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DEUTSCH als Leistunsskursfach Arbeitszeit: 300 Minuten Der Prüfling hat eine Aufgabe seiner Wahl zu bearbeiten. Als Hilfsmittel sind - auch im Hinblick auf Worterklärungen Wörterbücher zur deutschen Rechtschreibung (ausgenommen digitale Datenträger) zugelassen.

DEUTSCH als Leistunsskursfach Arbeitszeit: 300 Minuten · 2019. 2. 21. · - Sieh vorwärts, Werner, und nicht hinter dich! STAUFFACHER. Wir Männer können tapfer fechtend sterben,

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DEUTSCH

als Leistunsskursfach

Arbeitszeit: 300 Minuten

Der Prüfling hat e i n e Aufgabe seiner Wahl zu bearbeiten.

Als Hilfsmittel sind - auch im Hinblick auf Worterklärungen Wörterbücher zur deutschen Rechtschreibung (ausgenommen digitale Datenträger) zugelassen.

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AUFGABE I (Erschließung eines poetischen Textes)

a) Erschließen und interpretieren Sie das Gedicht (Text A)! Beziehen Sie in Ihre Deutung Text B ein!

b) Untersuchen Sie ausgehend von Ihren Ergebnissen, inwiefern das vorliegende Gedicht als ein Text an der Schwelle zur literarischen Moderne angesehen werden kann!

TEXTA

Theodor Storm (1817-1888)

Geh nicht hinein (1879)

Im Flügel oben hinterm Korridor, Wo es so jählings einsam worden ist, - Nicht in dem ersten Zimmer, wo man sonst Ihn finden mochte, in die blasse Hand

5 Das junge Haupt gestützt, die Augen träumend Entlang den Wänden streifend, wo im Laub Von Tropenpflanzen ausgebälgt Getier Die Flügel spreizte und die Tatzen reckte, Halb Wunder noch, halb Wissensrätsel ihm,

10 - Nicht dort; der Stuhl ist leer, die Pflanzen lassen Verdürstend ihre schönen Blätter hängen; Staub sinkt herab; - nein, nebenan die Tür, In jenem hohen dämmrigen Gemach, - Beklommne Schwüle ist drin eingeschlossen -

15 Dort hinterm Wandschirm auf dem Bette liegt Etwas - geh nicht hinein! Es schaut dich fremd Und furchtbar an!

Vor wenig Stunden noch Auf jenen Kissen lag sein blondes Haupt;

20 Zwar bleich von Qualen, denn des Lebens Fäden Zerrissen jäh; doch seine Augen sprachen Noch zärtlich, und mitunter lächelt' er, Als sah' er noch in goldne Erdenferne.

Da plötzlich losch es aus; er wüßt' es plötzlich, 25 - Und ein Entsetzen schrie aus seiner Brust,

Daß ratlos Mitleid, die am Lager saßen, In Stein verwandelte - er lag am Abgrund;

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Bodenlos, ganz ohne Boden. - »Hilf! Ach, Vater, lieber Vater!« Taumelnd schlug

30 Er um sich mit den Armen; ziellos griffen In leere Luft die Hände; noch ein Schrei -Und dann verschwand er.

Dort, wo er gelegen, Dort hinterm Wandschirm, stumm und einsam liegt

35 Jetzt etwas - bleib! Geh nicht hinein! Es schaut Dich fremd und furchtbar an; für viele Tage Kannst du nicht leben, wenn du es erblickt.

»Und weiter - du, der du ihn liebtest - hast Nichts weiter du zu sagen?«

40 Weiter nichts.

TEXTB

Theodor Storni an Eduard Mörike, 3. Juni 1865

In den diesem Briefauszug vorangehenden Zeilen betrauert Theodor Storm den Tod seiner am 20. Mai 1865 verstorbenen Frau Constanze.

[...] Sie wissen ja, daß ich Ihren glücklichen Glauben1 nicht zu theilen vermag; Einsamkeit und das quälende Räthsel des Todes sind die beiden furchtbaren Dinge, mit denen ich jetzt den stillen unablässigen Kampf aufgenommen habe. Gleichwohl bin ich nicht der Mann, der leicht zu brechen ist; ich werde keines der geistigen Interessen, die mich bis jetzt begleitet haben und die zur Erhaltung meines Lebens gehören, fallen lassen; denn vor mir [...] liegt Arbeit, Arbeit, Arbeit! Und sie soll, so weit meine Kraft reicht, gethan werden. [...]

Eduard Mörike war lange Zeit evangelischer Geistlicher.

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AUFGABE II (Erschließung eines poetischen Textes)

a) Erschließen und interpretieren Sie den folgenden Szenenausschnitt! Gehen Sie dabei vor allem darauf ein, wie der Prozess der Entscheidungsfindung gestaltet wird!

b) Untersuchen Sie ausgehend von Ihren Ergebnissen vergleichend Entschei-dungsprozesse in anderen Werken!

Vorbemerkung

Das Stück, das den Mythos um den Schweizer Nationalhelden Wilhelm Teil zum Inhalt hat, spielt gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Stauffacher gehört zu den Bewohnern der drei Kantone Uri, Schwyz und Unterwaiden, die von den Landvögten, den Stellvertretern des Kaisers, unterdrückt werden.

Friedrich Schiller (1759-1805)

Wilhelm Teil (1804)

1. Aufzug, 2. Szene

[...] {Stauffacher setzt sich kummervoll auf eine Bank unter der Linde. So findet ihn Gertrud, seine Frau, die sich neben ihn stellt und ihn eine Zeitlang schweigend betrachtet)

GERTRUD. SO ernst, mein Freund? Ich keime dich nicht mehr. 5 Schon viele Tage seh ichs schweigend an,

Wie finstrer Trübsinn deine Stirne furcht. Auf deinem Herzen drückt ein still Gebresten, Vertrau es mir, ich bin dein treues Weib, Und meine Hälfte fordr ich deines Grams.

10 (Stauffacher reicht ihr die Hand und schweigt) Was kann dein Herz beklemmen, sag es mir. Gesegnet ist dein Fleiß, dein Glücksstand blüht, Voll sind die Scheunen, und der Rinder Scharen, Der glatten Pferde wohlgenährte Zucht

15 Ist von den Bergen glücklich heimgebracht Zur Winterung in den bequemen Ställen. - Da steht dein Haus, reich, wie ein Edelsitz, Von schönem Stammholz ist es neu gezimmert

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Und nach dem Richtmaß ordentlich gefügt, 20 Von vielen Fenstern glänzt es wohnlich, hell,

Mit bunten Wappenschildern ists bemalt, Und weisen Sprüchen, die der Wandersmann Verweilend liest und ihren Simi bewundert.

STAUFFACHER. Wohl steht das Haus gezimmert und gefügt, 25 Doch ach - es wankt der Grund, auf den wir bauten.

GERTRUD. Mein Werner, sage, wie verstehst du das? STAUFFACHER. Vor dieser Linde saß ich jüngst wie heut,

Das schön Vollbrachte freudig überdenkend, Da kam daher von Küßnacht, seiner Burg,

30 Der Vogt mit seinen Reisigen geritten. Vor diesem Hause hielt er wundernd an, Doch ich erhub mich schnell, und unterwürfig, Wie sichs gebührt, trat ich dem Herrn entgegen, Der uns des Kaisers richterliche Macht

35 Vorstellt im Lande. Wessen ist dies Haus? Fragt' er bösmeinend, denn er wüßt es wohl. Doch schnell besonnen ich entgegn ihm so: Dies Haus, Herr Vogt, ist meines Herrn des Kaisers, Und Eures und mein Lehen - da versetzt er:

40 »Ich bin Regent im Land an Kaisers Statt Und will nicht, daß der Bauer Häuser baue Auf seine eigne Hand, und also frei Hinleb, als ob er Herr war in dem Lande, Ich werd mich unterstehn, Euch das zu wehren.«

45 Dies sagend ritt er trutziglich von dannen, Ich aber blieb mit kummervoller Seele, Das Wort bedenkend, das der Böse sprach.

GERTRUD. Mein lieber Herr und Ehewirt! Magst du Ein redlich Wort von deinem Weib vernehmen?

50 Des edeln Ibergs Tochter rühm ich mich, Des vielerfahrnen Manns. Wir Schwestern saßen, Die Wolle spinnend, in den langen Nächten, Wenn bei dem Vater sich des Volkes Häupter Versammelten, die Pergamente lasen

55 Der alten Kaiser, und des Landes Wohl Bedachten in vernünftigem Gespräch. Aufmerkend hört ich da manch kluges Wort, Was der Verständge denkt, der Gute wünscht, Und still im Herzen hab ich mirs bewahrt.

60 So höre denn und acht auf meine Rede, Denn was dich preßte, sieh, das wüßt ich längst. - Dir grollt der Landvogt, möchte gern dir schaden,

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Denn du bist ihm ein Hindernis, daß sich Der Schwyzer nicht dem neuen Fürstenhaus

65 Will unterwerfen, sondern treu und fest Beim Reich beharren, wie die würdigen Altvordern es gehalten und getan. -Ists nicht so, Werner? Sag es, wenn ich lüge!

STAUFFACHER. So ists, das ist des Geßlers Groll auf mich. 70 GERTRUD. Er ist dir neidisch, weil du glücklich wohnst,

Ein freier Mann auf deinem eignen Erb, - Denn er hat keins. Vom Kaiser selbst und Reich Trägst du dies Haus zu Lehn, du darfst es zeigen, So gut der Reichsfürst seine Länder zeigt,

75 Denn über dir erkennst du keinen Herrn Als nur den Höchsten in der Christenheit -Er ist ein jüngrer Sohn nur seines Hauses, Nichts nennt er sein als seinen Rittermantel, Drum sieht er jedes Biedermannes Glück

80 Mit scheelen Augen giftger Mißgunst an, Dir hat er längst den Untergang geschworen -Noch stehst du unversehrt - Willst du erwarten, Bis er die böse Lust an dir gebüßt? Der kluge Mann baut vor.

85 STAUFFACHER. Was ist zu tun!

GERTRUD {tritt näher). So höre meinen Rat! Du weißt, wie hier Zu Schwyz sich alle Redlichen beklagen Ob dieses Landvogts Geiz und Wüterei. So zweifle nicht, daß sie dort drüben auch

90 In Unterwaiden und im Urner Land Des Dranges müd sind und des harten Jochs -Denn wie der Geßler hier, so schafft es frech Der Landenberger drüben überm See -Es kommt kein Fischerkahn zu uns herüber,

95 Der nicht ein neues Unheil und Gewalt-Beginnen von den Vögten uns verkündet. Drum tat es gut, daß eurer etliche, Die's redlich meinen, still zu Rate gingen, Wie man des Drucks sich möcht erledigen,

100 So acht ich wohl, Gott würd euch nicht verlassen Und der gerechten Sache gnädig sein -Hast du in Uri keinen Gastfreund, sprich, Dem du dein Herz magst redlich offenbaren?

den Höchsten in der Christenheil: gemeint ist der Kaiser, dem die reichsunmittelbaren Kantone direkt Untertan sind.

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STAUFFACHER. Der wackern Männer kenn ich viele dort 105 Und angesehen große Herrenleute,

Die mir geheim sind und gar wohl vertraut. (Er steht auf) Frau, welchen Sturm gefährlicher Gedanken Weckst du mir in der stillen Brust! Mein Innerstes

110 Kehrst du ans Licht des Tages mir entgegen, Und was ich mir zu denken still verbot, Du sprichsts mit leichter Zunge kecklich aus. - Hast du auch wohl bedacht, was du mir rätst? Die wilde Zwietracht und den Klang der Waffen

115 Rufst du in dieses friedgewohnte Tal -Wir wagten es, ein schwaches Volk der Hirten, In Kampf zu gehen mit dem Herrn der Welt? Der gute Schein nur ists, worauf sie warten, Um loszulassen auf dies arme Land

120 Die wilden Horden ihrer Kriegesmacht, Darin zu schalten mit des Siegers Rechten, Und unterm Schein gerechter Züchtigung Die alten Freiheitsbriefe zu vertilgen.

GERTRUD. Ihr seid auch Männer, wisset eure Axt 125 Zu fuhren, und dem Mutigen hilft Gott!

STAUFFACHER. O Weib! Ein furchtbar wütend Schrecknis ist Der Krieg, die Herde schlägt er und den Hirten.

GERTRUD. Ertragen muß man, was der Himmel sendet, Unbilliges erträgt kein edles Herz.

130 STAUFFACHER. Dies Haus erfreut dich, das wir neu erbauten. Der Krieg, der ungeheure, brennt es nieder.

GERTRUD. Wüßt ich mein Herz an zeitlich Gut gefesselt, Den Brand warf ich hinein mit eigner Hand.

STAUFFACHER. DU glaubst an Menschlichkeit! Es schont der Krieg 135 Auch nicht das zarte Kindlein in der Wiege.

GERTRUD. Die Unschuld hat im Himmel einen Freund! - Sieh vorwärts, Werner, und nicht hinter dich!

STAUFFACHER. Wir Männer können tapfer fechtend sterben, Welch Schicksal aber wird das eure sein?

140 GERTRUD. Die letzte Wahl steht auch dem Schwächsten offen, Ein Sprung von dieser Brücke macht mich frei.

STAUFFACHER (stürzt in ihre Arme). Wer solch ein Herz an seinen Busen drückt, Der kann für Herd und Hof mit Freuden fechten,

145 Und keines Königs Heermacht fürchtet er -Nach Uri fahr ich stehnden Fußes gleich, Dort lebt ein Gastfreund mir, Herr Walter Fürst,

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Der über diese Zeiten denkt wie ich. Auch find ich dort den edeln Bannerherrn

150 Von Attinghaus - obgleich von hohem Stamm Liebt er das Volk und ehrt die alten Sitten. Mit ihnen beiden pfleg ich Rats, wie man Der Landesfeinde mutig sich erwehrt -Leb wohl - und weil ich fern bin, führe du

155 Mit klugem Sinn das Regiment des Hauses -[...]

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AUFGABE III (Erschließung eines poetischen Textes)

a) Erschließen und interpretieren Sie den folgenden Romananfang! Berücksichtigen Sie dabei besonders, wie das Verhalten des Protagonisten angesichts der Gefahrensituation gestaltet wird, in der er sich befindet!

b) Untersuchen Sie ausgehend von Ihren Ergebnissen vergleichend, wie Figuren in anderen Werken mit Gefahrensituationen umgehen!

Vorbemerkung

Die Nobelpreisträgerin Herta Müller beschreibt in ihrem Roman „Atemschaukel" das Schicksal des jungen homosexuellen Rumäniendeutschen Leopold Auberg. Er wird 1945 nach dem Vorrücken der Roten Armee - wie alle in Rumänien lebenden Deutschen zwischen 17 und 45 Jahren - zur Zwangsarbeit in ein Arbeitslager in die Sowjetunion deportiert.

Herta Müller (geb. 1953)

Atemschaukel (2009)

Vom Kofferpacken

Alles, was ich habe, trage ich bei mir. Oder: Alles Meinige trage ich mit mir. Getragen habe ich alles, was ich hatte. Das Meinige war es nicht. Es war

5 entweder zweckentfremdet oder von jemand anderem. Der Schweinslederkoffer war ein Grammophonkistchen. Der Staubmantel war vom Vater. Der städtische Mantel mit dem Samtbündchen am Hals vom Großvater. Die Pumphose von meinem Onkel Edwin. Die ledernen Wickelgamaschen vom Nachbarn, dem Herrn Carp. Die grünen Wollhandschuhe von meiner Fini-Tante. Nur der

10 weinrote Seidenschal und das Necessaire waren das Meinige, Geschenke von den letzten Weihnachten. Es war noch Krieg im Januar 1945. Im Schrecken, dass ich mitten im Winter wer weiß wohin zu den Russen muss, wollte mir jeder etwas geben, das vielleicht etwas nützt, wenn es schon nichts hilft. Weil nichts aufder Welt etwas

15 half. Weil ich unabänderlich aufder Liste der Russen stand, hat mir jeder etwas gegeben und sich sein Teil dabei gedacht. Und ich habe es genommen und mir

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gedacht mit meinen siebzehn Jahren, dass dieses Wegfahren zur rechten Zeit kommt. Es müsste nicht die Liste der Russen sein, aber wenn es nicht zu schlimm kommt, ist es für mich sogar gut. Ich wollte weg aus dem Fingerhut der

20 kleinen Stadt, wo alle Steine Augen hatten. Statt Angst hatte ich diese verheimlichte Ungeduld. Und ein schlechtes Gewissen, weil die Liste, an der meine Angehörigen verzweifelten, für mich ein annehmbarer Zustand war. Sie fürchteten, dass mir etwas zustößt in der Fremde. Ich wollte an einen Ort, der mich nicht kennt.

25 Mir war bereits etwas zugestoßen. Etwas Verbotenes. Es war absonderlich, dreckig, schamlos und schön. Es passierte im Erlenpark ganz hinten jenseits der Kurzgrashügel. Auf dem Heimweg bin ich in die Parkmitte, in den runden Pavillon gegangen, wo an Feiertagen die Orchester spielten. Ich blieb eine Weile darin sitzen. Das Licht stach durchs feingeschnitzte Holz. Ich sah die Angst der

30 leeren Kreise, Quadrate und Trapeze, verbunden durch weiße Ranken mit Krallen. Es war das Muster meiner Verirrung und das Muster des Entsetzens im Gesicht meiner Mutter. In diesem Pavillon habe ich mir geschworen: Ich komme nie mehr in diesen Park. Je mehr ich mich davon abhielt, desto schneller ging ich wieder hin - nach zwei

35 Tagen. Zum Rendezvous, so hieß das im Park. Ich ging zum zweiten Rendezvous mit demselben ersten Mann. Er hieß DIE SCHWALBE. Der zweite war ein neuer, er hieß DIE TANNE. Der dritte hieß DAS OHR. Danach kam DER FADEN. Dann DER PIROL und DIE MÜTZE. Später DER HASE, DIE KATZE, DIE MÖWE. Dann DIE PERLE. Nur wir

40 wussten, welcher Name zu wem gehört. Es war Wildwechsel im Park, ich ließ mich weiterreichen. Und Sommer war es und weiße Haut an den Birken, im Jasmin- und Holundergestrüpp wuchs die grüne Wand aus undurchdringlichem Laub. Die Liebe hat ihre Jahreszeiten. Der Herbst machte dem Park ein Ende. Das

45 Holz wurde nackt. Die Rendezvous zogen mit uns ins Neptunbad. Neben dem Eisentor hing sein ovales Emblem mit dem Schwan. Jede Woche traf ich mich mit dem, der doppelt so alt war wie ich. Er war Rumäne. Er war verheiratet. Ich sage nicht, wie er hieß, und nicht, wie ich hieß. Wir kamen zeitversetzt, die Kassenfrau in der Bleiverglasung ihrer Loge, der spiegelnde Steinboden, die

50 runde Mittelsäule, die Wandkacheln mit dem Seerosenmuster, die geschnitzten Holztreppen durften nicht auf den Gedanken kommen, dass wir verabredet sind. Wir gingen zum Bassin mit allen anderen schwimmen. Erst bei den Schwitzkästen trafen wir uns. Damals, kurz vor dem Lager und genauso nach meiner Heimkehr bis 1968, als

55 ich das Land verließ, hätte es für jedes Rendezvous Gefängnis gegeben. Mindestens fünf Jahre, wenn man mich erwischt hätte. Manche hat man erwischt. Sie kamen direkt aus dem Park oder Stadtbad nach brutalen Verhören ins Gefängnis. Von dort ins Straflager an den Kanal. Heute weiß ich, vom Kanal kehrte man nicht zurück. Wer trotzdem wiederkam, war ein wandelnder

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60 Leichnam. Vergreist und ruiniert, für keine Liebe auf der Welt mehr zu gebrauchen. Und in der Lagerzeit - im Lager erwischt, war ich tot gewesen. Ich streifte nach den fünf Lagerjahren Tag für Tag durch den Tumult der Straßen und übte im Kopf die besten Sätze für den Fall meiner Verhaftung: AUF

65 FRISCHER TAT ERTAPPT - gegen diesen Schuldspruch habe ich mir tausend Ausreden und Alibis zurechtgelegt. Ich trage stilles Gepäck. Ich habe mich so tief und so lang ins Schweigen gepackt, ich kann mich in Worten nie auspacken. Ich packe mich nur anders ein, wenn ich rede. Im letzten Rendezvous-Sommer bin ich, um den Heimweg aus dem Erlenpark

70 zu verlängern, auf dem Großen Ring zufällig in die Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit gegangen. Dieser Zufall spielte Schicksal. Ich habe die kommende Zeit gesehen. Neben dem Seitenaltar auf einer Säule stand der Heilige im grauen Mantel und trug als Mantelkragen ein Schaf im Nacken. Dieses Schaf im Nacken ist das Schweigen. Es gibt Dinge, über die man nicht spricht. Aber ich

75 weiß, wovon ich rede, wenn ich sage, das Schweigen im Nacken ist etwas anderes als das Schweigen im Mund. Vor, während und nach meiner Lagerzeit, fünfundzwanzig Jahre lang habe ich in Furcht gelebt, vor dem Staat und vor der Familie. Vor dem doppelten Absturz, dass der Staat mich als Verbrecher einsperrt und die Familie mich als Schande ausschließt. Im Gewühl der Straßen

80 habe ich in die Spiegel der Vitrinen, Straßenbahn- und Häuserfenster, Springbrunnen und Pfützen geschaut, ungläubig, ob ich nicht doch durchsichtig bin. Mein Vater war Zeichenlehrer. Und ich, mit dem Neptunbad im Kopf, zuckte wie von einem Fußtritt zusammen, wenn er das Wort AQUARELL benutzte.

85 Das Wort wusste, wie weit ich schon gegangen war. Meine Mutter sagte bei Tisch: Stich die Kartoffel nicht mit der Gabel an, sie fällt auseinander, nimm den Löffel, die Gabel nimmt man fürs Fleisch. Mir pochten die Schläfen. Wieso redet sie vom Fleisch, wenn es um Kartoffel und Gabel geht. Von welchem Fleisch spricht sie. Mir hatten die Rendezvous das Fleisch umgedreht. Ich war

90 mein eigener Dieb, die Wörter fielen unverhofft und erwischten mich. Meine Mutter und besonders mein Vater glaubten, wie alle Deutschen in der Kleinstadt, an die Schönheit blonder Zöpfe, weißer Kniestrümpfe. An das schwarze Viereck von Hitlers Schnurrbart und an uns Siebenbürger Sachsen als arische Rasse. Mein Geheimnis war, rein körperlich betrachtet, schon höchste

95 Abscheulichkeit. Mit einem Rumänen kam noch Rassenschande dazu. Ich wollte weg aus der Familie und sei es ins Lager. Nur tat es mir um meine Mutter leid, die nicht wusste, wie wenig sie mich kennt. Die, wenn ich weg bin, öfter an mich denken wird als ich an sie. Neben dem Heiligen mit dem Schaf des Schweigens im Nacken hatte ich in der

100 Kirche die weiße Wandnische mit der Inschrift gesehen: DER HIMMEL SETZT DIE ZEIT IN GANG. Als ich meinen Koffer packte, dachte ich: Die weiße Nische hat gewirkt. Das ist jetzt die in Gang gesetzte Zeit. Ich war auch froh,

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dass ich nicht in den Krieg ziehen muss, in den Schnee an die Front. Ich ging dümmlichtapfer und gefügig ans Kofferpacken. Ich wehrte mich gegen nichts.

105 Ledergamaschen mit Schnürchen, Pumphosen, Mantel mit Samtbündchen -nichts passte zu mir. Es ging um die in Gang gesetzte Zeit, nicht um Kleider. Ob mit diesen Sachen oder anderen, erwachsen wird man sowieso. Die Welt ist zwar kein Kostümball, dachte ich, aber lächerlich ist keiner, der im tiefsten Winter zu den Russen fahren muss.

110 Eine Patrouille aus zwei Polizisten ging mit der Liste von Haus zu Haus, ein Rumäne und ein Russe. Ich weiß nicht mehr, ob die Patrouille bei uns im Haus das Wort LAGER ausgesprochen hat. Und wenn nicht, welches andere Wort außer RUSSLAND. Und wenn ja, dann hat mich das Wort Lager nicht erschreckt. Trotz Kriegszeit und dem Schweigen meiner Rendezvous im Nacken

115 steckte ich mit meinen siebzehn Jahren immer noch in einer hellen dummen Kindheit. Mich trafen die Wörter Aquarell und Fleisch. Für das Wort LAGER war mein Hirn taub. [...]

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AUFGABE IV (Erörterung)

„Der Mensch wird frei geboren, und überall liegt er in Ketten." (Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 1762)

Erörtern Sie ausgehend von einer sorgfältigen Begriffsklärung, wie Unfreiheit in zwei Werken unterschiedlicher literarischer Epochen bzw. Strömungen dargestellt wird! Gehen Sie dabei auf den jeweiligen literaturgeschichtlichen Hintergrund ein!

AUFGABE V (Erörterung)

„In diesen Zeiten der Freiheit und Gleichheit aber, in welchen sich ein so großes Publikum gebildet hat, das nichts von sich ausgeschlossen wissen will, sondern sich zu allem gut oder alles für sich gut genug hält, hat das Schönste und das Beste dem Schicksal nicht entgehen können, daß die Gemeinheit1, die sich nicht zu dem, was sie über sich schweben sieht, zu erheben vermag, es dafür so lange behandelt, bis es gemein genug ist, um zur Aneignung fähig zu sein; und das Plattmachen hat sich zu einer Art von anerkannt verdienstlicher Arbeit emporgeschwungen." (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Über das Wesen der philosophischen Kritik, 1802)

Erörtern Sie ausgehend von einer sorgfältigen Klärung des Zitats Hegels, inwiefern das von ihm diagnostizierte Problem auch auf den heutigen Kultur­betrieb zutrifft, und zeigen Sie Lösungsmöglichkeiten auf!

1 die Gemeinheit: hier im Sinne von „das breite, ungebildete Publikum"

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AUFGABE VI (Erörterung anhand eines Textes)

a) Erarbeiten Sie die Argumentationsstruktur des folgenden Textes und klären Sie die Position der Autorin! Berücksichtigen Sie dabei auch auffällige sprachlich-stilistische Merkmale!

b) Stellen Sie der These Juli Zehs andere Auffassungen über das Verhältnis von Literatur und Politik gegenüber! Verwenden Sie dafür konkrete Beispiele aus der Literaturgeschichte!

Vorbemerkung

Der vorliegende Essay ist die Überarbeitung einer Dankesrede, die die Autorin aus Anlass der Verleihung des Ernst-Toller-Preises hielt.

Juli Zeh (* 1974)

Auf den Barrikaden oder hinterm Berg? (2006)

Längst ist es ein Standardvorwurf, fast schon ein Stereotyp geworden, dass wir, die schreibende Zunft und vor allem die Jüngeren unter uns, im schlimmsten Sinne unpolitisch seien. Wir halten keine Parteibücher. Wir benutzen unsere Texte nicht als Träger politischer Inhalte. Ob wir wählen gehen und was, wissen

5 bestenfalls unsere engsten Freunde. In Radiointerviews rufen wir nicht aus: Nieder mit Schröder! Tötet George Bush! Stoppt die Steuerreform! - Falls wir eine Meinung haben, teilen wir sie höchstens in aller Bescheidenheit mit, am liebsten am Küchentisch und unter kostenfreier Mitlieferung sämtlicher Gegenpositionen. Unseren Hauptwohnsitz würden wir niemals mit „Auf den

10 Barrikaden" angeben. Eher im Gegenteil. Ich kenne viele Autoren, die von ihren eigenen Texten oder sogar von der Literatur an sich behaupten, sie sei verpflichtet zu politischer Abstinenz. Kunst und Künstler dürften sich nicht in den Dienst überindividueller Zwecke stellen, „vor keinen Karren spannen lassen", wie die gängige

15 Formulierung lautet. Über diese abstrakte Frage ist in der Vergangenheit zu Genüge gestritten worden. Neu scheint mir der Umstand zu sein, dass die zeitgenössische Abkehr der Literatur vom Politischen keinesfalls einem ästhetischen Programm entspringt. Sie hat nichts mit l'art pour Tart zu tun. Sie folgt auch nicht aus einem politischen Konzept. Sie ist - einfach da. Eine

20 Selbstverständlichkeit, zu der es keine Alternative zu geben scheint. Natürlich ist dies kein flächendeckendes Phänomen. Kulturelle Phänomene sind niemals flächendeckend. Es geht um Trends und Häufigkeiten. Während in der vielbeleuchteten Generation der Achtundsechziger politisches Schreiben nicht nur zum guten Ton gehörte, sondern fast schon obligatorisch war; während im

25 Osten unseres Landes auch in den nachfolgenden Jahrzehnten eine Auseinandersetzung mit dem System aus nachvollziehbaren Gründen einen festen Stellenwert im literarischen Tagesgeschäft innehatte, scheint für die

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Jungen und Jüngsten unter uns, gleich ob Fräulein oder Wunder, der Politik etwas Anrüchiges, ja, Altbackenes anzuhaften.

30 Nun will ich keineswegs ins Klagelied von der Politikverdrossenlieit einstimmen. Es gibt sie nämlich nicht. Das Problem beruht allein auf einem terminologischen Missverständnis. Gemeint ist nicht die Politik-, sondern die Parteienverdrossenheit. Die Angehörigen meiner Generation sind Einzelgänger. Sie mögen sich nicht

35 mit einer Gruppe identifizieren. Wenn einer schon Schwierigkeiten hat, eine Familie zu gründen - wie soll er dann einer Partei beitreten? Wer sich heute als Teil einer Bewegung versteht, gerät schnell in den Verdacht eines Mangels an individueller Persönlichkeit und eines reichlich uncoolen, wenn nicht gar gefährlichen Herdentriebs. Man mag in Deutschland keine Uniformen mehr,

40 weder stoffliche noch geistige. Dass diese Abneigung in einem Land, dessen Bevölkerung traditionell zu Übertreibungen neigt, schnell zum fanatischen Antikollektivismus mutiert, vermag nicht einmal sonderlich zu überraschen. Eine Folge daraus ist leider die Unfähigkeit, legitime Interessen gemeinsam durchzusetzen und auf diese Weise am demokratischen Leben teilzunehmen. In

45 der Demokratie zählt die Mehrheit, und die Mehrheit ist nun mal in gewissem Sinn eine Gruppe. Ein Schriftsteller muss aber, um politisch zu sein, nicht nur keiner Partei angehören; er muss nicht einmal politische Literatur schreiben. Er kann Schriftsteller und politischer Denker in Personalunion sein, ohne dass das eine

50 Mittel zum Zweck des anderen würde. Was wäre von ihm überhaupt zu erwarten? Er müsste zu bestimmten politischen Themen eine Meinung entwickeln und diese von Zeit zu Zeit öffentlich kundtun. Mehr als jeder andere hat er die Chance, politisch zu agieren und trotzdem seine Herdenphobie zu pflegen. Lässt man nun die lebende Schriftstellergeneration vor dem geistigen

55 Auge vorbeiziehen, wird man sich in den meisten Fällen ergebnislos fragen: War X für oder gegen den Irakkrieg? Was meint Y zum Reformstau? Wie steht es nach Z's Meinung um die Fortentwicklung der Demokratie? Befragt man X, Y und Z in der Kneipe bei Bier und Wein, werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit zu allen diesen Fragen etwas sagen können. Fragt man sie

60 weiter: Warum schreibt ihr das nicht auf, wie es eurer Profession entspricht?, werden sie Unklares murmeln. Das bringt doch nichts. Das ist nicht mein Job. Ich trenne Politik und Literatur. Ich will mich vor keinen Karren spannen lassen ... da capo, da capo. Man hat, unendlich paradox, die Politik zur Privatsache erklärt.

65 Dafür gibt es einen Grund. Die öffentliche Meinung hat die Schriftsteller aus dem Dienstverhältnis entlassen, und Letztere haben nicht einmal versucht, Kündigungsschutzklage zu erheben. Wenn heutzutage ein Bedarf nach Meinungen entsteht, fragt man einen Experten. In schlimmen Bedarfsfallen gründet man eine Kommission. Es gibt Balkanexperten, Irakexperten, Finanz-,

70 Ethik- und Jugendexperten, Experten für Demokratie oder Menschenrechtsfragen, und es gibt fast ebenso viele Kommissionen. Die

(Fortsetzung nächste Seite)

Page 16: DEUTSCH als Leistunsskursfach Arbeitszeit: 300 Minuten · 2019. 2. 21. · - Sieh vorwärts, Werner, und nicht hinter dich! STAUFFACHER. Wir Männer können tapfer fechtend sterben,

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Schriftsteller haben sofort eingesehen, dass sie weder Experten noch eine Kommission sind. Sie sind Spezialisten für alles und nichts, für sich selbst, für Gott und die Welt.

75 Die moderne Menschheit unterliegt einem fatalen Irrtum, wenn sie vergisst, dass Politik etwas ist, das, im Guten wie im Bösen, von Menschen für Menschen gemacht wird, und nicht etwa eine Wissenschaft, die nur in den Laboratorien der globalen Wirtschaft und des internationalen Verbrechens erforscht und verstan­den wird. Um politisch zu sein, braucht man keine Partei, und vor allem braucht

80 man kein staatlich anerkanntes Expertentum. Vielmehr braucht man zweierlei: gesunden Menschenverstand und ein Herz im Leib. Wem diese Betrachtungs­weise naiv erscheint, der hat sich, vermutlich unbemerkt, schon recht weit vom ursprünglichen Ideengehalt unserer Staatsform entfernt. In einer Demokratie geht die Staatsgewalt vom Volke aus, und dies darf nicht nur ein leeres Lippen-

85 bekenntnis sein. Das Volk ist kein Gremium. Wenn tatsächlich ein großer Teil der Bevölkerung dem Gefühl erläge, die Politik sei zu kompliziert, zu abgeho­ben, vielleicht auch zu langweilig und vor allem zu undurchlässig, um den Ein­zelnen noch etwas anzugehen, befände sich das demokratische System in einer Krise.

90 Es ist durchaus nicht so, dass uns Schriftstellern Herz und Verstand abhanden gekommen wären. Wir trauen uns nur nicht mehr, sie öffentlich zu gebrauchen. Wir fürchten die Frage: Woher wisst ihr das?

Nach meiner politischen Einstellung befragt, würde ich antworten, dass ich meinen Kinderglauben an die Gerechtigkeit nicht verloren habe. Ich würde

95 anführen, dass ich meine juristischen Kenntnisse darauf verwende, ehrenamtlich gegen demokratischen Kolonialismus auf dem Balkan und gegen die Telekom zu kämpfen. Ich gehöre keiner Partei an, und niemand, am allerwenigsten ich selbst, wäre in der Lage zu sagen, ob ich »links« bin oder »rechts«. Mehr als rechts und links, rot oder schwarz stützt mich der feste Glaube, dass

100 der Literatur per se eine soziale und im weitesten Sinne politische Rolle zukommt. Es ist ein natürliches Bedürfnis der Menschen zu erfahren, was andere Menschen - repräsentiert durch den Schriftsteller und seine Figuren -denken und fühlen. Allein deshalb darf die Literatur auf dem Gebiet der Politik nicht durch den Journalismus ersetzt oder verdrängt werden, und sie soll sich

105 nicht hinter ihrem fehlenden Experten- und Spezialistentum verstecken. Sie steht vielmehr in der Verantwortung, die Lücken zu schließen, die der Journalismus aufreißt, während er bemüht ist, ein angeblich »objektives« - und deshalb immer verfälschendes - Bild von der Welt zu zeichnen. Damit hat die Literatur eine Aufgabe, an der sie wachsen kami, und hier liegt der Weg, den ich

110 einzuschlagen versuche. Ich möchte den Lesern keine Meinungen, sondern Ideen vermitteln und den Zugang zu einem nichtjournalistischen und trotzdem politischen Blick auf die Welt eröffnen. Auch wenn in unseren ruhigen Zeiten die Nachfrage nach Helden - Gott sei Dank! - gering ist, hat jede Generation ihr Anliegen und jedes Jahrzehnt seine Ideen, Probleme, Schrecknisse und

115 Hoffnungen. Es gibt keinen Grund, damit hinter dem Berg zu halten.