gegenlicht zu fotografieren. In der Zwischenzeit versuchen Andrej und Stepan das Netz unters Eis zu bringen. Was ist nicht ganz so einfach ist. Heute haben wir auch einen der Hunde mit dabei der sich ebenfalls vergnügt und sich in grossen Radius bewegt und etwas zum jagen oder spielen sucht. Ich liege so am Boden um ein optimales Bild des Eisstückes zu bekommen und was passiert, er will mir unbedingt das Gesicht lecken. Ich mag ja Hunde sehr, aber das muss dann doch

nicht sein. Er sieht das aber anders und wir sind uns uneinig darin. Danach lässt er sich aber gut kraulen und er scheint es zu mögen. Als Dank pinkelt er mir aber umgehend ein paar Tropfen an den Fotorucksack. Das muss nun aber definitiv nicht sein. Rolf ist so lieb und putzt den Rucksack gleich mit etwas Schnee ab, dafür stinken nun seine Hände ganz fürchterlich. Glücklicherweise ist Daniela mit Desinfektionsgel gut ausgestattet (meines liegt natürlich sinnigerweise im Tschum). Wir geniessen die Landschaft im Sonnenschein in vollen Zügen und bewundern die tollen Wolkenformationen. Wie bei uns sind es eine Art Föhnwolken (Cumulus lenticularis) die sich dauernd zu neuen Bildern formieren. Endlich ist das Netz an Ort und stelle angebracht und wir klettern wieder auf die Schlitten. Es sind nochmals Moschusochsen angesagt. Auf dem Weg dorthin müssen wir wegen einer kleinen Unwegsamkeit vom Schlitten und klar sinke ich wieder bis weiss ich wie weit in den tiefen Schnee. Glücklicherweise müssen wir nur ein paar Meter durch den tiefen Schnee stapfen bis wir wieder auf den Schlitten Platz nehmen können. Bald sehen wir die kleine Gruppe mit 5 Tieren. Der Hund bellt jedoch wie verrückt und die grossen Tiere nehmen Reissaus. Sie bleiben nochmals kurz stehen, schauen kurz zurück und wandern dann zügigen Schrittes über die Tundra. Wir fahren weiter und treffen nochmals auf diese Gruppe, aber bevor wir unsere Kameras in Stellung bringen können geben sie wieder Fersengeld. Sofort fahren wir hinterher und diesmal lassen wir hinter einem Hügel den letzten Schlitten mit Andrej und dem Hund zurück in der Hoffnung auf die Moschusochsen zu treffen. Aber weit gefehlt. Die grössere Herde können wir ebenfalls im Moment nicht sehen. Wir fahren ein kleines Stück weiter und als wir auf Trekolspuren treffen stellt Stepan den Motor aus. Das war ein Fehler! Als er das Schneemobil wieder starten will geht gar nichts mehr. Das war

nicht das erste Mal und bis anhin hat er es locker geschafft den Motor wieder in Gang zu bringen. Diesmal scheint es aber ein grösseres Problem zu sein, das Startseil ist abgerissen und Stepan werkelt eine ganze Weile unter der Motorhaube. Von weitem sehen wir drei Trekol kommen und Stepan denkt gerade dass er den Motor wieder zum anspringen bringt, also schliesst er die Motorhaube. Die Fahrer der drei Fahrzeuge halten an und siehe da, ein guter Freund von Selfira steigt aus. Das war ja noch nicht das Verwunderlichste

an dieser Begegnung denn diese Gegend ist nicht sehr dicht bevölkert. Vielmehr erstaunt als noch ein Fotokollege von Rolf aus dem Fahrzeug steigt. Später erzählt er uns dass er diesem immer nur an abgelegenen Orten trifft.

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Wir wollen nun weiterfahren, aber nix da, der Motor springt immer noch nicht an. Andrej und Stepan versuchen es weiter und weiter. Wir stehen etwas verloren in der Gegend, können aber nicht helfen, ausser uns mit gut gemeinten Ratschlägen zurückzuhalten. Nach unendlich vielen Versuchen klappt es endlich und der Motor brummt vor sich hin. Jetzt gilt es zunächst mal den liegen gelassenen Schlitten mit Andrej und dem Hund zu holen und das Gespann wieder zusammen zu setzen. Prompt treffen wir bei der Rückfahrt auf unsere grössere Herde. Leider steht sie am Zaun und ist so schlecht zu fotografieren. Unvermittelt bewegen sich die Tiere und das eine oder andere Bild sollte gelungen sein. Aber nein, ich hatte auf dem Eis die Einstellung völlig für die einen Bilder verändert und vergessen zurück zu stellen. So blöd, aus den Bildern wird wohl nichts, leider! Stepan wagt es nicht mehr den Motor abzustellen und so fahren wir bald weiter in Richtung des Camps. Auch diesmal wieder: geschüttelt nicht gerührt. Wir hopsen auf dem Schlitten herum um ich vermute dass mein Hintern nach dieser Woche in den verschiedensten Farben leuchten wird. Nach der Ankunft fotografieren wir noch ein bisschen im Camp herum, zwei Nachbarn sind gerade dabei neue Stangen für ihre Tschum zu schnitzen. Erstaunlich, sie glätten die Stangen mit dem Beil und mühsamer Kleinarbeit. Nach dem Mittagessen (um 16 Uhr!) machen wir es uns noch etwas gemütlich und, wenigstens ein Teil von uns, liegen faul herum. Sontag, 12. März 2017 Heute wollen alle nicht so recht aus dem Schlafsack. Mit etwas Wehmut denken wir daran dass wir heute von unserer Gastfamilie Abschied nehmen müssen. Nach dem Frühstück machen wir uns einer nach dem anderen mit wenig Begeisterung daran unsere Siebensachen in unsere Taschen zu stopfen. Ich überreiche Stepan noch mein Lieblingstaschenmesser der "Fondation Barry". Da Messer verschenken Unglück bringen soll gibt mir Svjetna sofort eine kleine Münze. So ist das Messer symbolisch bezahlt. Obwohl Stepan sehr gute Messer besitzt freut er sich riesig darüber und macht ein Werkzeug nach dem anderen auf. Als er die kleine Säge findet kann er sich wieder mal kugeln vor Lachen. Aber auch Svjetna geht nicht leer aus und erhält halt so praktische Dinge wie Klopapier, Feuchttücher, Kekse und Einweglappen. Für mich ist es ja kein Problem diese Dinge zu Hause wieder zu beschaffen und sie kann sie gut gebrauchen. Im Laufe des Morgens bekommen wir mit dass unser Trekol zwar um 12 Uhr hier sein sollte, aber gerade eine Panne und dadurch etwas Verspätung hat. So hängen wir noch ein bisschen herum, das Gepäck ist bereit und wir harren der Dinge. Und die sollten noch kommen. Wir beobachten immer wieder dass sich Andrej mit dem Telefon beschäftigt und unvermittelt kommt die Devise dass wir ein Stück mit dem Schlitten fahren müssen. Ein "Stück" heisst ca, 20 km. Aber sind es wirklich 20 km? Erfahrungsgemäss sind die Zeit- und Distanzangaben der Nenets mit Vorsicht zu geniessen. Das bedeutet natürlich auch dass wir uns nun noch umziehen müssen, d.h. die Taschen nochmals öffnen und die warmen Sachen rauskramen. Während wir uns "schlittenfein" machen fangen Stepan und Andrej schon mal an das Gepäck auf die Schlitten zu binden und gut einzupacken. Dann erfolgt die Platzverteilung denn wir können ja immer noch nur mit einem Schneemobil fahren, das zweite ist noch nicht repariert. So werden Daniela und Rolf auf dem Sozius mitfahren, Selfira, Michi und ich nehmen auf dem ersten Schlitten Platz. Wegen des Gepäcks fahren wir Rückwärts. Das ist nicht schlecht, denn so können wir erstens das Gepäck als Rückenlehne benutzen, zweitens haben wir keinen Wind im Gesicht und drittens fliegt uns auch nicht der aufgewirbelte Schnee um die Ohren und ins Gesicht. Andrej sitzt mit dem restlichen Gepäck auf dem zweiten Schlitten. So geht es langsam los und Stepan versucht mit möglichst wenigem Geholpere zu fahren. Wir geniessen die Fahrt und können uns noch ein letztes Mal die Landschaft zu Gemüte führen. Bei zwei steileren Passagen müssen wir "Schlittenpassagiere" absteigen und die kurzen Anstiege zu Fuss überwinden was dank der Schneemobilspur kein

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Problem ist. Zudem ist es auch eine gute Gelegenheit das Schneemobil etwas abkühlen zu lassen, es wird durch die schwere Last sehr strapaziert. Aber auch für uns sind die kurzen Pausen angenehm, können wir uns doch wieder mal strecken und die Beine bewegen. Bei der einen Pause treffen wir auf zwei andere Motorschlitten mit Anhänger, da werden natürlich gleich Neuigkeiten ausgetauscht. Die eine Nomadin trägt einen wunderschönen Rentierfell-Mantel mit einer Kapuze aus Polarfuchsfell. Sie möchte aber nicht fotografiert werden und wir respektieren das. Nach etwas über 20 km (wirklich? war es nicht mehr?) erreichen wir erneut die nördlichste Bahnlinie der Welt (angeblich) und da steht auch schon unser Trekol. Nichts Böses ahnend laden wir das Gepäck um. Stepan füllt seinen Schlitten mit grossen Kartons mit Broten und sonstigen vorher bestellten Dingen die bei dieser Gelegenheit mitgebracht wurden. Die mitgeführten Kanister werden noch mit Treibstoff gefüllt und nun heisst es von unserem (unfreiwilligen) Gastgeber Abschied zu nehmen. Die nächste Überraschung steht uns unmittelbar bevor; der neben unserem Trekol parkierte leere Lastwagen stellt sich als unser Abschlepper raus. Mit einem, in meinen Augen recht dünnen, Tau wird unser Trekol jetzt abgeschleppt. Wie nicht anders zu erwarten dauert es nicht lange bis das Tau das erste Mal lässt. Mit einem Knall löst es sich und fliegt elegant durch die Luft. Diesmal wird das Seil um die seitlich senkrecht in die Luft ragenden Streben geschlungen und weiter geht's. Die beiden Fahrer sind mit Funk verbunden und zu Beginn geht es zwar langsam aber stetig mit rund 20 km/h der Bahnlinie entlang vorwärts. Der eh schon langsam parallel zu uns fahrende Güterzug überholt uns langsam aber stetig. Bald werden die beiden mutiger und wir bejubeln das masslose Tempo von 30 km/h, und dann erzittert sogar die Zahl 40 auf dem GPS und wir sehen langsam Licht am Horizont bzw. eine Chance dass wir doch noch zu unserer heiss ersehnten Dusche kommen. Als die 50 km/h erreicht werden geraten wir beinahe in einen Geschwindigkeitsrausch. Die Heizung im Trekol ist irgendwie auf der ganzen Strecke von rund 170 km nicht regulierbar, einmal ist es schweinekalt und danach werden wir beinahe gesotten, d.h. Pullover ausziehen, Pullover anziehen. So sind wir dauernd irgendwie beschäftigt. Wir nähern uns jetzt langsam aber sicher der Zivilisation und passieren die ersten Orte, durchqueren ein letztes Mal den Ob auf dem Eis und erreichen nun Salechard. Wir nähern uns einer grösseren Kreuzung. Das Zugfahrzeug hält kurz an um den Verkehr abzuschätzen. Unser Chauffeur stellt zu unserer Verwunderung den Motor aus und zieht die Handbremse an. In der Zwischenzeit zieht aber der Lastwagen wieder an und was passiert? Ganz klar, das Seil macht sich wieder selbständig. Uns bleibt nur noch zu Lachen. Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich einen hüpfenden LKW. Wir hoppeln über die Kreuzung und werden uns nun auch mehr oder weniger über den Defekt des Trekol klar, wir vermuten einen Getriebeschaden, denn ausser dem 1. Gang geht gar nichts mehr. Das Seil wird wieder befestigt und weiter zuckeln wir unserem Ziel entgegen. Wir haben den Stadtrand von Salechard erreicht und voller Freude bemerkt Daniela dass wir doch noch vor 22 Uhr das Hotel erreichen werden. Sie hat den Satz kaum zu Ende gesprochen muss ich sie enttäuschen. Aus dem Lastwagen steigt eine schwarze Rauchwolke auf die nichts Gutes vermuten lässt: Motorschaden! Wir können nur noch Tränen lachen. Aber im Organisieren sind die Russen kaum zu schlagen, nach nicht mal 10 Minuten steht ein Minibus bereit der uns noch die letzten 1,5 km zum Hotel fährt. Hurra, wir sind angekommen! Wir wollten uns noch etwas zu trinken besorgen, aber wir waren ein paar Minuten zu spät, der Supermarkt schliesst um 22 Uhr. Wir tappen zurück ins Hotel und widmen uns nun der lang ersehnten Dusche. Im Nebenzimmer geht es hoch her und es scheint dass die Leute nicht gerade freundlich miteinander umgehen. Es wird noch einmal so richtig laut und dann ist Ruhe, ich kuschle mich unter die warme Bettdecke und schlafe dem Morgen entgegen.

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Montag, 13. März 2017 Schon um 7.30 holt uns Selfira ab um zum Flughafen zu fahren. Da wir gemeinsam einchecken schlüpft Rolf mit seinem leichten Übergepäck durch. Glücklicherweise werden unsere Fotorücksäcke nicht gewogen! Der Flug geht pünktlich und wir machen dies Mal auch keinen Umweg sondern landen auf Anhieb in Moskau. Hier verabschieden wir uns von Rolf der noch ein paar Tage in Moskau bleibt und wir müssen uns nun irgendwie 8 Stunden um die Ohren schlagen. Wir treiben uns im Kaffee und den Wartebereichen herum, essen und trinken, lesen und dösen und so vergeht die Zeit schneller als erwartet. Trotzdem unser Flug mit Verspätung abfliegt landen wir pünktlich in Zürich. Ich verabschiede mich schon im Flugzeug von Michi der ohne Gepäck schon mal das Auto holen will. Daniela und ich werden und dann um das Gepäck kümmern. Ebenfalls, jedoch unfreiwillig, verabschiede ich mich von meinem Buch, das bleibt irgendwie im Flugzeug zurück. Leider ist aber kurz vor uns ein Grossflugzeug aus dem mittleren Osten gelandet und vor der Passkontrolle stapeln sich die Leute. Warum gibt es in der Schweiz keinen Kanal für Schweizer? und warum gibt es keine "self-pass-control" obwohl in der Zwischenzeit alle Schweizer maschinenlesbare Pässe haben. Die gibt es z.B. schon in Frankfurt! Dies sind so Fragen des Lebens die niemand beantworten kann. Aber man muss ja nicht alles verstehen. Raphael holt mich ab und ich bin froh dass ich mit meiner schweren Tasche nicht mit der Bahn fahren muss. Herzlichen Dank.