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1 DEUTSCHER BUNDESTAG Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales 01. November 2018 19. Wahlperiode Materialien zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 05. November 2018, um 15:00 Uhr zum a) Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzli- chen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz) - BT-Drs. 19/4668 b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Schielke-Ziesing, Marc Bernhard, Stephan Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Anrechnungsfreistellung der Mütterrente beziehungsweise der Rente für Kindererzie- hungszeiten bei der Grundsicherung im Alter BT-Drs. 19/4843 c) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Do- ris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Vollständige Gleichstellung und gerechte Finanzierung der Kindererziehungszeiten in der Rente umsetzen – Mütterrente verbessern - BT-Drs. 19/29 d) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Do- ris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Die Erwerbsminderungsrente stärken BT-Drs. 19/31 Zusammenstellung der schriftlichen Stellungnahmen A. Mitteilung .................................................................................................................................................. 3 B. Liste der eingeladenen Sachverständigen ................................................................................................ 5 C. Stellungnahmen eingeladener Verbände und Einzelsachverständiger Prof. Axel Börsch-Supan, München ......................................................................................................... 6 Deutscher Gewerkschaftsbund ............................................................................................................... 19 Prof. Dr. Gerhard Bäcker, Duisburg ........................................................................................................ 26 Prof. Dr. Felix Welti, Kassel.................................................................................................................... 32 Sozialverband Deutschland e.V.............................................................................................................. 39 Prof. Dr. Martin Werding, Bochum ........................................................................................................ 43 Prof. Dr. Eckart Bomsdorf, Köln ............................................................................................................. 50 Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ..................................................................... 56 Deutsche Rentenversicherung Bund ...................................................................................................... 62

DEUTSCHER BUNDESTAG Ausschussdrucksache 19(11)180neu

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DEUTSCHER BUNDESTAG Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales 01. November 2018 19. Wahlperiode

Materialien

zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 05. November 2018, um 15:00 Uhr zum

a) Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzli-chen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz) - BT-Drs. 19/4668

b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Schielke-Ziesing, Marc Bernhard, Stephan Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Anrechnungsfreistellung der Mütterrente beziehungsweise der Rente für Kindererzie-hungszeiten bei der Grundsicherung im Alter BT-Drs. 19/4843

c) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Do-ris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Vollständige Gleichstellung und gerechte Finanzierung der Kindererziehungszeiten in der Rente umsetzen – Mütterrente verbessern - BT-Drs. 19/29

d) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Do-ris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Die Erwerbsminderungsrente stärken BT-Drs. 19/31

Zusammenstellung der schriftlichen Stellungnahmen

A. Mitteilung .................................................................................................................................................. 3

B. Liste der eingeladenen Sachverständigen ................................................................................................ 5

C. Stellungnahmen eingeladener Verbände und Einzelsachverständiger

Prof. Axel Börsch-Supan, München ......................................................................................................... 6

Deutscher Gewerkschaftsbund ............................................................................................................... 19

Prof. Dr. Gerhard Bäcker, Duisburg ........................................................................................................ 26

Prof. Dr. Felix Welti, Kassel.................................................................................................................... 32

Sozialverband Deutschland e.V.............................................................................................................. 39

Prof. Dr. Martin Werding, Bochum ........................................................................................................ 43

Prof. Dr. Eckart Bomsdorf, Köln ............................................................................................................. 50

Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ..................................................................... 56

Deutsche Rentenversicherung Bund ...................................................................................................... 62

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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D. Stellungnahmen nicht eingeladener Verbände

Bundesinnungsverband des Gebäudereiniger-Handwerks ................................................................... 70

Sozialverband VdK Deutschland e.V. .................................................................................................... 72

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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Mitteilung Berlin, den 25. Oktober 2018

Die 25. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und So-ziales findet statt am Montag, dem 5. November 2018, 15:00 Uhr bis ca. 17:00 Uhr 10117 Berlin, Adele-Schreiber-Krieger-Str. 1 MELH Sitzungssaal: MELH 3.101

Sekretariat Telefon: +49 30 - 227 3 24 87 Fax: +49 30 - 227 3 60 30

Sitzungssaal Telefon: +49 30 - 227 3 14 87 Fax: +49 30 - 227 3 04 87

Achtung! Abweichender Sitzungsort! Abweichende Sitzungszeit!

Tagesordnung - Öffentliche Anhörung

a)

Einziger Punkt der Tagesordnung

Öffentliche Anhörung von Sachverständigen

Gesetzentwurf der Bundesregierung

Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserun-gen und Stabilisierung in der gesetzlichen Renten-versicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungs-gesetz)

BT-Drucksache 19/4668

verbundene Dokumente: BT-Drucksache: 19/29 Antrag BT-Drucksache: 19/31 Antrag BT-Drucksache: 19/4843 Antrag

Federführend:

Ausschuss für Arbeit und Soziales

Mitberatend: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Haushaltsausschuss (mb und § 96 GO)

Gutachtlich: Parlamentarischer Beirat für nachhaltige Entwick-lung

Voten angefordert für den: 07.11.2018

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Schielke-Ziesing, Marc Bernhard, Stephan Brandner, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der AfD

Anrechnungsfreistellung der Mütterrente bezie-hungsweise der Rente für Kindererziehungszeiten bei der Grundsicherung im Alter

BT-Drucksache 19/4843

verbundene Dokumente: BT-Drucksache: 19/4668 Gesetzentwurf

Federführend: Ausschuss für Arbeit und Soziales

Mitberatend: Haushaltsausschuss

Voten angefordert für den: 07.11.2018

c) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Vollständige Gleichstellung und gerechte Finanzie-rung der Kindererziehungszeiten in der Rente um-setzen – Mütterrente verbessern

BT-Drucksache 19/29

verbundene Dokumente: BT-Drucksache: 19/4668 Gesetzentwurf

Federführend: Ausschuss für Arbeit und Soziales

Mitberatend: Haushaltsausschuss

Voten angefordert für den: 07.11.2018

d) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Die Erwerbsminderungsrente stärken

BT-Drucksache 19/31

verbundene Dokumente: BT-Drucksache: 19/4668 Gesetzentwurf

Federführend: Ausschuss für Arbeit und Soziales

Mitberatend: Haushaltsausschuss

Voten angefordert für den: 07.11.2018

Dr. Matthias Bartke, MdB Vorsitzender

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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Liste der Sachverständigen zur öffentlichen Anhörung am Montag, 05. November 2018, 15:00 – 17:00 Uhr

Deutscher Gewerkschaftsbund

Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände

Deutsche Rentenversicherung Bund

Sozialverband Deutschland e.V.

Prof. Dr. Eckart Bomsdorf, Köln

Burkhard Möller, Berlin

Prof. Dr. Martin Werding, Bochum

Prof. Dr. Gerhard Bäcker, Duisburg

Prof. Axel Börsch-Supan, München

Prof. Dr. Felix Welti, Kassel

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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DEUTSCHER BUNDESTAG Ausschussdrucksache 19(11)160 Ausschuss für Arbeit und Soziales 25. Oktober 2018 19. Wahlperiode

Schriftliche Stellungnahme

zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 05. November 2018, um 15:00 Uhr zum

a) Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzli-chen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz) - BT-Drs. 19/4668

b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Schielke-Ziesing, Marc Bernhard, Stephan Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Anrechnungsfreistellung der Mütterrente beziehungsweise der Rente für Kindererzie-hungszeiten bei der Grundsicherung im Alter BT-Drs. 19/4843

c) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Vollständige Gleichstellung und gerechte Finanzierung der Kindererziehungszeiten in der Rente umsetzen – Mütterrente verbessern - BT-Drs. 19/29

d) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Die Erwerbsminderungsrente stärken BT-Drs. 19/31

Prof. Axel Börsch-Supan, München

Zusammenfassung

Im Koalitionsvertrag vom 14.03.2018 wird angekün-digt, die Leistungen und Beiträge der Gesetzlichen Rentenversicherung durch eine so genannte „dop-pelte Haltelinie“ festzuschreiben. Konkret soll das Netto-Standardrentenniveau vor Steuern nicht unter 48% absinken und gleichzeitig der Beitragssatz nicht über 20% ansteigen. Diese Haltelinien sollen zu-nächst bis 2025 gelten. Da in dieser Zeit die Zahl der Rentenempfänger stark steigen wird, wird eine Fi-nanzierungslücke entstehen. Hierzu sagt der Koaliti-onsvertrag, dass deren Finanzierung “bei Bedarf durch Steuermittel sicher[zu]stellen” ist.

Dieses Papier quantifiziert den entsprechenden Fi-nanzierungsbedarf und rechnet ihn in Mehrwertsteu-erpunkte um. Der Finanzierungsbedarf ist bis 2025 relativ gering, erhöht sich dann jedoch dramatisch. Allein in den folgenden fünf Jahren bis 2030 müsste die Mehrwertsteuer über den normalen Bundeszu-schuss hinaus um ca. 3 Prozentpunkte angehoben

werden, langfristig sogar um zwischen 6 und 7 Pro-zentpunkte.

1. Einleitung

Bereits im Jahr 2004 wurde im Rahmen des RV-Nachhaltigkeitsgesetzes eine doppelte Haltelinie ein-geführt. Sie besagte, dass die Bundesregierung Maß-nahmen ergreifen müsse, wenn das Netto-Standard-rentenniveau vor Steuern (der besseren Lesbarkeit halber im Folgenden kurz Rentenniveau genannt) unter 43% oder der Beitragssatz über 22% steigt. Das Gesetz ließ offen, um welche Maßnahmen es sich handeln soll. Vorausschätzungen der Deutschen Rentenversicherung Bund bis 2030 (Rentenversiche-rungsbericht 2015), ergänzt um Berechnungen des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpoli-tik (Börsch-Supan et al. 2016) für die Zeit nach 2030, zeigen, dass diese Haltelinien bis zum Jahr 2030 ein-gehalten werden können (Abbildung 1, grüner Be-reich).

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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Abbildung 1: Rentenniveau, Beitragssatz und Haltelinien nach Gesetzeslage 2017

Quelle: Vorausschätzungen der Deutschen Rentenversicherung Bund bis 2030 (Rentenversicherungsbericht 2015), ergänzt

um Berechnungen des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik (Börsch-Supan et al. 2016).

Nach dem Jahr 2031 wird jedoch zunächst der Bei-tragssatz über die 22%-Linie steigen (gelber Bereich) und anschließend auch das Rentenniveau nach dem Jahr 2036 die Haltelinie von 43% reißen (roter Be-reich). Der allgemein bekannte Grund für diese Ent-wicklung ist der demographische Wandel, der Deutschland mehr Rentenempfänger und weniger Beitragszahler beschert.

Angemerkt sei, dass trotz dieser negativen Perspek-tive der Zahlbetrag der gesetzlichen Renten auch kaufkraftbereinigt weiter steigen wird. Dies liegt da-ran, dass die Löhne der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten tendenziell stärker ansteigen werden (im langfristigen Durchschnitt ca. 1,5% pro Jahr kaufkraftbereinigt) als die Belastung durch den de-mographischen Wandel (gemessen an der Wachs-tumsrate des Systembelastungsquotienten, der An-zahl der Rentenempfänger pro Beitragszahler, die

nur etwa 0,5% pro Jahr beträgt. Damit kann die Kaufkraft der Renten auch in Zukunft um ca. 1 Pro-zent pro Jahr ansteigen. Die Renten der nächsten Ge-neration werden also eine um etwa 25-30% höhere Kaufkraft haben als die heutigen Renten. Diese Ein-sicht ist wichtig, da sie die Demographie-bedingt ne-gative Perspektive deutlich relativiert.

Im Koalitionsvertrag vom 14.03.2018 wird nun ange-kündigt, die bislang bestehende so genannte dop-pelte Haltelinie beim Rentenniveau von derzeit 43% auf 48% anzuheben und beim Beitragssatz von 22% auf 20% abzusenken. Abbildung 2 zeigt den Effekt. Dies verschiebt die Haltelinie des Rentenniveaus nach oben, die Haltelinie des Beitragssatzes nach un-ten, so dass sich die in Abbildung 1 gezeigten grü-nen und gelben Bereiche massiv verkürzen.

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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Abbildung 2: Rentenniveau und Beitragssatz nach Gesetzeslage 2017; vorgeschlagene neue Haltelinien

Quelle: wie Abbildung 1

Bereits in den Jahren 2023/24 dürfte gemäß dieser Vorausschätzung sowohl der Beitragssatz über die neue Haltelinie steigen als auch das Rentenniveau unter die neue Haltelinie fallen. Da genau in dieser Zeit auch die Zahl der Rentenempfänger deutlich an-steigen wird, ist abzusehen, dass die Nachhaltig-keitsreserve von derzeit 32,4 Mrd. Euro (Ende 2016) rapide abgebaut sein wird und sich danach eine Fi-nanzierungslücke bei der gesetzlichen Rentenversi-cherung öffnen wird, die auch sehr langfristig (die obige Vorausschätzung aus dem Jahr 2016 reicht bis zum Jahr 2060) weiter ansteigen wird, wenn nicht andere potentiell unpopuläre Maßnahmen getroffen werden.

Dieses Papier quantifiziert den entsprechenden Fi-nanzierungsbedarf und rechnet ihn – ausgehend von der Klausel des Koalitionsvertrags, dass dieser “bei Bedarf durch Steuermittel sicher[zu]stellen” sei – als Mehrwertsteuererhöhung um. Abschnitt 2 erläutert unsere Methodik, Abschnitt 3 präsentiert die Ergeb-nisse. Wir aktualisieren zunächst die Abbildungen 1 und 2 unterliegenden Vorausschätzungen von Bei-tragssatz und Rentenniveau der gesetzlichen Renten-versicherung. Dann berechnen wir den Finanzie-rungsbedarf, der dadurch entsteht, dass Beitragssatz und Rentenniveau festgeschrieben werden, die de-mographische Belastung der Rentenversicherung je-doch ansteigt. Der Anschaulichkeit wegen rechnen wir diese in Mehrwertsteuerpunkte um. Alternativ berechnen wir die Erhöhung des Beitragssatzes, wenn nur eine einfache Haltelinie eines Rentenni-veaus von 48% realisiert wird. Schließlich berech-nen wir, wie stark das Renteneintrittsalter ansteigen müsste, um die durch die doppelte Haltelinie entste-hende Finanzierungslücke zu kompensieren. Ab-schnitt 4 fasst zusammen und zieht rentenpolitische

Schlussfolgerungen. Deren wichtigste ist, dass jede einzelne Gegenfinanzierung – z.B. ausschließlich durch die Mehrwertsteuer oder ausschließlich durch die Lebensarbeitszeit – zu dramatischen und u.E. un-tragbaren Erhöhungen der entsprechenden Parame-ter führen wird. Daher wird es einen ausgewogenen Mix rentenpolitischer Gestaltungsmöglichkeiten ge-ben müssen. Das Papier stellt zum Abschluss eine der vielen möglichen Varianten vor.

2. Methodik

Unsere Vorausschätzungen basieren auf dem Simu-lationsmodell MEA-PENSIM der Gesetzlichen Ren-tenversicherung. Bis 2030 verwenden wir die Zahlen des Rentenversicherungsberichts 2017.

MEA-PENSIM bildet das gesetzliche Rentensystem inklusive aller entscheidenden Determinanten ab und ist derart strukturiert, dass die angeregten Refor-men leicht implementiert werden können (Wilke, 2004; Holthausen et al., 2012; Rausch, 2016). Die Modellberechnungen beruhen auf einer detail-lierten Einnahmen- und Ausgabenberechnung der Gesetzlichen Rentenversicherung. Die Berechnung dieser Beträge sowie die Projektion des Beitragssat-zes und des Rentenniveaus bedürfen dabei Annah-men bezüglich der Entwicklung der Bevölkerung und des Arbeitsmarktes, wobei die Arbeitsmarktent-wicklung von der Bevölkerungsvorausberechnung abhängt.

Die Bevölkerungsvorausberechnung benötigt Annah-men bezüglich der zukünftigen Entwicklung der Le-benserwartung zum Zeitpunkt der Geburt, der zu-künftigen Netto-(Im)migration und der zukünftigen Fertilität der Frauen. Basisjahr der Bevölkerungsvo-rausberechnung ist das Jahr 2016. Alternative kann

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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die offizielle 13. Koordinierte Bevölkerungsvoraus-berechnung des Statistischen Bundesamtes verwen-det werden. Allerdings wird die offizielle Projektion nicht jährlich durchgeführt so, dass kürzlich gesche-hene unerwartete Entwicklungen in der Vorausbe-rechnung fehlen.

Der Arbeitsmarkt wird durch Multiplikation der Be-völkerung mit den deutschen Erwerbsquoten be-stimmt. MEA-PENSIM unterscheidet dabei zwischen Männern und Frauen, dem Alter sowie zwischen den neuen und alten Bundesländern. Letzteres ist notwendig, da die Gesetzliche Rentenversicherung Arbeit in den alten Bundesländern anders bewertet als Arbeit in den neuen Bundesländern. Diese unter-schiedliche Bewertung von Arbeit soll allerdings bis 2024 abgeschafft werden. Basisjahr unserer Arbeits-marktsimulationen ist wiederum 2016. Die Erwerbs-quoten dieses Jahres werden dem deutschen Mikro-zensus entnommen. Für die Zukunft können die Er-werbsquoten variiert werden, um unter anderem Ef-fekte einer sich Ändernden Erwerbsbeteiligung zu si-mulieren oder Änderungen hinsichtlich der Arbeits-marktbedingungen berücksichtigen zu könne. Die Anzahl der Arbeitslosen, der (pflichtversicherten) Beschäftigten, der Selbständigen sowie der Beamten wird anschließend mittels (variabler) altersspezifi-scher Raten anhand der Erwerbsbevölkerung be-stimmt.

Abschließend muss die Anzahl der Rentner berech-net werden. MEA-PENSIM berücksichtigt dabei ein Verrentungszeitraum vom Alter 51 bis zum Alter 70. Das heißt, dass die erste Person frühsten im Alter 51 eine gesetzliche Rente bezieht, während die letzte Person im Alter 70 ihre Rente beantragt. In dem Ver-rentungszeitraum hängt die Anzahl der Rentner ei-nes bestimmten Alters von dem vermuteten Renten-eintrittserhalten der Bevölkerung ab. MEA-PENSIM nimmt dabei zunächst an, dass die nicht pflichtver-sicherten Individuen (u.a. Selbständige, Beamte, Hausfrauen) ihre Rente grundsätzlich erst zum Ge-setzlichen Renteneintrittsalter beantragen, obgleich sie den Arbeitsmarkt eventuell früher oder später verlassen. Bezüglich der Verrentung der pflichtversi-cherten Individuen (Arbeitslose und pflichtversi-chert Beschäftigte) berücksichtigt MEA-Pensim ein komplexeres Verfahren, welches von der Erwerbsbe-teiligung dieser Arbeitsmarktgruppen abhängt. Grundsätzlich wird dabei davon ausgegangen, dass der Zeitpunkt des Arbeitsmarktaustrittes mit dem Zeitpunkt des ersten Bezugs einer gesetzlichen Rente übereinstimmt. Basierend auf dieser Annahme bein-haltet MEA-PENSIM zwei Methoden zur Berechnung und Anpassung des Renteneintrittsverhaltens der pflichtversicherten Individuen.

Die erste Methode berechnet den Anteil der Rentner an der Gesamtbevölkerung anhand des Rückgangs des Anteils der Pflichtversicherten an der Bevölke-rung seit dem Alter 50. Ab dem Gesetzlichen Ren-teneintrittsalter ist der Anteil der rentenbeziehenden Bevölkerung folglich gegeben durch (1 minus Rate

der pflichtversicherten Individuen an der Bevölke-rung), da per Definition alle nicht pflichtversicher-ten Individuen zu diesem Zeitpunkt ihre gesetzliche Rente beanspruchen. Die erste Methode hängt somit von den Annahmen bezüglich der zukünftigen Ent-wicklung der Erwerbsquoten ab. Die Anzahl der Rentner ergibt sich aus der Multiplikation der be-rechneten Raten mit der Bevölkerung des betrachte-ten Alters.

Die zweite Methode dreht das soeben vorgestellte Verfahren um. Das heißt, der Startpunkt der Simula-tion sind nun exogen gegebene Annahmen bezüglich der zukünftigen Entwicklung des Renteneintrittsver-haltens der Pflichtversicherten. Folglich ist die An-zahl der Rentner gegeben, während der Anteil der Arbeitslosen und der pflichtversichert Beschäftigten an der älteren Bevölkerung bestimmt werden muss, indem das Prozedere der ersten Methode invers an-gewendet wird. Die Aufteilung der berechneten Pflichtversicherten zwischen Arbeitslosen und pflichtversichert Beschäftigten erfolgt abschließend anhand der zukünftigen Arbeitslosenraten.

Im Anschluss an die Arbeitsmarktprojektion fährt MEA-PENSIM mit der Projektion der Löhnen und Gehälter fort. Ihre Vorausberechnung geschieht an-hand exogen vorgegebener Wachstumsraten.

Die hier vorgestellten Simulationen basieren alle auf derselben Bevölkerungsvorausberechnung, welche wir ausgehend vom letzten offiziellen Bevölkerungs-stand unter Verwendung der Annahmen der Vari-ante 1W2 der 13. koordinierten Bevölkerungsvoraus-berechnung mit Hilfe von MEA-PENSIM selbst er-stellen. Wir unterstellen daher bis 2060:

eine konstante Fertilitätsrate von 1,5,

eine jährliche Nettomigration von 200.000 Per-sonen und

einen Anstieg der Lebenserwartung bei Geburt auf 84,77 Jahre bei Männern und 88,8 Jahre bei Frauen.

Abbildung 3 zeigt den entsprechenden Altersquoti-ent (Anzahl der Menschen im Alter von 65 Jahren und älter geteilt durch die Anzahl der Menschen im Alter von 20 bis 64 Jahren). Er hat sich in der jüngs-ten Vergangenheit zwischen 2005 und 2016 kaum geändert, steigt dann aber bis 2025, dem Gültigkeits-ende der angestrebten doppelten Haltelinie deutlich an. Dieser Anstiegt beschleunigt sich nochmals in den 10 darauf folgenden Jahren bis 2035, um dann ein Plateau zu erreichen und bis zum Jahr 2060 nur noch langsam anzusteigen. Beachtenswert ist aller-dings, dass der Altersquotient nicht auf einen Höhe-punkt zustrebt, nach dessen Erreichen er wieder zu-rückgeht. Dies liegt einzig und allein an der vom Sta-tistischen Bundesamt und uns angenommenen steti-gen Erhöhung der Lebenserwartung, während die übrigen demographischen Parameter (Geburtenrate und Nettoimmigration) als konstant angenommen werden.

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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Abbildung 3: Anstieg des Altersquotienten 2005-2060

Quelle: Eigene Berechnung mit den gleichen Annahmen wie die 13. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bun-

desamtes; Netto-Migration 200.000, Fertilität 1,5 und Lebenserwartung in 2060 84,77/88,8.

Die Annahmen hinsichtlich der Entwicklung des Ar-beitsmarktes orientieren sich an den kurzfristigen Annahmen der mittleren Variante des Rentenversi-cherungsberichtes 2017. Allerdings weist der Bericht nur den Zuwachs bzw. die Abnahme der gesamten Erwerbsbevölkerung aus. Es wird nicht ausgewiesen, wie sich die Veränderung zwischen Männern und Frauen sowie zwischen den Altersgruppen aufteilt. Zudem beinhaltet der Bericht keine Informationen bezüglich der Annahmen hinsichtlich der Reaktion der Bevölkerung auf den Anstieg des Regelrentenal-ters. Folglich sind wir nicht in der Lage eine exakte Replikation der administrativen Annahmen vorzu-nehmen. Stattdessen nehmen wir an, dass die über 62-Jährigen ihren Renteneintritt analog zum Anstieg des Gesetzlichen Rentenalters um zwei Jahre auf-schieben. Des Weiteren wird unterstellt, dass der Anteil der vor 62 verrenteten Pflichtversicherten bis 2024 um 38% abnimmt und sich die Lücke zwi-schen den Erwerbsquoten der Frauen und Männer um 63% schließt.

Die Löhne und Gehälter werden ebenfalls anhand der mittleren Annahmen des Rentenversicherungs-berichtes 2017 vorgeschrieben. Dieser unterstellt da-bei ein jährliches Lohnwachstum von 3% ohne An-gleich der Löhne und Gehälter in den alten und neuen Bundesländer. Das jährliche Lohnwachstum

von 3% teilt sich dabei Hälftig zwischen Preissteige-rungen (Inflation) und Produktivitätswachstum auf. Wir nehmen schließlich an, dass das Mehrwertsteu-eraufkommen entsprechend des Anstieges der Summe der Lohn- und Gehaltssumme (reduziert um die Rentenversicherungsbeiträge) und der ausgezahl-ten Rentensumme wächst. Somit liegt das Wachstum des Mehrwertsteueraufkommens jährlich ebenfalls in etwa bei 3%, d.h. real bei 1,5% plus 1,5% Infla-tion. Abhängig von der demographischen Entwick-lung kann es allerdings geringfügig höher oder gerin-ger ausfallen.

Das Referenzszenario ist die Gesetzeslage 2017. Ab-bildungen 4 und 5 zeigen die Vorausschätzungen des Rentenniveaus und des Beitragssatzes zur gesetz-lichen Rentenversicherung bis zum Jahr 2060. Der besonders ausgezeichnete Punkt markiert den prog-nostizierten Wert für das Jahr 2045, der im „Gesamt-konzept der Alterssicherung“ der damaligen Bundes-ministerin für Arbeit und Soziales vom 25. Novem-ber 2016 und vom alternierenden Vorsitzenden des Bundesvorstandes der Deutschen Rentenversiche-rung Bund im Dezember 2017 im Rahmen der Bun-desvertreterversammlung genannt wurden (DRV, 2017). Unsere Vorausschätzung stimmt mit dieser Prognose im Rentenniveau 2045 genau überein; was den Beitragssatz angeht, ist unsere Vorausschätzung marginal optimistischer.

0.300.32

0.39

0.50

0.55

0

0.1

0.2

0.3

0.4

0.5

0.6

2005

2007

2009

2011

2013

2015

2017

2019

2021

2023

2025

2027

2029

2031

2033

2035

2037

2039

2041

2043

2045

2047

2049

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2055

2057

2059

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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Abbildung 4: Rentenniveau 2015-2060

Quelle: Eigene Berechnung mit MEA-PENSIM; Demographie wie Abbildung 3

Abbildung 5: Beitragssatz 2015-2060

Quelle: Eigene Berechnung mit MEA-PENSIM; Demographie wie Abbildung 3

30.0

32.0

34.0

36.0

38.0

40.0

42.0

44.0

46.0

48.0

50.0

2015

2017

2019

2021

2023

2025

2027

2029

2031

2033

2035

2037

2039

2041

2043

2045

2047

2049

2051

2053

2055

2057

2059

Rentenniveau

Rentenversicherungsbericht2017

Referenzszenario

18.0

19.0

20.0

21.0

22.0

23.0

24.0

25.0

2015

2017

2019

2021

2023

2025

2027

2029

2031

2033

2035

2037

2039

2041

2043

2045

2047

2049

2051

2053

2055

2057

2059

Beitragssatz

Rentenversicherungsbericht 2017

Referenzszenario

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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Diese Abbildungen zeigen, dass die demographische Belastung gemäß Abbildung 3 in den Jahren 2024-2035 besonders stark den Beitragssatz ansteigen las-sen und gleichzeitig Druck auf das Rentenniveau ausüben wird. Danach nimmt der demographische Druck allmählich ab. Dies liegt daran, dass dann die geburtenstarken Jahrgänge des „Babybooms“ allmäh-lich versterben. Gleichzeitig lässt die weiter zuneh-mende Lebenserwartung den Beitragssatz weiter an-steigen. Dies liegt daran, dass nach derzeit geltender Rechtslage das Renteneintrittsalter bis 2030 67 Jahre erreicht haben wird, danach aber gleich bleibt.

3. Ergebnisse

Abbildung 4 zeigt, dass gemäß dem Rentenversiche-rungsbericht 2017, die unserer Vorausschätzung bis 2030 zugrunde liegt, bereits im Jahr 2023 die im Ko-alitionsvertrag vom 14.03.2018 von derzeit 43% auf

48% anzuhebende Haltelinie des Rentenniveaus un-terschritten und zwei Jahre später die auf 20% abzu-senkende Haltelinie beim Beitragssatz überschritten wird. Um dennoch die Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung zu finanzieren, soll laut Koaliti-onsvertrag der entsprechende Bedarf durch Steuer-mittel sichergestellt werden. Dieser Bedarf wird in Abbildung 6 dargestellt. Er ist zunächst relativ ge-ring und würde im Jahr 2025 inflationsbereinigt knapp 11 Mrd. Euro betragen. Danach steigt er je-doch sehr schnell an, würde 2030 45 Mrd. erreichen und bis 2035 auf über 80 Mrd. Euro pro Jahr an-wachsen, also mehr als dem doppelten der heutigen Nachhaltigkeitsreserve. Würde man diese Politik bis zum Jahr 2060 fortsetzen, läge der durch Steuermit-tel sicherzustellende Finanzbedarf bei knapp 180 Mrd. in diesem Jahr. Diese Zahlen sind kaufkraftbe-reinigt.

Abbildung 6: Kosten der doppelten Haltelinie 2023-2060 (Mrd. Euro)

Quelle: Eigene Berechnung mit MEA-PENSIM; Demographie wie Abbildung 3

Dieser Finanzbedarf könnte durch eine Erhöhung der Einkommensteuer, der Verbrauchssteuern oder einer Mischung verschiedener Steuerarten gedeckt werden. Um die Größenordnung dieser Zahlen zu veranschaulichen, ist es aufschlussreich, sie auf die Umsatzsteuer (Mehrwertsteuer einschließlich Ein-fuhrumsatzsteuer) umzulegen. Dabei nehmen wir,

wie in Abschnitt 2 beschrieben, an, dass das kauf-kraftbereinigte Steueraufkommen um etwa 1.5% pro Jahr produktivitätsbedingt ansteigt; d.h. wir gehen von einem durchschnittlichen Wachstum der Steuer-einnahmen von nominal ca. 3% pro Jahr aus. Abbil-dung 7 zeigt das Ergebnis. Bei einem niedrigeren Wachstum würden die dort gezeigten Steuersätze noch höher liegen.

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Abbildung 7: Kosten der doppelten Haltelinie in MwSt-Punkten

Quelle: Eigene Berechnung mit MEA-PENSIM; Demographie wie Abbildung 3

Die durchgezogene Linie zeigt den Anstieg der Mehrwertsteuer, der nötig ist, um die doppelte Halt-elinie zu finanzieren. Die Mehrbelastung liegt im Jahr 2030 bei etwa 3 Prozentpunkten, steigt dann sehr schnell auf das Doppelte an (bis zum Jahr 2036), langfristig auf über 8 Prozentpunkte. Zudem steigen die bereits existierenden Bundeszuschüsse (inklu-sive des Beitrages des Bundes zur Kindererziehung) stärker als die Summe von Arbeits- und Rentenein-kommen. In der gestrichelten Linie der Abbildung 7 wird dieser generelle Mehrbedarf an Steuermittel ebenfalls in Mehrwertsteuerpunkten umgerechnet und dem Mehrbedarf aufgrund der doppelten Halt-elinie hinzugerechnet. Bereits im Jahr 2025 müsste daher insgesamt die Mehrwertsteuer um etwa an-derthalb Punkte angehoben werden, im Jahr 2030 um 4 Punkte. Eine reine Steuerfinanzierung über die Umsatzsteuer würde also eine dramatische Erhö-hung der Mehrwertsteuer implizieren. Unabhängig

davon, welche Steuer als Finanzierungsinstrument eingesetzt würde, würde die gesetzliche Rentenversi-cherung sich von einer im Wesentlichen beitragsfi-nanzierten Institution zu einer wandeln, bei der die Steuerfinanzierung prägend wird.

Will man diesen Systemwechsel vermeiden, das heutige Rentenniveau aber sichern, käme als Alter-native in Frage, nur eine einfache Haltelinie für das Rentenniveau von 48% anzusetzen und den entste-henden Finanzbedarf allein durch eine Beitrags-satzerhöhung zu finanzieren. Dies würde zwar den in der Kommission zur Nachhaltigkeit in der Finan-zierung der Sozialversicherung erreichten Grund-konsens sprengen, Generationen in etwa prozentual gleich an den Auswirkungen des demographischen Wandels zu beteiligen, hätte aber den Vorteil einer systemimmanenten Lösung. Abbildung 8 zeigt das entsprechende Ergebnis.

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Mehrkosten der Haltelinien

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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Abbildung 8: Beitragserhöhung einer einfachen Haltelinie

Quelle: Eigene Berechnung mit MEA-PENSIM; Demographie wie Abbildung 3

Die obere Linie zeigt, dass eine solche Politik den Beitragssatz etwa doppelt so stark ansteigen lässt wie im Referenzszenario (mittlere Linie), da die jüngere Generation nun die gesamte demographische Last trägt und sie nicht mehr mit der älteren Generation teilt. Im Jahr 2035 läge der Beitragssatz dann bei 24.6%, also 5 Prozentpunkte höher als jetzt; langfris-tig würde der Beitragssatz auf über 26% ansteigen.

Neben Rentenniveausenkung, Beitragserhöhung und Steuerfinanzierung hat die umlagefinanzierte Ren-tenversicherung noch eine vierte große „Stell-schraube“, nämlich das Renteneintrittsalter. Eine weitere – wir betonen: hypothetische – Alternative wäre es daher, im Gegenzug zu einer Fixierung des Rentenniveaus und des Beitragssatzes das Renten-eintrittsalters so zu erhöhen, dass die Erhöhung der

Anzahl der aktiven Beitragszahler und die Senkung der Anzahl der Rentenempfänger den zunehmenden Finanzbedarf gerade wieder kompensiert. Eine Erhö-hung des Renteneintrittsalters bedeutet eine Verlän-gerung der Lebensarbeitszeit. Daher ist es nur konse-quent, parallel zur Erhöhung des Regelrentenein-trittsalters auch die Definition des für die Berech-nung der Rentenhöhe wichtigen „Standardrentners“ vorzunehmen, konkret dessen angenommene Le-bensarbeitszeit an das neue Regelrenteneintrittsalter anzupassen. Abbildung 9 zeigt, um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen, dass diese alternative Fi-nanzierung der doppelten Haltelinie zu einem zu-mindest aus heutiger Sicht unrealistisch späten Ren-teneintrittsalter führen würde.

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Beitragssatz

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Einfache Haltelinie

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Abbildung 9: Das die doppelte Haltelinie kompensierende Renteneintrittsalter

Quelle: Eigene Darstellung

4. Fazit

Die Kosten der im Koalitionsvertrag vom 14.03.2018 angekündigten doppelten Haltelinie (Rentenniveau nicht unter 48%, Beitragssatz nicht über 20%) sind hoch. Finanziert man den entsprechenden Finanzie-rungsbedarf durch eine Umsatzsteuererhöhung, müsste die Mehrwertsteuer über den normalen Bun-deszuschuss hinaus bis 2030 um ca. 3 Prozentpunkte angehoben werden, bis 2045 sogar um fast 7 Prozent-punkte. Hinzu käme die Erhöhung des allgemeinen Bundeszuschusses bis zum Jahr 2030 um einen wei-teren Mehrwertsteuerprozentpunkt.

Auch Alternativen sind teuer. Würde man die Fixie-rung von Rentenniveau und Beitragssatz durch eine Erhöhung des Regelrenteneintrittsalters kompensie-ren, müsste dieses bis 2030 auf 69 und bis 2045 auf 71 Jahre angehoben werden. Verzichtet man auf die Haltelinie beim Beitragssatz, bedeutet die Einhaltung der anderen Haltelinie einen Beitragssatzanstieg um das Doppelte der jetzt avisierten Erhöhung.

Daher ist das Fazit recht offensichtlich: nur ein intel-ligenter Mix der in der umlagefinanzierten Renten-versicherung zur Verfügung stehenden Stellschrau-ben verhindert den dramatischen Anstieg einzelner Parameter der Gesetzlichen Rentenversicherung. Geht man davon aus, dass das jetzige Rentenniveau von Rentenempfängern und Beitragszahlern gleich-ermaßen gewünscht ist, sei als ein abschließendes Beispiel der folgende Mix der vier großen rentenpo-litischen Stellschrauben genannt:

1. Das Rentenniveau darf nicht unter 48 fallen (ein-fache Haltelinie)

2. Das Renteneintrittsalter steigt nach Erreichen der Rente mit 67 im Jahr 2030 im Verhältnis 2 Jahre Ren-tenalterserhöhung für jeweils 3 Jahre Erhöhung der Lebenserwartung weiter an; dementsprechend wird die Lebensarbeitszeit des für die Berechnung der Rentenhöhe wichtigen „Standardrentners“ ange-passt. Damit verlängert sich die Rentenbezugszeit um ein Jahr; daher nennen wir diese Anpassungsre-gel 3-2-1-Regel.

3. Die immer noch verbliebene Finanzierungslücke wird durch einen gleichproportionalen Anstieg des Beitragssatzes und des Bundeszuschusses gedeckt.

Die ersten beiden Punkte würden entsprechende Ge-setzesänderungen implizieren. Der dritte Punkt wird hingegen bereits unter der derzeitigen Rechtlage wei-testgehend erfüllt.

Abbildungen 10-12 zeigen die dementsprechenden Entwicklungen der Regelrenteneintrittsalters, des Beitragssatzes und des in Mehrwertsteuerpunkten ausgedrückten Bundeszuschusses. Das Rentenalter steigt demnach ähnlich an, wie in der ersten Phase der „Rente mit 67“, d.h. vor dem beschleunigten An-stieg zwischen 2023 und 2030. Der Beitragssatz stiege ähnlich an, wie er bei heutiger Gesetzeslage ansteigen würde („Referenzszenario“). Schließlich würde die Mehrwertsteuererhöhung auf deutlich un-ter 2 Prozentpunkte beschränkt.

Abbildung 13 zeigt schließlich, dass unter unseren Annahmen die derzeitigen Vorschriften zur Fort-schreibung der verschiedenen Bundeszuschüsse so-wie des Beitrages des Bundes zur Kindererziehung die Zielvorgabe eines gleichproportionalen Anstiegs des Beitragssatzes und des Bundeszuschusses im Rahmen eines akzeptablen Bereichs gut erfüllt.

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Abbildung 10: Renteneintrittsalter im Mischmodell

Quelle: Eigene Darstellung

Abbildung 11: Beitragssatz im Mischmodell

Quelle: Eigene Berechnung mit MEA-PENSIM; Demographie wie Abbildung 3

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3-2-1-Regel

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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Abbildung 12: Erhöhung der Mehrwertsteuer im Mischmodell

Quelle: Eigene Berechnung mit MEA-PENSIM; Demographie wie Abbildung 3

Abbildung 13: Prozentuale Erhöhung des Beitragssatzes und der Mehrwertsteuer im Mischmodell

Quelle: Eigene Berechnung mit MEA-PENSIM; Demographie wie Abbildung 3

und 3-2-1-Regel

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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5. Literaturverzeichnis

Börsch-Supan, Axel; Bucher-Koenen, Tabea; Rausch, Johannes (2016): "Szenarien für eine nachhaltige Fi-nanzierung der Gesetzlichen Rentenversicherung". In: Ifo Schnelldienst, 69 (18), pp. 31-40.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2015), Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über die Entwick-lung der Einnahmen und Ausgaben, der Nachhaltig-keitsrücklage sowie des jeweils erforderlichen Bei-tragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren ge-mäß § 154 SGB VI (Rentenversicherungsbericht 2015), Bonn.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2017), Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über die Entwick-lung der Einnahmen und Ausgaben, der Nachhaltig-keitsrücklage sowie des jeweils erforderlichen Bei-tragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren ge-mäß § 154 SGB VI (Rentenversicherungsbericht 2017), Bonn.

Deutsche Rentenversicherung (DRV) (2017): https://www.deutsche-rentenversicherung.de/Allge-

mein/de/Inhalt/4_Presse/infos_der_presse-stelle/02_medieninformationen/01_pressemitteilun-gen/2017/2017_12_07_bvv_gunkel.html?cms_sub-mit=Los&cms_resultsPerPage=5&cms_templa-teQueryString=2045.

Holthausen, Annette; Rausch, Johannes; Wilke, Christina Benita (2012): MEA-PENSIM 2.0: Weiter-entwicklung eines Rentensimulationsmodells, Kon-zeption und ausgewählte Anwendungen , MEA Dis-cussion Paper 03-2012.

Koalitionsvertrag vom 14. März 2018 (2018):

https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Sta-tischeSeiten/Breg/koalitionsvertrag-inhaltsverzeich-nis.html

Rausch, Johannes; Gasche, Martin (2016): "Beitrags-entwicklung in der Gesetzlichen Krankenversiche-rung und der Sozialen Pflegeversicherung – Projekti-onen und Determinanten". In: Zeitschrift für Wirt-schaftspolitik, 65 (2016) (3), pp. 195-238.

Wilke, Christina Benita (2004): "Ein Simulationsmo-dell des Rentenversicherungssystems: Konzeption und ausgewählte Anwendungen von MEA-PENSIM", MEA-Discussionpaper 048-04.

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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DEUTSCHER BUNDESTAG Ausschussdrucksache 19(11)162 Ausschuss für Arbeit und Soziales 25. Oktober 2018 19. Wahlperiode

Schriftliche Stellungnahme

zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 05. November 2018, um 15:00 Uhr zum

a) Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzli-chen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz) - BT-Drs. 19/4668

b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Schielke-Ziesing, Marc Bernhard, Stephan Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Anrechnungsfreistellung der Mütterrente beziehungsweise der Rente für Kindererzie-hungszeiten bei der Grundsicherung im Alter BT-Drs. 19/4843

c) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Vollständige Gleichstellung und gerechte Finanzierung der Kindererziehungszeiten in der Rente umsetzen – Mütterrente verbessern - BT-Drs. 19/29

d) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Die Erwerbsminderungsrente stärken BT-Drs. 19/31

Deutscher Gewerkschaftsbund

zu a) RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisie-rungsgesetz

Kurzbewertung

Der Gesetzentwurf ist in seinen Grundzügen und in wesentlichen Teilen zu begrüßen. In einigen Details und insbesondere bei der Finanzierung muss jedoch nachgebessert werden.

Das Rentenniveau zu stabilisieren, wird begrüßt. Dies ist ein erster wichtiger Schritt, die Alterssiche-rung in Deutschland langfristig nachhaltig, leis-tungsfähig und gerecht auszugestalten. Im Interesse der Beschäftigten und der künftigen Generationen war dies schon lange überfällig. Dies im Sinne einer „doppelten Haltelinie“ mit einer harten Deckelung des Beitragssatzes auf 20 Prozent zu verknüpfen, wälzt die Belastungen von den Arbeitgebern auf die Beschäftigten ab. Allenfalls akzeptabel ist, wie bis-her, eine Begrenzung auf 22 Prozent, dies zu unter-bieten, ist vor allem im Interesse der Arbeitgeber

und gefährdet die nachhaltige Stabilisierung der Rentenversicherung.

Ebenfalls zu begrüßen sind die Leistungsverbesse-rungen bei den Erwerbsminderungsrenten wie auch die weitere teilweise Angleichung der Kindererzie-hungszeiten für vor und ab 1992 geborene Kinder – die sogenannte „Mütter-Rente“. Bei den Erwerbsge-minderten müsste aber auch der Bestand berück-sichtigt werden. Die weitere Angleichung der Kin-dererziehungszeiten für vor und ab 1992 geborene Kinder (sogenannte „Mütter-Rente“) ist zu begrü-ßen. Abgelehnt wird, die Kindererziehungszeiten aus Beitragsmitteln statt Steuern zu finanzieren; dies ist verteilungspolitisch bedenklich und nicht sachgerecht.

Sinnvoll sind Überlegungen, wie Menschen mit niedrigem Einkommen entlastet werden können. Al-lerdings gibt es dafür aus Sicht des DGB geeignetere Wege als die Ausweitung der heutigen Gleitzone, die nicht zu Fehlanreizen am Arbeitsmarkt und zu

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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Beitragsausfällen in den Sozialversicherungen füh-ren würden. Hier sollten Alternativen im weiteren Verfahren ernsthaft geprüft und mit der Gleitzone verglichen werden. Zu nennen wäre hier beispiels-weise ein SV-Entlastungsbetrag, wie ihn das DIW dargestellt und durchgerechnet hat.

Ausführliche Bewertung des Gesetzentwurfs

Die Reformmaßnahmen der vergangenen rund 30 Jahre in der gesetzlichen Rentenversicherung ha-ben den Leistungsumfang gekürzt, dass Leistungsni-veau gesenkt, die Altersgrenzen angehoben und den solidarischen Ausgleich beschnitten. Die Einschnitte waren in der Summe dramatisch. Obwohl die Zahl der Rentnerinnen und Rentner von rund 15 Millio-nen im Jahr 1995 auf heute etwa 21 Millionen gestie-gen ist, bekommen sie zusammen nur den gleichen Anteil vom gesamten Wohlstand in Deutschland wie 1995. Der Pro Kopf-Anteil der Rentnerinnen und Rentnern am Wohlstand ist, selbst wenn die längere Bezugsdauer durch die gestiegene Lebenserwartung abgezogen wird, in dieser Zeit um rund 20 Prozent gesunken. Dabei bleiben das angehobene Zugangsal-ter und die erschwerten Zugangsbedingungen bei den Renten wegen Erwerbsminderung noch unbe-rücksichtigt.

In der letzten Wahlperiode wurde dieser Trend ge-stoppt und in mehreren Schritten wieder spürbare Verbesserungen beschlossen sowie die gesetzliche Rentenversicherung gestärkt. Dies wird vom DGB be-grüßt, auch wenn er Details kritisiert oder für nicht weitreichend genug hält. Vor diesem Hintergrund begrüßt der DGB grundsätzlich den vorliegenden Ge-setzentwurf, der diesen Weg fortschreitet und mit ei-nem stabilen Rentenniveau auch Leistungsverbesse-rungen für alle Beschäftigten und Rentnerinnen und Rentner vorsieht. Im Folgenden nehmen wir Stel-lung zu einzelnen Themen des Gesetzentwurfs.

Stabilisierung des Rentenniveaus ist ein richtiger Schritt

Der DGB und die Mitgliedsgewerkschaften setzen sich dafür ein, dass Rentenniveau zu stabilisieren und wieder anzuheben. Ziel ist es, dass die Renten und Rentenansprüche an der allgemeinen Wohl-standsentwicklung teilhaben. Der Gesetzentwurf sieht vor, das Rentenniveau nun gesetzlich auf we-nigstens 48 Prozent zu stabilisieren. Dies ist als ein richtiger Schritt ausdrücklich zu begrüßen. Nur ein stabiles Rentenniveau garantiert, dass die Rentnerin-nen und Rentner künftig wieder gerecht am steigen-den Wohlstand beteiligt werden. Dieses schafft Si-cherheit für Versicherte sowie Rentnerinnen und Rentner. Aus Sicht des Deutschen Gewerkschafts-bunds ist es darüber hinaus dringend geboten, das Rentenniveau auch wieder anzuheben, etwa auf 50 Prozent. Nach dem Willen der Koalition soll die Höhe des Rentenniveaus ab dem Jahr 2025 jedoch in der Kommission Verlässlicher Generationenvertrag diskutiert werden. Der DGB fordert eine dauerhafte Anhebung des Rentenniveaus, um auch für künftige Generationen eine auskömmliche und starke gesetz-liche Rentenversicherung sicherzustellen.

Zu kritisieren ist, dass abweichend vom Koalitions-vertrag gerade nicht die Rentenanpassungsformel geändert wird, sondern die Stabilisierung lediglich

durch eine weitere Schutzklausel und Ausnahmere-gel von der weiterhin unveränderten Rentenanpas-sungsformel sichergestellt wird. Um die Stabilisie-rung des Rentenniveaus in jedem einzelnen Jahr zu sichern, führt der Gesetzentwurf dazu eine voraus-schauende Ermittlung des Rentenniveaus ein. Dem-nach wird bei Bedarf die Rentenanpassung so er-höht, dass der Zielwert von 48 Prozent für das Ren-tenniveau zum 1. Juli eines Jahres eingehalten wird. Damit wird der grundsätzliche mathematische Me-chanismus der Anpassungsformel gerade nicht au-ßer Kraft gesetzt.

Die nun nach dem Gesetzentwurf vorgesehene Schutzklausel sichert zum Zeitpunkt der Rentenan-passung zielgenau das Rentenniveau von 48 Prozent. Rückwirkend betrachtet und bezogen auf das ganze Jahr wird der Wert jedoch um die Zielmarke schwanken, was in der Natur der Sache liegt. Auf-grund der Fortschreibungsregelung würden zu ge-ringe Anpassungen systematisch jedoch nachgeholt und zu hohe Anpassungen tendenziell ebenfalls. Die Ermittlung des Rentenniveaus ist keine einfache Aufgabe, die noch dazu erhebliches Potential für Missverständnisse und Täuschungsmanöver beinhal-tet. Der nun vorgesehene Weg ist aus Sicht des DGB jedoch grundsätzlich geeignet, das Ziel eines stabi-len Rentenniveaus umzusetzen.

Das Vorgehen birgt aber die Gefahr, dass, wie schon in der Vergangenheit geschehen, eine künftige Bun-desregierung, die aufgrund der Niveaustabilisie-rungsklausel erfolgten zusätzlichen Rentenanpassun-gen durch einen Ausgleichsfaktor nachträglich durch geringere Rentenanpassungen ausgleicht. Das aktuelle Gesetz schließt dies bis 2025 aus, in dem der Ausgleichsfaktor durchgängig auf 1,0 festgesetzt wird.

Der DGB fordert, die Rentenanpassungsformel zu ändern, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, so dass die Anpassungsformel aus sich selbst heraus das Ziel eines stabilen Rentenniveaus erreicht. Dies wäre auch eine glaubwürdigere Grundlage für die Arbeit der Rentenkommission, die, sollte sie einen neuen Konsens für den Generationenvertrag finden, auch die Anpassungsformel ändern müsste.

Neu-Definition des Rentenniveaus

Um zu sichern, dass das Rentenniveau in jedem ein-zelnen Jahr den Wert von 48 Prozent nicht unter-schreitet, definiert der Gesetzentwurf das Rentenni-veau vor Steuern neu und führt eine vorausschau-ende Ermittlung des Rentenniveaus ein. Künftig soll das Rentenniveau zum 1. Juli ermittelt werden.

In die Berechnung geht die zum 1. Juli geltende Standardrente (Altersrente ohne Abschläge mit 45 Entgeltpunkten) ein. Bisher wurde ein Jahres-durchschnitt aus der Standardrente vor und ab der Rentenerhöhung zum 1. Juli verwendet. Von der Standardrente werden die von den Rentnerinnen und Rentnern selbst zu tragenden Sozialbeiträge ab-gezogen. Abweichend vom bisherigen Verfahren bleibt der Kinderlosenzuschlag in der Pflegeversi-cherung unberücksichtigt.

Neu festgelegt und berechnet wird auch das verfüg-bare Durchschnittsentgelt. Abweichend vom bisheri-gen Verfahren wird ein für 2018 festgelegter Start-

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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wert jährlich anhand der Lohnerhöhung und der Än-derung der von den Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern zu tragenden Sozialbeiträge fortgeschrie-ben. Die Lohnerhöhung ist hierbei die für die Ren-tenanpassung gemäß § 68 Abs. 2 SGB VI verwendete Erhöhung der Bruttolöhne, welche letztlich der Ent-wicklung der beitragspflichtigen Löhne und Gehäl-tern folgt. Bisher gingen hier auch Erhöhungen von nicht beitragspflichtigen Löhnen ein.

Der DGB bewertet dieses Vorgehen, auch im Kontext des Niveausicherungsziels, differenziert. Das Ren-tenniveau künftig anders als bisher zu berechnen, ist an sich nicht zu kritisieren. Eine Änderung des Berechnungsmodus gab es bereits mehrfach in der Vergangenheit. Da das Rentenniveau misst, ob die Renten wie die Löhne steigen, sollten Änderungen der Berechnungsmethode jedoch die Ausnahme blei-ben und mit Bedacht gewählt werden, um verzer-rende Effekte im Zeitverlauf zu vermeiden. Die zent-rale Frage ist also, ob die vorgesehenen Änderungen sachlich richtig und sinnvoll sind oder vor allem po-litischen Zielen dienen.

Der Vorschlag der Bundesregierung ist offenkundig von Überlegungen geleitet, die sich aus dem Niveau-sicherungsziel immanent ergeben. Dabei greift sie dankenswerter Weise auch bestehende Kritik an der bisherigen Berechnungsmethode des Rentenniveaus auf. Das Rentenniveau vor Steuern, wie es aktuell ge-mäß § 154 SGB VI berechnet wird, ist nur schwer nachzuvollziehen. Unter anderem liegen dieser Ni-veauberechnung nicht veröffentlichte Zahlen des Statistischen Bundesamts zugrunde. Die vorgenom-menen Abzüge auf das Durchschnittsentgelt, in die unter anderem nicht versicherte Einkommen ebenso wie Beiträge zu privaten Rentenversicherungen ein-fließen, sind außerdem nicht sachgerecht und im Grunde nicht zu begründen.

Vor diesem Hintergrund begrüßt der DGB den Schritt des Gesetzentwurfs hin zu mehr Transpa-renz und Nachvollziehbarkeit bei der Berechnung des Rentenniveaus. Demnach würden künftig öffent-lich bekannte Zahlen und Werte verwendet, und die Werte für die Sozialbeiträge beziehen sich auf den maßgeblichen Kreis der sozialversichert Beschäftig-ten.

Die oben geschilderte Neudefinition der verfügbaren Standardrente würde ohne weitere Änderungen rechnerisch zu einem höheren Rentenniveau führen. Würde außerdem auch das verfügbare Durch-schnittsentgelt durch Abzug der von den Beschäftig-ten zu tragenden Sozialbeiträge vom Durchschnitts-entgelt der Anlage 1 berechnet, ergäbe sich insge-samt rechnerisch ein um etwa drei Prozentpunkte höheres Rentenniveau als nach bisheriger Definition. Dies würde sicherlich zu politischen Vorwürfen füh-ren, die Regierung würde das Rentenniveau künst-lich schön rechnen, auch wenn die Neuermittlung aufgrund des Niveausicherungsziels im Grunde nö-tig ist und dabei auf eine durchgehend transparente Berechnung umzustellen richtig und sinnvoll ist. Außerdem wäre die rechnerisch erhöhende Wirkung ein einmaliger Effekt, damit würde das Rentenni-veau auch in Zukunft weiterhin seine Aufgabe erfül-len können zu zeigen, ob Renten und Löhne im glei-chen Maße steigen.

Nachvollziehbar ist allerdings auch, dass die Bun-desregierung sich nicht den Vorwürfen der Manipu-lation aussetzen möchte und daher das Niveau so be-rechnen will, dass sich nach der neuen Methode ebenfalls ein Wert von 48,1 Prozent ergibt, wie es nach der aktuellen Methode der Fall ist. Dies ist po-litisch nachvollziehbar, da so Vorwürfe der Schön-rechnerei vermieden werden können. Um dies um-setzen zu können, muss für 2018 ein letztlich fikti-ver Startwert für das verfügbare Durchschnittsent-gelt als Basis für die künftige Fortschreibung festge-legt werden. Aus Sicht des DGB wird dadurch aber im Sinne der Transparenz wieder ein Schritt zu-rück gemacht. Aus Gründen der Nachvollziehbarkeit wäre zumindest zu prüfen, ob eine Umbenennung des Rentenniveaus erfolgen sollte, um den Bruch mit der bisherigen Berechnung auch sprachlich klar zu kommunizieren.

Trotz der mutmaßlich erfolgenden politischen Vor-würfe wäre aus Sicht des DGB zu prüfen, ob das ver-fügbare Durchschnittentgelt nicht direkt aus dem Entgelt der Anlage 1 durch Abzug der maßgeblichen Sozialbeiträge der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer in dem jeweiligen Jahr erfolgen könnte. Als Ausgleich könnte parallel das alte Sicherungsniveau weiter ausgewiesen werden, um eventuellen politi-schen Vorwürfen zumindest teilweise durch Trans-parenz zu begegnen.

Das nach der Methodik des Gesetzentwurfs ermit-telte Rentenniveau würde im Jahr der Rentenanpas-sung festgelegt und dann unverändert gelten. In die Berechnung gehen allerdings in Teilen vorläufige Werte der Lohnentwicklung ein. Abweichungen, die sich später ergeben, gingen dann in die Berechnung der Rentenanpassung anhand der Sicherungsklausel im Folgejahr ein. Damit würde eine zu hoch oder zu niedrig angesetzte Änderung des Durchschnittsent-gelts jeweils bei der nächsten Rentenanpassung be-rücksichtigt. Dadurch würde eine rückblickende Be-rechnung oder Betrachtung des Rentenniveaus er-schwert. Soweit an der vorgesehenen Berechnungs-methode festgehalten wird, wäre es daher zu begrü-ßen, wenn die Werte des verfügbaren Durchschnitts-entgelts dann in einer Anlage des SGB VI als Reihe geführt würden, damit auch rückwirkend die Werte für das jeweilige Jahr verfügbar sind.

Das neue Rentenniveau birgt, wie auch schon das alte, aus Sicht des DGB darüber hinaus jedoch eine systematische Abweichung. Während Standardrente sowie das verfügbare Durchschnittsentgelt letztlich anhand der beitragspflichtigen Entgelte nach Statis-tik der gesetzlichen Rentenversicherung fortgeschrie-ben werden, steigt das Durchschnittsentgelt nach Anlage 1 anhand der Bruttolohn- und Gehaltssumme nach der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung des Statistischen Bundesamts. Historisch haben sich diese Werte nicht gleichförmig entwickelt. Damit würden sich das verfügbare Durchschnittsentgelt und das Durchschnittsentgelt, über die Frage der ge-änderten Sozialbeiträge hinaus, voraussichtlich un-terschiedlich entwickeln. Im Rahmen des SGB VI werden darüber hinaus insgesamt verschieden defi-nierte und abgegrenzte Durchschnittslöhne und Fort-schreibungen verwendet.

Aus Sicht des DGB wäre zu prüfen, ob die maßgeb-lichen Werte in der Rentenversicherung nicht

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durchgängig synchronisiert werden sollten. Dies schließt die Rentenanpassung, die Fortschreibung der Anlage 1, der monatlichen Bezugsgröße wie auch aller weiteren Werte ein. Maßgeblich sind und soll-ten sein, die Lohnentwicklung der versicherungs-pflichtig Beschäftigten und die hierbei üblicherweise fälligen Sozialbeiträge. Die Rentenanpassung, die Fortschreibung der Durchschnittsentgelte der An-lage 1 und die Werte zur Berechnung des Rentenni-veaus sollten direkt mit der Änderung der beitrags-pflichtigen Entgelte fortgeschrieben werden. Würde die Rentenanpassung auf den 1. Januar eines Jahres vorverlegt, dann stünden zu diesem Zeitpunkt die Werte der beitragspflichtigen Entgelte des vorvergan-genen Kalenderjahres zur Verfügung – also für die Rentenanpassung 2019 die Werte aus 2017. Damit könnten zum 1. Januar die Anlage 1 und die Bezugs-größe fortgeschrieben und die Rentenanpassung er-mittelt werden.

Außerdem stünden dann die Beitragssätze zu den Sozialversicherungen fest, so dass das Rentenniveau aus den neu ermittelten Werten der Anlage 1 sowie der Standardrente unter Abzug der Sozialbeiträge für das Kalenderjahr berechnet werden könnten. Auch wäre regelmäßig nur eine Neuberechnung pro Jahr bei Bescheiden des SGB II und XII nötig, da die Ren-tenanpassung und die Regelsatzänderung zeitgleich erfolgen. Aus Sicht des DGB könnte die Prüfung ei-ner solchen Umstellung parallel zur Rentenkommis-sion erfolgen. Der Auftrag hierzu könnte im Rahmen der vorliegenden Gesetzgebung verankert werden.

Beitragssatz-Deckel und Beitragssatzgarantie

Der Gesetzentwurf sieht vor, den Beitragssatz zur ge-setzlichen Rentenversicherung bis 2025 auf maximal 20 Prozent zu begrenzen. Soweit ein höherer Bei-tragssatz nötig wäre, muss die Differenz aus Steuer-mitteln finanziert werden. Dazu wird der zusätzliche Bundeszuschuss für die Jahre 2022 bis 2025 um 500 Millionen Euro erhöht. Zusätzlich wird eine de-mographische Rückstellung im Bundeshaushalt ver-ankert, die ausschließlich zur Finanzierung des Bei-tragsdeckels verwendet werden darf.

Die Begrenzung des Beitragssatzes auf 20 Prozent bis 2025 ist aus Sicht des DGB sachlich und poli-tisch nicht zu begründen. Ein Beitragssatz-Deckel, der nicht flexibel ausgestaltet ist, führt beim Errei-chen unweigerlich zu einer Diskussion um Leis-tungskürzungen. Mit einem Beitragsdeckel werden die Kosten auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer abgewälzt. Auch erhöht dieser den Druck auf das Leistungsniveau deutlich. Aufgabe der Kom-mission Verlässlicher Generationenvertrag – die so-genannte Rentenkommission – ist es, die Grenzen ab 2025 neu festzulegen; ein abgesenkter Beitragsdeckel erschwert diese Aufgabe zusätzlich, da er die Hand-lungsspielräume deutlich einschränkt. Zumal die Gefahr groß ist, dass Arbeitgeberverbände eine unbe-grenzte Fortführung dieses Deckels bzw. der Steuer-finanzierung fordern, wenn ab 2025/2026 die Steuer-finanzierung für den künstlich abgesenkten Beitrags-satz endet und als Folge ein deutlicher Beitrags-sprung zu erwarten ist. Der DGB fordert daher, kei-nesfalls die geltende Grenze bis 2025 von 22 Prozent weiter abzusenken.

Zumal der Rentenversicherung heute schon von in-teressierter Seite vorgeworfen wird, die Bundeszu-schüsse wären zu hoch und die Rentenversicherung wäre ohne sie nicht tragfähig – obwohl die Bundes-zuschüsse schon heute nicht die gesamtgesellschaft-lichen sowie nicht beitragsgedeckten Leistungen ab-decken. Insoweit ist es zu begrüßen, dass die Bun-desregierung bereits heute Vorsorge dafür treffen will, in dem für die Jahre 2022 bis 2025 der Bundes-zuschuss angehoben und zusätzlich eine zweckge-bundene Rücklage aufgebaut wird. Damit wird das politische Risiko, dass die nächste Regierungskoali-tion Leistungskürzungen durchsetzt, gemindert, auch wenn es nicht vollständig ausgeschlossen wer-den kann.

Verbesserte Renten wegen Erwerbsminderung und bei Tod

Der Gesetzesentwurf sieht vor, die Zurechnungszeit bei Renten wegen Erwerbsminderung wie auch bei Tod von heute 62 Jahren und 3 Monaten auf die Re-gelaltersgrenze, für 2019 somit auf 65 Jahre und 8 Monate, anzuheben. Zusammen mit der Regelal-tersgrenze steigt die Zurechnungszeit bis zum Jahr 2031 schrittweise auf 67 Jahre.

Die Zahlbeträge bei Erwerbsminderungsrenten (EM-Renten) im Rentenzugang waren viele Jahre stark rückläufig. Die Ursachen hierfür sind vielschichtig, von der Einführung von Abschlägen von bis zu 10,8 Prozent über durchbrochene Erwerbsverläufe bis hin zum Absenken des Rentenniveaus. Die letzte Bundesregierung hat hier bereits erste Schritte zu Verbesserungen unternommen. Zum einen hat sie eine Günstigerprüfung eingeführt, mit der die vier letzten Beitragsjahre für die Bewertung der Zurech-nungszeit unberücksichtigt bleiben, sollten sie sich negativ auf die Bewertung der Zurechnungszeit aus-wirken. Außerdem hat sie die Zurechnungszeit zwei-mal verlängert. Aktuell liegt dieses Alter der Zurech-nungszeit bei 62 Jahren und 3 Monaten.

Die nochmalige Verlängerung der Zurechnungszeit wird vom DGB sehr begrüßt. Wer aus gesundheitli-chen Gründen nicht mehr arbeiten kann, wird so deutlich besser gestellt. Bezogen auf einen Versiche-rungsbeginn mit dem 17. Lebensjahr und einer Er-werbsminderung vor dem 62. Lebensjahr entspricht die nun vorgesehene Verlängerung der Zurechnungs-zeit einer weiteren Erhöhung der Erwerbsminde-rungsrente um mindestens 7,5 %. Wenn die Zurech-nungszeit 2031 auf 67 Jahre gestiegen ist, entspricht dies sogar einer Anhebung gegenüber heute von 10,5 Prozent.

Der DGB fordert, die Abschläge auf Erwerbsminde-rungsrenten abzuschaffen. Diese sind sozialpolitisch nach wie vor nicht zu rechtfertigen. Insoweit kann auch die im Gesetzentwurf unter „C. Alternativen“ formulierte Aussage, die Abschläge würden die „län-gere“ Rentenbezugszeit auch bei Erwerbsminde-rungsrenten ausgleichen, nicht überzeugen. Denn anders als bei Altersrenten bildet gerade der vorzei-tige Renteneintritt aufgrund einer Erwerbsminde-rung das abgesicherte Risiko und in diesem Sinne ist die längere Rentenlaufzeit immanenter Zweck der Versicherungsleistung und kein durch Anreize steu-erbares Verhalten der Versicherten. Dies spiegelt sich bereits darin, dass die Abschläge auf maximal 10,8 Prozent begrenzt sind und die Berechnung der

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Abschläge auf ein niedrigeres Alter abstellen als die Regelaltersgrenze.

Die Regierung hat sich entschieden, die Zurech-nungszeit bis zur Regelaltersgrenze zu verlängern und dafür nicht die Abschläge zu streichen. Vergli-chen mit der Berechnung vor Einführung der Ab-schläge auf Erwerbsminderungsrenten fällt die Ren-tenhöhe bei Erwerbsminderung heute um über zehn Prozent höher aus.

Die Zurechnungszeit wurde gegenüber dem Jahr 2000 um über 20 Prozent verlängert, während die Abschläge maximal 10,8 Prozent betragen. Hinzu kommt die 2014 eingeführte Günstigerprüfung. In der Summe ist die Höhe der Erwerbsminderungs-rente gegenüber dem Zeitpunkt vor Einführung der Abschläge deutlich verbessert worden. Dies ist zu begrüßen.

Bei Erwerbsminderung wird künftig ab Leistungsfall bis zur Regelaltersgrenze eine ununterbrochene Er-werbsbiographie unterstellt. Viele Beschäftigte errei-chen einen solchen Erwerbsverlauf nicht, da sie lange vor der Regelaltersgrenze unfreiwillig aus dem Beruf ausscheiden, ohne jedoch die strengen Krite-rien für eine Rente wegen Erwerbsminderung zu er-füllen. Sie haben damit geringere Rentenansprüche und regelmäßig zusätzlich noch Abschläge bei der Altersrente. Für diese Regelungslücke hat der Ge-setzgeber nach wie vor keine adäquate Antwort pa-rat. Diesen Umstand kritisiert der DGB ausdrück-lich. Hier bedarf es ergänzender Regelungen, um auch diesen Menschen eine Perspektive zu bieten.

Erneut ist auch keine Leistungsverbesserung für den Bestand vorgesehen. Die Verbesserungen nicht auf den Bestand zu über-tragen ist ein Webfehler, der behoben werden muss, auch wenn es dafür aus administrativen und renten-rechtlichen Gründen keine einfache und gleichzeitig gerechte Lösung gibt. Nichtsdestotrotz fordert der DGB, dass im Rahmen der Gesetzgebung eine wert-gleiche Übertragung auf den Rentenbestand erfolgt. Ein Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten auf Er-werbsminderungsrenten im Bestand wäre ein gang-barer Weg, gegebenenfalls verbunden mit einem An-tragsrecht bei Folgerenten. Zu begrüßen ist in die-sem Zusammenhang, dass die vorgesehene Verbes-serung vom Zeitpunkt abhängen soll, ab dem die Rente wegen Erwerbsminderung beginnt, statt vom Zeitpunkt des Leistungsfalls, welcher regelmäßig weiter in der Vergangenheit liegt als der Rentenbe-ginn. Da die Leistungsverbesserungen erst ab 1. Ja-nuar 2019 gelten sollen, profitieren durch die Be-rücksichtigung des Rentenbeginns mehr Betroffene.

Verbesserung der Kindererziehungszeiten vor 1992 ist richtig, jedoch falsch finanziert

Die Regierung plant eine erneute Erhöhung der Kin-dererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder (sogenannten „Mütter-Rente“). Für alle vor 1992 ge-borenen Kinder soll es einen zusätzlichen halben Rentenpunkt, dann also 2,5 Entgeltpunkte geben. Es ist sehr zu begrüßen, dass die Regierung hier vom Koalitionsvertrag abweicht und nicht mehr nur die Erziehung von mindestens drei Kindern honorieren möchte. Aus verfassungsrechtlichen und sozialpoli-tischen Gründen ist dies ausdrücklich zu begrüßen. Der Wert der Kindererziehung in der Rente kann

und darf nicht von der Anzahl der Kinder abhängig sein.

Der DGB fordert, dass Kindererziehung unabhängig vom Geburtsjahr und ob im Westen oder Osten er-zogen in der Rente gleich viel wert sein soll. Begrüßt wird, dass die Regierung den Empfehlungen des DGB zumindest dahingehend gefolgt ist, für alle Kin-der vor 1992 einen halben zusätzlichen Entgeltpunkt gutzuschreiben. Damit ist ein weiterer Schritt zur Angleichung der Bewertung von Kindererziehungs-zeiten getan. Es bleibt jedoch weiterhin Handlungsbedarf, bis eine volle Angleichung erreicht ist.

Anmerken will der DGB, dass die verbreitete Be-zeichnung dieser Verbesserungen als „Mütter-Rente“ irreführend ist. Die Kindererziehungszeiten stehen ebenso Männern zu, sofern sie das Kind überwie-gend erzogen haben. In diesem Sinne ist ein ge-schlechtergerechter Sprachgebrauch notwendig.

Der DGB kritisiert nachdrücklich, dass die zusätzli-chen Rentenpunkte erneut sachfremd voll aus Bei-tragsmitteln finanziert werden sollen. Bereits die 2014 beschlossene Verbesserung der Kindererzie-hungszeiten wurde und wird bis heute alleine aus Beiträgen finanziert. Dabei ist sozial- und ordnungs-politisch völlig unstrittig, dass Gewährung von Ren-tenansprüchen für Kindererziehung eine gesamtge-sellschaftliche Aufgabe ist, die auch von der Allge-meinheit aus Steuern zu finanzieren ist. Zumal für diese Rentenansprüche zu keinem Zeitpunkt Bei-träge gezahlt wurden. Der DGB fordert die Bundes-regierung auf, die Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder vollständig und ab sofort aus Steuermitteln zu finanzieren.

Der DGB begrüßt, dass ein Antragsrecht eingeführt wird, welches eine Zuordnung der ausgeweiteten Kindererziehungszeiten (sogenannte „Mütter-Rente“) auch in den Fällen ermöglicht, in denen der erzie-hende Elternteil wegen der stichtagsgebundenen Zahlung eines Zuschlags bei Bestandsrenten keine zusätzlichen Erziehungszeiten bekam. Dies trifft ganz überwiegend Pflegeeltern, die das Kind ab dem 13. Monat nach Geburtsmonat aufgenommen haben. Aufgrund des Ausschlusses von Doppelgewährung dürften dennoch viele der Antragsstellenden leer ausgehen.

Zuordnung der Kindererziehungszeiten bei gleichge-schlechtlichen Paaren ist richtiger Schritt

Es wird neu geregelt, wem insbesondere bei gleich-geschlechtlichen Paaren die Kindererziehungszeiten zugeordnet werden, wenn sie nach bisheriger Rege-lung nicht eindeutig zu geordnet werden konnten.

Der DGB begrüßt diese Klarstellung, da sie Rechtssi-cherheit schafft. Der DGB regt ergänzend an, dass –in Anerkennung der sich ändernden Realität bei der Aufteilung von Erziehungs- und Erwerbsarbeit – die Aufteilung der Kindererziehungs- und Berücksichti-gungszeiten nicht nur monatsweise, sondern bei gleichzeitiger Erziehung auch innerhalb eines Ka-lendermonats zu gleichen Teilen erfolgen kann. Die bestehende Regelung benachteiligt Eltern, die sich Erziehungs- und Erwerbsarbeit gleich aufteilen, da sie monatsweise nur einer Person zugeordnet wer-den können.

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Niedrigverdienende können zielführender entlastet werden als mit geänderter Gleitzone

Die Bundesregierung möchte Beschäftigte mit einem Bruttolohn von unter 1.300 Euro bei den Sozialbei-trägen entlasten. Dazu soll die sogenannte Gleitzo-nenregelung auf 1.300 Euroausgeweitet und in Ein-stiegsbereich umbenannt werden. Außerdem sollen die heute bestehenden leistungsrechtlichen Nach-teile bei der Rente aufgrund der geringeren Beiträge künftig entfallen. Finanziert wird dies aus Beitrags-mitteln und verursacht Einnahmeausfälle von rund 500 Mio. Euro bei den Sozialversicherungen, davon rund 200 Mio. alleine in der Rentenversicherung.

Die Gleitzone (oft Midi-Job genannt) im Sinne § 20 SGB IV liegt bei einem Beschäftigungsverhältnis mit einem regelmäßigen Arbeitsentgelt von 450,01 Euro bis 850,00 Euro im Monat vor (mehrere Jobs werden zusammengerechnet). In der Gleitzone zahlen die Beschäftigten einen reduzierten Beitrag, während die Arbeitgeber ihren vollen Anteil tragen. Bei 450,01 Euro zahlen die Beschäftigten nur etwa die Hälfte des normalen Beitrags der Beschäftigten. Nähert sich das Arbeitsentgelt der Grenze von der-zeit 850 Euro, steigt der Beitragsanteil der Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer schrittweise auf den „regulären“ Anteil. Ihr größter Entlastungseffekt liegt daher bei 450,01 Euro, da hier faktisch nur der halbe Beitragssatz gezahlt wird, ihr geringster Entlastungs-effekt bei 849,99 Euro.

Der Beitragsanteil des Arbeitnehmers berechnet sich durch eine Rückwärtsrechnung. Es wird mit der „Gleitzonenformel“ ein fiktives niedrigeres Entgelt als Bemessungsgrundlage berechnet. Hierauf wird der Gesamtbeitragssatz erhoben (Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil, ggf. inkl. Zusatzbeitrag und/oder Kinderlosenzuschlag der Pflegeversicherung). Von diesem in Euro bemessenen Gesamtbeitrag zahlt der Arbeitgeber den Betrag, der dem vom Arbeitgeber zu zahlenden Beitragssatz auf das tatsächliche Brutto-entgelt entspricht. Den Rest tragen die Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer.

Beispiel: Der Bruttolohn beträgt 600 Euro. Das fiktive Entgelt beträgt nach der Gleitzonenformel dann 531,01 Euro. Auf die 531,01 Euro wird der Gesamt-beitragssatz von 39,75 Prozent erhoben, was 211,08 Euro entspricht. Der Arbeitgeber muss seinen Beitragsanteil von 19,375Prozent auf die 600 Euro, also 116,25 Euro, zahlen. Der Beschäftigte muss die Differenz bezahlen, also 94,83 Euro (=211,08 Euro Gesamtbeitrag abzüglich dem Arbeitgeberbeitrag von 116,25 Euro).

Die Rentenansprüche der Beschäftigten werden auf Basis des fiktiven statt des tatsächlichen Bruttolohns berechnet, so dass die Rentenansprüche geringer ausfallen als es bei vollem ungemindertem Beitrag der Fall wäre. In dem obigen Beispiel würde der Rentenanspruch aus einem Jahr Arbeit mit 5,38 Euro dadurch um 70 Cent geringer ausfallen.

Gute Löhne, Gute Arbeit und ein starker Sozialstaat sichern ein gutes Leben der Erwerbstätigen, ihrer Angehörigen und ihrer Kinder. Gute Sozialversiche-rungen sichern eine hochwertige Versorgung bei Krankheit oder Pflegebedürftigkeit und ein gutes Auskommen in Zeiten der Arbeitslosigkeit, im Alter

oder bei Erwerbsminderung. Finanziert und ermög-licht wird dies durch die Solidarität der Versicher-ten unter- und miteinander, denn nur gemeinsam sind der Verlust des Lohns oder die Kosten einer Krankheit hochwertig, günstig und verlässlich abge-sichert. Hochwertige Leistungen und ein guter Lohn-ersatz sind unerlässlich für die Beschäftigten, bedür-fen aber entsprechender Beiträge.

Bei gutem Lohn sind Beiträge leichter zu tragen als in niedrig bezahlter und prekärer Beschäftigung. Zu-mal die Beiträge zu den Sozialversicherungen steuer-lich abzugsfähig sind, was höhere Einkommen spür-bar bei den Sozialbeiträgen entlastet. Niedrigverdie-nende profitieren von dieser Regelung hingegen kaum. Unstrittig ist: Das eigentliche Problem ist der zu niedrige Lohn. Höhere Löhne und bessere Arbeit sind die anzustrebende Lösung, damit alle am Wohl-stand beteiligt werden.

Der DGB anerkennt vor diesem Hintergrund, dass das BMAS nach Anhebung des gesetzlichen Min-destlohns sicherstellen will, dass bei den hiervon profitierenden Niedrigverdienenden tatsächlich et-was ankommt. Allerdings hält der DGB die Auswei-tung der Gleitzone (neu: Einstiegsbereich) für kein probates Mittel, zumal hier Fehlanreize im Arbeits-markt in Richtung auf den Niedriglohnbereich nicht auszuschließen sind. Diesen einzudämmen ist Ziel des DGB – mit Stärkung von Tarifbindung und Über-führung von prekärer Beschäftigung in gute Arbeit mit guten Löhnen.

Gleichzeitig muss eine Entlastung zielgenau auf Haushalte mit niedrigem Einkommen abzielen und sollte nicht die Sozialversicherungen belasten. Sach-gerechter Ansatzpunkt ist hier das Steuerrecht. Durch eine andere Gestaltung der Einkommensteuer (Grundfreibetrag, Tarifverlauf etc.) könnten gezielte ärmere Haushalte entlastet werden. Diese könnten über den Weg des Lohnsteuerabzugs zusätzlich noch bei der Beitragszahlung zu den Sozialversicherungen aktiv durch einen Zuschuss unterstützt werden, ohne jedoch den Sozialversicherungen direkte Bei-tragseinnahmen zu entziehen.

Im Unterschied dazu scheint die Gleitzone (neu: Ein-stiegsbereich) wenig geeignet, Niedrigverdienende zu entlasten, dazu wurde sie auch nie konzipiert. Ferner ist der Bruttolohn kein hinreichender An-haltspunkt, um gezielt Haushalte mit niedrigem Ein-kommen zu entlasten. Auch nach einer Ausweitung der Gleitzone auf 1.300 Euro bleibt die größte Entlas-tung gegenüber dem vollen Beitrag bei 450,01 Euro. Keinesfalls darf die Ausweitung der Gleitzone (neu: Einstiegsbereich) zu einer Ausweitung der Mini-Jobs führen; insoweit ist die Festlegung des BMAS, die Minijobgrenze nicht anzuheben ebenso wie die Eva-luierung der Wirkung von Midi-Jobs zu begrüßen.

Ein weit zielgenauerer und sachgerechterer Ansatz wäre aus Sicht des DGB stattdessen ein SV-Entlas-tungsbetrag. Das DIW hat eine Konzeptidee im Auf-trag des DGB dargestellt und durchgerechnet. Dem-nach würden die Beiträge der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bis zu einem Höchstbetrag (bspw. 100 Euro im Monat) direkt im Lohnabzugsverfahren von der Steuerschuld abgezogen und gegebenenfalls als Negativsteuer ausgezahlt. Der SV-Entlastungsbe-trag wird dabei auf die bereits existierende Entlas-tungswirkung durch den Abzug der Sozialbeiträge

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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als Vorsorgeaufwendungen bei der Einkommens-teuer angerechnet. Der DGB würde es daher begrü-ßen, wenn das BMAS diesen alternativen Vorschlag zu den Midi-Jobs genauer überprüfen würde. Dazu wäre es folgerichtig, die Ausweitung der Gleitzone zumindest bis dahin nicht umzusetzen.

Der DGB kritisiert, dass die Bundesregierung mit der verlängerten Gleitzone Beitragsausfälle erzeugt und gleichzeitig nicht einmal bereit ist, diese durch Steu-ermittel auszugleichen. Damit wird die gesell-schaftspolitische Aufgabe der Entlastung von Nied-rigverdienenden allein den Beitragszahlenden aufge-bürdet. Dies ist sozial- und verteilungspolitisch nicht akzeptabel.

Regelungslücke für Untertage-Beschäftige in Bergsi-cherungsbetrieben schließen

Der Gesetzgeber sichert jene Arbeitnehmer beson-ders ab, die im aktiv betriebenen Bergbau tätig sind, überwiegend untertage. Begründet wird dies mit den schwierigen Verhältnissen und auch den Gefahren, wie beispielsweise einem erhöhten Maß an körperli-chem Verschleiß, welche sich aus einer solchen Tä-tigkeit ergeben.

§ 134 SGB VI sieht dementsprechend in Absatz 1 eine Zuordnung in die knappschaftliche Versiche-rung für Bergleute vor, welche mit der Gewinnung von Mineralien oder ähnlichen Stoffen beschäftigt sind. Absatz 4 desselben Paragraphen ergänzt dies durch eine Aufzählung von Tätigkeiten, welche ebenso als knappschaftliche Arbeiten gewertet wer-den, „wenn sie räumlich und betrieblich mit einem Bergwerksbetrieb zusammenhängen, aber von einem anderen Unternehmer ausgeführt werden“.

Für Tätigkeiten in Bergsicherungsbetrieben gelten diese Bestimmungen gegenwärtig jedoch nicht. Be-schäftigte in dieser Branche können also keine knappschaftlichen Rentenversicherungsleistungen beziehen, obwohl sie im Altbergbau überwiegend untertage tätig sind – aber eben keine Mineralien o-der ähnliches abbauen.

Der DGB schlägt daher vor, Arbeiten in Objekten des Altbergbaus wie z. B. stillgelegte Bergwerke unter Tage den „knappschaftlichen Arbeiten“ gleichzustel-len. „Objekte des Altbergbaus sind Anlagen von bergbaulichen Gewinnungsbetrieben, die nicht der Bergaufsicht nach dem Bundesberggesetz unterlie-gen. Dazu gehören insbesondere Objekte, für die ein Bergbauberechtigter oder ein Bergbauunternehmer o-der deren Rechtsnachfolger nicht vorhanden oder nicht feststellbar sind.“

zu b) Antrag der AfD – Nichtanrechnung Kinderer-ziehungszeiten im SGB XII

Der vorliegende Antrag will Rentenansprüche, die auf Kindererziehungszeiten beruhen, in der Grundsi-cherung teilweise anrechnungsfrei stellen. Die Inten-tion ist durchaus sinnvoll. Die Forderung der AfD

kann vom DGB aber nicht unterstützt werden, da sie neue Ungerechtigkeiten schafft. Die Forderung der AfD bedeutet, dass die Renten der Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer weiterhin voll angerechnet werden, obwohl diese selbst dafür Beiträge zahlten. Belohnt werden würde nur Zeiten, in denen die Ver-sicherten selbst keine eigenen Beiträge gezahlt ha-ben. Die AfD begründet an keiner Stelle, wieso sie diese Ungleichbehandlung für gerecht, sinnvoll und mit dem Grundgesetz vereinbar hält. Der DGB hält diese Forderung für unangemessen und ungerecht.

Der DGB fordert stattdessen schon lange, dass alle Rentenansprüche gleichermaßen (unabhängig auf welcher Grundlage sie beruhen) teilweise nicht auf die Grundsicherung angerechnet werden. Davon würden auch die Frauen und Väter profitieren, die Kinder erzogen haben.

zu c) Antrag DIE LINKE. – Kindererziehung gleich behandeln und gerecht finanzieren

DIE LINKE fordert in ihrem Antrag, dass Kinderer-ziehungszeiten für vor und „nach 1992“ (gemeint ist wohl „ab 1992“) geborene Kinder und unabhängig von der Frage, ob diese in den neuen oder den alten Bundesländern erzogen wurden, zu gleich hohen Renten-ansprüchen führen soll. Außerdem sollen die Kindererziehungszeiten vollständig aus Steuermit-teln finanziert werden.

Auch der DGB fordert seit langem, dass Kindererzie-hung unabhängig vom Geburtstag und Wohnort in der Renten gleich stark anerkannt werden soll. Der DGB befürwortet daher die Forderung zur gleichwer-tigen Anerkennung der Kindererziehung. Der DGB fordert in diesem Zusammenhang stets auch, dass die Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder vollständig aus Steuern zu finanzieren sind. Auch diesen Punkt des Antrags kann der DGB unter-stützen.

zu d) Antrag der Fraktion DIE LINKE. – Erwerbs-minderungsrente stärken

Die Fraktion DIE LINKE fordert, die Abschläge auf EM-Renten für den Bestand wie auch Neuzugänge abzuschaffen sowie die Zurechnungszeiten auf das 65. Lebensjahr anzuheben. Der DGB teilt die Forde-rungen prinzipiell. Allerdings geht das hier ebenfalls vorliegenden RV-Leistungsverbesserungs- und Stabi-lisierungsgesetz bei der Zurechnungszeit über die Forderungen der Linken hinaus und wird an dieser Stelle vom DGB auch voll umfänglich begrüßt. Der DGB fordert auch, die Abschläge auf EM-Renten ab-zuschaffen. Für den Bestand fordert der DGB eine wertgleiche Übertragung sowohl der verlängerten Zurechnungszeit also auch der Abschaffung der Ab-schläge in Form von Zuschlägen, da eine vollstän-dige Neuberechnung der EM-Renten aufgrund weite-rer Rechtsänderungen im Einzelfall zu einer Ver-schlechterung führen könnte.

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DEUTSCHER BUNDESTAG Ausschussdrucksache 19(11)163 Ausschuss für Arbeit und Soziales 29. Oktober 2018 19. Wahlperiode

Schriftliche Stellungnahme

zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 05. November 2018, um 15:00 Uhr zum

a) Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzli-chen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz) - BT-Drs. 19/4668

b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Schielke-Ziesing, Marc Bernhard, Stephan Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Anrechnungsfreistellung der Mütterrente beziehungsweise der Rente für Kindererzie-hungszeiten bei der Grundsicherung im Alter BT-Drs. 19/4843

c) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Vollständige Gleichstellung und gerechte Finanzierung der Kindererziehungszeiten in der Rente umsetzen – Mütterrente verbessern - BT-Drs. 19/29

d) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Die Erwerbsminderungsrente stärken BT-Drs. 19/31

Prof. Dr. Gerhard Bäcker, Duisburg

Vorhaben

1. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung orien-tiert sich an den in der Koalitionsvereinbarung festgelegten Vorhaben und zielt im Wesentlichen auf

die Stabilisierung des Rentenniveaus (Nettoren-tenniveau vor Steuern) und des Beitragssatzes bis zum Jahr 2025. Für die Jahre danach legt sich die Bundesregierung nicht fest, sondern verweist auf die Ergebnisse der Rentenkommission, die gegen Ende der Legislaturperiode vorliegen sollen. Die Finanzierbarkeit der beiden Haltelinien soll durch weitere Bundesmittel sichergestellt wer-den.

die weitere Verbesserung bei den Erwerbsminde-rungsrenten durch Verlängerungen der Zurech-nungszeit,

die Ausweitung der Anrechnung von Kinderer-ziehungszeiten für Geburten vor 1992,

die Anhebung der sog. Gleitzone und den Aus-gleich der reduzierten Arbeitnehmerbeiträge in der Rentenversicherung in diesem neuen Über-gangsbereich.

Haltelinien

2. Die Festlegung einer Haltelinie beim Rentenni-veau entspricht einer langjährigen Forderung in der wissenschaftlichen und politischen Diskus-sion. Sie ist eine überfällige Reaktion auf die Fehlentwicklungen in der Rentenversicherung, die durch die Modifikationen der Rentenanpas-sungsformel (vor allem infolge des sog. Riester-Faktors und des Nachhaltigkeitsfaktors) entstan-den sind und zu einem kontinuierlichen Absen-ken des Netto-Rentenniveaus vor Steuern geführt haben. Zwar lässt sich einwenden, dass bis zum Jahr 2025 eine Niveauabsenkung unter 48 % nicht wahrscheinlich sei (die Vorausberechnung im Rentenversicherungsbericht 2017 geht von ei-

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nem Niveau von 48 % im Jahr 2024 aus). Aber si-cher ist dies angesichts drohender weltwirt-schaftlicher Verwerfungen und deren Auswir-kungen auf die Beschäftigungsentwicklung in Deutschland keinesfalls. Insofern ist die Ni-veaustabilisierung und deren Flankierung durch höhere Bundeszuschüsse eine wichtige Maß-nahme.

Sicher allerdings ist, dass sich die Absenkung in den Jahren nach 2025 beschleunig fortsetzen wird, weil dann die sog. geburtenstarken Jahr-gänge das Rentenbezugsalter erreichen. Insofern löst die Begrenzung der auf die Zeit bis zum Jahr 2025 das Problem nicht, erreicht wird aber ein erster, begrüßenswerter Schritt. Es muss offen-bleiben, ob die Rentenkommission sich im Kon-sens au einen Vorschlag einigen wird, der ja dann von einer neuen Bundesregierung in der nächsten Legislaturperiode in der einen oder an-deren Form umgesetzt werden müsste.

Das Absinken des Rentenniveaus unterhalb des Sicherungsniveaus vor Steuern von 48 % nach 2025 kann nur verhindert werden, wenn die Ren-tenanpassungsformel dauerhaft verändert wird. Die Begründungen, die die Bundesregierung für die Niveaustabilisierung bis 2025 nennt, gelten

sicherlich auch für die Jahre danach: „Ein ange-messenes und stabiles Sicherungsniveau vor Steuern ist wichtig für die Akzeptanz der gesetz-lichen Rentenversicherung. Es muss generatio-nenübergreifend vertrauensbildende Zusagen ge-ben.“

3. Vertrauen in die Rentenversicherung sowie Ak-zeptanz und Legitimation dieses wichtigsten Standpfeilers des deutschen Sozialstaats werden gefährdet, wenn bei einer gegebenen Entgeltposi-tion bzw. Entgeltpunkten immer mehr Versiche-rungsjahre erforderlich sind, um eine Altersrente in Höhe des Grundsicherungsniveaus zu erhal-ten. Genau dies aber ist die Folge eines langfristig absinkenden Niveaus – auf bis zu 41,6% im Jahr 2045, wie dies aus der Projektion des BMAS von Ende 2016 ablesbar ist. Oder anders herum: Bei gegebenen Versicherungsjahren werden eine im-mer bessere Entgeltposition bzw. immer mehr persönliche Entgeltpunkte pro Jahr erforderlich, um eine entsprechend hohe Rente zu erzielen. Dies wird dann genau jene Versicherten betref-fen, die heute am Anfang ihrer Erwerbslaufbahn stehen: Eine Niveauabsenkung widerspricht inso-fern gerade den Interessen der Jüngeren, die dann nur noch mit einer sehr geringen Rente rechnen können.

Bei der obenstehenden Modellrechnung eines Vergleichs zwischen Grundsicherungsniveau (Einzelperson) und individueller Altersrente je nach Entgeltposition, Versicherungsjahren und Rentenniveau sind selbstverständlich die regio-nal und lokal hoch abweichenden Kosten der Un-terkunft zu berücksichtigen. Und auch entsteht ein Grundsicherungsanspruch im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung nur, wenn das gesamte (Haushalts)Einkommen wie auch das verwertbare Vermögen in Rechnung gestellt werden.

Unterstellt wird dabei, dass sich die Beitragsab-züge zur Krankenversicherung (einschließlich

Zusatzbeitrag) und Pflegeversicherung nicht än-dern. Tatsächlich ist aber schon in den nächsten Jahren mit deutlichen Erhöhungen zu rechnen: Es spricht alles dafür, dass die Zusatzbeiträge zur GKV weiter steigen und bei den Beiträgen zur Pflegeversicherung (die von den Rentner in voller Höhe zu tragen sind) erfolgt bereits 2019 ein wei-terer Anstieg. Im Ergebnis werden deshalb die Netto-Renten niedriger ausfallen als in der Mo-dellrechnung angenommen.

Anzunehmen ist des Weiteren, dass die jährliche Anpassung des Grundsicherungsbedarfs stärker ausfallen wird als die Anpassung der Renten. Denn die Fortschreibung der Regelbedarfe der

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Grundsicherung orientiert sich seit 2011 nicht mehr an der Erhöhung des aktuellen Rentenwerts sondern an einem Mischindex, der auf der jährli-chen Preis- und Lohnentwicklung im Verhältnis von 30 % zu 70 % basiert. Vor allem aber kann weiterhin mit einem weit überproportionalen Anstieg der (anerkannten) Kosten der Unterkunft ausgegangen werden.

In der Summe führen diese Effekte dazu, dass die in der Berechnung ausgewiesenen Werte die zu-künftige Entwicklung eher unter- als überzeich-nen. Das Risiko wächst, dass für eine zuneh-mende Zahl von Rentner_innen die aus Pflicht-beiträgen erworbenen Leistungen nicht erkennbar höher sind als die vorleistungsunabhängige Grundsicherung.

4. Vor allem Beschäftigte im Bereich niedriger Ent-gelte haben in der Zukunft keine Chance, eine Rente oberhalb des Grundsicherungsniveaus zu erreichen, da die erforderlich langen Versiche-rungsjahre schlicht unmöglich sind . Der zu er-wartende Rückgang des Rentenniveaus ist dabei so groß, dass selbst eine Verlängerung der Versi-cherungsdauer um 3 Jahre keine Entlastung bringt. Bei einem Rentenniveau von 41,7% im Jahr 2045 sind bei einer Entgeltposition von 50% zusätzliche 8,7 Jahre gegenüber dem Stand von 2015 erforderlich, um eine Rente oberhalb des Grundsicherungsniveaus zu erreichen. Bei einer Entgeltposition von 70% errechnen sich zusätzli-che 6,2 Jahre und bei einer Entgeltposition von 80% sind es 5,4 Jahre.

5. Unvermeidlich kommt es bei einem stabilisierten Sicherungsniveau zu höheren Ausgaben der Ren-tenversicherung als bei einem sinkendem Ni-veau. Wie hoch die Belastungen ausfallen und wie sie gegenfinanziert werden, müsste in aktuel-len Projektionen berechnet werden, die aber nicht nur die demografischen Faktoren (Beset-zungsstärke der Jahrgänge und Lebenserwartung), sondern auch die zu erwartenden bzw. durch Po-litik zu gestaltenden ökonomischen Rahmenbe-dingungen (Zahl der versicherungspflichtig Be-schäftigten, Entwicklung der Brutto- und Nettore-allöhne) zu berücksichtigen haben.

Es schürt aber Ängste, wenn in einigen Modell-rechnungen die Mehrkosten einer Niveaustabili-sierung allein im Jahr 2060 auf 180 Mrd. Euro (kaufkraftbereinigt) bzw. 335 Mrd. (mit einer un-terstellten jährlichen Inflationsrate von 1,5 Pro-zent) beziffert werden. Absolute Zahlenwerte in Milliardenhöhe – auf eine Situation in über 40 Jahren bezogen, sagen wenig aus, solange sie nicht ins Verhältnis gesetzt werden zu der zu er-wartenden Höhe der gesamtwirtschaftlichen Rah-mendaten (BIP, durchschnittliche Bruttoarbeits-entgelt, verfügbare Einkommen usw.).

6. Die „Haltelinie“ bei den Beitragssätzen legt die Bundesregierung bis 2025 auf 20 % fest. Das ist durchaus ambitioniert, da die Absenkung der Beitragssätze in den letzten Jahren bis auf den ak-tuellen Tiefstand von 18,6 % die finanzielle Fle-xibilität der Rentenversicherung reduziert hat und auf Dauer an steigenden Beitragssätzen kein Weg vorbei geht. Ebenso wenig kann es beim ge-

genwärtigen Berechnung- und Anpassungsver-fahren der Bundeszuschüsse bleiben. Die Bun-deszuschüsse werden stärker steigen müssen, um der gesellschaftlichen Stabilisierungsfunktion der Rentenversicherung Rechnung zu tragen. Deshalb ist es folgerichtig und sinnvoll, dass die Bundes-regierung die Beitragssatzobergrenze in den Jah-ren 2022 bis 2025 (im Bedarfsfall) durch zusätzli-che Bundesmittel von 500 Mio. Euro absichern will.

7. Bei allem Respekt vor den finanziellen Belastun-gen, die in den nächsten Jahren auf die Beitrags- wie auf die Steuerzahlern zukommen, ist immer nach den Alternativen zu fragen. Sollen trotz ei-nes sinkenden Rentenniveaus Altersarmut ver-mieden und der Lebensstandard in der Ruhe-standsphase gesichert werden, dann muss die in-dividuelle Altersvorsorge weiter ausgebaut wer-den. „Kostenlos“ ist aber auch dies aber nicht zu haben. Die Auswirkungen des demografischen Wandels lassen sich durch kapitalgedeckte Fi-nanzierungs- und Leistungssysteme nicht umge-hen. So sind die Sparbeträge bei der Riester-Rente wie auch die arbeitnehmerfinanzierte be-triebliche Altersversorgung im Rahmen der Ent-geltumwandlung mit Einkommensabzügen ver-bunden, die allerdings nur die Arbeitnehmer und nicht die Arbeitgeber belasten.

„Mütterrente“

8. Mütter - wie auch Väter - sollen ab 2019 für ihre vor 1992 geborenen Kinder auch für das dritte Jahr Kindererziehungsleistungen anerkannt be-kommen. Je Kind kommt ein halber Entgeltpunkt hinzu, was für die Betroffenen nicht nur zu einer höheren Bruttorente führt, sondern auch bedeu-ten kann, überhaupt einen Rentenanspruch zu er-halten. Wurden bislang die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren nicht erfüllt, kann dies durch die Ausweitung der Kindererziehungszeiten möglich sein. Diese im dritten Jahr nunmehr erreichte (halbe!) Gleichstellung mit Müttern, die ihre Kin-der nach 1992 geboren haben, ist die Konsequenz der mit dem Rentenversicherungs-Leistungsver-besserungsgesetz von 2014 getroffenen Entschei-dung zur Anerkennung eines zweiten Kinderer-ziehungsjahres für Geburten vor 1992. Für diese Trennlinie – vor und nach 1992 – gab und gibt es keine sachliche Begründung. Die vollständige Gleichstellung wird deshalb möglichst umge-hend folgen müssen. Der Antrag der Fraktion „DIE LINKE“ zielt in diese Richtung.

Es ist richtig, dass durch die Ausweitung der Kindererziehungszeiten nicht zielgerichtet (aktu-elle oder zukünftige) Altersarmut von Frauen be-kämpft wird. Diese Leistungsverbesserung kommt auch jenen Müttern zu Gute, die - bezo-gen auf das Haushaltseinkommen - ausreichend abgesichert sind, da die Alterseinkünfte des Ehe-mannes mit berücksichtig werden müssen (und im Hinterbliebenenfall die Witwenrente). Aller-dings ist dies kein Argument weder gegen die Ausweitung der Kindererziehungszeiten im Spe-ziellen noch gegen die Anerkennung von Kinder-erziehungszeiten generell. Es geht um das Prin-

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zip: Durch Kindererziehungszeiten wird die Er-ziehungsarbeit mit der Erwerbsarbeit gleich ge-stellt.

9. Problematisch und aus verteilungspolitischen Gründen nicht nachvollziehbar ist jedoch die Entscheidung, die entstehenden Mehrausgaben vorrangig aus Beitrags- und nicht aus Steuermit-teln zu finanzieren. Dies ist bereits beim Renten-versicherungs-Leistungsverbesserungsgesetz kri-tisiert worden. Auch aktuell ist die oben ge-nannte Bereitstellung zusätzlicher Bundesmittel dafür nicht vorgesehen. Es handelt sich aber um allgemein gesellschaftspolitische Aufgaben, für die keine Beiträge gezahlt worden sind und die auch Personen begünstigt, die nicht zum Kreis der Beitragszahler gehören. Eine sach- und ver-teilungsgerechte Finanzierung kann deshalb nur über Steuermittel erfolgen. Zwar decken derzeit die Beiträge des Bundes für Kindererziehungszei-ten die entsprechenden Rentenausgaben ab (und überschreiten sie sogar), da die Mütter nur zum Teil das Rentenalter erreicht haben. Das wird sich aber alsbald ändern, wenn die geburtenstar-ken Jahrgänge in den Rentenbezug nachrücken.

10. Renten aus der Gesetzlichen Rentenversicherung gelten als Einkommen, die bei der Grundsiche-rung im Alter und bei Erwerbsminderung voll anzurechnen sind. Reichen die Rente und wo-möglich andere Alterseinkommen aus, um den Gesamtbedarf der Grundsicherung zu decken (Regelbedarfe, Mehrbedarfszuschläge und Kosten der Unterkunft) besteht kein Leistungsanspruch. Das entspricht den Leitprinzipien einer Grundsi-cherung, die allen Menschen, soweit sie bedürf-tig sind, das sozial-kulturelle Existenzminimum garantiert.

Der Antrag der AfD Fraktion, Renten(bestand-teile), die wegen der Anerkennung von Kinderer-ziehungszeiten gezahlt werden, von dieser An-rechnung durch eine Freibetragsregelung teil-weise auszunehmen, widerspricht dem Charakter der Grundsicherung. Es handelt sich um „nor-male“ Renten, die nicht anders behandelt werden dürfen wie Renten, die sich aus einer Beitrags-zahlung während einer versicherungspflichtigen Beschäftigung, während nicht entgeltlicher Pflege oder während einer Phase der Arbeitslosigkeit er-rechnen. Insofern kann dem Antrag nicht zuge-stimmt werden.

Verwiesen wird in dem Antrag auf die Regelung zur Anrechnungsfreistellung von Renten aus ei-ner zusätzlicher Altersvorsorge, die im Rahmen des Betriebsrentenstärkungsgesetzes eingeführt worden ist. Wenn aber diese Regelung als „Vor-bild“ genommen wird, dann müsste dies für alle Renten aus der GRV gelten und nicht nur für die „Mütterrenten“.

11. Die Konsequenzen einer vermutlich auch verfas-sungsrechtlich gebotenen Gleichstellung von Renten allgemein und nicht nur Leistungen aus einer zusätzlichen Altersvorsorge sind aber zu bedenken. Der Kreis der Leistungsempfänger der Grundsicherung würde sich erheblich vergrößern und innerhalb der Grundsicherung entstehen Leistungsberechtigte „erster und zweiter Klasse“. Für diejenigen, die Renten aus welchen Quellen

auch immer erhalten, liegt das sozial-kulturelle Existenzminimum höher als bei jenen, die diese Vorleistungen nicht erbracht haben. Eine solche „vorleistungsabhängige“ Höhe der Grundsiche-rung müsste sich konsequenterweise dann auch auf Leistungen nach dem SGB II beziehen: Wa-rum erhalten Arbeitslose, die wegen einer zu ge-ringen (beitragsfinanzierten!) Arbeitslosengeld Anspruch auf ein aufstockendes Arbeitslosengeld II keine Freistellung?

Zurechnungszeiten

12. Vorgesehen ist, die Zurechnungszeiten bei Ren-ten wegen Erwerbsminderung ab 2019 in einem ersten Schritt auf 65 Jahre und 8 Monate zu erhö-hen und daran anschließend deren schrittweise Erhöhung auf 67 Jahre vorzunehmen. Dieser An-satz schließt an die Anhebung der Zurechnungs-zeiten an, die mit dem Rentenversicherungs-Leis-tungsverbesserungsgesetz von 2014 und mit dem EM-Leistungsverbesserungsgesetz von 2017 be-schlossen worden sind, und wird mit dazu bei-tragen, die EM-Renten in ihrer Höhe zukünftig besser ausfallen. Allerdings gilt dies – wie auch schon bei den vorherigen Regelungen – nur für Rentenneuzugänge. Dahinter stehen administra-tiv-verwaltungstechnische Probleme aber zwei-felsohne vor allem finanzielle Überlegungen. Dies ist für die Betroffenen, die bereits eine EM-Rente beziehen oder bald beziehen werden, schwer vermittelbar, weil sich an deren, häufig misslicher Einkommenslage nichts ändert.

13. Der Antrag der Fraktion „DIE LINKE“ fordert nicht nur vor, dass die Zurechnungszeit von 62 und auf 65 Jahre verlängert wird, (die Regierung sieht indes eine Verlängerung auf 65 Jahre und 8 Monate vor), sondern dass auch die Abschläge für Erwerbsminderungsrenten – im Bestand wie im Neuzugang – abgeschafft werden. Eine solche Regelung ist aber keinesfalls sinnvoll, denn die Abschläge in der maximalen Höhe von 10,8 % werden mittlerweile durch die Zurechnungszei-ten kompensiert. Bei einer Doppelung von Zu-rechnungszeiten und fehlenden Abschlägen wür-den sich EM-Rentner_innen bei der Höhe ihrer Rente deutlich besser stellen als Rentner_innen, die mit zeitgleichem Beginn, z.B. mit 63 Jahren, eine vorgezogene Altersrente mit Abschlägen be-ziehen. Schon bei der von der Bundesregierung vorgelegten Regelung ist nicht zu übersehen, dass eine EM-Rente unter bestimmten Konstellationen höher ausfällt als eine vorgezogene Altersrente, wie dies Berechnungen der Deutschen Renten-versicherung Bund zeigen.

Entgeltpunkte im Einstiegsbereich

14. Vorgesehen ist eine Erweiterung der bisherigen Midi-Job-Zone (450 Euro bis 850 Euro) von 450 Euro bis 1.300 Euro. Eine solche Ausdehnung ist nicht rentenpolitisch begründet, sondern arbeits-markt- und verteilungspolitisch. Bezieher_innen von niedrigen Arbeitsentgelten, die wegen der Höhe des steuerlichen Grundfreibetrags von Sen-kungen der Lohnsteuer nicht profitieren, sollen in ihren Nettoentgelten entlastet werden – mehr Netto vom Brutto, so etwa lautet die Zielvorstel-lung, da in der Midi-Zone - jetzt als Einstiegsbe-reich bezeichnet – die Arbeitnehmerbeitragssätze

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zu den Zweigen der Sozialversicherung nicht so-fort die volle Höhe erreichen, sondern schritt-weise ansteigen. Neu ist, dass zukünftig die An-wartschaften in der Gesetzlichen Rentenversiche-rung trotz der niedrigen Beitragssätze nicht mehr zu niedrigeren Rentenansprüchen führen sollen.

Der Eingangsbeitragssatz setzt derzeit auf einem reduzierten Niveau von 10,7% an, um einen ab-rupten Sprung in der Beitragsbelastung zu ver-meiden. Mit steigendem Bruttoverdienst erhöht sich dann der Beitragssatz gleitend und erst bei einem Einkommen von 850 € wird das reguläre Niveau erreicht („Gleitzone“) erreicht. Diese Zone soll also bis zu einem Einkommen von 1.300 Euro verlängert und der Progressionsver-lauf der Beitragssätze entsprechend gestreckt werden.

15. Die bisherigen Erfahrungen mit der Inanspruch-nahme von Arbeitsverhältnissen in der Gleitzone lassen es als fraglich erscheinen, ob dadurch de-ren Akzeptanz steigt. Insgesamt kann es auch nicht das Ziel sein, Beschäftigte – und hier han-delt es sich weit überwiegend um Frauen – durch finanzielle Anreize im Bereich niedriger Arbeits-verdienste und niedriger Arbeitszeiten festzuhal-ten. Vielmehr ist es aus mehreren Gründen gebo-ten, die „gläserne Decke“ von Arbeitsverhältnis-sen im niedrigen Stunden- und Einkommensbe-reich zu überwinden, so dass auch ausreichend hohe Rentenansprüche erworben werden kön-nen.

16. Wenn nun – finanziert aus Beitragsmitteln – die Rentenansprüche im Einstiegsbereich von den geringeren Arbeitnehmerbeitragssätzen abgekop-pelt werden, so ist dies sicherlich ein Verstoß ge-gen das Prinzip der Äquivalenz. Allerdings ist die Rentenversicherung als Sozialversicherung dadurch geprägt, dass der Solidarausgleich das Äquivalenzprinzip ergänzt. Die Regelung der Rente nach Mindestentgeltpunkten ist dafür ein gutes Beispiel. Allerdings sind diese und auch andere Regelungen des Solidarausgleich an versi-cherungsrechtliche Voraussetzungen geknüpft, so vor allem an die Versicherungsdauer (35 Jahre rentenrechtliche Zeiten). Außerdem erfolgt eine Höherbewertung nur dann, wenn im Verlauf der gesamten Versicherungsbiografie der Durch-schnitt des Rentenanspruchs unter 75 Prozent des Durchschnittseinkommens liegt.

Dies alles ist bei der von der Bundesregierung vorgesehen Regelung nicht der Fall. Jede Er-werbs- und Versicherungsphase im Einstiegsbe-reich wird pauschal begünstigt. Dies ist vor allem

deshalb nicht vertretbar, weil nicht unterschie-den werden kann, ob es sich um ein Teilzeitbe-schäftigungsverhältnis (mit womöglich hohen Stundenlöhnen) oder um ein Vollzeitbeschäfti-gungsverhältnis (mit womöglich sehr niedrigen Stundenlöhnen) handelt. Berücksichtigt wird ebenfalls nicht, ob dies das einzige Einkommen ist oder ob andere und höhere Einkommen die ei-gentliche Basis für den Lebensunterhalt darstel-len, so etwa Einkommen aus selbstständiger Tä-tigkeit. Ob und inwieweit die Tätigkeit im Ein-stiegsbereich im Alter überhaupt zu niedrigen in-dividuellen Renten führt, ist ebenfalls unerheb-lich, da die Dauer der Beschäftigung im Nied-rigeinkommenssektor – im Unterschied zur Rente nach Mindestentgeltpunkten - keine Rolle spielt.

17. Angesichts dieser und anderer verteilungspoliti-scher Fragwürdigkeiten sollte von dem Vorhaben Abstand genommen werden. Begünstigt werden auch Personen, die des Solidarausgleichs der Rentenversicherung nicht bedürfen, finanzieren müssen dies über ihre vollen Beitragssätze nicht zuletzt Arbeitnehmer_innen, die bei Vollzeitar-beit mehr als 1.300 Euro verdienen, dabei aber gerade einmal die Niedriglohnschwelle (Stun-denlohn) überschreiten.

18. Vorrangig sollte es demgegenüber sein, die Über-gangsschwelle zwischen dem Minijob-Sektor und dem Midijob-Sektor abzuschwächen. Dies setzt eine Veränderung des Steuerrechts, konkret des Ehegattensteuersplittings und der Regelung der Steuerklassen III und V voraus. Denn in der Steu-erklasse III sind die Steuersätze niedrig, in der Steuerklasse V hoch. Bezogen auf das gemein-same Nettoeinkommen eines Paares rechnet sich das dann, wenn (in aller Regel) die Frau nur ein geringes Einkommen hat (Steuerklasse V) und der Ehemann hingegen ein höheres Einkommen (Steuerklasse III).

Wird die Steuerklasse V gewählt, dann kommt es beim Überschreiten der 450 Euro Schwelle auf-grund der hohen Steuerabzüge zu einem markan-ten Rückgang des Nettoeinkommens: Bei einem Verdienst von 451 Euro werden nur noch rund 351 Euro ausgezahlt. Erst bei einem Bruttoein-kommen von 620 Euro wird der Nettobetrag von 450 Euro wieder erreicht. Ein Überschreiten der Geringfügigkeitsgrenze ist für die Betroffenen da-her äußerst unattraktiv; es besteht ein hoher An-reiz zur Reduzierung der Arbeitsstunden oder aber - gemeinsam mit dem Arbeitgeber - zur Um-gehung des Mindestlohns.

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DEUTSCHER BUNDESTAG Ausschussdrucksache 19(11)164 Ausschuss für Arbeit und Soziales 29. Oktober 2018 19. Wahlperiode

Schriftliche Stellungnahme

zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 05. November 2018, um 15:00 Uhr zum

a) Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzli-chen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz) - BT-Drs. 19/4668

b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Schielke-Ziesing, Marc Bernhard, Stephan Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Anrechnungsfreistellung der Mütterrente beziehungsweise der Rente für Kindererzie-hungszeiten bei der Grundsicherung im Alter BT-Drs. 19/4843

c) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Vollständige Gleichstellung und gerechte Finanzierung der Kindererziehungszeiten in der Rente umsetzen – Mütterrente verbessern - BT-Drs. 19/29

d) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Die Erwerbsminderungsrente stärken BT-Drs. 19/31

Prof. Dr. Felix Welti, Kassel

Vorbemerkung zur Person

Als Leiter des Fachgebiets Sozial- und Gesundheits-recht, Recht der Rehabilitation und Behinderung des Fachbereichs Humanwissenschaften der Universität Kassel bin ich mit dem hier in Rede stehenden Rechts- und Politikbereich laufend befasst, u.a. im Rahmen des Projekts „Partizipatives Monitoring Re-habilitations- und Teilhaberecht“ (vgl. www.reha-recht.de).

Zur Reform der Erwerbsminderungsrente habe ich einen Forschungsbericht publiziert, auf den ergän-zend zu dieser Stellungnahme verwiesen wird (Felix Welti/ Henning Groskreutz, Soziales Recht zum Aus-gleich von Erwerbsminderung, Reformoptionen für Prävention, Rehabilitation und soziale Sicherung bei Erwerbsminderung. Reihe: Arbeitspapier, Arbeit und Soziales, Bd. 295. Düsseldorf: 2013, 122 Seiten; Kurzfassung in: Soziale Sicherheit 2013, 308-311).

Die Stellungnahme gibt, soweit nicht anders gekenn-zeichnet, ausschließlich meine persönliche Auffas-sung wider. Sie konzentriert sich auf die die Er-werbsminderungsrente betreffenden Teile des Ge-setzentwurfs und der Anträge.

I. Sicherungsziele der gesetzlichen Rentenversiche-rung: Ausgangslage nach Verfassungsrecht und Völ-kerrecht

Es ist sehr erfreulich, dass die Bundesregierung und der Gesetzgeber mit dem vorgelegten Gesetzentwurf nach dem RV-Leistungsverbesserungsgesetz und dem EM-Leistungsverbesserungsgesetz in der 18. Wahlperiode in der 19. Wahlperiode erneut das Problem unzureichender Sicherung bei Erwerbsmin-derung angehen. Ebenso ist zu begrüßen, dass ein angemessenes und stabiles Sicherungsniveau als übergreifendes Ziel des Gesetzentwurfs benannt wird. Gleichwohl bleibt Kritik zu benennen.

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1. Sozialpolitische und verfassungsrechtliche Legiti-mität

Der deutsche soziale Rechtsstaat ist bisher gerade deshalb akzeptiert und erfolgreich gewesen, weil er große Lebensrisiken durch verlässliche Rechtspositi-onen sichert. Eine wichtige sozialpolitische Gestal-tungsaufgabe ist dabei, die Prinzipien Leistungsge-rechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit zu gewichten1. Die Rentenversicherung für die Risiken Alter, Er-werbsminderung und Unterhaltsausfall berücksich-tigt als Sozialversicherung die Leistungsgerechtigkeit durch ihren Beitragsbezug und die Bedarfsgerechtig-keit durch allgemeinen Zugang (§§ 1-7 SGB VI) und Armutssicherung.

Gelingt der Ausgleich, sichert dies die politische Le-gitimation und die rechtliche Legitimität der Renten-versicherung. Die Pflichtmitgliedschaft in der Sozial-versicherung sieht das Bundesverfassungsgericht als Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit2. Dieser Eingriff muss sich legitimieren, indem er die Men-schen besser stellt, als sie ohne Sozialversicherung stehen würden3. Das wird sichtbar, wenn das Leis-tungsniveau typischerweise oberhalb der Grundsi-cherung liegt. Weiterhin muss ein Vorteil gegenüber der privaten Vorsorge erkennbar sein, der auch in der politisch und rechtlich verbürgten Stabilität ei-nes öffentlichen allgemeinen Systems liegen kann. Zudem wird durch sozialen Ausgleich ein Beitrag zur Integration der Gesellschaft und zur Teilhabe der Menschen geleistet.

Reformen der gesetzlichen Rentenversicherung seit 1997 hatten dazu beigetragen, die politische Legiti-mation und rechtliche Legitimität der gesetzlichen Rentenversicherung zu gefährden. Die Senkung des Rentenniveaus bei allen Risiken hatte dazu geführt, dass immer häufiger das Niveau der Grundsicherung nicht überschritten wird, insbesondere beim Risiko Erwerbsminderung4. Der Verzicht auf Mindestsiche-rungselemente innerhalb der Rentenversicherung und die Anhebung des Renteneintrittsalters sind zu-sätzlich als ein Verzicht auf sozialen Ausgleich wahrgenommen worden, letztere, weil sich be-stimmte Personengruppen zur Hinnahme von Ab-schlägen genötigt sahen.

1 Vgl. Florian Blank/ Karin Schulze Buschoff, Arbeit, Leistungsgerechtigkeit und Alterssicherung im deutschen Wohlfahrts-staat, WSI-Mitteilungen 2013, 313-320; Irene Becker, Chancen-, Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit in Deutschland – An-

spruch und Wirklichkeit, Sozialer Fortschritt 2013, 267-274; Franz Ruland, Gerechtigkeit in der Rentenversicherung, rv 2010, 205-215; Hans F. Zacher, Verfassung und Sozialrecht in: Das akzeptierte Grundgesetz, Festschrift für Günter Dürig, München, 1990, 67-90; ders. Alterssicherung – Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung, DRV 187, 714-738. 2 BVerfG, B. v. 6.12.2005, 1 BvR 347/98, BVerfGE 115, 25. 3 Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 26.7.2007, 1 BvR 824/03, 1 BvR 1247/07, NZS 2008, 254. 4 Vgl. Stefanie Märtin/ Pia Zollmann, Sozioökonomische Situation von Menschen mit Erwerbsminderung, Rv aktuell 2011,

121-126; Christine Hagen/ Ralf K Himmelreicher/ Daniel Kemptner/ Thomas Lampert, Soziale Ungleichheit und Risiken der Erwerbsminderung, WSI-Mitteilungen 2011, 336-344; Gerhard Bäcker, Erwerbsminderungsrenten im freien Fall, Soz-Sich 2012, 365-373. 5 Vgl.: Ingo Bode/ Felix Wilke, Private Vorsorge als Illusion, 2014; Maik Wels/ Christian Rieckhoff, Lohnt sich die Riester-Rente? – Ausgewählte Renditeberechnungen in der Diskussion, DRV 2012, 36-44; Simone Leiber, Aufwachen oder weiter-machen? - Alterssicherung und Altersarmut im Lichte der Finanz- und Wirtschaftskrise in: Sozialpolitik und Sozialstaat,

Festschrift für Gerhard Bäcker, Wiesbaden, 2012. 6 So möchten die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ihre Alterssicherung nach dem Abgeordnetengesetz nicht der Entwicklung der Kapitalmärkte überlassen, MdB Dr. Johann Wadephul (CDU), 18. Sitzung, 18. Wahlperiode, Plenarproto-

koll S. 1381.

2. Völkerrechtliche Verpflichtungen

Ein angemessenes soziales Sicherungsniveau bei Er-werbsminderung ist auch nach den völkerrechtli-chen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutsch-land aus den sozialen Menschenrechten geboten. So fordert Art. 11 Abs. 1 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozi-alpakt) das Recht einer jeden Person auf angemesse-nen Lebensstandard sowie auf eine stetige Verbesse-rung der Lebensbedingungen. Art. 28 Abs. 1 der UN-Behindertenrechtskonvention präzisiert, dass dieses Recht ohne Diskriminierung aufgrund von Behinde-rung zu verwirklichen ist. Daraus ergibt sich, dass das spezifisch mit Behinderung verbundene Risiko der Erwerbsminderung nicht schlechter gestellt wer-den darf als ein vergleichbares anderes soziales Ri-siko.

3. Unzureichende Zielnormen und Berichtspflichten bei Erwerbsminderung

Wünschenswert wäre, dass in § 154 SGB VI explizit ein angestrebtes Sicherungsniveau für alle drei in der Rentenversicherung gesicherten Risiken ausge-wiesen wird. In der aktuellen Fassung beziehen sich die Handlungsaufträge der Regelung im Wesentli-chen auf die Alterssicherung. Entsprechend wird auf der Grundlage von § 154 Abs. 2 SGB VI bislang nur über die Entwicklung des Alterssicherungsniveaus und über die anderen Alterssicherungssysteme be-richtet. Es fehlt jedoch eine vergleichbare Berichter-stattung über die Risiken der Erwerbsminderung und diejenigen der Witwen und Waisen.

II. Ausgleich durch private Vorsorge?

Die gegenwärtigen Regelungen zum Rentenniveau gehen nach § 154 Abs. 2 Satz 2 SGB VI davon aus, dass das Sicherungsziel der Rentenversicherung im Zusammenhang mit öffentlich geförderter privater Altersvorsorge erreicht werden soll. Klärungsbedürf-tig ist, wie der Gesetzgeber heute zu privater Vor-sorge gegen Risiken der gesetzlichen Rentenversiche-rung allgemein und gegen das Einkommensrisiko bei Erwerbsminderung im Besonderen steht.

Die Chancen kapitalgedeckter Vorsorge wurden ins-gesamt überzeichnet5. Als deren Risiken durch die Finanzkrise wieder stärker bewusst wurden6, stärkte

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das zwar die politische Legitimität der Rentenversi-cherung. Die mit den unzutreffenden Renditeerwar-tungen für die Riester-Rente begründeten Niveauab-senkungen aller Rentenarten, auch der Erwerbsmin-derungsrente, blieben jedoch erhalten. Zudem blieb es bei dem Problem, dass der Rentenwert für alle sank, die private Vorsorge jedoch gerade von gerin-ger verdienenden Versicherten wenig genutzt wird7.

Eine private Vorsorge gegen Erwerbsminderung ist gerade für gesundheitlich vorbelastete Personen und solche in gesundheitsgefährdenden Berufen unmög-lich8. Risikoadäquate Kalkulation von privaten Ver-sicherungen gegen Erwerbsminderung ist weiterhin zulässig (§ 20 Abs. 2 Satz 2 AGG), so dass diese für Menschen mit Behinderungen kaum zugänglich sind. Die aus Steuermitteln geförderten Vorsorgever-träge müssen auch heute noch keine Sicherung ge-gen Erwerbsminderung enthalten (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AltZertG).

III. Anhebung der Zurechnungszeit

1. Ziele der höheren Zurechnungszeit

Die Zurechnungszeit (§§ 59, 253a SGB VI) drückt aus, bis zu welchem Alter die verhinderte Erwerbstä-tigkeit hochgerechnet wird. Der frühere Abstand von fünf Jahren drückte aus, dass der Gesetzgeber das Ziel der Risikosicherung niedriger gewichtet hatte als das der Alterssicherung. Die Anhebung durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz 2014 hatte die-sen Abstand von fünf Jahren bei Erhöhung des Al-tersrenten-Eintrittsalters auf 67 nur gleich gehalten. Die Anhebung der Zurechnungszeit um weitere drei Jahre für Rentenneuzugänge durch das EM-Leis-tungsverbesserungsgesetz ab 2018 war ein wichtiger erster Schritt zur Korrektur des Missverhältnisses zwischen den durch die Rentenversicherung gesi-cherten Risiken. Die nun durch den vorgelegten Ge-setzentwurf geplante schnelle Anhebung der Zurech-nungszeit ab 2019 auf die Regelaltersgrenze und die nachfolgende Anpassung an deren weitere Anhe-bung ist ein wichtiger und konsequenter Schritt zur angemessenen Sicherung des Risikos Erwerbsminde-rung und zur Verringerung der Armut bei Erwerbs-minderung und von zuvor Erwerbsgeminderten im Alter.

2. Anhebung der Zurechnungszeit nur für Renten-Neuzugänge

Problematisch ist, dass die Anhebung der Zurech-nungszeit nach dem vorgelegten Gesetzentwurf ebenso wie diejenigen nach dem EM-Leistungsver-besserungsgesetz 2017 und nach dem RV-Leistungs-verbesserungsgesetz 2014 nur den Neuzugängen in Rente zugutekommt. Die Höhe der Bestandsrenten bleibt davon unbeeinflusst. Das hat zur Folge, dass diejenigen Personen, die vor den Neuregelungen, insbesondere in den rentenrechtlich „mageren Jah-ren“ seit 2001, in Erwerbsminderungsrente gehen

7 Vgl. Thorsten Heier/ Jochen Heckmann/ Konrad Haker/ Steffen Walther, Wer sorgt (wie) für das Alter vor? Herangehens-

weise und Ergebnisse der Personenbefragung zur „Verbreitung der Altersvorsorge 2011“, DRV 2013, 173-192. 8 Vgl. Wolfgang Römer, Reformpolitische Optionen zur Schließung der BU-Lücken, VuR 2010, 366-370; OLG Karlsruhe, Urt. V. 18.12.2007, 12 U 117/07, ZfSch 2008, 149. 9 So auch die Kommission „Gesetzliche Rentenversicherung“ des Deutschen Sozialgerichtstags, vgl. Jürgen Mälicke in: Deutscher Sozialgerichtstag (Hrsg.), Sozialstaat und Europa – Gegensatz oder Zukunft?, Stuttgart 2016, 161-165. 10 BVerfG, B. v. 11.1.2011, 1 BvR 3588/08, 1 BvR 555/09, BVerfGE 128, 138; BSG, Urt. V. 14.8.1008, B 5 R 140/07 R, juris;

Thorsten Koop, Abschläge bei Renten wegen Erwerbsminderung aus verfassungsrechtlicher Sicht, DRV 2010, 67-81.

mussten und dauerhaft erwerbsgemindert geblieben sind, auf dem niedrigen Rentenniveau verharren und damit später in die Altersrente gehen werden. Chan-cen, ihre Alterssicherung während des Rentenbezugs zu verbessern, hat diese Gruppe praktisch nicht-

Sozialpolitisch wird damit nicht nur eine Kohorte schlechter gestellt als die andere – das ist im be-stimmten Umfang unvermeidlich –, sondern es sind besonders diejenigen betroffen, die auf Grund eines besonders schlechten Gesundheitszustands keine Chance mehr hatten und haben werden, die Er-werbsminderungsrente auch nur vorübergehend zu verlassen. Eine solche Schlechterstellung der ge-sundheitlich besonders stark Beeinträchtigten ist so-zialpolitisch kaum zu rechtfertigen und kann auch verfassungsrechtlich bedenklich sein. Differenzie-rungsgrund ist der Zeitpunkt des (letztmaligen) Ein-tretens der Erwerbsminderung, der von den Versi-cherten nicht beeinflusst werden kann und konnte.

Bei gleichzeitigen Leistungsverbesserungen für Neu-zugänge und an anderer Stelle in der Rentenversi-cherung kann jedenfalls die finanzielle Stabilität der Rentenversicherung nicht alleine legitimieren, dass gerade die besonders schlecht gestellte Gruppe der Bestands-Erwerbsminderungsrentner auf dem bishe-rigen Niveau verbleibt. Auch im vorgelegten Gesetz-entwurf wird deutlich (BT-Drucks. 19/4668, 26), dass andere Reformen deutlich mehr Geld kosten, obwohl sie viel weniger zielgenau von Armut gefähr-dete Gruppen unterstützen.

Sinnvoll wäre es daher, für diejenigen Versicherten, die zwischen 2001 und 2018 in eine noch laufende Erwerbsminderungsrente oder in eine mittlerweile als Altersrente gezahlte Erwerbsminderungsrente ge-gangen sind, einen wirkungsgleichen Zuschlag zur Rente vorzusehen. Dieser könnte zur Verwaltungs-vereinfachung in einer einmaligen Erhöhung um ei-nen entsprechend zu errechnenden Prozentbetrag bestehen. Angesichts der niedrigen Zahlbeträge in dieser Gruppe wäre diese Maßnahme ein besonders effektiver Beitrag zur Bekämpfung der Altersarmut.

IV. Abschläge

Die Abschläge, mit denen die Versicherten so ge-stellt werden, als seien sie freiwillig fünf Jahre frü-her in Altersrente gegangen (§ 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI), bleiben systemwidrig9. Sie vergrößern die durch die oft fehlende Möglichkeit der Privatvor-sorge angelegte Lücke zum Niveau der Alterssiche-rung.

Die Erwerbsminderungsrente wird aus individuell überprüften zwingenden gesundheitlichen Gründen regelhaft befristet in Anspruch genommen. Sie ist keine freiwillige „Frührente“. Zwar haben Bundesso-zialgericht und Bundesverfassungsgericht die Ab-schläge gebilligt10. Doch hat das Bundesverfassungs-

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gericht dies alleine mit dem Spielraum des Gesetzge-bers für Sparmaßnahmen begründet. Systematisch und sozialpolitisch bleiben die Abschläge verfehlt. Ihre Abschaffung ist mit dem Antrag 19/31 zu befür-worten.

Die Bundesregierung argumentiert, die Abschläge stellten sicher, dass Altersrenten und Erwerbsminde-rungsrenten hinsichtlich des vorzeitigen Rentenbe-zugs grundsätzlich gleichbehandelt würden, um die längere Rentenlaufzeit auszugleichen (BT-Drucks. 19/4668, 3). Diese Argumentation geht fehl, da Er-werbsminderungsrente nicht „vorzeitig“ in An-spruch genommen werden kann, sondern immer erst (und nur solange), wenn und soweit das versicherte Risiko eingetreten ist. Allenfalls könnte an eine Gleichstellung in Fällen gedacht werden, in denen die Erwerbsminderung in einem Alter eintritt, in dem auch eine vorzeitige Altersrente möglich ist.

Die meisten Erwerbsminderungsrenten werden aber deutlich früher in Anspruch genommen als kurz vor der Altersrente. Die Erwerbsminderung tritt dann in einem Alter ein, in dem – auch krankheitsbedingt - weniger Entgeltpunkte in der gesetzlichen Renten-versicherung erreicht werden konnten11 und in dem oft noch keine private Vorsorge und Vermögensbil-dung möglich war. So sind z.B. die durchschnittli-chen Zahlbeträge von 30-40-jährigen Erwerbsgemin-derten deutlich niedriger als bei über 50-jährigen Er-werbsgeminderten12. Die Abschläge gelten aber auch für diese altersrentenfernen Jahrgänge.

V. Versicherungsrechtliche Voraussetzungen, WfbM-Beschäftigte

Zu fragen bleibt auch, ob und wie die versicherungs-rechtlichen Voraussetzungen bei Erwerbsminderung beibehalten werden sollten. Sie benachteiligen vor allem die von Geburt oder Jugend an behinderten und erwerbsgeminderten Menschen. Ihr Weg in die rentenversicherte Solidargemeinschaft führt heute nur über die Beschäftigung in den Werkstätten für behinderte Menschen als Sondereinrichtung (vgl. §§ § 1 Satz 1 Nr. 2, 43 Abs. 6, 168 Abs. 1 Nr. 2, 179 SGB VI). Das ist, auch im Hinblick auf das Recht auf Zugang zu einem inklusiven Arbeitsmarkt nach Art. 27 UN-BRK und das Recht auf angemessenen Lebensstandard und sozialen Schutz nach Art. 28 der UN-Behindertenrechtskonvention zu überprü-fen13. Die Sonderstellung der WfbM-Beschäftigung beim Zugang zur Erwerbsminderungsrente ist vom UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Be-hinderungen zu Recht als Barriere für einen inklusi-ven Arbeitsmarkt problematisiert worden.

11 Vgl. Pia Zollmann/ Stefanie Märtin, Gravierender Rückgang der versicherungspflichtigen Entgelte in den Jahren vor Zu-gang in die Erwerbsminderungsrente, RV aktuell 2013, 187-196. 12 BMAS, Die Rentenbestände in der gesetzlichen Rentenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Stand 1. Juli

2016, Bonn 2017, S. 42. Zum Beispiel 690,88 € für 35-jährige Erwerbsgeminderte im Vergleich zu 771,37 € für 58-jährige Erwerbsgeminderte. 13 Vgl. Sabine Wendt, Reformvorschläge zur Beschäftigung von voll erwerbsgeminderten Personen auf dem allgemeinen

Arbeitsmarkt, Behindertenrecht 2010, 149-155. 14 Vgl. Olaf Deinert, Befristete Erwerbsminderungsrente und dann …?, Sozialrecht aktuell Sonderheft 2018, 30-33. 15 Vgl. Felix Welti, Befristete Erwerbsminderungsrente – und dann? – Sozialrechtliche Implikationen, Sozialrecht aktuell

Sonderheft 2018, 34-37.

In der Gesetzgebung zum Bundesteilhabegesetz in der 18. Wahlperiode ist dieses Problem nicht gelöst worden.

VI. Befristung der Erwerbsminderungsrente

Erwerbsminderungsrenten sind nach dem gesetzli-chen Leitbild regelhaft befristet (§ 102 Abs. 2 SGB VI). Das ist grundsätzlich richtig, da Erwerbs-minderung auch wieder aufgehoben werden kann. Problematisch ist jedoch, dass andere Normen des Arbeitsrechts14 und des Sozialrechts15 damit nicht abgestimmt sind.

1. Keine Sicherung des Arbeitsverhältnisses

So ist es nach wie vor möglich, dass ein Arbeitsver-hältnis wegen Eintritt in eine befristete Erwerbsmin-derungsrente beendet wird anstatt zu ruhen oder mit verminderter Arbeitszeit fortgeführt zu werden. Für eine entsprechende tarifliche Regelung (§ 33 TVÖD) ist der Bund mitverantwortlich.

2. Kein Schutz der Arbeitslosenversicherung für alle

Weiterhin besteht nach § 26 Abs. 2 Nr. 3 SGB III nur für solche Erwerbsminderungsrentner der Schutz der Arbeitslosenversicherung, die unmittelbar vor Ren-tenbeginn versicherungspflichtig waren. Personen, die vor Rentenbeginn Arbeitslosengeld II bezogen haben oder nur wegen Einkommens und Vermögens ihrer Bedarfsgemeinschaft nicht beziehen konnten, sind bei Arbeitslosigkeit nach der EM-Rente wiede-rum ohne Schutz der Sozialversicherung für den Le-bensunterhalt.

3. Benachteiligung bei der Grundsicherung

Erwerbsminderungsrenten sind nicht immer exis-tenzsichernd. Ist die volle Erwerbsminderung dauer-haft, kann Grundsicherung im Alter und bei Er-werbsminderung in Anspruch genommen werden (§ 41 Abs. 3 SGB XII). Bei dieser Leistung sind Un-terhaltsansprüche der Leistungsberechtigten gegen-über ihren Kindern oder Eltern nicht zu berücksich-tigen, es sei denn deren jährliches Einkommen be-trägt mehr als 100.000 Euro (§ 43 Abs. 5 SGB XII). Ist die volle Erwerbsminderungsrente befristet, kann die Grundsicherung nach § 41 SGB XII nicht in An-spruch genommen werden, sondern nur die Hilfe zum Lebensunterhalt (§ 27 SGB XII). Hier sind Un-terhaltsansprüche der Erwerbsminderungsrentner gegen ihre Eltern und Kinder im stärkeren Umfang (§§ 93, 94 SGB XII) zu berücksichtigen. Für diese Ungleichbehandlung von befristet Erwerbsgeminder-ten ist kein sachlicher Grund erkennbar.

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VII. Prävention und Rehabilitation vor und wäh-rend Erwerbsminderung

Jede Sicherung vor und bei Erwerbsminderung setzt voraus, dass die Prävention und Rehabilitation effek-tiv ausgestaltet werden.

1. Deckelung des Rehabilitationsbudgets

Das ist auch eine Frage der verfügbaren Mittel. Die durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz 2014 be-schlossene Fortschreibung des Rehabilitationsbud-gets (§ 220 SGB VI) an Hand der demografischen Entwicklung war dazu nur ein erster Schritt. Wenn sich Rehabilitation individuell und kollektiv lohnt, dann muss sie auch bedarfsgerecht geleistet werden und nicht nach Kassenlage. Die Verknüpfung mit der demografischen Entwicklung kann sogar noch zu ei-nem Sinken des Budgets führen. Doch weisen viele Ergebnisse der Rehabilitationsforschung darauf hin, dass es effektiver wäre, schon in jüngeren Jahren zu leisten16 und dass der Rehabilitationsbedarf bei jün-geren Versicherten steigt, etwa wegen psychischer Krankheiten17. Wer langjährigen Rentenbezug ver-meiden will, muss früh ansetzen und darf nicht an der medizinischen und beruflichen Rehabilitation sparen.

2. Eingeschränkte Rehabilitation während befriste-ter EM-Renten

Rehabilitation muss, gerade bei befristeten Erwerbs-minderungsrenten, auch während des Rentenbezugs möglich sein. Für sie ist systemgerecht die Renten-versicherung zuständig (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI). Sie müsste in diesen Fällen sogar gezielt gefördert werden, um eine Überwindung der Erwerbsminde-rung zu ermöglichen. Dem steht jedoch oft der Leis-tungsausschluss entgegen, wonach Versicherte erst nach Ablauf von vier Jahren erneut eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation bekommen sollen (§ 12 Abs. 2 SGB VI). Ist im Jahr vor der Berentung eine Leistung in Anspruch genommen worden, kann dies zu einem Leistungsausschluss während der gan-zen dreijährigen Befristungszeit führen, so dass keine Rehabilitation zur Wiedergewinnung der Er-werbsfähigkeit möglich ist.

3. Stufenweise Wiedereingliederung

Als effektives Mittel zur Prävention und Rehabilita-tion hat sich schon in den letzten Jahren die stufen-weise Wiedereingliederung (§ 44 SGB IX) bei Ar-beitsunfähigkeit erwiesen, bei der länger andauernd Erkrankte im Rahmen der Rehabilitation wieder im Betrieb tätig werden während die Rentenversiche-rung Übergangsgeld oder die Krankenkasse Kranken-geld leistet18. Wenn die betrieblichen Akteure des

16 Vgl. Oskar Mittag, „Reha vor Rente“ in der Domäne der Rentenversicherung – Befunde zur Umsetzung, Sozialrecht aktu-

ell Sonderheft 2018, 20-24; Oskar Mittag/ Christina Reese/ Cornelia Meffert, (Keine) Reha vor Rente: Analyse der Zugänge zur Erwerbsminderungsrente 2005-2009, WSI-Mitteilungen 2014, 149-155. 17 Vgl. auch Rolf Buschmann-Steinhage, Budgetprobleme in der Rehabilitation, Die Rehabilitation 2012, 81-88. 18 Wolfgang Bürger/ M. Streibelt, Wer profitiert von Stufenweiser Wiedereingliederung in Trägerschaft der Gesetzlichen Rentenversicherung, Die Rehabilitation 2011, 178-185; Katja Nebe, Prävention und Rehabilitation – Erhaltung und Wieder-herstellung der Erwerbsfähigkeit als Schnittstellenproblem, SDSRV 63 (2013), 57-76. 19 § 84 Abs. 2 SGB IX; BAG, Urt. v. 13.3.2012, 1 ABR 78/10, BAGE 141, 42; BAG, Urt. v. 30.9.2010, 2 AZR 88/09, BAGE 135, 361; BAG, Urt. v. 10.12.2009, 2 AZR 198/09, NZA 2010, 639; BAG, Urt. v. 23.4.2008, 2 AZR 1012/06, BB 2008, 515; BAG, Urt. v. 12.7.2007, 2 AZR 716/06, BAGE 123, 234; Olaf Deinert, Kündigungsprävention und Betriebliches Eingliede-

rungsmanagement, NZA 2010, 969-975.

Arbeitsrechts und die Sozialversicherungsträger noch stärker als bisher die stufenweise Wiederein-gliederung als Standard in Fällen länger dauernder Krankheit praktizieren, verursacht dies zunächst Kosten, kann jedoch in vielen Fällen die Ausgliede-rung aus dem Erwerbsleben gestoppt werden.

4. Betriebliches Eingliederungsmanagement

Arbeitsrechtlicher Anknüpfungspunkt ist die Pflicht des Arbeitgebers, für alle Beschäftigten, die inner-halb eines Jahres sechs Wochen arbeitsunfähig sind, ein Betriebliches Eingliederungsmanagement durch-zuführen (§ 164 SGB IX). Diese Regelung ist, vermit-telt durch die betriebliche Mitbestimmung, vor allem in größeren Betrieben und durch die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte zum Kündigungsschutz19, bereits in vielen Betrieben wirksam geworden. Es fehlt je-doch noch an einer klaren Regelung, dass das Be-triebliche Eingliederungsmanagement im Ganzen ein Mitbestimmungstatbestand ist. Für kleinere und mittlere Betriebe bedarf es mehr externer Unterstüt-zung. Hierfür könnte es sinnvoll sein, dass die Ren-tenversicherung verbindlich in das Verfahren einzu-beziehen ist, damit die Möglichkeiten der medizini-schen und beruflichen Rehabilitation erschlossen werden können. Der 18. Deutsche Bundestag hat im Kontext des Bundesteilhabegesetzes zu Recht mehr Aufmerksamkeit der Bundesregierung, der Bundes-arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation und der Reha-bilitationsträger für das Betriebliche Eingliederungs-management und die Erstellung einer gemeinsamen Empfehlung zum BEM gefordert (BT-Drucks. 18/10528, S. 4). Der Bundestag der 19. Wahlperiode sollte diesen Auftrag erneuern.

5. Koordination und Kooperation

Schließlich kann die Rehabilitation verbessert wer-den, wenn die durch das BTHG erneuerten sinnvol-len Grundsätze zur Koordination und Kooperation der Rehabilitationsträger (§§ 9-27 SGB IX) und zur Vereinheitlichung des Leistungsrechts vor allem zwischen Rentenversicherung, Bundesagentur, Kran-kenkassen und Unfallversicherung umgesetzt wer-den. Das gegliederte System der Rehabilitation ist kein Selbstzweck, es muss sich durch erfolgreiches Wirken für Rehabilitation und Teilhabe behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen legiti-mieren. Auch die Zusammenarbeit zwischen Rehabi-litation und akuter Krankenbehandlung kann noch besser werden. Haus- und Fachärzte sind bislang oft nicht hinreichend darauf eingestellt, Wiedereinglie-derung und Rehabilitation frühzeitig anzuregen und zu unterstützen.

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Hierzu bedarf es verbindlicher Kooperation durch die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (§ 39 SGB IX) und durch regionale Arbeitsgemein-schaften, die von den Trägern bislang trotz gesetzli-cher Regelung (§ 25 Abs. 2 SGB IX) nicht eingerich-tet worden sind. Die Einführung des Bundesteilhabe-gesetzes bietet aktuell eine Gelegenheit, die Struktu-ren auch auf Ebene der Länder zu verbessern.

VIII. Grundsätzlicher Reformbedarf

Bei der Erwerbsminderungsrente besteht weiterer grundsätzlicher Reformbedarf20, der im Rahmen der von der Bundesregierung eingesetzten Rentenkom-mission und vom Deutschen Bundestag in der 19. Wahlperiode wieder aufgegriffen werden sollte.

Deutlich wird, dass die Verknüpfung der Risiken Al-ter und Erwerbsminderung in einem System mit Nachteilen verbunden ist. Sie ist auch international keineswegs üblich. Daher sollte ernsthaft erwogen werden, das Risiko der Erwerbsminderung systema-tisch von der Altersrente zu entkoppeln. Gegen Er-werbsminderung ist in weit geringerem Maße als für das Alter private Vorsorge möglich. Damit ist die Koppelung beider Sicherungsniveaus seit der Ries-ter-Reform fragwürdig geworden, denn diese setzt private Vorsorge für einen auskömmlichen Lebens-standard voraus.

Eine Alternative zur Entkoppelung wäre, die private Vorsorge verpflichtend auszugestalten und sie ebenso verpflichtend für alle Risiken der Erwerbs-minderung zu machen. Dann würde allerdings noch transparenter, wie gering der Rendite-Vorsprung der privaten Systeme ist. Insgesamt wäre dieser Weg mit erheblichen Problemen belastet21.

Das Erwerbsminderungsrisiko könnte stattdessen durch eine eigenständige Lohnersatzleistung mit Einkommensersatz- und Grundsicherungskompo-nente gesichert werden, ein Erwerbsminderungsgeld in Höhe zum Beispiel des Krankengeldes, mindes-tens aber der Grundsicherung22.

Es lohnt sich, das niederländische System anzuse-hen23: Hier ist der Arbeitgeber für zwei Jahre zur Ent-geltfortzahlung verpflichtet – allerdings nicht in Höhe von 100% - und hat in diesem Zeitraum allen Anreiz, eine Wiedereingliederung mit Unterstützung des Sozialversicherungsträgers zu versuchen. Da-nach übernimmt dieser den Entgeltersatz mit eben-falls erheblichen Anstrengungen zur Rehabilitation. Die Höhe der Sozialleistung bei Erwerbsminderung

20 Vgl. Ingo Schäfer, Defizite in der sozialen Absicherung von gesundheitlich Beeinträchtigten – Zwischen Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Rente, SozSich 2018, 133-138; Reinhold Thiede, Sind die heutigen Regelungen zur Erwerbsminde-rungsrente noch zeitgemäß?, Sozialrecht aktuell Sonderheft 2018, 7-9; René Dittmann, Inanspruchnahme von Erwerbsmin-

derungsrenten – Ergebnis gescheiterter Biographien oder Institutionen, Sozialrecht + Praxis 2018, 292-296; Jürgen Jabben/ Uwe Kolakowski/ Ralf Kreikebohm, Eine Reform der Renten wegen Erwerbsminderung ist notwendig – aber wie?, NZS 2017, 482-492; Karl-Jürgen Bieback, Der Weg durch das Sozialleistungssystem zur EM-Rente – Abgestimmte und funktio-

nierende Zuständigkeiten?, VSSR 2015, 157-193. 21 Vgl. grundlegend: Karl-Jürgen Bieback, Anmerkungen zur Reform der Absicherung bei Minderung der Erwerbsfähigkeit in: Ulrich Faber/ Kerstin Feldhoff/ Katja Nebe/ Kristina Schmidt/ Ursula Waßer (Hrsg.), Gesellschaftliche Bewegungen –

Recht unter Beobachtung und in Aktion – Festschrift für Wolfhard Kohte, 2016, S. 545, 555 ff. 22 Vgl. Bieback 2016, S. 555. 23 Hierzu Oskar Mittag/ Felix Welti, Vergleich der sozialen Sicherung und beruflichen Wiedereingliederung bei Erwerbs-

minderung in drei europäischen Ländern (Deutschland, Niederlande und Finnland), Beitrag D2-2017, www.reha-recht.de; Christina Reese/ Oskar Mittag, Wiedereingliederung und soziale Sicherung bei Erwerbsminderung, S + P 2013, 343-359. 24 Vgl. die Ergebnisse der 18. Deutsch-Österreichischen Sozialrechtsgespräche am 25./26.1.2018 in Soziale Sicherheit Ös-

terreich, im Erscheinen.

bemisst sich nach dem vorangegangenen Einkom-men, nicht nach hochgerechneten Rentenpunkten. Auch in Österreich24 oder in Finnland könnten An-regungen gefunden werden.

Insgesamt bleibt auch nach dem Beschluss des RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetzes erheblicher Reformbedarf im Sozialrecht. Präven-tion, Rehabilitation und soziale Sicherung gesund-heitlich eingeschränkter Menschen bleiben eine Hauptaufgabe für Gesetzgeber, Regierung, Tarifpart-ner und Betriebe. Die Spielräume des geltenden Rechts sind bei weitem nicht ausgeschöpft, doch auch die Gesetzgebung bleibt gefordert. Der verfas-sungsrechtliche und völkerrechtliche Auftrag, behin-derte Menschen nicht zu benachteiligen, ist mit Blick auf deren Sicherung gegen Armut bei Erwerbs-minderung und im Alter noch nicht hinreichend er-füllt.

IX. Zusammenfassung

1. Eine Verbesserung des Leistungsniveaus der Er-werbsminderungsrente ist sozialpolitisch geboten. Sie ist auch verfassungsrechtlich geboten, um die Le-gitimation der Pflichtversicherung zu erhalten und Benachteiligungen bei und wegen Behinderung zu vermeiden. Der vorgelegte Gesetzentwurf leistet dazu einen wichtigen Beitrag.

2. Ein Ausgleich der verbleibenden Lücken in der gesetzlichen Rentenversicherung durch private Vor-sorge ist derzeit nicht möglich.

3. Die Anhebung der Zurechnungszeit durch den vorgelegten Gesetzentwurf ist sehr zu begrüßen.

4. Sehr problematisch ist, dass diese ebenso wie die vorangegangenen Reformen den Bestands-Erwerbs-minderungsrentnern nicht zu Gute kommt. Damit werden diejenigen benachteiligt, die gesundheitlich besonders beeinträchtigt sind.

5. Die Abschläge bei Inanspruchnahme der Erwerbs-minderungsrente sind weiterhin systemwidrig, vor allem für Versicherte, die in jüngerem Lebensalter erwerbsgemindert werden,

6. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sollten überprüft werden. Sie benachteiligen vor al-lem von Geburt und Jugend an behinderte Men-schen.

7. Die arbeits- und sozialrechtliche Sicherung wäh-rend einer befristeten Erwerbsminderungsrente ist

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zu verbessern. Das betrifft die Sicherung des Arbeits-platzes, den Schutz der Sozialversicherung für den Lebensunterhalt und den Anspruch auf ergänzende Grundsicherung.

8. Prävention und Rehabilitation vor und während Erwerbsminderung sollten gestärkt werden. Das Vier-Jahres-Intervall ist dafür nicht hilfreich. Zu stär-

ken sind zur Prävention insbesondere die stufen-weise Wiedereingliederung, das Betriebliche Einglie-derungsmanagement und die Kooperation der Reha-bilitationsträger.

9. In der 19. Wahlperiode sollte eine grundsätzliche Reform der sozialen Sicherung bei Erwerbsminde-rung diskutiert werden.

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DEUTSCHER BUNDESTAG Ausschussdrucksache 19(11)169 Ausschuss für Arbeit und Soziales 30. Oktober 2018 19. Wahlperiode

Schriftliche Stellungnahme

zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 05. November 2018, um 15:00 Uhr zum

a) Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzli-chen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz) - BT-Drs. 19/4668

b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Schielke-Ziesing, Marc Bernhard, Stephan Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Anrechnungsfreistellung der Mütterrente beziehungsweise der Rente für Kindererzie-hungszeiten bei der Grundsicherung im Alter BT-Drs. 19/4843

c) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Vollständige Gleichstellung und gerechte Finanzierung der Kindererziehungszeiten in der Rente umsetzen – Mütterrente verbessern - BT-Drs. 19/29

d) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Die Erwerbsminderungsrente stärken BT-Drs. 19/31

Sozialverband Deutschland e.V.

I. Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesse-rungen und Stabilisierung in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesse-rungs- und Stabilisierungsgesetz) 19/4668

1 Zusammenfassung des Gesetzentwurfs

Mit dem „Entwurf eines Gesetzes über Leistungsver-besserungen und Stabilisierung in der gesetzlichen Rentenversicherung“ (RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz) sollen einige rentenpoliti-sche Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt werden. Dabei geht es in erster Linie um die verein-barte Stabilisierung des Rentenniveaus und des Bei-tragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung bis 2025, die Verlängerung der Zurechnungszeit bei den Erwerbsminderungsrenten, die Erweiterung der Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kin-der sowie die Ausweitung und Weiterentwicklung der sog. Gleitzone zu einem sozialversicherungs-rechtlichen Einstiegsbereich. Der Gesetzentwurf gibt

auch Auskunft über die Finanzierung dieser Maß-nahmen und sieht weitere Bundesmittel für die Ren-tenversicherung vor, um die vereinbarte Beitrags-satzobergrenze zu garantieren.

Die Neuregelungen sollen in Teilen am Tag nach der Verkündung, zum 1. Januar 2026 und im Übrigen zum 1. Januar 2019 in Kraft treten.

2 Zu den Regelungen im Einzelnen

a) Stabilisierung des Rentenniveaus

Die bisherigen Untergrenzen des Rentenniveaus von 46 Prozent bis 2020 und 43 Prozent bis 2030 werden abgelöst durch die Garantie eines Rentenniveaus von 48 Prozent bis 2025 (sog. Haltelinie I). Dazu wird die Rentenanpassungsformel bis zum Jahr 2025 um eine Niveauschutzklausel ergänzt, die sicherstellt, dass bei der Bestimmung des aktuellen Rentenwerts ein Mindestsicherungsniveau von 48 Prozent nicht un-terschritten wird.

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SoVD-Bewertung: Der SoVD begrüßt diese Maß-nahme. Von der „Mindestanpassungsgarantie“ und der damit verbundenen Stabilisierung des Rentenni-veaus geht eine wichtige Signalwirkung aus, die von erheblicher Bedeutung für die Zukunft der gesetzli-chen Rentenversicherung ist. Allerdings ist dies nur ein erster Schritt. Eine Stabilisierung auf einem hö-heren Rentenniveau (mindestens 50 Prozent) und über das Jahr 2025 hinaus wäre sinnvoller gewesen. Gerade für die junge Generation ist eine stabile und lebensstandardsichernde Rente ein wichtiges Merk-mal für einen auch zukünftig funktionierenden und gerechten Sozialstaat. Um die Lebensstandardsiche-rung in der gesetzlichen Rente wiederherzustellen, ist nach der beabsichtigten Stabilisierung des Ren-tenniveaus auf 48 Prozent eine stufenweise Anhe-bung des Rentenniveaus auf die früheren 53 Prozent netto vor Steuern nötig. Konkrete Schritte hierzu hat der SoVD in seinen Publikationen und Stellungnah-men mehrfach dargelegt (siehe v.a. die Broschüre „Für eine lebensstandardsichernde gesetzliche Rente“). Im Ergebnis wäre eine Rückkehr zu einem lebensstandardsichernden Rentenniveau wichtig für die Partizipation der Rentnerinnen und Rentner an der Wohlstandsentwicklung der Gesellschaft.

b) Obergrenze für den Beitragssatz und zusätzliche Bundesmittel

Im Gesetzentwurf ist vorgesehen, dass der Beitrags-satz zur allgemeinen Renten-versicherung bis 2025 höchstens 20 Prozent betragen darf (sog. Haltelinie II). Die finanzielle Absicherung dieser Beitragssatz-garantie erfolgt im Bedarfsfall durch zusätzliche Bundesmittel. Darüber hinaus sind Sonderzahlungen des Bundes an die Rentenversicherung in den Jahren 2022 bis 2025 in Höhe von 500 Millionen Euro pro Jahr vorgesehen, die ausschließlich für die Garantie der Beitragssatzobergrenze von 20 Prozent eingesetzt werden dürfen.

SoVD-Bewertung: Der SoVD begrüßt diese Maß-nahme. Es ist richtig, dass der Staat neben den beste-henden Bundeszuschüssen zusätzliche Steuermittel bereitstellt und damit seine Verantwortung für die gesetzliche Rentenversicherung zum Ausdruck bringt. Allerdings gäbe es für das Ziel der Beitrags-satzstabilisierung und anderer Maßnahmen zur Stär-kung der gesetzlichen Rentenversicherung deutlich mehr finanziellen Spielraum, wenn in der Vergan-genheit die sog. beitragsungedeckten Leistungen als gesamtgesellschaftliche Aufgaben vollständig aus Steuermitteln finanziert worden wären. Deshalb be-läuft sich das Defizit bei den Bundeszuschüssen be-reits heute auf mehr als 20 Milliarden Euro pro Jahr und steigt entsprechend bei weiteren Fehlfinanzie-rungen. Der SoVD plädiert deshalb für eine kosten-deckende Anhebung des Bundeszuschusses.

Schließlich spricht sich der SoVD für eine etwas we-niger dogmatische Fixierung im Hinblick auf die ge-steckten Beitragssatzziele aus. Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit von Beitragserhöhungen sollte be-rücksichtigt werden, dass der derzeitige Beitragssatz von 18,6 Prozent so niedrig ist, wie seit langem nicht mehr, und nach den Angaben im Gesetzentwurf – trotz der vorgesehenen Leistungsverbesserungen – auch bis zum Jahr 2022 nahezu stabil bleiben soll. Damit ist die Entwicklung des Beitragssatzes in der

gesetzlichen Rentenversicherung in den letzten Jah-ren erheblich günstiger ausgefallen als es seinerzeit im Zuge der Riester-Reform befürchtet worden ist. Denn in dem Gutachten der Rürup-Kommission aus dem Jahr 2003 ist davon ausgegangen worden, dass die Absenkung des Rentenniveaus zwingend erfor-derlich sei, um einen für das Jahr 2020 befürchteten Beitragssatzanstieg auf 21,5 Prozent auf „nur“ 20,2 Prozent abzubremsen. Mit dem nunmehr für das Jahr 2020 erwarteten Beitragssatz von 18,6 Pro-zent wird das Beitragssatzziel der Riester-Reform um 1,6 Beitragssatzpunkte übererfüllt, was zugleich deutlich macht, dass die Absenkung des Rentenni-veaus in den letzten Jahren überdimensioniert war und ein Kurswechsel in der Rentenpolitik dringend erforderlich ist. Letztlich stellt sich die verteilungs-politische Frage, ob die Rentnerinnen und Rentner weiterhin durch die Absenkung des Rentenniveaus und durch Kürzungen bei den Rentenanpassungen belastet werden sollen oder ob es nicht vielmehr an-gezeigt ist, auch die Beitragszahler (Versicherte und Arbeitgeber je zur Hälfte) und die Steuerzahler (Bun-deszuschuss) angemessen zu beteiligen.

c) Verbesserungen bei den Erwerbsminderungsren-ten

Für Rentenzugänge im Jahr 2019 soll nach dem Ge-setzentwurf die Zurechnungszeit in einem Schritt auf das vollendete 65. Lebensjahr und 8 Monate ver-längert werden. Für Versicherungsfälle im Jahr 2018 endet die Zurechnungszeit dagegen unverändert mit Vollendung des 62. Lebensjahres und 3 Monaten. Von 2020 bis 2031 wird das Ende der Zurechnungs-zeit dann stufenweise auf das vollendete 67. Lebens-jahr verlängert und verläuft damit analog zur Anhe-bung der Regelaltersgrenze.

SoVD-Bewertung: Die beschleunigte Anhebung der Zurechnungszeit ist generell zu begrüßen. Aus Sicht des SoVD wäre es allerdings die bessere Lösung, wenn die Rentenabschläge bei den Erwerbsminde-rungsrenten, die bis zu 10,8 Prozent betragen kön-nen, abgeschafft würden. Für erwerbsgeminderte Menschen ist es generell nicht nachvollziehbar, wa-rum sie aufgrund ihrer Erkrankung, die eine weitere Beschäftigung unmöglich macht, Abschläge auf ihre Rente hinnehmen müssen. Zu Recht empfinden sie diese Tatsache als Bestrafung für eine Situation, in die sie nicht freiwillig geraten sind. Solange dieser Zustand fortbesteht, wird darüber bei den Erwerbs-minderungsrentnerinnen und -rentnern weiterhin Unverständnis vorherrschen. Im gleichen oder noch höheren Maß werden Unverständnis und großer Un-mut darüber vorherrschen, dass erneut zwischen Neuzugang und Rentenbestand bei Erwerbsgemin-derten unterschieden wird und damit die heutigen Bezieherinnen und Bezieher von Erwerbsminde-rungsrenten wieder einmal bei den Leistungsverbes-serungen leer ausgehen. Der SoVD fordert deshalb mit Nachdruck, neben den Neuzugängen auch den Bestand miteinzuschließen.

d) Verbesserungen bei den Kindererziehungszeiten

Der Gesetzentwurf sieht für Mütter und Väter die Verlängerung der Kindererziehungszeit für vor 1992 geborene Kinder um ein weiteres halbes Jahr vor. Das führt zu jährlichen Kosten von 3,8 Milliarden

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Euro, die zu mehr Ausgaben in der gesetzlichen Ren-tenversicherung führen. Die Kosten der 2014 vorge-nommenen Verbesserungen bei den Kindererzie-hungszeiten lagen im Jahr 2017 bei etwa 7,3 Milliar-den Euro.

SoVD-Bewertung: Die Ausweitung der Anerkennung von Zeiten der Kinderziehung geht prinzipiell in die richtige Richtung; das Ziel ist nämlich die komplette Gleichstellung bei der Kindererziehung durch Aner-kennung eines dritten Entgeltpunktes für vor 1992 geborene Kinder. Das bleibt für den SoVD weiterhin maßgeblich. Bei der Finanzierung der Maßnahme verortet der Gesetzgeber systemwidrigerweise die Kosten erneut bei der Rentenversicherung und finan-ziert sie nicht aus Steuermitteln, wie es bei einer ge-samtgesellschaftlichen Aufgabe folgerichtig der Fall sein müsste. Die Maßnahme führt nämlich mit In-krafttreten zum 1. Januar 2019 zu erheblichen finan-ziellen Belastungen in der gesetzlichen Rentenversi-cherung, da die Bereitstellung zusätzlicher Bundes-mittel dafür nicht vorgesehen ist. Der SoVD fordert daher dringend eine sozial gerechte Lösung, die letztlich nur mit der Gleichbehandlung von Kinder-erziehungszeiten vor und nach 1992 hergestellt wer-den kann und sachgerecht mit Mitteln des Bundes fi-nanziert wird.

e) Entlastung von Geringverdienern

Die sogenannte Gleitzone oberhalb der Geringfügig-keitsgrenze wird von bisher maximal 850 Euro auf 1.300 Euro ausgeweitet. Sie wird nun zum „Ein-stiegsbereich“, in welchem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei den Sozialversicherungs-beiträgen entlastet werden, wenn das monatliche Entgelt den Betrag von 1.300 Euro nicht übersteigt. Die reduzier-ten Rentenbeiträge führen in der Neuausrichtung der Gleitzone nicht mehr zu geringeren Rentenansprü-chen.

SoVD-Bewertung: Dass die Neufassung der Gleitzone nicht zu geminderten Rentenansprüchen der Be-schäftigten führt, ist zunächst einmal ein positiver Aspekt. Dennoch weist der SoVD darauf hin, dass die Arbeitnehmer zwar eine Beitragsentlastung er-halten, aber leistungsrechtlich keine armutsvermei-denden Verbesserungen erfahren, denn mit den zu-sätzlichen Entgeltpunkten wird nur ein Ausgleich der Rentenminderung erreicht, die durch die ver-minderte Beitragszahlung entstanden ist. Aus Sicht des SoVD wäre die bessere Lösung, die Beiträge der Geringverdiener – wie bei allen anderen versiche-rungspflichtigen Arbeitnehmern – nach dem tatsäch-lichen Arbeitsentgelt zu bemessen und zugleich für diesen Personenkreis leistungsrechtliche Verbesse-rungen vorzunehmen, indem die zusätzlichen Ent-geltpunkte als Ergänzung zu den „normalen“ Bei-tragszahlungen zur Aufstockung der Renten einge-setzt werden. Damit könnte für die Bezieher von Niedriglöhnen die Chance auf eine armutsfeste Al-terssicherung erheblich erhöht werden. Demgegen-über festigt das Instrument der Gleitzone den ohne-hin stark gewachsenen Niedriglohnsektor (u.a. Mini- und Midijobs). Der SoVD hat schon mehrfach auf die langfristig negative Bedeutung von niedrigen Löhnen auf die späteren Rentenanwartschaften hingewiesen. Niedrige Löhne, auch der aktuelle Mindestlohn, füh-ren dauerhaft zu Armutsrenten. Deshalb setzt sich

der SoVD auch für einen höheren Mindestlohn ein und für eine aktive Eindämmung des Niedriglohnbe-reichs. Für eine bessere soziale Absicherung im Al-ter von Geringverdienern schlägt der SoVD vor, Frei-beträge in der Grundsicherung im Alter und bei Er-werbsminderung auch für Rentenleistungen vorzuse-hen, die auf Pflichtbeiträgen beruhen.

3 Zusammenfassung

Der SoVD erkennt an, dass die Bundesregierung mit der geplanten und vor allem gesetzlich fixierten Sta-bilisierung des Rentenniveaus eine erste wichtige Maßnahme ergreift, die den im SGB VI § 154 Abs. 3 verankerten Automatismus eines kontinuierlich sin-kenden Rentenniveaus aussetzt. Das ist zu begrüßen. Aus Sicht des SoVD muss diesem ersten Schritt eine stufenweise Anhebung des Rentenniveaus auf die früheren 53 Prozent netto vor Steuern folgen. Nur ein klares Bekenntnis zur Lebensstandardsicherung aus der gesetzlichen Rente ist im Sinne einer genera-tionenübergreifenden Gerechtigkeit der richtige Weg. Es ist daher eine gesamtgesellschaftliche Kraftan-strengung und Verantwortung nötig, um den heuti-gen und morgigen Rentnerinnen und Rentnern eine lebensstandardsichernde Rente zu bieten, die auf ei-ner stabilen und verlässlichen Basis gründet.

Unzureichend bleiben die Vorschläge im Hinblick auf die Erwerbsminderungsrenten. Die Ausdehnung der Zurechnungszeit ist unbestritten eine Leistungs-verbesserung für die Betroffenen. Eine deutlich grö-ßere Entlastung für Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner wäre jedoch die Abschaffung der sozial ungerechten Abschläge. Eine etwaige Kombination beider Maßnahmen – die Verlängerung der Zurech-nungszeit und die Abschaffung der Abschläge – sollte in der Regelung nicht dazu führen, dass Er-werbsgeminderte und Altersrentnerinnen und Al-tersrentner sich möglicherweise ungleich behandelt fühlen. Neue Ungerechtigkeiten schafft aber sicher-lich die Tatsache, dass Bestandsrentnerinnen und Bestandsrentner von der Verlängerung der Zurech-nungszeit nicht profitieren, was diesen Menschen nicht vermittelbar ist.

Die Neuregelungen bei den Kindererziehungszeiten bleiben hinter den Erwartungen zurück. Sie führen nicht zur Gleichbehandlung von Kindererziehungs-zeiten vor und nach 1992 und sind zudem hinsicht-lich der Vermeidung von Altersarmut nicht zielfüh-rend; denn Frauen, die aufgrund ihrer niedrigen Rente auf aufstockende Leistungen der Grundsiche-rung im Alter angewiesen sind, gehen bei der ge-planten Maßnahme leer aus, weil auch der zusätzli-che halbe Entgeltpunkt auf die Grundsicherungsleis-tungen angerechnet wird. Das ließe sich vielfach ver-meiden, wenn der Gesetzgeber das Instrument des Rentenfreibetrags, das seit 2018 für Leistungen der freiwilligen Altersvorsorge gilt, nun auch auf die Leistungen der gesetzlichen Rente ausweiten würde, die auf Pflichtbeiträgen beruhen. Schließlich ver-säumt es der Gesetzgeber, die anfallenden Kosten für die Verlängerung der Kindererziehungszeit system-konform aus Steuermitteln zu finanzieren und bür-det der gesetzlichen Rentenversicherung Kosten auf, die eigentlich als gesamtgesellschaftliche Aufgabe vom Bund zu tragen sind. Das Vertrauen, das der

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Staat der gesetzlichen Rente mit erweiterten Finanz-mitteln zur Stabilisierung von Rentenniveau und Beitragssatz entgegenbringt, sollte nicht durch Fehl-finanzierungen bei anderen Maßnahmen relativiert werden.

II. Antrag der Abgeordneten Ulrike Schielke-Zie-sing, Marc Bernhard, Stephan Brandner, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Anrechnungsfreistellung der Mütterrente bezie-hungsweise der Rente für Kindererziehungszei-ten bei der Grundsicherung im Alter 19/4843

Die Antragsteller fordern die Nichtanrechnung der sogenannten Mütterrente im Rahmen der Grundsi-cherung im Alter, um Altersarmut bei Rentnerinnen mit besonders niedrigen Renten zu bekämpfen. Diese solle sich an der Anrechnungsfreistellung bei der zu-sätzlichen Altersvorsorge orientieren.

SoVD-Bewertung: Der SoVD hat in der Vergangen-heit bereits mehrfach die Einführung eines Renten-freibetrags in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gefordert. Denn die volle An-rechnung der Renten der gesetzlichen Rentenversi-cherung auf die Leistungen der Grundsicherung im Alter empfinden die Betroffenen als ungerecht, da sie keine höhere Gesamtleistung erhalten als Bezie-herinnen und Bezieher, die keine Beiträge zur ge-setzlichen Rentenversicherung gezahlt haben. Spä-testens mit der Einführung eines Freibetrags im Rah-men des Betriebsrentenstärkungsgesetzes (BRSG) auf die zusätzliche Altersvorsorge in Höhe von max. 204 Euro ist eine analoge Regelung bei der gesetzlichen Rente nur folgerichtig. Der Grundgedanke der An-tragsteller ist prinzipiell sinnvoll, beschränkt sich aber im Gegensatz zum Vorschlag des SoVD nur auf einen Freibetrag für Leistungen, die auf Kindererzie-hungszeiten beruhen. Den Antrag der AfD kann der SoVD in dieser Form deshalb nicht unterstützen.

III. Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achel-wilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Vollständige Gleichstellung und gerechte Finan-zierung der Kindererziehungszeiten in der Rente umsetzen – Mütterrente verbessern 19/29

Die Antragsteller fordern die komplette Gleichstel-lung der Kindererziehungszeiten, d.h. die Anerken-nung eines dritten Entgeltpunktes pro Kind auch für vor 1992 geborene Kinder. Ferner fordern die An-tragsteller eine vollständige Finanzierung der Kin-dererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversi-cherung aus Steuermitteln des Bundes, weil es sich

hierbei um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt.

SoVD-Bewertung: Der SoVD stimmt mit der Forde-rung der Antragsteller überein. Das Ziel bleibt die komplette Gleichstellung bei der Kindererziehung durch Anerkennung eines dritten Entgeltpunktes für vor 1992 geborene Kinder. Auch hinsichtlich der Fi-nanzierung dieser Maßnahme gilt: Als gesamtgesell-schaftliche Aufgabe ist sie vollständig aus Steuermit-tel zu finanzieren. Als SoVD lehnen wir eine erneute Finanzierung aus Beitragsmitteln der gesetzlichen Rentenversicherung ab.

IV. Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achel-wilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Die Erwerbsminderungsrente stärken 19/31

Die Antragsteller fordern die Abschaffung der Ab-schläge bei den Erwerbsminderungsrenten sowohl für die Rentenneuzugänge als auch für den sog. Ren-tenbestand. Außerdem fordern sie die Verlängerung der Zurechnungszeit für Erwerbsminderungsrenten in einem Schritt vom 62. auf das 65. Lebensjahr.

SoVD-Bewertung: Der SoVD ist davon überzeugt, dass Abschläge auf Renten wegen Erwerbsminde-rung sozialpolitisch nicht zu rechtfertigen und ins-besondere den Betroffenen nicht zu vermitteln sind. Für Erwerbsgeminderte ist es nicht nachvollziehbar, warum sie aufgrund ihrer Erkrankung, die eine wei-tere Beschäftigung unmöglich macht, Abschläge auf ihre Rente hinnehmen müssen. Zu Recht empfinden sie diese Tatsache als Bestrafung für eine Situation, die sie sich nicht freiwillig ausgesucht haben. So-lange dieser Zustand fortbesteht, wird darüber bei den Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentnern weiterhin Unverständnis vorherrschen. Hier besteht aus Sicht des SoVD dringender Regelungsbedarf. Die Forderung der Antragsteller nach Einbeziehung des sog. Rentenbestands bei Leistungsverbesserungen ist eine langjährige Forderung des SoVD, die hier noch-mal nachdrücklich unterstrichen wird. Betroffene haben für diese Unterscheidung kein Verständnis. Diese Erfahrung kann der SoVD anhand seiner tägli-chen Arbeit in der Rechtsberatung bestätigen.

Der Forderung der Antragsteller nach der Verlänge-rung der Zurechnungszeit für Erwerbsminderungs-renten in einem Schritt vom 62. auf das 65. Lebens-jahr ist der Gesetzgeber mit dem oben genannten Ge-setzentwurf nachgekommen und geht sogar darüber hinaus. Diesen Schritt begrüßt der SoVD ausdrück-lich.

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DEUTSCHER BUNDESTAG Ausschussdrucksache 19(11)175 Ausschuss für Arbeit und Soziales 30. Oktober 2018 19. Wahlperiode

Schriftliche Stellungnahme

zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 05. November 2018, um 15:00 Uhr zum

a) Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzli-chen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz) - BT-Drs. 19/4668

b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Schielke-Ziesing, Marc Bernhard, Stephan Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Anrechnungsfreistellung der Mütterrente beziehungsweise der Rente für Kindererzie-hungszeiten bei der Grundsicherung im Alter BT-Drs. 19/4843

c) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Vollständige Gleichstellung und gerechte Finanzierung der Kindererziehungszeiten in der Rente umsetzen – Mütterrente verbessern - BT-Drs. 19/29

d) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Die Erwerbsminderungsrente stärken BT-Drs. 19/31

Prof. Dr. Martin Werding, Bochum

1. Vorbemerkungen

Die Wohnbevölkerung Deutschlands steht mittler-weile kurz vor einer Phase akuter demographischer Alterung, in der die geburtenstarken Alterskohorten der Jahrgänge 1954 bis 1969 sukzessive das Ende ih-rer aktiven Lebensphase erreichen. Für den Alten-quotienten, eine demographische Kennziffer, die in ihrer international gängigsten Definition die Zahl der Personen im Alter ab 65 Jahren je 100 Personen im Alter von 15 bis unter 65 Jahren misst,1 ist daher – selbst unter Berücksichtigung einer aus heutiger Sicht plausiblen Bandbreite von Annahmen zu den wichtigsten Determinanten der demographischen Entwicklung (Fertilität, Mortalität, Migration) – in den Jahren zwischen 2020 und 2035 ein rascher, deutlicher Anstieg zu erwarten. Auch in den nach-

1 Alternative Abgrenzungen – etwa bei 20 und/oder bei 60 Jahren – ändern das Niveau des Altenquotienten. Langfristige Trends der Kennziffer bleiben davon hingegen weitestgehend unberührt.

folgenden Jahrzehnten ist mit einem Rückgang die-ses Quotienten nicht ohne weiteres zu rechnen, eher mit einem langsameren weiteren Anstieg (für Be-rechnungen, die die geringe Variabilität des erwarte-ten Anstiegs bis 2045 wie auch die anhaltende Auf-wärtstendenz in der Zeit danach illustrieren, vgl. etwa Werding 2018, S. 8–10).

Der Altenquotient fasst zugleich wichtige demogra-phische Fundamentaldaten für die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) zusammen. Zwar gibt es bei der Steuerung der Rentensystems diverse Stellschrauben – angefangen bereits bei der Altersgrenze zwischen aktiver Lebensphase und Ru-hestandsphase –, mit denen sich die Entwicklung fi-nanzieller Eckgrößen wie des Beitragssatzes oder des Rentenniveaus immerhin teilweise von den absehba-ren demographischen Verschiebungen entkoppeln

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lässt. Letztere fallen in Deutschland aber so stark aus, dass die GRV und auch das Gesamtsystem der Alterssicherung auf die Gegebenheiten einer Gesell-schaft mit deutlich und dauerhaft erhöhter demogra-phischer Alterslast eingestellt werden müssen.

Mit den Rentenreformen der Jahre 2001, 2004 und 2007 wurden große Schritte in diese Richtung unter-nommen. Zusammen mit einer bemerkenswerten Trendwende bei der Entwicklung des Arbeitsmark-tes haben diese Reformen dafür gesorgt, dass die GRV unter den seither geltenden rechtlichen Rah-menbedingungen bis etwa 2030 ohne übergroße fi-nanzielle Anspannungen finanzierbar geworden ist (Werding 2007, Abschnitt 4.1; 2018, S. 28f.). Für die Zeit danach und für die Schaffung eines Alterssiche-rungssystems, das auch nach voller Entfaltung der demographischen Alterung langfristig stabil bleiben kann, sind jedoch weitere Anpassungen nötig. Opti-onen dafür zu prüfen und geeignete Vorschläge zu erarbeiten, gehört zu den Aufgaben der Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“, welche im Mai 2018 auf Basis des Koalitionsvertrages für die lau-fende Legislaturperiode eingerichtet wurde und die ihre Arbeit bis zum Frühjahr 2020 abschließen soll.

Bis dahin empfiehlt es sich mit Rücksicht auf die hier eingangs skizzierten Perspektiven für die demo-graphische Entwicklung, Zurückhaltung zu üben mit Änderungen des Rentenrechts, die zu zusätzlichen Ausgaben des Systems führen. Dies gilt insbeson-dere, wenn solche Änderungen über das Jahr 2030 hinaus zu erhöhten Ausgaben führen oder ihre Wir-kung sogar erst in dieser Phase richtig entfalten. po-litischer Handlungsbedarf, der im Rentensystem ak-tuell wahrgenommen wird, ist daher hinsichtlich seiner Dringlichkeit nach strengen Maßstäben abzu-wägen gegen die Anforderung, die finanzielle An-spannung des Rentensystems in der bevorstehenden Phase akuter Alterung nicht weiter zu vergrößern.

2. Auswirkungen des RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetzes

Die Auswirkungen des aktuellen Gesetzentwurfs (vgl. BT-Drs. 19/4668) auf die Finanzen der GRV können mit Hilfe der aktuellen Version des Simulati-

onsmodells SIM.16 abgeschätzt werden, das der Ver-fasser entwickelt hat und regelmäßig für langfristige Vorausberechnungen zur finanziellen Entwicklung einzelner Zweige des sozialen Sicherungssystems und des gesamtstaatlichen Haushalts unter Berück-sichtigung des demographischen Wandels einsetzt (vgl. etwa Werding 2016a; 2016b; für Angaben zu Datengrundlagen, Annahmen und Methodik des Mo-dells vgl. Werding 2013).

Berücksichtigt werden dabei alle im Gesetzentwurf enthaltenen Reformelemente, die sich ab sofort und/oder auf Dauer auf Ausgaben oder Einnahmen der GRV auswirken:

Erwerbsminderungsrente: Verlängerung der Zu-rechnungszeit bis zum Alter 65 Jahre und 8 Mo-nate für Rentenzugänge ab 2019; anschließend weitere Anhebung auf zuletzt 67 Jahre mit der lau-fenden Heraufsetzung der Regelaltersgrenze der GRV bis 2031

„Mütterrente“: zusätzlicher, halber Entgeltpunkt für Mütter (oder Väter) vor 1992 geborener Kinder mit Wirkung für alle Bestands- und Zugangsrenten ab 2019

Übergangsbereich: verringerte Rentenbeiträge für Niedrigverdiener mit Bruttoentgelten unter 1.300 Euro im Monat ab 2019

„Haltelinien“: bis 2025 soll das Rentenniveau (netto vor Steuern) 48% nicht unterschreiten, der Beitragssatz der GRV 20% nicht übersteigen; zur Finanzierung stellt der Bund 2022 bis 2025 zu-nächst 500 Mio. Euro jährlich (mit Anpassungen wie beim allgemeinen Bundeszuschuss) bereit; fehlende Mittel werden ggfs. nachgeschossen

Einen Überblick über die in der „Basis-“ oder „Refe-renzvariante“ des Simulationsmodells bis 2025 er-warteten finanziellen Auswirkungen aller Reform-elemente (in Gestalt von Mehrausgaben oder Min-dereinnahmen der GRV) gibt Tabelle 1. Neben abso-luten Euro-Beträgen (in aktuellen Preisen) werden dort auch Angaben in Prozent der laufenden Renten-ausgaben ausgewiesen, um die Größenordnung der ermittelten Werte besser einstufen zu können.

Tabelle 1: Kosten der Reformpläne (2019–25)

Jahr Erwerbs-min-

derungs-renten

Mütter-

renten

Übergangs-be-

reich

Haltelinien

(48%, 20%) Summe

a) Angaben in Mrd. Euro (i. Pr.v. 2018)

2019 0,1 4,0 0,2 0,0 4,3

2020 0,2 4,0 0,2 0,0 4,4

2021 0,3 4,0 0,2 0,0 4,5

2022 0,4 4,0 0,3 0,0 4,7

2023 0,5 4,0 0,3 0,0 4,8

2024 0,6 4,1 0,3 0,0 4,9

2025 0,7 4,1 0,3 3,5 8,6

–25 2,6 28,3 1,8 3,5 36,2

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b) Angaben in Prozent der laufenden Rentenausgaben

2019 0,0% 1,4% 0,1% 0,0% 1,5%

2020 0,1% 1,4% 0,1% 0,0% 1,5%

2021 0,1% 1,3% 0,1% 0,0% 1,5%

2022 0,1% 1,3% 0,1% 0,0% 1,5%

2023 0,2% 1,3% 0,1% 0,0% 1,5%

2024 0,2% 1,3% 0,1% 0,0% 1,6%

2025 0,2% 1,3% 0,1% 1,1% 2,7%

Ø 2019–25 0,1% 1,3% 0,1% 0,2% 1,7%

Quelle: SIM.16.

Die finanziellen Wirkungen der Reform für das Ren-tenbudget addieren sich bis 2025 auf rund 36 Mrd. Euro (in heutigen Preisen), d.h. auf durchschnittlich 5,2 Mrd. Euro jährlich. Der Großteil davon entfällt auf Mehrausgaben für die Mütterrente. Ausschlagge-bend dafür ist, dass diese Regelung Zugangs- und Bestandsrenten erfasst, während sich etwa die Ver-

längerung der Zurechnungszeit bei Erwerbsminde-rungsrenten nur auf Zugangsrenten ab 2019 bezieht, die sich im Rentenbestand erst allmählich ausbrei-ten.2 Finanzielle Effekte der doppelten Haltelinie machen sich 2025 erstmalig bemerkbar, in einer Grö-ßenordnung, die auf Jahresbasis an diejenige der Mütterrente heranreicht.

Abbildung 1: Beitragssatz der GRV und Rentenniveau (2000–2045)

Quellen: DRV (Ist-Daten bis 2017/18); SIM.16 (Projektionen).

Verlängert man den Projektionszeitraum über 2025 hinaus, ändert sich das Bild bezüglich der relativen Bedeutung der einzelnen Reformelemente. So sinken die Ausgaben für die Mütterrente im Vergleich zu den gesamten Rentenausgaben der GRV ab 2025 all-mählich ab, weil die begünstigten Mütter (und Väter) in diesem Zeitraum sukzessive sterben. 2045 belau-

2 Erfasst werden hier dabei nur die Mehrausgaben gegenüber der bereits 2017 gesetzlich geregelten, schrittweisen Verlänge-rung der Zurechnungszeit bis zum Alter 65.

fen sich die zusätzlichen Ausgaben für dieses Re-formelement nur noch auf 0,3% aller Rentenausga-ben, verschwinden jedoch auch bis dahin noch nicht ganz. Umgekehrt steigt der Anteil der zusätzlichen Rentenausgaben aufgrund der Verlängerung der Zu-rechnungszeit für Erwerbsminderungsrenten von 2025 bis 2045 allmählich weiter an, auf zuletzt eben-

15%

20%

25%

30%

30%

35%

40%

45%

50%

55%

60%

2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045

GR

V-B

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geltendes Recht geplante Reform

geltendes Recht geplante Reform

Rentenniveau (linke Skala):

Beitragssatz (rechte Skala):

Reform ohne Halteliniefür den Beitragssatz

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falls gut 0,3% aller Rentenausgaben. Die Größenord-nung der Mindereinnahmen durch den Übergangsbe-reich für die Erhebung voller Renten- und sonstiger Sozialversicherungsbeiträge bleibt dagegen durch-gängig gering. Nach den hier angestellten Simulatio-nen liegt er immer im Bereich von 0,1% aller Ren-tenausgaben. Massiv erhöhen würden sich nach 2025 dagegen die finanziellen Effekte der doppelten Haltelinie, wenn daran (in unveränderter Höhe) auf Dauer festgehalten würde3 – was im aktuellen Re-formentwurf aber nicht vorgesehen ist.

Gedeckt werden die bis 2025 anfallenden Kosten v.a. durch einen schnelleren Abbau finanzieller Reser-ven der GRV (–21,5 Mrd. Euro), was aktive Versi-cherte und Rentner/-innen in den Folgejahren mit-telbar belastet. Darüber hinaus ergeben sich in die-sem Zeitraum auch direkte Belastungen derjenigen Beitragszahler/-innen (durch höhere Beiträge: +10 Mrd. Euro) und Rentner/-innen (durch ge-dämpfte Rentenanpassungen: –1,5 Mrd. Euro), die von den verschiedenen Reformelementen nicht pro-fitieren. Auf den Bundeshaushalt entfallen wegen der Haltelinien weitere 3,5 Mrd. Euro, von denen nach dem Gesetzentwurf bisher nur rund 2 Mrd. Euro durch Sonderzuschüsse an die GRV gedeckt sind.

Alles in allem erweisen sich die finanziellen Effekte des aktuellen Gesetzentwurfs bis 2025 gleichwohl als überschaubar. Sie entsprechen im Durchschnitt dieser Jahre ca. 1,7% der jeweiligen Rentenausgaben – allerdings mit einem deutlichen Anstieg im Jahr 2025. Perspektivisch erhöhen sie außerdem die rasch wachsende finanzielle Anspannung, die der demo-graphische Wandel im Rentensystem nach 2020 so-wieso erzeugt (vgl. Abbildung 1). Der Beitragssatz steigt (von derzeit: 18,6%) schneller auf über 20% (unter dem geltenden Recht: bis 2028; nach der Re-form: schon bis 2025), und das Rentenniveau (der-zeit: ca. 49%) sinkt schneller auf unter 48% (unter dem geltenden Recht: bis 2024; nach der Reform: schon bis 2023). Effektiv kommen daher auch die beiden im Gesetzentwurf für den Zeitraum bis 2025 vorgesehenen Haltelinien schneller zum Tragen als dies ohne die anderen Reformelemente der Fall wäre.4

3. Diskussion der einzelnen Reformelemente

Angesichts der eben aufgezeigten Effekte für die mit-tel- und langfristige Finanzierung der Rentenfinan-zen (vgl. Abschnitt 2) muss die Dringlichkeit der ein-zelnen Reformelemente beurteilt und gegen die da-mit verbundene, weitere Einengung finanzieller

3 Der Anteil der darauf entfallenden Mehrausgaben der GRV an den gesamten Rentenausgaben würde nach den hier ange-stellten Simulationen bis 2031 auf knapp 10%, bis 2040 auf 20% und bis 2045 weiter auf 24% steigen. 4 Gezeigt werden in Abbildung 1 – neben den Entwicklungen von Rentenniveau und GRV-Beitragssatz unter dem derzeit geltenden Recht, die die absehbaren Effekte der demographischen Alterung für die Rentenfinanzierung verdeutlichen – nachrichtlich auch Effekte eines unveränderten Festhaltens an den Haltelinien, die für diese Parameter im Gesetzentwurf bis 2025 gelten sollen, im Zeitraum bis 2045. Wie sehr die finanzielle Anspannung des Rentensystems durch Einführung einer Haltelinie für das Rentenniveau bei 48% vergrößert wird, zeigt die rechnerische Entwicklung des Beitragssatzes, die sich ohne Haltelinie für letzteren ergeben würde. Hinzu kommen in einem solchen Szenario außerdem automatische Erhöhungen des Bundeszuschusses, der unter dem geltenden Recht seinerseits auf die Beitragssatzsteigerungen reagiert. Eine zusätzliche Haltelinie für den Beitragssatz, z.B. bei 20% zu ziehen, bringt diese Anspannung nicht zum Verschwinden, sondern verlagert sie ganz auf das Steuersys-tem.

Handlungsspielräume zur Bewältigung der demogra-phischen Alterung in der Phase ab 2025 abgewogen werden (vgl. Abschnitt 1).

a) Erwerbsminderungsrente

Erwerbsminderungsrenten wurden in Deutschland im Zuge der vollen Entfaltung der Wirkungen der Rentenreform von 1992 gezielt sehr knapp bemes-sen. Dies lässt sich u.a. an der Entwicklung der durchschnittlichen Zahlbeträge aller Zugangsrenten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ablesen, die im Zeitraum von 2000 bis 2011 durchgängig nomi-nell gesunken sind (von 706 Euro auf 596 Euro mo-natlich; Angaben der DRV). Dies lag u.a. an der Be-rücksichtigung einer Zurechnungszeit, die nur bis zum Alter von 60 Jahren reichte (bei einer Regelal-tersgrenze, die nach der Reform von 1992 schritt-weise bei 65 Jahren vereinheitlicht wurde), und der Belegung von Erwerbsminderungsrenten mit dem maximalen Rentenabschlag von 10,8% (wie bei ei-nem vorzeitigen Rentenzugang mit 62 Jahren). Die Zurechnungszeit wurde auch ab 2012, d.h. mit dem 2007 beschlossenen Einsetzen der Heraufsetzung der Regelaltersgrenze (bis 2031: auf 67 Jahre), zunächst nicht angepasst.

Mit der Rentenreform von 2014 und einer weiteren Reform der Erwerbsminderungsrenten im Jahr 2017 wurden Erwerbsminderungsrenten gezielt aufgebes-sert – zumindest mit Wirkung für die Rentenzugänge der Folgejahre. Mit der im aktuellen Gesetzentwurf vorgesehenen Verlängerung der Zurechnungszeit bis zur gesetzlichen Regelaltersgrenze wird die vorher bestehende Lücke zur Bemessung von Altersrenten nun weitestgehend geschlossen (vgl. dazu auch Ab-schnitt 4 c).

Erwerbsminderung stellt eines der zentralen Risiken des Erwerbslebens dar, die in der GRV traditionell versichert werden. Hierfür einen Schutz zu bieten, der sich – wie andere Renten der GRV – an der indi-viduellen Beitragshistorie orientiert, aber deren vor-zeitiges Abbrechen angemessen ausgleicht, ist daher sozialpolitisch wohlbegründet. Effektiv stellt es so-gar einen notwendigen Beitrag dazu dar, die demo-graphische Alterung im Rentensystem zu bewälti-gen. Wenn zu diesem Zweck – wie derzeit – die Re-gelaltersgrenze heraufgesetzt wird, sind erwerbsge-minderte Personen ex definitione daran gehindert, ihr Erwerbsverhalten an die veränderten, renten-rechtlichen Anforderungen anzupassen, die für die Mehrzahl der Versicherten gelten. Eine geänderte Bemessung der Erwerbsminderungsrenten muss da-her die Funktion solcher Anpassungen übernehmen.

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Letztlich stellen angemessene Erwerbsminderungs-renten eine notwendige „Härtefall-Regelung“ dar, um den Weg einer Heraufsetzung der Regelalters-grenze beschreiten – und auch nach 2031 weiterver-folgen – zu können. Die Mehrausgaben, die auf den nun vorgesehenen Reformschritt zurückgehen, er-scheinen im Übrigen nicht als sonderlich groß, auch wenn die Gesamteffekte aller in diesem Bereich vor-genommenen bzw. nun geplanten Änderungen für die zukünftige Rentenfinanzierung durchaus spürbar sein dürften. In direkter Abwägung mit den finanzi-ellen Anspannungen, die sich im gesetzlichen Ren-tensystem im Kontext der bevorstehenden Phase akuter demographischer Alterung ergeben dürften, erscheint die geplante Neuregelung alles in allem nicht nur als vertretbar, sondern sogar als geboten.

Dies gilt, selbst wenn nach diesem bisher letzten Schritt zur Verbesserung der Erwerbsminderungs-renten u.U. damit gerechnet werden muss, dass nun auch Personen (zu Recht) eine Erwerbsminderungs-rente in Anspruch nehmen, die unter dem bis 2014 geltenden Recht trotz fortschreitender Erwerbsmin-derung alles daran gesetzt haben, bis zum Eintritt in eine vorzeitige Altersrente erwerbstätig zu bleiben, um den nachteiligen Modalitäten der Bemessung von Erwerbsminderungsrenten aus dem Weg zu ge-hen. Mit Rücksicht darauf sollte die Entwicklung des Zugangs zu Erwerbsminderungsrenten nach diesem Reformschritt allerdings aufmerksam beobachtet werden.

b) Mütterrente

Beim Ausbau der Anrechnung von Kindererzie-hungszeiten im Jahre 1992 wurde eine typische Stichtagsregelung geschaffen, aufgrund derer Mütter (und Väter) von Kindern, die vor 1992 geboren wur-den, durch die damalige Reform deutlich weniger begünstigt wurden als Mütter (und Väter) von Kin-dern, die ab 1992 geboren wurden. Mit der Rentenre-form von 2014 wurde dies – mit Auswirkungen auf Zugangs- und Bestandsrenten – teilweise korrigiert. Die im aktuellen Gesetzentwurf vorgesehene Rege-lung vermindert die verbliebenen Nachteile erneut, beseitigt sie aber nicht völlig.

Kindererziehung ist eine Leistung der Erziehungs-person, in der Regel eines der Elternteile, die konsti-tutiv ist für den Betrieb eines umlagefinanzierten Rentensystems wie der GRV. Selbst bei voller An-rechnung von Erziehungszeiten nach dem für ab 1992 geborene Kinder geltenden Recht ergeben sich für Familien – in Abhängigkeit von ihrer Kinderzahl – finanzielle Nachteile gegenüber Familien mit we-nigen Kindern oder Kinderlosen, die der Gründung oder Erweiterung einer Familie im Weg stehen kön-nen (vgl. Werding 2014, insbes. S. 27f. und 32–48). Ein Ausbau der Anrechnung von Erziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder erscheint vor diesem Hintergrund prinzipiell als wünschenswert.

Trotzdem ist die geplante Regelung nicht ganz über-zeugend. Dies liegt zum einen daran, dass hiermit – vergleichsweise spät und überdies weiterhin unvoll-ständig – eine Stichtagsregelung korrigiert wird, der immer etwas Willkürliches anhaftet, die bei ihrer Einführung unter Abwägung der Größe des Reform-bedarfs mit den sich ergebenden Finanzierungserfor-dernissen aber für vertretbar gehalten wurde. So

schafft der aktuelle Gesetzentwurf an anderer Stelle – nämlich bei der Verlängerung der Zurechnungszeit für Erwerbsminderungsrenten (vgl. Abschnitt 3 a) al-lein für Zugangsrenten – neuerliche Stichtagsrege-lungen. Zum anderen erscheint die geplante Rege-lung als ungeeignet, mögliche Fehlanreize der unzu-reichenden Berücksichtigung von elterlichen Erzie-hungsleistungen zu überwinden, die zur demogra-phischen Alterung beigetragen haben könnten und dadurch die zukünftige Rentenfinanzierung er-schweren. Die Zahl der vor 1992 geborenen Kinder lässt sich aus heutiger Sicht nicht mehr beeinflus-sen. Dringlicher wäre es, die weiterhin bestehenden Mängel bei der Anrechnung von Erziehungszeiten mit Wirkung für junge Familien und zukünftige Kin-der zu überwinden. In der Abwägung mit Erforder-nissen der zukünftigen Rentenfinanzierung erscheint die geplante Neuregelung, die lange fortwirkende und vergleichsweise starke finanzielle Wirkungen hat (vgl. Abschnitt 2), bestenfalls als vertretbar, aber keinesfalls als zwingend.

c) Übergangsbereich

Die im aktuellen Gesetzentwurf vorgesehene Aus-dehnung der „Gleitzone“, in der Arbeitnehmer mit geringen Arbeitsentgelten verringerte Arbeitnehmer-beiträge zur Rentenversicherung und zu anderen Zweigen des Sozialversicherungssystems zahlen, hat nur sehr begrenzte Wirkungen für die aktuelle und zukünftige Rentenfinanzierung. Eine Abwägung mit absehbaren, zukünftigen Finanzierungsengpässen der GRV liefert daher zumindest keine starken Gründe gegen eine Einführung dieses Reformele-ments. Wünschenswert wäre allerdings gewesen, vorab die Wirkungen der seit 2005 geltenden Vorläu-ferregelung zu untersuchen. Ebenso könnte nach ei-nem Ausbau der Gleitzone zum erweiterten „Über-gangsbereich“ genauer untersucht werden, ob die da-mit verfolgten Ziele (Entlastung von Geringverdie-nern bei den Sozialabgaben ohne Nachteile durch entsprechend geringere Rentenansprüche) tatsäch-lich erreicht werden oder ob sie nicht in vielen Fäl-len durch anderen Regelungen (Anrechnung von Nettoentgelten bzw. Renten bei Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende oder der Grund-sicherung im Alter) überlagert und faktisch außer Kraft gesetzt werden.

d) Haltelinien

Mit einer Haltelinie für das Rentenniveau wird ein zentraler Mechanismus der Rentenreform von 2004 außer Kraft gesetzt, nämlich der Nachhaltigkeitsfak-tor in der Rentenanpassungsformel, der für eine au-tomatische Anpassung der jährlichen Rentensteige-rungen an die zunehmende demographische An-spannung sorgt. Die Vorteile, die diese Regelung für die langfristige finanzielle Tragfähigkeit der GRV entfalten wird, werden dadurch aufs Spiel gesetzt. Zwingende Gründe dafür sind nicht zu erkennen: Eine Fixierung des allgemeinen Rentenniveaus hat keine nennenswerten Auswirkungen auf das Risiko in Zukunft steigender Altersarmut (vgl. Haan, Stichnoth et al. 2017, insbes. S. 82–85), für das es weit zielgenauere Lösungen gibt (vgl. dazu z.B. Ab-schnitt 4 c). Sie ignoriert auch die Möglichkeiten, das Niveau gesetzlicher Renten oder der gesamten Alterseinkommen auf andere Weise zu stabilisieren

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– etwa durch eine an der Entwicklung der Lebenser-wartung orientierte Dynamisierung der Regelalters-grenze oder durch ergänzende Kapitaldeckung. Zu untersuchen wäre daran insbesondere, ob diese Mög-lichkeiten nicht zu einer wesentlich ausgeglichene-ren, intergenerationellen Verteilung der Lasten der demographischen Alterung führen würden als die geplanten Haltelinien.

Die finanziellen Wirkungen der im aktuellen Gesetz-entwurf vorgesehenen Haltelinien für Rentenniveau und Beitragssatz halten sich wegen des dafür vorge-sehenen Timings im Rahmen: Wenn die Regelung zunächst nur von 2019 bis 2015 gelten soll, führt sie angesichts der dann erst beginnenden Entfaltung der akuten demographischen Alterung auch erst gegen Ende dieses Zeitraums zu Mehrausgaben und Min-dereinnahmen der GRV, die zudem im Umfang noch eher begrenzt bleiben.

In den Folgejahren würde sich eine solche Lösung mit unveränderten Haltelinien finanzpolitisch dage-gen kaum halten lassen (vgl. Abschnitt 2). Welche anderen Stellschrauben genutzt werden können, um v.a. in der Zeit ab 2030 angemessene Renten und ein angemessenes Gesamtniveau von Alterseinkommen gewährleisten zu können, ohne aktive Versicherte o-der Steuerzahler übermäßig zu belasten bzw. wirt-schaftliche Entwicklung und Beschäftigungsmög-lichkeiten in Deutschland durch hohe Lohnneben-kosten oder sonstige Abgaben zu gefährden, soll die Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ bis zum Frühjahr 2020 prüfen. Ihrer Arbeit soll hier nicht vorgegriffen werden.

4. Sonstige Anträge

Neben dem aktuellen Gesetzentwurf liegen einige weitere Anträge vor, die für einige der im Entwurf enthaltenen Regelungskomplexe zusätzliche Ände-rungsvorschläge enthalten.

a) Erwerbsminderungsrenten (BT-Drs. 19/31)

Der Antrag, der dem Gesetzentwurf zeitlich voran-ging, schlägt zum einen eine sofortige Verlängerung der Zurechnungszeit für Erwerbsminderungsrenten auf das Alter 65 vor (geltendes Recht seit 2017: schrittweise Verlängerung bis 2024; Gesetzentwurf: sofortige Verlängerung auf 65 Jahre und 8 Monate). Zum anderen sieht er vor, die Abschläge bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit mit Wirkung für Bestands- und Zugangsrentner abzuschaffen.

Für den ersten Vorschlag sprechen die in Ab-schnitt 3 a) erörterten Gründe. Das Festhalten an der Berücksichtigung von Rentenabschlägen für einen vorzeitigen Rentenzugang von bis zu drei Jahren er-scheint dagegen als begründet – gerade wenn die Zu-rechnungszeit derzeit ohne weitere Übergangsfrist bis zur gesetzlichen Regelaltersgrenze verlängert wird. Ausschlaggebend dafür ist, dass Erwerbsmin-derungsrenten bei ansonsten vergleichbarer Versi-chertenbiographie ohne solche Abschläge höher aus-fallen würden als eine Altersrente mit gleichem (bzw. maximalem) vorzeitigen Rentenbeginn. Dies könnte Anreize erzeugen, Erwerbsminderungsrenten zur Umgehung von Rentenabschlägen zu nutzen, die bei freiwilligem, vorzeitigen Rentenzugang fällig werden. Eine solche Situation, die in anderen OECD- und EU-Ländern in Anbetracht der dortigen Zahlen

offiziell als erwerbsgemindert eingestufter Personen gegeben sein dürfte, ist in Deutschland mit den rigi-den Vorschriften zur Bemessung von Erwerbsminde-rungsrenten, die vor 2014 galten , in der Vergangen-heit wirksam vermieden worden.

b) Mütterrenten (BT-Drs. 19/29)

Ein weiterer, dem Gesetzentwurf vorangegangener Antrag schlägt eine vollständige Angleichung der Anrechnung von Erziehungszeiten für vor und ab 1992 geborene Kinder vor. Eine solche vollständige Aufhebung der zugrunde liegenden Stichtagsrege-lung (vgl. Abschnitt 3 b) erscheint aus den zuvor be-reits genannten Gründen als nicht voll überzeugend und keinesfalls zwingend.

c) Mütterrenten (BT-Drs. 19/4843)

Ein Antrag, der zeitlich nach der Vorlage des Gesetz-entwurfs gestellt wurde, schlägt vor, Mütterrenten und Renten aus der Anrechnung von Erziehungszei-ten für nach 1992 geborene Kinder im Rahmen der Grundsicherung im Alter von der Anrechnung eige-nen Einkommens auszunehmen, der gesetzliche Renten dort ansonsten voll unterliegen.

Begrenzte Ausnahmen von der Einkommensanrech-nung gibt es in der Grundsicherung im Alter mittler-weile für Erwerbseinkommen sowie neuerdings auch für Betriebs- und Riesterrenten. Begründet werden diese Ausnahmen mit den Zielen, zum einen un-günstige Anreizeffekte zu vermindern, die einer Er-werbstätigkeit im Alter oder einer freiwilligen Al-tersvorsorge ansonsten entgegenstehen, und zum an-deren aus Gründen der Leistungsgerechtigkeit für ei-nen gewissen Abstand zum verfügbaren Einkommen von Personen zu sorgen, die keine eigenen Anstren-gungen zur Deckung ihres Mindestbedarfs im Alter getroffen haben bzw. treffen. Aus denselben Grün-den könnte auch ein gewisser Teil aller gesetzlichen Rentenansprüche von der Einkommensanrechnung bei der Grundsicherung im Alter ausgenommen wer-den. Dies wäre eine gezielte Maßnahme gegen Al-tersarmut, bei der zugleich jede Art eigener Alters-vorsorge bzw. Einkommenssicherung im Alter ange-messen honoriert wird. Besondere Gründe, warum dies nur auf Bezieher von Mütterrenten oder Renten aus Erziehungszeiten beschränkt werden sollte, sind nicht zu erkennen.

Literatur

Haan, P., H. Stichnoth, M. Blömer, H. Buslei, J. Geyer, C. Krolage und K.-U. Müller (2017), Entwick-lung der Altersarmut bis 2036: Trends, Risikogrup-pen und Politikszenarien, Bertelsmann-Stiftung: Gü-tersloh.

Werding, M. (2007), „Social Insurance: How to Pay for Pensions and Health Care?“, in: I. Hamm, H. Seitz und M. Werding (Hrsg.), Demographic Change in Germany: The Economic and Fiscal Con-sequences, Springer: Berlin, Heidelberg, New York, S. 89–128.

Werding, M. (2013), Modell für flexible Simulatio-nen zu den Effekten des demographischen Wandels für die öffentlichen Finanzen in Deutschland bis 2060: Daten, Annahmen und Methoden, Bertels-mann-Stiftung: Gütersloh.

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Werding, M. (2014), Familien in der gesetzlichen Rentenversicherung: Das Umlageverfahren auf dem Prüfstand, Bertelsmann-Stiftung: Gütersloh.

Werding, M. (2016a), Modellrechnungen für den vierten Tragfähigkeitsbericht des BMF, im Auftrag des BMF, FiFo-Bericht Nr. 20, Finanzwissenschaftli-ches Forschungsinstitut (FiFo) an der Universität zu Köln: Köln.

Werding, M. (2016b), „Rentenfinanzierung im demo-graphischen Wandel: Tragfähigkeitsprobleme und Handlungsoptionen“, im Auftrag des Sachverständi-genrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftli-chen Entwicklung, SVR-Arbeitspapier Nr. 5/2016.

Werding, M. (2018), Demographischer Wandel, sozi-ale Sicherung und öffentliche Finanzen: Langfristige Auswirkungen und aktuelle Herausforderungen, Ber-telsmann-Stiftung: Gütersloh.

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DEUTSCHER BUNDESTAG Ausschussdrucksache 19(11)176 Ausschuss für Arbeit und Soziales 30. Oktober 2018 19. Wahlperiode

Schriftliche Stellungnahme

zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 05. November 2018, um 15:00 Uhr zum

a) Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzli-chen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz) - BT-Drs. 19/4668

b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Schielke-Ziesing, Marc Bernhard, Stephan Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Anrechnungsfreistellung der Mütterrente beziehungsweise der Rente für Kindererzie-hungszeiten bei der Grundsicherung im Alter BT-Drs. 19/4843

c) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Vollständige Gleichstellung und gerechte Finanzierung der Kindererziehungszeiten in der Rente umsetzen – Mütterrente verbessern - BT-Drs. 19/29

d) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Die Erwerbsminderungsrente stärken BT-Drs. 19/31

Prof. Dr. Eckart Bomsdorf, Köln

Zusammenfassung

1. Stichwortartig lassen sich die wesentlichen im Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnahmen wie folgt zusammenfassen und kommentieren:

2. Verlängerung der Zurechnungszeit bei den Er-werbsminderungsrenten: Zukünftige Erwerbs-minderungsrenten maximal verbessert – aber neue Ungerechtigkeiten geschaffen – Nachbesse-rung erforderlich.

3. Erhöhung der Anrechnung von Kindererzie-hungszeiten für Mütter/Väter von vor 1992 gebo-renen Kindern auf 2 ½ Jahre pro Kind: Gleich-stellungsproblem bei der Anrechnung von Kin-dererziehungszeiten nur halb(-herzig) gelöst – nächste Anpassung kommt bestimmt.

4. Einführung einer bis 2025 geltenden Haltelinie von 48 % beim Rentenniveau: Haltelinie beim Rentenniveau führt nicht zu dauerhafter Lösung und beseitigt keinesfalls die Altersarmut. Das

Rentenniveau ließe sich durch eine systemadä-quate Modifikation der Rentenanpassungsformel zeitweise stabilisieren.

5. Einführung eines bis 2025 geltenden Korridors von 18,6 % bis 20,0 % für den Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung: Beitragssatz-obergrenze wird evtl. mit Steuererhöhung er-kauft und die paritätische Finanzierung der ge-setzlichen Rentenversicherung wird zugunsten der Arbeitgeber weiter abgeschwächt.

6. Erweiterung der Gleitzone beim Rentenversiche-rungsbeitrag für Geringverdiener: Erweiterung der Gleitzone zum Übergangsbereich klingt gut, führt aber nicht zu höheren Renten für Niedrig-verdiener.

7. Der Gesetzentwurf blendet die vorhersehbare demografische Entwicklung weitgehend aus. Diese wird im Hinblick auf die gesetzliche Ren-tenversicherung offenbar immer noch unter-

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schätzt. Die Rente wird durch den Gesetzent-wurf nicht demografiefest gemacht, im Gegen-teil.

Zu den Maßnahmen im Überblick

8. Die Maßnahmen sind auf den ersten Blick für die aktuellen und die zukünftigen Rentnerinnen und Rentner1 vorteilhaft. Teilweise sind sie wider-sprüchlich.

9. So orientiert sich die Erhöhung des Endes der Zurechnungszeit bei den Erwerbsminderungsren-ten direkt an der Regelaltersgrenze für die gesetz-liche Rentenversicherung. Dagegen wird weder bei der Berechnung der Abschläge bei EM-Renten noch bei der Definition des Rentenniveaus eine derartige Anpassung vorgenommen.

10. Bei der Anrechnung eines zusätzlichen halben Jahres als Kindererziehungszeit für Eltern vor 1992 geborener Kinder wird diese Erhöhung auch für Bestandsrentner wirksam; die Anpas-sung der Zurechnungszeit bei den Erwerbsmin-derungsrenten wirkt jedoch nur für zukünftige Rentenjahrgänge.

11. Die Erhöhung der Erziehungszeit für vor 1992 ge-borene Kinder auf 2 ½ Jahre kann nicht überzeu-gen. Es ist davon auszugehen, dass sie nur eine Übergangslösung auf dem Weg zu einer vollstän-digen Anpassung von Kindererziehungszeiten für Eltern vor 1992 geborener Kinder an die für El-tern ab 1992 geborener Kinder geltende Regelung ist.

12. Die sogenannte doppelte Haltelinie, die in Wahr-heit bis 2025 eine dreifache Haltelinie darstellt, widerspricht dem Umlageverfahren der gesetzli-chen Rentenversicherung. Die verständliche, aber überbewertete Einführung einer Haltelinie beim Rentenniveau wird einer möglichen Altersarmut nicht entgegenwirken können. Zudem ist das Rentenniveau, wenn beispielsweise die Renten-anpassungsformel betrachtet wird, nicht daten-adäquat definiert.

13. Der Korridor für den Beitragssatz führt, unabhän-gig davon in welche Richtung seine Grenzen ohne den Gesetzentwurf überschritten werden, letztlich direkt oder indirekt nur zu einer Erhö-hung des Bundeszuschusses bzw. der Rücklage der Rentenversicherung.

14. Die Erweiterung der Gleitzone (neu „Übergangs-bereich“) führt bei Geringverdienern zu weiteren Verringerungen bei den Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung – allerdings ohne Reduk-tion bei den Rentenansprüchen.

15. Abgesehen von der Verlängerung der Zurech-nungszeit ist keine der jetzt vorgesehenen Maß-nahmen dazu geeignet, Altersarmut in wesentli-chem Umfang zu beseitigen. Altersarmut ist pri-

1 Es wird hier darauf verzichtet, durchgängig von Rentnern und Rentnerinnen etc. zu sprechen; gemeint sind mit den Be-griffen Rentner bzw. Erwerbsminderungsrentner etc. immer alle Geschlechter. 2 In dieser Stellungnahme wird teilweise auf frühere eigene Stellungnahmen zu Gesetzentwürfen, insbesondere zur Er-werbsminderungsrente bzw. zur Mütterrente, die nicht an Aktualität verloren haben, zurückgegriffen.

mär immer ein Problem der Löhne sowie der Er-werbsbiographie und nicht der Leistungen der Rentenversicherung.

16. Mit dem Gesetzentwurf soll laut Begründung zu diesem Entwurf u.a. “Rechtssicherheit gewähr-leistet werden“. Ob dies dadurch erreicht wird, dass ständig neue Regeln bei der gesetzlichen Rentenversicherung „erfunden“ werden, darf be-zweifelt werden.

17. Zudem antizipiert der vorliegende Gesetzentwurf die vorhersehbare demografische Entwicklung nicht, im Gegenteil, er hebelt sogar die beste-hende, relativ demografiefeste Rentenanpas-sungsformel aus.

Zu den Maßnahmen im Einzelnen

Zukünftige Erwerbsminderungsrenten maximal ver-bessert – aber neue Ungerechtigkeiten geschaffen – Nachbesserung erforderlich2

18. Mit dem hier vorgelegten Gesetzentwurf soll bei Personen mit verminderter Erwerbsfähigkeit, so-fern ihnen diesbezüglich Leistungen aus der ge-setzlichen Rentenversicherung zustehen, bei Be-zug der Rente nach 2018 die Zurechnungszeit unmittelbar auf das jeweils geltende gesetzliche Rentenzugangsalter verlängert werden. Damit würde gegenüber der geltenden Gesetzeslage zu-nächst die aktuelle Zurechnungszeit (2018 62 Jahre, 3 Monate) sprunghaft um nahezu 3 ½ Jahre (2019) erhöht und in den Folgejahren an das je-weils geltende gesetzliche Rentenzugangsalter angepasst.

19. Die vorgesehene Regelung schließt sich an die 2014 bzw. 2017 beschlossenen Erhöhungen der Zurechnungszeit auf das vollendete 62. bzw. 65. Lebensjahr an. Sie soll nur für Rentenzugänge und nicht für den Rentenbestand gelten.

20. Die Anpassung des Endes der Zurechnungszeit auf das gesetzliche Rentenzugangsalter ist zu be-grüßen. Allerdings kollidiert sie im Grunde mit der im Jahr 2017 beschlossenen, schrittweisen Erhöhung der Zurechnungszeit um drei Jahre, und es stellt sich in diesem Zusammenhang man-chem die Frage, warum es dreier Gesetze (2014, 2017, 2018) bedarf, um zu der jetzt vorgesehenen Lösung zu gelangen.

21. Die gegenüber der geltenden Gesetzeslage aktuell vorgesehene, sprunghafte Erhöhung des Endes der Zurechnungszeit von 62 Jahren und drei Mo-naten für 2018 auf 65 Jahre und acht Monate 2019 (mit anschließender Dynamisierung) ist für die von der Erhöhung Profitierenden hilfreich; sie beinhaltetet jedoch den Nachteil, dass unmit-telbar vor dem Inkrafttreten des Gesetzes festge-setzte und bezogene Erwerbsminderungsrenten gravierend niedriger als nach dem ab diesem Zeitpunkt festgesetzte vergleichbare Erwerbsmin-

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derungsrenten ausfallen. Diese spürbare Diskre-panz dürfte den negativ Betroffenen nur schwer zu vermitteln sein.3 Hier entstehen neue Unge-rechtigkeiten.

22. Auch wenn diese Verlängerung der Zurech-nungszeit grundsätzlich zu begrüßen ist, so liegt hier durch den großen Sprung im Ende der Zu-rechnungszeit eine Konstruktionsschwäche vor, die 2017 gerade erst beseitigt worden war. An dieser Stelle besteht dringend Nachbesserungsbe-darf im Hinblick auf die Bestandsrenten bzw. die Übergänge in der Verschiebung des Endes der Zurechnungszeit.

23. Eine einfache Lösung wäre denkbar: Eine Anpas-sung des Endes der Zurechnungszeit der Ende 2018 bestehenden Erwerbsminderungsrenten an das im Jahr des Beginns des erstmaligen Bezugs der Erwerbsminderungsrente geltende gesetzli-che Rentenzugangsalter (oder noch einfacher an das Alter von 65 Jahren) würde praktisch eine Art methodische Gleichsetzung der Bestandsrent-ner mit den Neuzugängen bedeuten. Darüberhin-ausgehende weitere Anpassungen dürfte es für Bestandsrentner nicht geben, da diese dem je-weils geltenden Rentenzugangsalter widerspre-chen und eine Bevorzugung der Erwerbsminde-rungsrentner gegenüber den Altersrentnern be-deuten würden. Die angedeutete Korrektur würde Ungerechtigkeiten vermeiden bzw. besei-tigen. Sie wäre natürlich nicht umsonst zu ha-ben.4 Im Übrigen entspricht sie weitgehend dem in diesem Punkt von der Fraktion DIE LINKE ohne weitere Begründung eingebrachten Antrag.

24. Eine andere Lösung des „Sprungproblems“ könnte darin bestehen, den Übergang nicht in ei-nem Jahr zu vollziehen, sondern ihn beispiels-weise auf fünf Jahre zu strecken, wie es ähnlich 2017 vorgesehen war.

25. Die Abschläge bei der Berechnung der Erwerbs-minderungsrente werden mit dem Gesetzentwurf gegenüber der geltenden Rechtslage offenbar nicht verändert, was letztlich nicht systemadä-quat ist. Auch hier wäre eine Änderung und An-passung an die Regelaltersgrenze sinnvoll – un-ter Beibehaltung der 36 Monate-Grenze.

26. Eine Abschaffung der Abschläge – wie von der Fraktion DIE LINKE gefordert – würde zu einer Besserstellung der eine Erwerbsminderungsrente Beziehenden gegenüber Altersrentnern führen, die nur schwer zu begründen sein dürfte. Dass Gewerkschaften, der Sozialverband etc. eine der-

3 Dies gilt natürlich in ähnlicher Weise für noch früher bewilligte Erwerbsminderungsrenten. 4 Das Nichteinbeziehen des Rentenbestandes in die vorgesehene Regelung schließt zwar an der 2014 bzw. 2017 getroffenen Regelung an. 2017 wurde jedoch ein gleitender Übergang vorgesehen. Eine Einbeziehung des Rentenbestandes wäre für die betroffenen Versicherten wünschenswert, allerdings ist bei derartigen in gewissem Sinne rückwirkenden Anpassungen nicht nur der finanzielle Aspekt für die Rentenversicherung zu beachten, sondern ebenfalls zu berücksichtigen, dass es natürlich problematisch ist – wenn auch aus Sicht der Betroffenen verständlich, dass Verbesserungen immer auf den Ren-tenzugang und den Rentenbestand wirken sollen, Verschlechterungen allerdings allenfalls den Rentenzugang treffen dür-fen. Im Übrigen ist beim häufig gezogenen Vergleich der Höhe der Erwerbsminderungsrenten beispielsweise mit der von Altersrenten immer zu berücksichtigen, ob die Beschäftigtenstruktur der Erwerbsminderungsrentner und der Altersrentner gleich war, oder ob die Unterschiede in der Höhe der Rente nicht zu einem großen Teil auf Unterschieden in der ursprüng-lichen Beschäftigtenstruktur der jeweiligen Rentenbezieher beruhen.

artige Abschaffung begrüßen würden, ist ver-ständlich, aber kein inhaltlich starkes Argument für dieses Anliegen der Fraktion DIE LINKE.

Gleichstellungsproblem bei der Anrechnung von Kindererziehungszeiten nur halb(-herzig) gelöst – nächste Anpassung kommt bestimmt

27. Für Eltern vor 1992 geborener Kinder beträgt ak-tuell die maximale Anrechnung von Kindererzie-hungszeiten bei der Berechnung der gesetzlichen Rente zwei Jahre pro Kind, während für nach 1991 geborene Kinder bis zu drei Jahre angerech-net werden können.

28. Im Koalitionsvertrag von 2018 war vorgesehen, diese Differenz für Eltern, die mindestens drei Kinder haben, vollständig zu beseitigen. Nicht zuletzt rechtliche Bedenken haben dazu geführt, diese Lösung nicht weiter zu verfolgen, sondern eine Lösung anzustreben, die finanziell in ver-tretbarer Höhe liegt und alle Eltern von vor 1992 geborenen Kindern gleichbehandelt. Die vorlie-gende Lösung ist ein typischer Kompromiss, der sachlich im Grunde allenfalls durch finanzielle Erwägungen zu erklären ist: Für vor 1992 gebo-rene Kinder erhalten die Eltern maximal 2 ½ Jahre als Kindererziehungszeit angerechnet.

29. Durch die zusätzliche Anrechnung von Kinderer-ziehungszeiten soll eine größere Gerechtigkeit ge-schaffen werden. Die nach der Regelung von 2014 verbliebene gefühlte Gerechtigkeitslücke ist jedoch wiederum – wie 2014 – nur zur Hälfte ge-schlossen worden.

30. Das Problem bei dieser so genannten Mütterrente ist die Art der Finanzierung. Während für die jüngeren Jahrgänge der nach 1991 geborenen Kin-der mittlerweile aus Steuermitteln Beiträge in Milliardenhöhe geleistet werden, obwohl diesen gegenwärtig noch relativ wenige Leistungen ge-genüberstehen, ist dies für die früher geborenen Kinder nicht erfolgt. Es ist aber keineswegs so, dass bereit ab 1992 für die Kindererziehungszei-ten Beiträge vom Bund an die GRV entrichtet wurden. Vielmehr setzt diese Beitragsleistung erst 1999 ein. Die Beiträge für frühere Jahrgänge gelten fiktiv als erbracht („Kindererziehungszei-ten sind Pflichtbeitragszeiten, für die Beiträge als gezahlt gelten oder seit dem 1.6.1999 vom Bund an die Rentenversicherung tatsächlich gezahlt werden.“ Quelle: DRV). Vor diesem Zeitpunkt wurden die Rentenausgaben, die auf die Berück-sichtigung von Kindererziehungszeiten entfielen, vom Bund mit einer Pauschale erstattet. Dass seit 1999 vom Bund Beitragsleistungen für die Kin-

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dererziehungszeiten bei aktuell unter Dreijähri-gen erbracht werden, wurde seinerzeit u.a. mit dem Ziel der Senkung des Beitragssatzes zur GRV unter 20 % begründet. Die genannten Bei-tragsleistungen waren wesentlich höher als die vorher pauschal gezahlten Beträge.

31. Wird diese historische Entwicklung außer Acht gelassen, bleibt dennoch die Frage der Finanzie-rung der Mütterrente. Da es sich bei der Anerken-nung von Kindererziehungszeiten eher um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe als um eine Auf-gabe der gesetzlichen Rentenversicherung han-delt, und somit eine versicherungsferne Leistung vorliegt, wäre diese aus Steuermitteln zu finan-zieren. Dem ließe sich das Argument entgegen-halten, dass Eltern gewissermaßen durch ihre Kinder eine zusätzliche eigene Beitragsleistung erbracht hätten; daraus würde dennoch folgen, dass mindestens die Hälfte der zusätzlichen Ren-tenleistung direkt aus Steuermitteln erbracht werden muss. Es gab allerdings bereits bei der vorletzten Anpassung der Kindererziehungszei-ten durchaus auch Wissenschaftler (z.B. beim ZEW, beim ifo-Institut), die die Meinung vertra-ten, dass bei der Berücksichtigung von Kindern im System der GRV eine interne Umverteilung von Kinderlosen zu den Eltern mit Kindern erfol-gen sollte und derartige Maßnahmen somit kos-tenneutral finanziert werden können. Bei der Pflegeversicherung gibt es einen ähnlichen An-satz bereits.

32. Unabhängig davon wie die Finanzierung letzten Endes gestaltet wird, die vorliegende Lösung kann nicht überzeugen. Sie wird mit Sicherheit nur eine Übergangslösung auf dem Weg zu einer vollständigen Anpassung von Kindererziehungs-zeiten für vor 1992 geborene Kindern an die für Eltern ab 1992 geborener Kinder geltende Rege-lung sein. Diese Lösung strebt auch der Antrag der Fraktion DIE LINKE an.

33. Die von der AFD angestrebte Nichtanrechnung der durch Kindererziehungszeiten erworbenen Entgeltpunkte bei der Grundsicherung im Alter übersieht, dass die sogenannte Mütterrente keine Maßnahme zur Vermeidung von Altersarmut ist, sondern ein Ersatz bzw. eine Ergänzung für durch Kindererziehungszeiten nicht oder gerin-ger erworbene Ansprüche in der Rentenversiche-rung. Diese sind damit praktisch durch renten-versicherungspflichtige Tätigkeit erworbenen Entgeltpunkten gleichzusetzen: Letztere werden aber alle voll angerechnet. Eine Nichtberücksich-tigung der aus Kindererziehungszeiten erworbe-nen Entgeltpunkte würde daher gegenüber dem Personenkreis, die – obwohl sie Kinder erzogen haben – wegen der Erwerbstätigkeit keine oder nur wenige Zeiten bzw. Entgeltpunkte zusätzlich

5 Zu den folgenden Punkten vgl. Bomsdorf, E. (2018) Das Rentenniveau sichern – aber wie? Eine kurze Analyse und ein systemadäquater Vorschlag. Ifo Schnelldienst 11, S. 30-34. Aus dieser Veröffentlichung sind einige Gedanken bzw. Ab-schnitte übernommen worden. 6 Im Abschnitt Gesetzesfolgen des Gesetzentwurfs wird die voraussichtliche zukünftige Entwicklung des Rentenniveaus unter verschiedenen Annahmen dargelegt. Leider wird hier nicht klar, ob die Daten nur auf dem Rentenwert basieren oder auch den Rentenwert Ost einbeziehen. Mit anderen Worten, es fehlt eine Angabe darüber, wie hoch das auf dem Renten-wert Ost basierende Rentenniveau im Bereich der so genannten neuen Länder gegenwärtig ist.

angerechnet bekommen, zu einer nicht gerecht-fertigten Bevorzugung führen.

Haltelinie beim Rentenniveau führt nicht zu dauer-hafter Lösung und beseitigt keinesfalls die Altersar-mut

34. Die DRV Bund definiert das Rentenniveau wie folgt: „Das Rentenniveau stellt die Relation zwi-schen der Höhe der Standardrente (45 Jahre Bei-tragszahlung auf Basis eines Durchschnittsver-dienstes) und dem Entgelt eines Durchschnitts-verdieners dar. Maßgebend ist das Nettorentenni-veau vor Steuern. Dabei werden von der Stan-dardrente die darauf entfallenden Sozialabgaben (Kranken- und Pflegeversicherung) abgezogen. Vom Durchschnittsverdienst werden ebenfalls die darauf entfallenden durchschnittlichen Sozi-alabgaben (Kranken-, Pflege-, Renten- und Ar-beitslosenversicherung) sowie zusätzlich der durchschnittliche Aufwand zur zusätzlichen pri-vaten Altersvorsorge abgezogen.“5

35. Das Rentenniveau wird gerne als Sicherungsni-veau, als Maß für die Qualität und auch die Quantität der staatlichen Rente interpretiert. Im Gegensatz zur Beamtenversorgung, bei der aus ei-nem erreichten Pensionssatz von beispielsweise 70 % unmittelbar die Höhe der Pension errech-net werden kann, stellt das Rentenniveau letzt-lich eine fiktive Größe dar, die für die versicher-ten Personen keine unmittelbare Aussage über die Höhe der Rente zulässt, da sie nicht in direk-ter Beziehung zum individuellen Erwerbsein-kommen steht.

36. Das Rentenniveau hängt u.a. von den Beitragssät-zen zur Sozialversicherung ab. Dabei zeigen sich einige auf den ersten Blick irritierende Konse-quenzen. Fällt ceteris paribus der Beitrag zur Ar-beitslosenversicherung, so fällt unmittelbar – da die Beitragsreduktion nur die aktiv Versicherten direkt trifft – das Rentenniveau; entsprechend steigt mit steigendem Beitragssatz das Rentenni-veau, obwohl sich in beiden Fällen an der Ren-tenhöhe nichts geändert hat. Kurzfristig gilt das bei einer Änderung des Beitragssatzes zur gesetz-lichen Rentenversicherung ähnlich.

37. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass das Rentenni-veau bis 2025 nicht unter 48 % – und bis 2030 nicht unter 43 % – fallen darf, andernfalls sind geeignete Maßnahmen zu ergreifen.6 Bis 2025 ist als geeignete Maßnahme vorgesehen, dass der ak-tuelle Rentenwert so anzuheben ist, dass das Rentenniveau mindestens 48 % beträgt. Unklar bleibt zum einen, warum hier ein Rentenniveau von mindestens 48 % gefordert wird, und wodurch ggf. die Kosten einer zusätzlichen Erhö-hung des Rentenwerts aufgefangen werden sol-len. Dies kann praktisch nur bedeuten, dass der Beitragssatz steigt, sofern er sich an vorgegebene

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Grenzen hält, und ggf. der Steuerzuschuss erhöht werden muss. Im Koalitionsvertrag von 2018 steht, dass hierzu die Rentenanpassungsformel geändert werden solle. Sie wird aber nicht ange-passt, sondern sie wird in ihrer wohl austarierten Wirkung ausgehebelt.

38. Doch im Gegensatz zu stark vereinfachten Rech-nungen, die immer wieder als Argument gegen die Absenkung des Rentenniveaus angebracht werden, steigt in der Praxis auch bei sinkendem Rentenniveau die Standardrente. Ein Absinken des Rentenniveaus heißt letztlich nur, dass die Standardrente langsamer gewachsen ist als der Durchschnittsverdienst.

39. 2016 hat sich die damalige Bundesarbeitsminis-terin Andrea Nahles dazu in ihrem Gesamtkon-zept zur Alterssicherung geäußert und dabei u.a. festgestellt, „Bei guter Lohnentwicklung und sehr guter Beschäftigungslage kann ein niedrigeres Ni-veau einen absolut höheren Rentenzahlbetrag er-geben als ein hohes Niveau bei schlechter Lohn-entwicklung und schlechter Beschäftigungslage. Die Renten können also nicht losgelöst von ei-nem funktionierenden Arbeitsmarkt getrennt be-trachtet werden.“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2016, S. 18).

40. Zugleich hat sie interessanterweise ausdrücklich betont, „Die Höhe des Sicherungsniveaus ist zu-dem kein Indikator für Altersarmut.“ (Bundesmi-nisterium für Arbeit und Soziales 2016, S. 19). Mit anderen Worten, das Rentenniveau gehört in seiner Funktion als vorrangiges Qualitätsmerk-mal der Rente auf den Prüfstand.

41. Außerdem wäre es nützlich, trotz der Probleme wegen der aktuell unterschiedlichen Besteuerung der gesetzlichen Rente, etwas über die Entwick-lung des Nettorentenniveaus (nach Steuern) zu erfahren, wie es indirekt im Alterssicherungsbe-richt bei der Berechnung des Gesamtversorgungs-niveaus ermittelt wird.

42. Die immer wieder angesprochene Armut im Alter ist in erster Linie keine Sache der Renten, son-dern eine Folge der Höhe von Löhnen und Gehäl-tern in der aktiven Phase der Versicherten; sie würde auch durch die angestrebte Erhöhung des Rentenniveaus nicht beseitigt, allenfalls etwas ge-mildert werden. Eine bedarfsabhängige Anhe-bung von Niedrigrenten auf das Grundsiche-rungsniveau wird ggf. weiter nötig sein.

Das Rentenniveau ließe sich durch systemadäquate Modifikation der Rentenanpassungsformel zeit-weise stabilisieren

43. Im Koalitionsvertrag von 2018 steht der folgende Satz: „Für die Sicherung des Niveaus bei 48 Pro-zent werden wir in 2018 die Rentenformel än-dern."

44. Dieser Satz findet im vorliegenden Gesetzentwurf keine direkte Entsprechung, obwohl durchaus systemadäquate Anpassungen denkbar sind, die positiv auf das Rentenniveau wirken; die Niveau-schutzklausel führt im Anwendungsfall zu einem Aussetzen der Rentenanpassungsformel.

45. Derartige Modifikationen wären u.a. eine reali-tätsnahe, d.h. nicht überhöhte Verwendung des auf die so genannte Riesterrente zurückgehenden Altersvorsorgeanteils in der Rentenanpassungs-formel und eine Verwendung nur der Verände-rung des halben – nicht des vollen Beitragssatzes – in der Rentenanpassungsformel. Beide Modifi-kationen lassen sich gut begründen (vgl. Boms-dorf 2018, S. 32f.) und wirken positiv auf den Rentenwert und damit auf das Rentenniveau.

46. Im Übrigen wäre zu prüfen, ob im Zuge der schrittweisen Anpassung des gesetzlichen Ren-tenzugangsalters auch die Standardrente dyna-misch zu definieren ist. Dies würde dem Vorge-hen hinsichtlich der Zurechnungszeit bei der Er-werbsminderungsrente entsprechen.

Beitragssatzobergrenze wird evtl. mit Steuererhö-hung erkauft und die paritätische Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung wird zugunsten der Arbeitgeber weiter abgeschwächt

47. Der Beitragssatzkorridor sieht bis 2025 eine Un-ter- und eine Obergrenze für den Beitragssatz vor. Die Untergrenze wird auf 18,6 % bis 2025 festge-setzt. Dies bedeutet, dass die Nachhaltigkeits-rücklage unter Umständen über die gesetzlich vorgesehene Obergrenze steigt. Reicht dagegen ein Beitragssatz von 20 % bis 2025 nicht aus, um die Mindestrücklage zu erreichen, soll der Bei-tragssatz bei 20 % festgesetzt und ein zusätzli-cher Bundeszuschuss gezahlt werden bzw. der bereits gezahlte zum Einsatz kommen. Dabei geht es hier nicht um die Finanzierung von versiche-rungsfernen Leistungen, die eine Bezuschussung aus Steuermitteln rechtfertigen würde.

48. Die Haltelinien beim Rentenniveau und beim Beitragssatz sind der krampfhafte, aber nicht sys-temgerechte Versuch eine Mehrzieloptimierung vorzunehmen, wobei die Ziele sich in letzter Konsequenz widersprechen (höheres Rentenni-veau, niedriger Beitragssatz), es sei denn, das weitgehend geschlossene System der gesetzli-chen Rentenversicherung wird – wie hier – dadurch weiter geöffnet, dass im Zweifel der Bund weitere Steuermittel zur Verfügung stellt. Dabei wird allzu gern übersehen, dass auch der Bundeszuschuss finanziert werden muss – und zwar wesentlich weniger durch Unternehmen als durch Einkommensteuer- und Umsatzsteuerzah-ler. Die Arbeitgeber werden dadurch in gewissem Sinne entlastet, ohne dass dies den Arbeitneh-mern in ihrer Gesamtheit zugutekommt – im Ge-genteil. Die paritätische Finanzierung der gesetz-lichen Rentenversicherung wird dadurch ge-schwächt, da einseitig die Arbeitgeber entlastet werden.

49. Außerdem kommt langfristig gerade an dieser Stelle der demografische Wandel ins Spiel, der dazu führt, dass die Anzahl der Rentenempfänger steigt, während die Anzahl der Beitragszahler nicht zunimmt bzw. sogar sinkt. Das bedeutet letztlich aber auch, dass die Anzahl der Erwerb-stätigen aus denen der größte Teil der Steuerzah-ler kommt, zurückgeht. Zudem kann es in der Folge z.B. auch zu Mehrwertsteuererhöhungen

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kommen, die Niedrigverdiener relativ stärker be-lasten als Gutverdiener.

50. Haltelinien beim Beitragssatz und beim Renten-niveau können den Übergang zur stärker steuerfi-nanzierten Rente und damit eine stärkere Abkehr vom Äquivalenzprinzip erfordern. Dies gilt ins-besondere für die Zeit nach 2025, für die im Ge-setzentwurf auch Haltelinien gesetzt werden, die sich gegenwärtig noch in einem realisierbaren Bereich bewegen.

51. Beitragssatz und Rentenniveau gleichzeitig zu stabilisieren, geht allenfalls bei einer systemwid-rig stärker steuerfinanzierten Rente, wie auch hier deutlich wird. Den Steuerzahler hier immer hinzuzuziehen ist auf Dauer keine Lösung. Doch sollte es möglich sein, eine Art Interessenaus-gleich zwischen den beiden Größen zu finden. Schließlich gilt: Die Beitragszahler von heute sind die Rentner von morgen.

52. Die Berücksichtigung der demografischen Verän-derungen findet beim Gesetzentwurf letztlich nicht statt, im Gegenteil, die Wirkung des demo-grafischen Wandels in der Rentenanpassungsfor-mel wird durch die vorgeschlagenen Maßnahmen ausgehebelt, soweit sie deutlich negativ für Ren-tenempfänger (Stichwort Rentenniveau) oder Bei-tragszahler (Stichwort Beitragssatz) ist.

Erweiterung der Gleitzone zum Übergangsbereich klingt gut, führt aber nicht zu höheren Renten für Niedrigverdiener

53. Im Bereich der sogenannten Gleitzone eines mo-natlichen Arbeitsentgelts von 450 bis 850 Euro bestand bisher keine vollständige Sozialversiche-rungspflicht. Der größte Teil des Arbeitsentgelts blieb sozialversicherungspflichtig, abgestuft ein kleiner Teil für die Arbeitnehmer vollständig so-zialversicherungsfrei.7 Dies hatte auch – sehr ge-ringe –Auswirkungen auf die daraus an die Sozi-alversicherung bestehenden Ansprüche, es sei denn, der teilweisen Sozialversicherungsfreiheit wurde widersprochen.

54. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Gleitzone zu einem Übergangsbereich erweitert wird, in dem ähnlich wie gegenwärtig die Sozialversiche-rungspflicht etwas eingeschränkt ist. Diese Er-weiterung ist hier aber nicht die einzige Ände-rung. Fast noch bemerkenswerter erscheint die Tatsache, dass aus der eingeschränkten Sozial-versicherungspflicht – im Gegensatz zur gegen-wärtigen Regelung – keine Einschränkung bei den resultierenden Leistungen der Rentenversi-cherung folgt. Das bedeutet, dass hier später zu Lasten der Gesamtheit der Beitragszahler gering-fügig Leistungen erbracht werden, denen in der Beitragsphase keine Gegenleistungen in Form von Beiträgen gegenüberstehen.

55. Die Anpassung trägt keineswegs dazu bei, Alters-armut zu reduzieren. Da müssten auf Seiten der gesetzlichen Rentenversicherung ganz andere Maßnahmen ergriffen werden. Wichtig wäre zu-dem eine höhere Erwerbsbeteiligung mit besse-ren Löhnen und Gehältern.

7 Die resultierende Reduktion bei den Beiträgen kam vollständig den Beitragszahlenden zugute.

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DEUTSCHER BUNDESTAG Ausschussdrucksache 19(11)177 Ausschuss für Arbeit und Soziales 30. Oktober 2018 19. Wahlperiode

Schriftliche Stellungnahme

zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 05. November 2018, um 15:00 Uhr zum

a) Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzli-chen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz) - BT-Drs. 19/4668

b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Schielke-Ziesing, Marc Bernhard, Stephan Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Anrechnungsfreistellung der Mütterrente beziehungsweise der Rente für Kindererzie-hungszeiten bei der Grundsicherung im Alter BT-Drs. 19/4843

c) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Vollständige Gleichstellung und gerechte Finanzierung der Kindererziehungszeiten in der Rente umsetzen – Mütterrente verbessern - BT-Drs. 19/29

d) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Die Erwerbsminderungsrente stärken BT-Drs. 19/31

Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände

Zusammenfassung

Die vorgelegten Rentenpläne sind teuer, ungerecht und kurzsichtig: Sie bedeuten milliardenschwere Zusatzbelastungen für die gesetzliche Rentenversi-cherung und erschweren ihre langfristige Finanzier-barkeit. Allein bis 2030 würden die im Gesetzent-wurf vorgesehenen Maßnahmen zu Mehrausgaben von über 75 Mrd. € für die gesetzliche Rentenversi-cherung führen.

Bei Umsetzung der jetzt geplanten Maßnahmen kann die gesetzliche Beitragssatzobergrenze von 22 % für 2030 nicht gehalten werden, wie im Entwurf selbst eingeräumt wird. Die Bundesregierung muss daher nach geltendem Recht (§ 154 SGB VI) schon bis Ende November 2018 und damit noch vor Inkrafttre-ten des Gesetzes mit der Vorlage des Rentenversiche-rungsberichtes neue gesetzliche Maßnahmen vor-schlagen, damit die Beitragssatzobergrenze doch noch eingehalten werden kann. Das ist eine kurz-sichtige Rentenpolitik.

Finanziell besonders riskant ist die Zusage eines Mindestrentenniveaus von 48 % bis 2025, da diese Zusage bei einer sich verschlechternden wirtschaftli-chen Lage schnell Mehrausgaben im zweistelligen Milliardenbereich bedeuten kann. Ohnehin berück-sichtigt die im Gesetzentwurf enthaltene Vorausbe-rechnung des Beitragssatzes nicht alle künftig die Rentenversicherung treffenden Belastungen durch Beitragssatzveränderungen in anderen Sozialversi-cherungszweigen. Allein die geplanten Veränderun-gen beim Pflege- und Arbeitslosenversicherungsbei-tragssatz werden Zusatzkosten von rund 10 Mrd. € bis 2025 verursachen.

Die jetzt geplante doppelte Haltelinie ist einseitig an den Interessen der Rentner orientiert. Zugunsten der Rentner soll das heutige Rentenniveau von 48 % bis auf Weiteres festgeschrieben werden, während die Beitragszahler in den nächsten Jahren über einen hö-heren Beitragssatz kräftig mehrbelastet werden sol-

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len. Richtig wäre, die Ergebnisse der Rentenkommis-sion Anfang 2020 abzuwarten. Bis dahin werden die vorgesehenen Haltelinien ohnehin eingehalten, so dass kein Grund besteht, jetzt schon vorab zu han-deln.

Die geplanten zusätzlichen Mütterrenten schaffen weitere teure Zusatzbelastungen. Es ist zudem ver-fehlt, dass erneut vor allem die Beitragszahler für die Finanzierung einer solchen gesamtgesellschaftlichen Aufgabe herangezogen werden sollen.

Mit der vorgesehenen neuerlichen Leistungserhö-hung bei den Erwerbsminderungsrenten schießt der Entwurf über das vertretbare Maß hinaus, weil Er-werbsminderungsrentner danach künftig bei sonst gleicher Versicherungsbiografie deutlich höhere Renten als Altersrentner erhalten würden.

Die geplante Neuregelung der Midijobs erreicht nicht zielgenau Geringverdiener mit geringen Stun-denlöhnen. Sie führt darüber hinaus zu einer nicht zu rechtfertigenden Privilegierung von Midijobbern, denn sie würden künftig für jeden gezahlten Bei-trags-Euro deutlich höhere Rentenanwartschaften er-halten als andere Beitragszahler. Falls der Gesetzge-ber dennoch an den Plänen festhält, sollte zumindest das vorgesehene Inkrafttreten der Neuregelung zum 1. Januar 2019 zeitlich verschoben werden, um Ar-beitgebern und Sozialversicherung eine rechtzeitige Vorbereitung zu ermöglichen.

Im Einzelnen

1. Zur doppelten Haltelinie beim Rentenniveau und beim Beitragssatz

Doppelte Haltelinie ist einseitig an den Interessen der Rentner ausgerichtet

Die geplante „doppelte Haltelinie“ wirkt einseitig zugunsten der Rentner: Für sie wird das heutige Rentenniveau von 48 % bis 2025 garantiert, während die Beitragszahler im gleichen Zeitraum durch einen von 18,6 % auf 20,0 % steigenden Beitragssatz deut-lich zusätzlich belastet werden.

Auf die Zusicherung eines Rentenniveaus auf dem heutigen Niveau von 48 % sollte verzichtet werden. Denn diese Zusicherung würde bedeuten, dass bis 2025 die Belastungen aus der demografischen Ent-wicklung ganz überwiegend zu Lasten der Beitrags-zahler gehen würden: Der Beitragssatz und damit die Belastung der Beitragszahler würde zusätzlich stei-gen, während das Rentenniveau unverändert bliebe.

Der bisherige gesellschaftliche Konsens, dass Belas-tungen aus der Alterung gleichmäßig auf Beitrags-zahler und Rentner verteilt werden sollten, würde aufgegeben.

Bezeichnend ist, dass der Gesetzentwurf sogar ein Beitragssatzsenkungsverbot(!) vorsieht. Selbst wenn nach geltendem Recht der Beitragssatz gesenkt wer-den muss, soll er in den kommenden Jahren den-noch nicht mehr unter das aktuelle Niveau gesenkt werden dürfen (§ 287 Abs. 1 SGB VI-E). Die seit 2005 zu Recht bestehende Begrenzung der Nachhal-tigkeitsrücklage auf max. 1,5 Monatsaufgaben wird damit faktisch aufgegeben.

Haltelinie beim Rentenniveau wird noch teurer als im Gesetzentwurf kalkuliert

Die Zusage eines Mindestrentenniveaus verursacht bereits bis 2025 immense Mehrausgaben und ist mit hohen finanziellen Risiken verbunden: Bereits nach dem Gesetzentwurf ergibt sich allein für das Jahr 2025 eine finanzielle Mehrbelastung für die Beitrags-zahler und den Bundeshaushalt von über 6 Mrd. €. Bei einer allerdings nur etwas schlechteren wirt-schaftlichen Entwicklung liegen die Mehrbelastun-gen schnell im zweistelligen Milliardenbereich.

Tatsächlich werden die Kosten der Zusicherung ei-nes Rentenniveaus von 48 % bis 2025 ohnehin hö-her ausfallen als es der Gesetzentwurf prognostiziert. Grund ist, dass der Gesetzentwurf die Kosten auf der Grundlage des geltenden Rechts kalkuliert und da-mit auch von der Fortgeltung der aktuellen Bei-tragssätze in den anderen Sozialversicherungszwei-gen ausgeht. Das ist aber keine realistische An-nahme: Zum einen ist eine Absenkung des Arbeitslo-senversicherungsbeitrags um 0,5 Prozentpunkte be-reits vereinbart, zum anderen hat die Bundesregie-rung bereits einen Gesetzentwurf zur Anhebung des Pflegebeitragssatzes um 0,5 Prozentpunkte beschlos-sen. Beide Maßnahmen wirken dämpfend auf das Rentenniveau und er

höhen damit die Kosten, um die im Entwurf vorgese-hene Haltelinie beim Rentenniveau von 48 % zu ge-währleisten:

Wenn der Pflegeversicherungsbeitragssatz um 0,5 Prozentpunkte angehoben und der Arbeitslosenver-sicherungsbeitrag um 0,5 Prozentpunkte gesenkt wird, ergeben sich nach aktuellem Stand für die Bei-trags- und Steuerzahler Zusatzkosten von rund 10 Mrd. € bis 2025 gegenüber dem vorliegenden Ge-setzentwurf.

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Künftige Beitragssatzentwicklung in der gesetzlichen Rentenversicherung sowie Kosten der Beitragssatzga-rantie nach geltendem Recht, nach dem aktuellen Gesetzentwurf sowie bei Berücksichtigung der geplanten Beitragssatzveränderungen in der Arbeitslosen- und Pflegeversicherung

Jahr: 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025

Nach geltendem Recht 18,3% 18,3% 18,3% 18,3% 19,4% 19,6% 19,8%

Aktueller Gesetzentwurf

18,6% 18,6% 18,6% 18,6% 19,3% 19,9% 20,0% + 4,9 Mrd. €

Senkung BA-Beitrag 0,4-%-Punkte

18,6% 18,6% 18,6% 18,6% 19,4% 20,0% 20,0% + 4,9 Mrd. €

Anhebung PV-Beitrag 0,5-%-Punkte

18,6% 18,6% 18,6% 18,6% 19,6% 20,0% 20,0% + 6,5 Mrd. €

Quelle: Aktueller Gesetzentwurf sowie Regierungsentwürfe zum Qualifizierungschancengesetz und zum Fünften Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch.

Ein weiteres Kostenrisiko droht beim Krankenversi-cherungsbeitrag: Steigt der Zusatzbeitrag – so wie in Prognoserechnungen erwartet – bis 2025 um ein bis zwei Prozentpunkte, werden sich auch die Kosten der Beitragssatzgarantie in der gesetzlichen Renten-versicherung in milliardenschwerem Umfang erhö-hen.

Die Logik des Gesetzentwurfs, die Höhe der künfti-gen Rentensteigerungen in Abhängigkeit vom künfti-gen Netto-Rentenniveau vor Steuern zu knüpfen und damit von der Höhe der Beitragssatzentwicklung in anderen Sozialversicherungszweigen abhängig zu machen, ist nicht nachvollziehbar. Es gibt keinen Grund, Renten zusätzlich zu erhöhen, nur weil z. B. der Arbeitslosenbeitrag sinkt oder der Pflegebeitrag steigt. Das ist offenbar auch der Bundesregierung be-wusst, weshalb sie im Gesetzentwurf als Alternative vorschlägt, die Haltelinien lediglich als Prüfklauseln auszugestalten. Damit könnte zumindest verhindert werden, dass sachfremde Entwicklungen über die Höhe der Renten entscheiden. Die beste Alternative wäre jedoch, zunächst auf die Festlegung von Halt-elinien zu verzichten und die Ergebnisse der Renten-kommission Anfang 2020 abzuwarten, die ausdrück-lich mit der längerfristigen Festlegung von Halteli-nien beauftragt ist. Vor 2020 werden die geplanten Haltelinien ohnehin keine Bedeutung haben. Daher besteht kein Grund, jetzt schon vorab zu handeln.

Mindestrentenniveau von 48 % verursacht auch nach 2025 kräftige Mehrbelastungen

Die Zusicherung eines Mindestrentenniveaus von 48 % bis 2025 hat für die gesetzliche Rentenversi-cherung finanzielle Implikationen weit über 2025 hinaus. Denn nach dem Gesetzentwurf soll der 2025 erreichte aktuelle Rentenwert in den Folgejahren auf dem dann erreichten Niveau weiter fortgeschrieben werden, d. h. nicht wieder – zumindest mittelfristig – entsprechend dem geltenden Recht berechnet wer-den. Dementsprechend wird das Rentenniveau in den Folgejahren rund einen Prozentpunkt höher lie-gen als ohne vorherige Haltelinie. Damit werden mit dem Gesetzespaket bereits in großem Umfang finanz-wirksame Maßnahmen für die Zeit nach 2025 getrof-fen, womit der Rentenkommission erheblich voraus-gegriffen wird.

Die Mehrkosten der Fortschreibung der Renten auf dem im Jahr 2025 erreichten Stand werden auf der Basis des vorliegenden Gesetzentwurfs im Folgejahr (2026) bei rund 6 Mrd. € liegen. Tatsächlich werden die Mehrkosten jedoch noch deutlich höher sein, weil die Auswirkungen der bereits von der Bundes-regierung beschlossenen Gesetzentwürfe zu den Bei-tragssatzveränderungen in der Pflege- und Arbeitslo-senversicherung dabei noch nicht enthalten sind. Es ist bedauerlich, dass diese Mehrkosten in den beiden von der Bundesregierung beschlossenen Gesetzent-würfen der Bundesregierung nicht ausgewiesen wer-den und der Gesetzgeber daher keine Informationen hat, welche Kosten die geplante Rentengarantie in den Jahren nach 2025 verursachen wird.

Haltelinie beim Beitragssatz schützt nur vor Mehr-belastungen, die durch das Rentenpaket erst ge-schaffen werden

Die im Gesetzentwurf bis 2025 geltende vorgesehene Beitragssatzobergrenze von 20 % ist prinzipiell be-grüßenswert. Sie würde aber gar nicht benötigt, wenn auf die teuren Leistungsausweitungen des ge-planten Gesetzesvorhabens verzichtet wird. Denn auch nach geltendem Recht würde der Beitragssatz bis 2025 voraussichtlich 20 % nicht übersteigen. Nach dem aktuellen Stand der Vorausberechnungen ergibt sich ein Beitragssatz von 19,8 %.

Zudem darf die Festlegung der Beitragssatz-Halteli-nie nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Belas-tungen der Beitragszahler durch den Gesetzentwurf steigen und nicht begrenzt werden. Alleine in den nächsten vier Jahren würde der Beitragssatz bei 18,6 % bleiben anstatt auf 18,3 % zu sinken.

2. Zu den zusätzlichen Mütterrenten

Auf zusätzliche Mütterrenten verzichten bzw. zu-mindest sachgerecht finanzieren

Die erneute Ausweitung der Mütterrenten sollte un-terbleiben: Die gesetzliche Rentenversicherung würde trotz aller künftigen Finanzierungsprobleme um 3,8 Mrd. € jährlich zusätzlich belastet und leistet noch nicht einmal einen zielgenauen Beitrag gegen Altersarmut.

Die weitere Erhöhung der Mütterrenten lässt sich auch nicht mit dem Argument der Beseitigung einer

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Ungleichbehandlung von Eltern vor bzw. nach 1992 geborener Kinder rechtfertigen, weil Eltern vor 1992 geborener Kinder viele Rentenvorteile zustehen, die jüngere Jahrgänge nicht mehr haben (z. B. Rente nach Mindestentgeltpunkten, die ausschließlich für Zeiten vor 1992 gilt, oftmals auch noch abschlags-freier Rentenzugang ab 60 Jahre, rentensteigernde Anerkennung von Ausbildungszeiten). Im Gegenteil würde die rentenrechtliche Besserstellung älterer Jahrgänge durch die neuerliche Ausweitung von Mütterrenten für Geburten vor 1992 noch ausgebaut.

Falls trotz dieser Bedenken zusätzliche Mütterrenten beschlossen werden, müssen diese vollständig aus Steuermitteln finanziert werden. Die rentenrechtli-che Anerkennung von Kindererziehungszeiten, die völlig unabhängig von einer eigenen Beitragszahlung an die Rentenversicherung gewährt wird, ist eine ge-samtgesellschaftliche Aufgabe, die daher auch von allen und damit aus Steuermitteln bezahlt werden muss. Dies gilt auch für die in der letzten Legislatur-periode beschlossenen zusätzlichen Mütterrenten. Es ist nicht einzusehen, warum die Beitragszahler eine Leistung finanzieren sollen, die auch Personen er-halten, die niemals in die Rentenversicherung einge-zahlt haben.

3. Zu den Änderungen bei der Erwerbsminde-rungsrente

Entlastungen bei der Erwerbsminderungsrente sind rentensystematisch ungerecht und überzogen

Die sofortige Anhebung der Zurechnungszeiten auf 65 Jahre und 8 Monate bei der Erwerbsminderungs-rente sollte unterbleiben. Der Gesetzgeber sollte die Auswirkungen der in der letzten Legislaturperiode erfolgten umfassenden Leistungsverbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente erst einmal abwarten, anstatt mit teuren und rentensystematisch verfehlten Änderungen erneut in das Rentenrecht einzugreifen.

Die jetzt geplanten Maßnahmen würden nicht nur zu zusätzlichen Belastungen der Rentenversicherung führen, sondern brächten auch gravierende renten-systematische Probleme mit sich:

Sinnvolle Stufenregelung würde abgeschafft und da-für Stichtagsproblematik geschaffen

Die geplante sofortige Anhebung der Zurechnungs-zeiten an die Regelaltersgrenze sorgt unnötig für eine erhebliche Ungleichbehandlung von Erwerbsminde-rungsrentnern, die vor bzw. nach dem Jahreswechsel 2018/19 in Rente gehen. Die erst im letzten Jahr von der Großen Koalition beschlossene schrittweise An-hebung der Zurechnungszeiten von 62 auf 65 Jahre über einen Zeitraum von 7 Jahren begrenzt dagegen die mit Stichtagsregelungen stets verbundenen Un-gleichbehandlungen auf jeweils sehr geringe Unter-schiede bei der Rentenhöhe. Bei Umsetzung der jetzt geplanten sofortigen Anhebung würde hingegen ein Erwerbsminderungsrentner, der unmittelbar vor dem Stichtag in Erwerbsminderungsrente geht, sehr viel schlechter gestellt als ein Erwerbsminderungsrent-ner, der nach dem Stichtag in Rente geht:

Wer bis zum Jahresende in Erwerbsminderungs-rente geht, wird so gestellt, als habe er bis 62 Jahre und 3 Monate gearbeitet.

Wer dagegen unmittelbar nach dem Jahreswechsel in Erwerbsminderungsrente geht, für den gilt eine Zurechnungszeit von 65 Jahren und 8 Monaten.

Die damit ab dem Stichtag 1. Januar 2019 um 3 Jahre und 5 Monate erhöhte Zurechnungszeit macht bei ei-nem Durchschnittsverdiener immerhin mehr als 100 € Unterschied bei der monatlichen Rente aus. Ohne Not würde die Große Koalition damit von ei-ner von ihr selbst erst vor einem Jahr beschlossenen sinnvollen Stufenregelung bei der Anhebung der Zu-rechnungszeit abweichen und durch eine Stichtags-regelung eine nachvollziehbare Verärgerung der be-troffenen Versicherten provozieren.

Erwerbsminderungsrentner würden gegenüber Al-tersrentnern privilegiert

Die geplante Regelung hätte zur Folge, dass renten-nahe Erwerbsminderungsrentner deutlich besserge-stellt werden als Altersrentner mit gleicher Versiche-rungsbiografie. Die Große Koalition hat die von ihr im letzten Jahr beschlossene stufenweise Anhebung der Zurechnungszeiten von 62 auf 65 Jahre bis zum Jahr 2024 im Gesetzgebungsverfahren – systematisch schlüssig – damit begründet, dass bis zum Jahr 2024 auch das abschlagsfreie Rentenalter für Erwerbsmin-derungsrenten auf 65 Jahre angehoben sein wird (§ 264d SGB VI). Mit der jetzt vereinbarten soforti-gen Anhebung der Zurechnungszeiten und ihrer weiteren Bindung an die Regelaltersgrenze würde diese sinnvoll aufeinander abgestimmte Anhebung der Zurechnungszeiten und der abschlagsfreien Al-tersgrenze hingegen durchbrochen. Die Zurech-nungszeiten würden – kurz- und auch langfristig – über die abschlagsfreie Altersgrenze hinaus angeho-ben, d. h. Erwerbsgeminderten würde eine längere Beschäftigungsdauer zugesichert, als sie für den Be-zug einer abschlagsfreien Rente erforderlich ist. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind absurd, schon weil es zu einer nicht vertretbaren Ungleich-handlung von Erwerbsminderungs- und Altersrenten käme.

Beispiel: Nach dem Entwurf könnte ein Versicherter, der 2019 mit 64 Jahren und 2 Monaten in Erwerbs-minderungsrente geht, diese Rente abschlagsfrei be-ziehen (§ 264d SGB VI) und würde darüber hinaus so gestellt, als hätte er bis 65 Jahre 8 Monate gearbei-tet (§ 253a SGB VI-E). Geht hingegen ein gleichaltri-ger Versicherter, der genauso lange gearbeitet und Beiträge gezahlt hat, im gleichen Alter in eine vor-zeitige Altersrente (z. B. Rente für langjährig Versi-cherte), müsste er einen Abschlag von 5,7 % in Kauf nehmen (§ 236 SGB VI). Im Fall eines Durchschnitts-verdieners (z. B. mit 43 Entgeltpunkten) erhielte der Erwerbsminderungsrentner eine gegenüber dem Al-tersrentner um rund 10 % höhere Rente – trotz glei-cher Versichertenbiografie und Beitragsleistung! Das bedeutet eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehand-lung von Versicherten mit gleicher Versichertenbio-grafie und würde zudem bei rentennahen Jahrgängen Ausweichversuche in die Erwerbsminderungsrente fördern.

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Erwerbsminderungsrentnern würde unüblich lange Erwerbszeit zugerechnet

Eine sofortige Anhebung der Zurechnungszeiten auf 65 Jahre 8 Monate widerspricht dem Zweck der Zu-rechnungszeiten. Diese sollen Erwerbsgeminderten eine Beschäftigungsbiografie unterstellen, wie sie bei nicht erwerbsgeminderten Versicherten üblich ist. Bislang liegt das Erwerbsaustrittsalter – trotz deut-lich gestiegener Beschäftigung im Alter – laut OECD jedoch nach wie vor bei durchschnittlich 63 Jahren. Insofern gibt es keinen Grund, derzeit bereits in Er-werbsminderungsrente gehenden Versicherten eine längere Erwerbsbiografie zuzurechnen. Vielmehr er-scheint auch insofern die im letzten Jahr beschlos-sene schrittweise Anhebung der Zurechnungszeiten von derzeit 62 Jahren 3 Monaten auf 65 Jahre im Jahr 2024 sehr viel angemessener und auch ausreichend.

4. Zu den Änderungen bei Midijobs

Neuregelung der Midijobs führt zu ungerechtfertig-ten Ungleichbehandlungen und ist nicht zielgenau

Die geplanten Veränderungen bei den Midijobs füh-ren zu einer nicht zu rechtfertigenden Ungleichbe-handlung von Beitragszahlern und sind nicht zielge-nau. Midijobber würden künftig für jeden von ihnen gezahlten Beitragseuro – zum Teil deutlich – höhere Rentenanwartschaften als andere Beschäftigte erwer-ben. Davon würden ausschließlich Teilzeitbeschäf-tigte profitieren. Dagegen müssten die Vollzeitbe-schäftigten – auch im Niedriglohnbereich – mit ih-ren Beiträgen künftig diese Rentenprivilegien finan-zieren, auch für gutsituierte Teilzeitzeitkräfte. Jeder Vollzeitbeschäftigte, auch im Niedriglohnbereich, müsste damit künftig die Rentenprivilegien von den-jenigen subventionieren, die weniger arbeiten. Das ist keine faire Rentenpolitik.

Zur Begründung der Neuregelung verweist der Ge-setzentwurf auf eine Empfehlung der EU-Kommis-sion mit Bezug auf das Nationale Reformprogramm Deutschlands 2018. Die Europäische Kommission empfiehlt darin richtigerweise, dass Fehlanreize, die einer Aufstockung der Arbeitszeit entgegenwirken, darunter auch die hohe Steuer- und Abgabenbelas-tung, insbesondere für Gering- und Zweitverdiener, verringert werden sollten. Entgegen dieser Zielset-zung, Fehlanreize gegen eine Aufstockung zu beseiti-gen, sorgt die jetzt geplante Neuregelung bei den Mi-dijobs jedoch sogar noch für zusätzliche Fehlanreize gegen eine Aufstockung der Arbeitszeit, da die Bei-trags- und Rentenvorteile nur für Teilzeittätigkeiten gelten und umso größer ausfallen, je weniger ein Be-schäftigter arbeitet. Insofern kann die geplante Ände-rung bei den Minijobs nicht mit einer Empfehlung der EU-Kommission begründet werden.

Bürokratie- und Kostenaufwand durch neue Melde-pflicht wird ignoriert

Die Aussage im Gesetzentwurf zum Erfüllungsauf-wand „Für die Wirtschaft entstehen beim Erfüllungs-aufwand Einsparungen in geringem Umfang. Infor-mationspflichten werden nicht eingeführt.“ ist falsch. Denn tatsächlich wird den Arbeitgebern im Zusammenhang mit der Neuregelung der Midijobs eine Erweiterung ihrer Meldepflichten nach § 28a SGB IV auferlegt. Danach muss künftig neben dem beitragspflichtigen Arbeitsentgelt auch zusätzlich

das höhere tatsächliche Arbeitsentgelt gemeldet wer-den.

Die BDA hat bereits in ihrer Stellungnahme zum Re-ferentenentwurf darauf hingewiesen, dass der Erfül-lungsaufwand für die Wirtschaft insoweit falsch dar-gestellt ist. Umso unverständlicher ist es, dass sich diese falsche Darstellung dennoch nun auch im Ge-setzentwurf der Bundesregierung wiederfindet. Durch die Ausweitung der Arbeitgebermeldepflich-ten nach § 28a SGB IV und den damit erforderlichen Anpassungen der Arbeitgebersoftware, die von allen Arbeitgebern rechtzeitig eingesetzt werden müssen, ist mit erheblichen Kosten zu rechnen.

Der wesentliche zusätzliche Bürokratieaufwand würde für die Arbeitgeber aber vor allem dort entste-hen, wo sie künftig gesonderte Prüfungen vorneh-men müssen, die ihnen nicht durch die verwendete Software abgenommen werden können. Das ist in folgenden Konstellationen der Fall:

Bei allen Beschäftigungsverhältnissen ist künftig das „regelmäßige“ Arbeitsentgelt zu prüfen (§ 20 Abs. 2 SGB IV-E: „Der Übergangsbereich […] um-fasst Arbeitsentgelte aus mehr als geringfügigen Beschäftigungen […], die regelmäßig 1300 € im Monat nicht übersteigen;“). Diese Prüfung auf Re-gelmäßigkeit ist jährlich wiederkehrend vorzu-nehmen.

Bei allen Beschäftigungsverhältnissen im Einkom-mensbereich zwischen 450 und 1300 € ist zu prü-fen, ob eine Mehrfachbeschäftigung vorliegt (§ 20 Abs. 2 SGB IV, zweiter Halbsatz: „bei mehreren Beschäftigungsverhältnissen ist das insgesamt er-zielte Arbeitsentgelt maßgebend.“). Gegebenen-falls müssen die monatlichen Einnahmen aus den anderen Beschäftigungsverhältnissen in Erfahrung gebracht, dokumentiert und bei der Beitragsbe-rechnung berücksichtigt werden. Durch die Auf-wertung der Rentenbeiträge aus der Gleitzone ist das zukünftig von besonderer Bedeutung. Besteht keine Mehrfachbeschäftigung, müssen die Arbeit-geber belastbar dokumentieren, dass die Beschäf-tigten erklärt haben, keine weiteren Beschäfti-gungsverhältnisse zu haben. Andernfalls besteht das Risiko, dass sie zu erheblichen Nachzahlun-gen von Beiträgen verpflichtet werden, die sie im schlimmsten Fall alleine zu tragen hätten.

Selbst wenn Arbeitgeber die unplausiblen Sachver-halte außer Acht lassen, handelt es sich dabei um Millionen von Prüffällen. Der damit verbundene hohe Bürokratie- und Kostenaufwand ließe sich zu-mindest deutlich reduzieren, wenn bei der neuen Obergrenze für die Gleitzone bzw. den Übergangsbe-reich (1300 €) nicht auf das regelmäßige, sondern auf das tatsächliche Arbeitsentgelt abgestellt würde.

Späteres Inkrafttreten dringlich

Die geplante Neuregelung kann von den Arbeitge-bern zum vorgesehenen Zeitpunkt des Inkrafttretens nicht angewendet werden, weil bis dahin gar nicht die notwendige Entgeltabrechnungssoftware zur Ver-fügung stehen wird. Arbeitgeber dürfen Meldungen zur Sozialversicherung nur im Wege systemgeprüfter und zertifizierter Software vornehmen. Nach aller Erfahrung bedarf es eines Zeitraums von einem hal-ben Jahr nach Beschlussfassung eines Gesetzes, bis

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die an die neue Gesetzeslage angepasste Entgeltab-rechnungssoftware den Arbeitgebern zur Verfügung steht. Das muss bei dem geplanten Zeitplan der Ver-abschiedung des Gesetzes und des Inkrafttretens zwingend beachtet werden. Insofern kann die neue Meldepflicht frühestens ab Mitte nächsten Jahres gelten. Nur dann kann sichergestellt werden, dass die Programme angepasst sowie an alle Arbeitgeber

bzw. Abrechnungsstellen verteilt sind und dort rechtzeitig eingesetzt werden können. Kürzere Zeit-räume sind verantwortungslos, denn sie würden den Arbeitgeber nicht die rechtzeitige und rechtmäßige Umsetzung ihrer Meldeverpflichtungen ermöglichen und in der Folgebearbeitung sinnlos hohe Kosten produzieren.

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DEUTSCHER BUNDESTAG Ausschussdrucksache 19(11)178neu Ausschuss für Arbeit und Soziales 01. November 2018 19. Wahlperiode

Schriftliche Stellungnahme

zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 05. November 2018, um 15:00 Uhr zum

a) Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzli-chen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz) - BT-Drs. 19/4668

b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Schielke-Ziesing, Marc Bernhard, Stephan Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Anrechnungsfreistellung der Mütterrente beziehungsweise der Rente für Kindererzie-hungszeiten bei der Grundsicherung im Alter BT-Drs. 19/4843

c) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Vollständige Gleichstellung und gerechte Finanzierung der Kindererziehungszeiten in der Rente umsetzen – Mütterrente verbessern - BT-Drs. 19/29

d) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Die Erwerbsminderungsrente stärken BT-Drs. 19/31

Deutsche Rentenversicherung Bund

A. Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesse-rungen und Stabilisierung in der gesetzlichen Ren-tenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz)

I. Zusammenfassende Bewertung

Die Regelungen im Entwurf des RV-Leistungsverbes-serungs- und -Stabilisierungsgesetzes verfolgen das Ziel, die gesetzliche Rentenversicherung so anzupas-sen, dass sie als maßgeblicher Eckpfeiler unseres So-zialstaates tragfähig, solide und belastbar bleibt. Diese Zielsetzung wird von der Deutschen Renten-versicherung Bund uneingeschränkt geteilt. Dies gilt auch für die Grundausrichtung der Anpassungen, so-wohl die Interessen der Rentenbeziehenden als auch die der Beitragszahlenden im Gleichgewicht zu hal-ten. Die Leistungen der gesetzlichen Rentenversiche-rung sind deshalb so zu gestalten, dass den Leis-tungsbeziehenden ein angemessenes Einkommen im Alter und bei Erwerbsminderung zur Verfügung

steht, ohne dass die Beitragszahlenden dabei über-mäßig belastet werden.

Die geplanten Maßnahmen bewertet die Deutsche Rentenversicherung Bund zusammenfassend wie folgt:

Die Niveausicherungsklausel und das Bereitstel-len zusätzlicher Bundesmittel sowie die Beitrags-satzgarantie sind ein Weg, die Interessen der Ren-tenbeziehenden und der Beitragszahler im vorge-sehenen Zeitraum im Gleichgewicht zu halten. Der Bund übernimmt damit Verantwortung für die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Renten-versicherung angesichts der sich schon mittelfris-tig abzeichnenden demografischen Veränderun-gen. Fragen zur langfristigen Finanzierung blei-ben damit jedoch ungeklärt.

Die Verlängerung der Zurechnungszeit bei Er-werbsminderungsrenten für Rentenzugänge ab dem Jahr 2019 in einem Schritt auf 65 Jahre und

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8 Monate und deren anschließende schrittweise Verlängerung bis auf 67 Jahre trägt zur besseren Absicherung von Versicherten bei, die gesund-heitlich nicht mehr in der Lage sind, aus eigener Kraft für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Dies er-scheint angesichts des im Vergleich zu Beziehen-den einer Altersrente höheren Anteils derjenigen Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner, die ergänzend Leistungen der Grundsicherung be-nötigen, sozialpolitisch nachvollziehbar. Hinzu-weisen ist darauf, dass bei Personen ab dem 63. Lebensjahr die Erwerbsminderungsrente dadurch höher ausfällt als eine zum gleichen Zeit-punkt beginnende vorgezogene Altersrente.

Die derzeitige Differenzierung bei den Kinderer-ziehungszeiten zwischen vor und ab 1992 gebore-nen Kindern ist verfassungsrechtlich nicht zu be-anstanden. Die vorgesehene, sozialpolitisch be-gründete Ausweitung der Kindererziehungszeiten für Geburten vor 1992 ist gleichwohl nachvoll-ziehbar. Ordnungspolitisch nicht vertretbar ist je-doch, dass auch diese Ausweitung der Kinderer-ziehungszeiten – wie schon diejenige durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz von 2014 – nicht vollständig aus Steuermitteln finanziert werden soll.

Die Entlastung von Geringverdienenden bei den Sozialversicherungsbeiträgen durch einen Über-gangsbereich bis zu einem Arbeitsentgelt in Höhe von 1.300 Euro monatlich, in dem verminderte Sozialversicherungsbeiträge nicht zu einer niedri-geren Rentenleistung führen, schränkt das Äqui-valenzprinzip ein. Sie ist im Hinblick auf das Ziel der Vermeidung von Altersarmut nicht zielgenau, da allein auf die Höhe des Arbeitsentgelts abge-stellt wird und sonstige Einkünfte sowohl indivi-duell als auch im Haushalt vernachlässigt wer-den.

II. Einzelne Maßnahmen

1. Festlegung von Haltelinien für Beitragssatz und Rentenniveau sowie zusätzliche Bundes-mittel – Art. 1 Nr. 9, 13, 18 und 19 (§§ 154, 255e, 287, 287a SGB VI-E)

Um die gesellschaftliche Akzeptanz und die finanzi-elle Nachhaltigkeit sicherzustellen, sind die Belas-tungen der Rentenversicherung aufgrund des demo-grafischen Wandels in akzeptabler Weise auf alle Systembeteiligten – Beitragszahlende, Rentenbezie-hende und Staat – zu verteilen. Die Festlegung von „Haltelinien“ für die Entwicklung von Beitragssatz und Rentenniveau – wie sie auch bereits im gelten-den Recht bestehen – ist Ausdruck dieses Ansatzes.

Durch die vorgesehenen Maßnahmen werden bis zum Jahr 2025 das Netto-Rentenniveau vor Steuern nach neuer Definition auf mindestens 48 Prozent und der Beitragssatz in der allgemeinen Rentenversi-cherung auf mindestens 18,6 und höchstens 20 Pro-zent begrenzt. Der Beitragssatz für 2019 wird auf 18,6 Prozent fixiert. Damit wird der bisherige Me-chanismus, der Veränderungen bei Einnahmen und Ausgaben über Anpassungen des Beitragssatzes und des Rentenniveaus automatisch auf Rentenbezie-hende, Beitragszahlende und Bund verteilt, zeit-weise außer Kraft gesetzt.

2. Anpassungen bei der Berechnung des Siche-rungsniveaus vor Steuern – Art. 1 Nr. 9 (§ 154 SGB VI-E)

Mit Einführung der Haltelinie Rentenniveau von 48 Prozent wird das Rentenniveau zu einem Parame-ter der Rentenanpassungsformel. Bei der Berechnung des Netto-Sicherungsniveaus vor Steuern sind aus diesem Grund Änderungen erforderlich, damit zum Zeitpunkt des Termins der Rentenanpassung die er-forderlichen Daten zur Verfügung stehen. Dazu ge-hört insbesondere das durchschnittliche Nettoentgelt vor Steuern der Arbeitnehmer, auf das sich das Ren-tenniveau bezieht. Ersteres kann nach bisheriger De-finition erst nachträglich bestimmt werden, wenn hinreichend sichere Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen zur Sozialabgabenquote der Ar-beitnehmer vorliegen.

Stattdessen soll nun auf ein Nettoentgelt abgestellt werden, das sich mit der Fortschreibung des Lohn-faktors aus der Rentenanpassungsformel und aus der Veränderung der Nettoquote vor Steuern eines Versi-cherten ergibt. Die Nettoquote für das Arbeitsentgelt resultiert nicht mehr aus den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, sondern aus den aktuellen ge-setzlichen Beitragssätzen zur Sozialversicherung, wie es bei der Nettoquote für die Standardrente be-reits im geltenden Recht der Fall ist. Da der Lohnfak-tor über die Rentenanpassung ebenfalls bei der jähr-lichen Fortschreibung der Nettostandardrente An-wendung findet, entwickeln sich damit beide Grö-ßen, Nettostandardrente und Nettoentgelt, bei kon-stanter Belastung mit Sozialversicherungsbeiträgen parallel. Diese Vereinheitlichung der Größen und Bezugsjahre ist aus systematischen Gründen zu be-grüßen.

Auf der Rentenseite soll nicht mehr auf die jahres-durchschnittliche Standardrente, sondern nur auf die Standardrente des zweiten Halbjahres abgestellt werden. Diese Anpassung ist sinnvoll, da ansonsten bei Anstreben eines Mindestrentenniveaus eventu-elle Abweichungen aus der ersten Jahreshälfte in der zweiten mit auszugleichen wären, was zu stark schwankenden Rentenanpassungen führen könnte. Sie erfordert allerdings, wie vorgesehen, ein Nach-steuern beim Nettoentgelt vor Steuern, um nicht ein überhöhtes Rentenniveau auszuweisen.

Konsequent wäre es in diesem Zusammenhang aller-dings, auch das Durchschnittsentgelt nach Anlage 1 SGB VI, das bei der Berechnung von Entgeltpunkten weiterhin Verwendung finden soll, mit dem Lohn-faktor fortzuschreiben, der bei der Bestimmung des aktuellen Rentenwertes und damit des Rentenni-veaus Anwendung findet. Nach geltendem Recht er-folgt eine jährliche Fortschreibung des (Brutto-)Durchschnitts-entgeltes auf Grundlage der durch-schnittlichen Bruttolöhne und -gehälter je Arbeit-nehmer nach den Volkswirtschaftlichen Gesamtrech-nungen. Diese Bruttoarbeitseinkommen enthalten auch die Einkommen über der Beitragsbemessungs-grenze sowie von Personen, die nicht versicherungs-pflichtig beschäftigt sind (Beamte, geringfügig Be-schäftigte mit Befreiung von der Versicherungs-pflicht). Hingegen setzt sich im Lohnfaktor langfris-tig die Dynamik der beitragspflichtigen Entgelte

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durch. Im Rahmen der Neuberechnung des Siche-rungsniveaus sollte eine kongruente Fortschreibung aller Größen (Nettorente, Nettoentgelt und Bruttoent-gelt nach Anlage 1 SGB VI) angestrebt werden. Da-mit wäre auch die Gefahr eines Auseinanderlaufens des Durchschnittsentgelts nach Anlage 1 und der durchschnittlichen beitragspflichtigen Löhne besei-tigt.

3. Verlängerung der Zurechnungszeit – Art. 1 Nr. 3, 12 (§§ 59, 253a SGB VI-E)

Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Zurechnungs-zeit in einer Rente wegen verminderter Erwerbsfä-higkeit ab dem Jahr 2031 erst mit Erreichen des 67. Lebensjahres endet. Zuvor soll die Zurechnungs-zeit ab 2019 in einem Schritt auf das Alter von 65 Jahren und 8 Monaten angehoben werden und ab dem Jahr 2020 bis zum Jahr 2031 schrittweise – ori-entiert an der Anhebung der Regelaltersgrenze – stei-gen. Diese Verlängerung der Zurechnungszeit gilt auch für Renten wegen Todes.

Hierzu ist Folgendes anzumerken:

Der Anteil der Rentenbeziehenden mit ergänzendem Bezug von Leistungen der Grundsicherung ist unter Beziehenden einer gesetzlichen Erwerbsminderungs-rente derzeit deutlich höher als unter Beziehenden einer Altersrente. Die im Entwurf vorgesehenen Maßnahmen sind dazu geeignet, diesen Anteil zu vermindern.

Aus sozialpolitischer Sicht ist auf Folgendes hinzu-weisen:

(1) Der Entwurf berücksichtigt bei der Leistungs-höhe, dass erwerbsgeminderte Versicherte – an-ders als Versicherte, die eine vorgezogene Rente in Anspruch nehmen – den vorzeiten Rentenein-tritt nicht vermeiden können. Durch die Neurege-lung wird für erwerbsgeminderte Versicherte, die auch die Voraussetzungen für eine vorgezogene Altersrente erfüllen, die Erwerbsminderungs-rente teils deutlich höher ausfallen als die für sie alternativ in Betracht kommende vorgezogene Al-tersrente (vgl. dazu die als Anlage beigefügte Bei-spielrechnung). Dies ist dadurch bedingt, dass der Erwerbsminderungsrente – anders als der vorgezogenen Altersrente – zusätzliche Anwart-schaften aufgrund der bis zur Regelaltersgrenze verlängerten Zurechnungszeit zu Grunde liegen. Auch fällt der Rentenabschlag bei Erwerbsminde-rungsrenten in diesen Fällen zumeist niedriger aus als bei einer Altersrente mit zeitgleichem Be-ginn oder entfällt aufgrund der Regelungen des § 77 Abs. 4 SGB VI völlig. Selbst für Versicherte, die die Voraussetzungen für die abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte erfüllen, wird die Erwerbsminderungsrente im Vergleich höher ausfallen.

Die Unterschiede zwischen der Höhe der Er-werbsminderungsrente einerseits und der Alters-rente andererseits sind aus sozialpolitischer Sicht grundsätzlich nachvollziehbar, da erwerbsgemin-derte Versicherte – anders als nicht erwerbsge-minderte – gesundheitlich daran gehindert sind, weitere Rentenanwartschaften zu erwerben. In der Konsequenz ist jedoch Folgendes zu beach-ten:

Derzeit ist ab dem Alter 60 die Anzahl der Zu-gänge in die Erwerbsminderungsrente deutlich geringer als in der Gruppe der 55- bis 59-Jähri-gen. Aufgrund der im Vergleich zur Altersrente höheren Erwerbsminderungsrente ist zu erwar-ten, dass zukünftig in der Altersgruppe ab 60 mehr Anträge auf Erwerbsminderungsrenten ge-stellt werden. Die Bearbeitung dieser Anträge er-fordert einen deutlich höheren Verwaltungsauf-wand (Einholung notwendiger medizinischen Gutachten, Votum der Verwaltungsärzte, u. a.) gegenüber Altersrentenanträgen. Da der individu-elle Zahlbetrag der Erwerbsminderungsrente – wie dargestellt – zudem regelmäßig höher ausfällt als der Zahlbetrag der Altersrente, erhöhen sich die Rentenausgaben in dem Maße, in dem an-stelle einer Altersrente eine Erwerbsminderungs-rente bewilligt wird.

(2) Die vorgesehene Verlängerung der Zurechnungs-zeit bis zur Regelaltersgrenze soll für Fälle gelten, in denen die Erwerbsminderungsrente ab dem 1. Januar 2019 beginnt. Bei einem Rentenbeginn im Jahr 2018 verbleibt es dagegen bei einer Zurech-nungszeit von 62 Jahren und drei Monaten. Eine Erwerbsminderungsrente, die nicht im Dezember 2018, sondern im Januar 2019 beginnt, kann des-halb im Einzelfall um mehr als 100 Euro höher ausfallen. Obwohl der entstehende Unterschied in den Rentenhöhen erheblich ist, ist eine solche Stichtagsregelung zulässig und sozialpolitisch be-gründbar.

Bewertung der Alternative:

Im Entwurf wird als Alternative die Abschaffung der Abschläge bei den Renten wegen verminderter Er-werbsfähigkeit angeführt. Die Deutsche Rentenversi-cherung Bund lehnt eine solche Abschaffung ab. Durch die Verlängerung der Zurechnungszeit in mehreren Schritten werden die Abschläge von bis zu 10,8 Prozent inzwischen mehr als kompensiert. Eine Abschaffung der Abschläge bei den Erwerbsminde-rungsrenten hätte Mehrausgaben im Umfang von ca. 3 Milliarden Euro (bezogen auf das Jahr 2019) zur Folge.

4. Ausweitung der Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder – Art. 1 Nr. 11, 20, 21, 22 (§§ 249, 295, 295a, 307d SGB VI-E)

Im Gesetzentwurf ist ab dem 1. Januar 2019 eine Ausweitung der Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder um weitere sechs Monate vor-gesehen. Die Erhöhung um einen halben Entgelt-punkt – nach heutigen Werten 16,02 Euro brutto im Westen und 15,35 Euro brutto im Osten – soll so-wohl für neu zugehende Renten als auch für den Rentenbestand gelten. Die Verlängerung der Kinder-erziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder gleicht die Leistungen weiter an die Kindererzie-hungszeiten für ab 1992 geborene Kinder an.

Darüber hinaus sieht der Entwurf vor, dass be-stimmte Personen im Rentenbezug, die nicht von der Ausweitung der Leistungen für Kindererziehung im Jahr 2014 profitierten (zum Beispiel Adoptiv- und Pflegeeltern, die die Erziehung erst nach dem 12. Ka-lendermonat nach der Geburt aufgenommen haben),

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auf Antrag einen Pauschalzuschlag für jeden Monat der Kindererziehung erhalten können.

Hierzu ist Folgendes zu bemerken:

(1) Die weitere Ausweitung der Kindererziehungs-zeiten für vor 1992 geborene Kinder ist mit er-heblichen Mehrausgaben verbunden. Diese Mehrausgaben müssen aus ordnungspolitischen Gründen vollständig aus Steuermitteln finanziert werden, da es sich bei der Honorierung der Erzie-hungsleistung um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt und der Bund dafür keine Bei-träge gezahlt hat. Nur eine Finanzierung aus Steuermitteln gewährleistet, dass alle Bürger im Rahmen ihrer steuerlichen Leistungsfähigkeit zur Finanzierung herangezogen werden.

Dass Kindererziehungszeiten aus Steuermitteln finanziert werden müssen, war im Übrigen lange Zeit auch die Auffassung des Gesetzgebers. So heißt es beispielsweise in der Begründung zum Hinterbliebenen- und Erziehungszeitengesetz, das 1986 in Kraft getreten ist: „Da es sich bei der Anerkennung von Zeiten der Erziehung um eine Leistung des Familienlastenausgleichs handelt, ist die Finanzierung Aufgabe des Bundes. Damit werden die Aufwendungen von allen Steuerzah-lern getragen“ (BT-Drucks. 10/2677, S. 30).

(2) Die Deutsche Rentenversicherung Bund begrüßt, dass für den Rentenbestand die bereits im RV-Leistungsverbesserungsgesetz 2014 bei der ersten Ausweitung der Kindererziehungszeiten vorgese-hene pauschale Zuschlagsregelung fortgeführt wird. Dadurch entfällt bei den Bestandsrenten deren komplette Neufeststellung, was die Umset-zung erheblich erleichtert.

(3) Die vor allem für die Adoptiv- und Pflegeeltern vorgesehene Möglichkeit einer Antragstellung kann dazu führen, dass ein Zuschlag an persönli-chen Entgeltpunkten für tatsächlich erfolgte Zei-ten der Kindererziehung gezahlt wird.

(4) Die beabsichtigte Neuregelung kann – wie bereits die erste Verlängerung der Kindererziehungszei-ten in 2014 sowie andere Leistungsverbesserun-gen in der gesetzlichen Rentenversicherung – un-ter bestimmten Umständen zur Folge haben, dass durch die Anrechnung zusätzlicher Zeiten der Kindererziehung für vor 1992 geborene Kinder die Voraussetzungen für die Anwendung des § 262 SGB VI (Mindestentgeltpunkte bei gerin-gem Arbeitsentgelt) entfallen. Im Ergebnis könnte sich dadurch in Einzelfällen die Rentenanwart-schaft gegenüber dem Zustand nach geltendem Recht verringern, weil die für die Kindererzie-hung hinzutretenden Anwartschaften die nach der Mindestentgeltpunkteregelung entfallenden nicht aufwiegen.

Diese für die Versicherten ungünstige Wechsel-wirkung zwischen der Ausweitung der Kinderer-ziehungszeiten und der Regelung des § 262 SGB VI ist auf den Personenkreis beschränkt, der zum Inkrafttreten der Neuregelung noch keine Rente bezieht, da der für Bestandsfälle vorgese-hene Pauschalzuschlag keine Auswirkungen auf die Mindestentgeltpunkteregelung hat.

Anmerkungen zu den Alternativen:

Im Entwurf wird als eine Alternative die Anerken-nung von insgesamt drei Jahren an Kindererzie-hungszeiten für alle vor 1992 geborenen Kinder – unabhängig von der Anzahl der insgesamt erzogenen Kinder – angeführt. Dadurch käme es bei Beibehal-tung der Fehlfinanzierung jedoch etwa zu einer Ver-dopplung der Mehrausgaben und somit zu einer noch höheren Belastung der Versichertengemein-schaft.

Als weitere Alternative wird im Entwurf die im Koa-litionsvertrag vorgesehene Ausweitung der Kinderer-ziehungszeit für vor 1992 geborene Kinder für El-ternteile, die mehr als zwei Kinder erzogen haben, genannt. Diese Alternative hätte kostenmäßig ähnli-che Auswirkungen wie die vorgeschlagene Regelung. Die verwaltungstechnische Umsetzung dieser „3 Kind Regelung“ wäre allerdings mit wesentlich höherem Aufwand verbunden als die im Gesetzent-wurf vorgesehene Regelung. Eine vollmaschinelle Überprüfung der Anzahl der erzogenen Kinder wäre nicht in jedem Fall möglich, da sich die erforderli-chen Informationen nicht immer aus dem Datenbe-stand der Rentenversicherungsträger ergeben.

5. Entlastung von Geringverdienenden bei den Beiträgen zur Sozialversicherung – Art. 1 Nr. 4 und 10, Art. 3 Nr. 2 und 3 (§§ 70 Abs. 1a, 163 Abs. 10 SGB VI-E; §§ 20 Abs. 2, 28a Abs. 3 S. 2 Buchst. b SGB IV-E)

Die vorgesehene Ermittlung der Entgeltpunkte bei Arbeitsentgelten im „Übergangsbereich“ (§ 20 Abs. 2 SGB IV) steht im Konflikt mit dem Äquivalenzgrundsatz. Versicherte, die von der beab-sichtigten Neuregelung begünstigt werden, erhalten eine höhere Rentenanwartschaft, als es dem für sie (von ihnen und ihrem Arbeitgeber) gezahlten Beitrag entspricht. Die erworbenen Rentenanwartschaften sind – soweit sie auf Entgeltteilen oberhalb des der Beitragsbemessung zu Grunde liegenden Entgelts be-ruhen – nicht durch Beiträge gedeckt. Auch eine Übernahme des entsprechenden Beitragsanteils durch Dritte (etwa den Bund) ist nicht vorgesehen. Die beabsichtigte Begünstigung der Bezieher niedri-ger Arbeitsentgelte wird insofern letztlich durch die Beitragszahlenden finanziert; sie stellt eine Umver-teilung innerhalb der gesetzlichen Rentenversiche-rung dar.

Hierzu ist anzumerken:

(1) Grundsätzlich ist der gesetzlichen Rentenversi-cherung die Ergänzung des Äquivalenzprinzips durch soziale Ausgleichselemente nicht fremd. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die vor-gesehene Regelung faktisch nicht daran ausge-richtet ist, dass es sich bei den Begünstigten um Versicherte mit geringem Gesamteinkommen handelt. Maßgebliches Kriterium für die Anwen-dung der Regelung ist allein ein geringes sozial-versicherungspflichtiges Arbeitsentgelt. Dabei wird weder berücksichtigt, ob dieses Entgelt auf eine Vollzeit-, eine vollzeitnahe oder eine Teil-zeitbeschäftigung zurückgeht, noch ist von Be-deutung, ob die Berechtigten über andere Ein-künfte verfügen. Gegebenenfalls werden also auch Versicherte begünstigt, die nur ein geringes

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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sozialversicherungspflichtiges Einkommen aus einer Nebenbeschäftigung neben einer gut dotier-ten nicht sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit (etwa als Beamte oder Selbständige) beziehen. Es bleibt auch unberücksichtigt, ob die Begünstigten in anderen Phasen ihrer Erwerbsbiografie gegebe-nenfalls hohe Rentenanwartschaften erworben haben oder erwerben werden, ob also auch ohne die Begünstigung letztlich eine hohe Rente er-zielt würde. Das Äquivalenzprinzip würde mit der vorgesehenen Neuregelung insoweit durch eine Maßnahme des sozialen Ausgleichs einge-schränkt, deren sozialpolitische Rechtfertigung nicht unmittelbar nachvollziehbar beziehungs-weise deren sozialpolitische Zielgenauigkeit zu-mindest im Hinblick auf die Vermeidung von Al-tersarmut nicht treffsicher ist.

(2) Bereits im geltenden Recht bezieht sich die Ent-lastung von Versicherten mit geringen sozialver-sicherungspflichtigen Einnahmen nur auf Arbeit-nehmer (§ 163 Abs. 10 SGB VI). Diese Begünsti-gung soll nach dem Entwurf beibehalten werden. Dies hat zur Folge, dass versicherungspflichtige Selbständige mit geringen Einkünften nicht nur nicht von der vorgesehenen Regelung profitieren, sondern sie – weil die Besserstellung von Arbeit-nehmern mit geringen sozialversicherungspflich-tigen Entgelten durch eine Umverteilung inner-halb der gesetzlichen Rentenversicherung finan-ziert wird – sogar mitfinanzieren.

(3) Die mit der Neuregelung im Entgeltbereich von 450,01 Euro bis 1.300 Euro zusätzlich erworbe-nen Entgeltpunkte können einen ansonsten gege-benenfalls bestehenden Anspruch auf zusätzliche Entgeltpunkte nach § 262 SGB VI (Mindest-ent-geltpunkte bei geringem Arbeitsentgelt) beein-trächtigen (siehe dazu auch oben Ziffer A. II 4. (4)).

Für die Berücksichtigung tatsächlicher Arbeitsent-gelte aus Beschäftigungen im Übergangsbereich würde im Übrigen noch ein entsprechender Anpas-sungsbedarf der Regelungen in den §§ 70 Abs. 4, 194 Abs. 1 und 256a Abs. 1 und 2 SGB VI bestehen. Diese Regelungen stellen bisher allein auf die Be-rücksichtigung beitragspflichtiger Einnahmen ab und müssten um den Tatbestand der Berücksichti-gung tatsächlicher Arbeitsentgelte aus Beschäftigun-gen im Übergangsbereich ergänzt werden.

6. Änderung des beruflichen Rehabilitierungsge-setzes – Art. 2 (§§ 11a, 17, 21, 22, 25 Ber-RehaG)

Der Gesetzentwurf sieht den Ausgleich von renten-rechtlichen Nachteilen vor, wenn Kinder wegen ei-ner aus rechtsstaatswidrigen Gründen zu Unrecht er-littenen Haft in der ehemaligen DDR nicht erzogen werden konnten.

Hierzu ist Folgendes zu bemerken:

Die Schaffung eines rentenrechtlichen Nachteilsaus-gleichs für zu Unrecht inhaftierte Eltern wird zutref-fend im BerRehaG verortet, weil danach zu beurtei-len ist, ob rechtsstaatswidrige Maßnahmen der DDR zu Eingriffen in vor Beginn der Verfolgung ausgeübte Tätigkeiten geführt haben. Erst wenn zudem festge-stellt ist, dass die betroffene Person nicht gegen die

Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlich-keit verstoßen hat, obliegt es der gesetzlichen Ren-tenversicherung, einen rentenrechtlichen Nachteil-sausgleich zu prüfen und ggf. durchzuführen. Die Anerkennung von Kindererziehungszeiten setzt da-gegen nach §§ 56, 249, 249a SGB VI stets eine tat-sächliche Erziehung voraus, die im Fall einer Haft nicht gegeben ist.

III. Erfüllungsaufwand der Verwaltung

Hinsichtlich der Angaben im Gesetzentwurf zum Er-füllungsaufwand ist anzumerken, dass die Auswir-kungen der Verlängerung der Zurechnungszeit auf den Beratungsbedarf und die vermehrte EM-Renten-antragstellung bei der Ermittlung des Erfüllungsauf-wandes keine Berücksichtigung (siehe Ziffer A. II. 3. (1)) gefunden haben. Ein möglicher höherer Zahlbe-trag einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähig-keit im Vergleich zur Altersrente wird im Rahmen der Versichertenberatung sicherlich dazu führen, dass der Beratungsbedarf der Versicherten und die Dauer der Beratungsgespräche deutlich zunehmen werden. Auch ist ein zusätzlicher Verwaltungsauf-wand aufgrund einer parallelen Beantragung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und ei-ner vorgezogenen Altersrente zu erwarten.

IV. Finanzielle Auswirkungen

1. Festlegung von Haltelinien für Beitragssatz und Rentenniveau sowie zusätzliche Bundes-mittel – Art. 1 Nr. 9, 13, 18 und 19 (§§ 154, 255e, 287, 287a SGB VI-E)

Durch die vorgesehenen Maßnahmen werden bis zum Jahr 2025 das Netto-Rentenniveau vor Steuern nach neuer Definition auf mindestens 48 Prozent und der Beitragssatz in der allgemeinen Rentenversi-cherung auf mindestens 18,6 und höchstens 20 Pro-zent begrenzt. Der Beitragssatz für 2019 wird auf 18,6 Prozent fixiert. Damit wird der bisherige Me-chanismus, der Veränderungen bei Einnahmen und Ausgaben über Anpassungen des Beitragssatzes und des Rentenniveaus automatisch auf Rentenbezie-hende, Beitragszahlende und Bund verteilt, zeit-weise außer Kraft gesetzt.

Werden das derzeitige Recht – einschließlich paritä-tischer Finanzierung der GKV-Zusatzbeiträge und der geplanten Änderungen der Beitragssätze in der Pflege- und Arbeitslosenversicherung auf 3,05 bzw. 2,5 Prozent – und der Datenstand der Finanzschät-zung im Oktober 2018 zugrunde gelegt, bleibt der Beitragssatz bis 2025 unter 20 Prozent. Das Nettoren-tenniveau vor Steuern unterschreitet ab 2024 die Haltelinie von 48 Prozent.

Unter Einbeziehung der Maßnahmen des Gesetzent-wurfs, jedoch ohne Haltelinie für den Beitragssatz, stiege der Beitragssatz 2025 auf 20,3 Prozent.

Nach dem Gesetzentwurf sind deshalb in den Jahren 2022 bis 2025 Sonderzahlungen an die Deutsche Rentenversicherung in Höhe von viermal 500 Millio-nen Euro (plus Dynamisierung analog zum allgemei-nen Bundeszuschuss) geplant. Zudem steigen die Beiträge für Kindererziehungszeiten und der allge-meine Bundeszuschuss, da deren Fortschreibung mit der Veränderung des Beitragssatzes verknüpft ist.

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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Der Gesetzentwurf sieht darüber hinaus vor, dass der zusätzliche Bundeszuschuss gegebenenfalls um den Betrag aufgestockt wird, der notwendig ist, um bei einem Beitragssatz von 20 Prozent die Mindestnach-haltigkeitsrücklage von 0,2 Monatsausgaben zu eige-nen Lasten zu gewährleisten („Beitragssatzgarantie“). Da wie erwähnt der bisherige „Selbstregulierungs-mechanismus“ außer Kraft gesetzt wird, übernimmt der Bund die Haftung für bis 2025 auflaufende Defi-zite bei der Nachhaltigkeitsrücklage, soweit diese unter die Mindestrücklage sinkt. Je nach ökonomi-scher und demografischer Entwicklung kann der Fi-nanzierungsbedarf dafür sehr unterschiedlich ausfal-len.

Die Berechnungen im Gesetzentwurf können von der Deutschen Rentenversicherung Bund auf Basis der gegebenen Annahmen und des gegebenen Datenstan-des nachvollzogen werden.

2. Verlängerung der Zurechnungszeit – Art. 1 Nr. 3, 12 (§§ 59, 253a SGB VI-E)

Die angestrebte beschleunigte Verlängerung der Zu-rechnungszeit im Bereich der Erwerbsminderungs-renten würde, wie oben ausgeführt, zu einer besse-ren finanziellen Absicherung von Beziehenden einer Erwerbsminderungsrente führen. Nach dem Gesetz-entwurf wachsen die jährlichen Mehrausgaben bis zum Jahr 2025 bis auf eine Milliarde Euro an.

Durch die Ausweitung der Zurechnungszeit werden sich die Zahlbeträge der Erwerbsminderungsrenten im Vergleich zur Altersrenten deutlich erhöhen. Die im Gesetzentwurf genannten Finanzwirkungen sind plausibel, wenn gegenüber der Situation nach gel-tendem Recht keine Verhaltensänderungen ange-nommen werden. Verhaltensänderungen hin zu ei-ner häufigeren Beantragung der Erwerbsminderungs-renten können durch die Leistungsverbesserungen bewirkt werden. Inwieweit sie tatsächlich zu be-obachten sein werden, hängt allerdings von vielen weiteren – zum Teil nicht vorhersehbaren – Fakto-ren ab, darunter auch die Gesundheitsentwicklung und die zukünftige Situation auf dem Arbeitsmarkt und bei den Arbeitsbedingungen.

3. Ausweitung der Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder – Art. 1 Nr. 11, 20, 21, 22 (§§ 249, 295, 295a, 307d SGB VI-E)

Die Mehrausgaben (einschließlich Krankenversiche-rung der Rentner) für die weitere Verlängerung der Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kin-der werden nach Datenstand vom Oktober 2018 auf rund 3,85 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Die schon 2014 durch das RV-Leistungsverbesserungsge-setz vorgenommene verbesserte Anerkennung von Kindererziehungszeiten, ebenfalls für vor 1992 gebo-rene Kinder, wird 2019 voraussichtlich bereits zu Mehrausgaben in der allgemeinen Rentenversiche-rung von rund 7,7 Milliarden Euro führen.

Es ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die ge-plante Erhöhung der Bundesmittel bis 2025 nicht ausreicht, die Mehrausgaben durch die Verbesserung der Anrechnung von Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder zu decken.

Bei einer sachgerechten Finanzierung der Kinderer-ziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder aus

Steuermitteln könnte das Beitragssatzziel von maxi-mal 20 Prozent bis 2025 ohne eine weitere Aufsto-ckung der Bundesmittel erreicht werden.

4. Entlastung von Geringverdienenden bei den Beiträgen zur Sozialversicherung – Art. 1 Nr. 4 und 10, Art. 3 Nr. 2 und 3 (§§ 70 Abs. 1a, 163 Abs. 10 SGB VI-E; §§ 20 Abs. 2, 28a Abs. 3 S. 2 Buchst. b SGB IV-E)

.... Entgeltbezieher in der Gleitzone (zukünftig „Über-gangsbereich“) sollen bei den Sozialversicherungs-beiträgen entlastet werden. Gleichzeitig sollen die geringeren Rentenversicherungsbeiträge nicht, wie nach geltendem Recht, zu geringeren Rentenleistun-gen führen. Die jährlichen Mindereinnahmen bei den Beiträgen werden im Gesetzentwurf auf 0,2 Mil-liarden Euro geschätzt. Nicht berücksichtigt sind da-bei die Mehrausgaben, welche durch die Besserstel-lung der im Übergangsbereich beschäftigten Perso-nen zukünftig bei den Rentenausgaben entstehen und denen keine Beiträge gegenüberstehen. Aller-dings wachsen diese Mehrausgaben im Zeitverlauf erst langsam an, abhängig von der Altersverteilung der betreffenden Versicherten bei der Beitragszah-lung.

5. Berechnung der Finanzwirkungen insgesamt

Die Abschätzungen zu den Finanzwirkungen des Ge-samtpaketes decken sich unter den gegebenen An-nahmen und mit dem gegebenen Datenstand mit de-nen der Deutschen Rentenversicherung Bund.

Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Finanz-tableau mit den Maßnahmen für 2030 derzeit einen Beitragssatz von über 22 Prozent ausweist. Dies er-fordert nach § 154 Abs. 3 SGB VI, dass die Bundesre-gierung im Fall eines Inkrafttretens des Gesetzes „ge-eignete Maßnahmen“ vorschlägt.

V. Umsetzung der Regelungen durch die Verwaltung

Die Regelungen des RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetzes sollen im Wesentlichen zum 1. Januar 2019 in Kraft treten. Um die Neuregelun-gen komplett zum 1. Januar 2019 umsetzen zu kön-nen, hätte die Programmierung Anfang Oktober 2018 bereits abgeschlossen sein müssen. Dies war nicht möglich, da zu diesem Zeitpunkt noch kein gesicher-ter Rechtsstand vorlag.

Zusätzlich sind das GKV-Versichertenentlastungsge-setz und die Beitragssatzanpassung in der Pflegever-sicherung (Fünftes Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch) umzusetzen, die ebenfalls Auswirkungen auf die Rentenzahlungen ab 2019 ent-falten und für die Umsetzung innerhalb der Deut-schen Rentenversicherung die gleichen Ressourcen binden, die auch für die Umsetzung des RV-Leis-tungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetzes er-forderlich sind. Die datenverarbeitungstechnische Umsetzung der beiden Gesetze muss unabdingbar vor den datenverarbeitungstechnischen Anpassun-gen zum RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisie-rungsgesetz erfolgen, da es ansonsten zu millionen-fachen Rückabrechnungen käme.

Vor diesem Hintergrund ergeben sich zu den wesent-lichen Regelungskomplexen folgende Einschätzun-gen:

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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1. Verlängerung der Zurechnungszeit

Die Umsetzung der Verlängerung der Zurechnungs-zeit – ohne die besonderen Regelungen für die Hin-terbliebenenrenten nach vorherigen Erwerbsminde-rungs- oder Altersrenten – ist fristgerecht zum In-krafttreten möglich.

Die Umsetzung der Verlängerung der Zurechnungs-zeit nach den besonderen Regelungen für die Hinter-bliebenenrenten kann voraussichtlich im ersten Quartal 2019 erfolgen.

2. Ausweitung der Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder

Für Neurenten kann die Umsetzung der Regelungen zur Ausweitung der Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder termingerecht zum 1. Ja-nuar 2019 erfolgen. Die dazu erforderlichen Be-scheide mit einem Rentenbeginn zum 1. Januar 2019 können jedoch erst erstellt werden, wenn das Ge-setzgebungsverfahren formell abgeschlossen ist.

Bei Bestandsrenten werden die Neuregelungen ab März 2019 schrittweise umgesetzt, die Nachzahlun-gen erfolgen rückwirkend zum 1. Januar 2019.

3. Entlastung von Geringverdienenden bei den Bei-trägen zur Sozialversicherung

Voraussetzung für die Umsetzung der Regelungen ist unter anderem, dass für die Arbeitgebermeldungen der Beschäftigungszeiten Festlegungen zur Ausge-staltung der Datensätze getroffen werden. Diese durch die Spitzenorganisationen der Sozialversiche-rung auf Grundlage des Gesetzentwurfes erfolgten Festlegungen wurden vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales am 11. Oktober 2018 genehmigt. Erst auf dieser Basis können nunmehr die Entgeltab-rechnungsprogramme der Arbeitgeber angepasst werden.

B. Antrag verschiedener Abgeordneter und der Fraktion der AfD

Anrechnungsfreistellung der Mütterrente bezie-hungsweise der Rente für Kindererziehungszeiten bei der Grundsicherung im Alter (BT-Drucksache 19/4843)

In dem Antrag wird die Bundesregierung aufgefor-dert, kurzfristig einen Gesetzentwurf zur Änderung des SGB XII vorzulegen, mit dem die Leistungen der Rentenversicherung aufgrund von Kindererziehungs-zeiten „angemessen“ von der Anrechnung auf die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Er-werbsminderung freigestellt werden sollen.

Aus Sicht der Deutschen Rentenversicherung Bund erscheint es wenig zielführend, gesonderte Freibe-träge in der Grundsicherung für einzelne Leistungs-elemente der gesetzlichen Rentenversicherung ein-zuführen. Alterseinkünfte aus der gesetzlichen Ren-tenversicherung sollten im Hinblick auf die Anrech-nung bei der Grundsicherung einheitlich behandelt werden.

C. Anträge verschiedener Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

1. Vollständige Gleichstellung und gerechte Finan-zierung der Kindererziehungszeiten in der Rente umsetzen – Mütterrente verbessern (BT-Drucksa-che 19/29)

In dem Antrag, der aus dem Oktober 2017 stammt, wird die Bundesregierung aufgefordert, einen Ge-setzentwurf vorzulegen, mit dem auch für die vor 1992 geborenen Kinder im Rentenbestand wie im Rentenzugang die Erziehungsarbeit der Eltern in der Rentenversicherung mit drei Entgeltpunkten pro Kind anerkannt wird. Zudem solle die vollständige Finanzierung aller Kindererziehungszeiten aus Steu-ermitteln festgeschrieben werden.

Die Ausgaben für Zeiten der Kindererziehung für vor 1992 geborene Kinder, einschließlich der Maßnah-men des Gesetzentwurfs, werden im Jahr 2019 in der allgemeinen Rentenversicherung auf rund 19,3 Milli-arden Euro geschätzt. Die Ausweitung der Anrech-nung der Kindererziehungszeiten um einen weiteren halben Entgeltpunkt auf drei Entgeltpunkte würde im Jahr 2019 Mehrausgaben bei Renten und der Krankenversicherung der Rentner verursachen, die sich im Bereich der im Gesetzentwurf (siehe Punkt A.II.3) geplanten Ausweitung von zwei auf 2,5 Ent-geltpunkte (rund 3,85 Milliarden Euro) bewegen.

Die Deutsche Rentenversicherung Bund hat bereits seit 2014 immer wieder deutlich gemacht, dass sie die Finanzierung der Leistungen aufgrund von Kin-dererziehungszeiten, denen keine Beitragszahlungen des Bundes gegenüber standen, aus Steuermitteln für erforderlich und für systematisch geboten hält. Im Übrigen entspricht der Antrag inhaltlich weitgehend den im Gesetzentwurf beschriebenen Alternativen zur dort vorgeschlagenen Regelung. Für unsere Ein-schätzung verweisen wir insoweit auf unsere Aus-führungen zu Punkt A.II.4.

2. Die Erwerbsminderungsrente stärken (BT-Drucksache 19/31)

In dem Antrag, der aus dem Oktober 2017 stammt, wird die Bundesregierung aufgefordert, einen Ge-setzentwurf vorzulegen, mit dem die Abschläge bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für Be-standsrenten und Zugangsrenten abgeschafft und die Zurechnungszeit in einem Schritt auf das 65. Le-bensjahr angehoben werden soll.

Hinsichtlich der Forderung nach Ausweitung der Zurechnungszeit bleibt der Antrag hinter der im Ge-setzentwurf der Bundesregierung (BT-Drucksache 19/4668) vorgesehenen Regelung zurück; die Forde-rung nach Abschaffung der Abschläge bei Erwerbs-minderungsrenten entspricht inhaltlich der im Ge-setzentwurf unter Punkt C beschriebenen Regelungs-alternative. Insoweit wird auf die Ausführungen zu Punkt A.II.3 verwiesen.

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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Anlage zur Stellungnahme der Deutschen Rentenversicherung Bund zum Entwurf des RV-Leistungsverbes-serungs- und -Stabilisierungsgesetz

Beispiel:

Modellrechnung zur Wirkung der verlängerten Zurechnungszeiten bei Erwerbsminderungsrenten im Ver-

gleich zu Altersrenten

Modellfall:

Versicherter, geboren am 01.07.1955, nach Schulabschluss 45 Jahre beschäftigt mit Durchschnittsentgelt, Rentenbeginn Januar 2019 im Alter von 63 Jahren und 6 Monaten.

Höhe einer Altersrente für besonders langjährig Versicherte: 1.441 EUR

Höhe einer Altersrente für langjährig Versicherte: 1.325 EUR

Höhe einer vollen Erwerbsminderungsrente (aktuelles Recht): 1.441 EUR

Höhe einer vollen Erwerbsminderungsrente (neues Recht): 1.511 EUR

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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DEUTSCHER BUNDESTAG Ausschussdrucksache 19(11)90 Ausschuss für Arbeit und Soziales 27. Juli 2018 19. Wahlperiode

Information für den Ausschuss

Bundesinnungsverband des Gebäudereiniger-Handwerks

Position des Gebäudereiniger-Handwerks zur Ausweitung der Midi-Jobgrenze im Rentenpaket

Der Bundesinnungsverband des Gebäudereiniger-Handwerks vertritt die Interessen von rund 2.500 Unternehmen und damit 85 Prozent des Marktes im Gebäudereiniger-Handwerk. Mit rund 650.000 Be-schäftigten ist das Gebäudereiniger-Handwerk das beschäftigungsintensivste Handwerk in Deutschland. Uns sind die Themen Mini- und Midijobs bestens vertraut, was uns seit Jahrzehnten dazu bewogen hat, die Abschaffung der geringfügigen Beschäftigungs-verhältnisse zu fordern.

Wir begrüßen den aktuellen Vorschlag der Bundesre-gierung, die sogenannten Midijobs zu verbessern. Die Unternehmen und Beschäftigten brauchen aller-dings ein schlüssiges Gesamtkonzept im Rahmen der Mini- und Midijobs zur Überwindung der unverän-dert bestehenden Minijob-Sperre zur sozialversiche-rungspflichtigen Beschäftigung und deswegen erlau-ben wir uns, einen Vorschlag zu unterbreiten, der im Interesse der die Bundesregierung tragenden großen Koalition sein sollte.

1. Abschaffung der opt-out-Regelung für Minijobber (450-Euro-Kräfte) in der Rentenversicherung und damit zwingende Zuzahlung der Differenz zum vollen RV-Beitrag durch den Minijobber.

2. Anhebung der seit 2013 starren Minijob-Grenze von bisher 450 Euro auf 500 Euro aufgrund der steigenden gesetzlichen und tariflichen Mindest-löhne.

3. Flankierende Maßnahmen im Steuerrecht, um den Übergang in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung attraktiver zu machen (z.B. durch Abschaffung der Steuerklasse V).

Begründung:

1. Wir unterstützen das sozialpolitische Ziel der Bundesregierung, möglichst vielen Menschen eine Rentenperspektive zu geben. Die Ausdeh-nung der Gleitzone (Midi-Jobs) auf 1.300 Euro ist im Ansatz gut, löst aber das eigentliche Kern-problem nicht. Kernproblem ist – entgegen der

Aussagen in der Gesetzesbegründung (Seite 21, Referentenentwurf RV-Leistungsverbesserungs- und –Stabilisierungsgesetz) – weiterhin die Sperrwirkung der 450-Euro-Grenze für einen Ein-stieg in die sozialversicherungspflichtige Be-schäftigung. Der Wechsel von der opt-in zur opt-out-Regelung bei den Rentenversicherungsbeiträ-gen der Mini-Jobber hat das Problem in keiner Weise entschärft, da selbst nach offiziellen Statis-tiken 83% aller Minijobber von der opt-out-Rege-lung Gebrauch machen und keine eigenen Bei-träge zahlen. Daher muss durch Abschaffung der opt-out-Regelung aus der „grundsätzlich gelten-den Rentenversicherungspflicht für geringfügig entlohnt Beschäftigte“ (so die Gesetzesbegrün-dung Seite 21) eine „ausnahmslos geltende Ren-tenversicherungspflicht“ werden. Selbst wenn es im Alter nur zur Grundversorgung reicht, haben die Beschäftigten einen eigenen Anteil zu dieser Leistung mit erwirtschaftet. Es muss nicht zwin-gend sein, dass geringfügig Beschäftigte ihren Ta-riflohn brutto = netto bekommen, die Privilegie-rung wird zumindest relativiert und durch die ei-gene Abgabe der Übergang zum sozialversiche-rungspflichtigen Midi-Job geglättet.

2. Entscheidend für das Gebäudereiniger-Handwerk ist die Anhebung der seit 2013 starren Minijob-Grenze auf 500 Euro, denn nur auf diesem Weg führen Tariflohnerhöhungen auch zu einer Ein-kommenssteigerung bei den Beschäftigten. Jähr-lich steigende Tariflöhne haben bei gleichzeiti-gem weiteren Einfrieren der Minijob-Grenze bei 450 Euro die Konsequenz, dass die Beschäftigten zur Aufrechterhaltung ihres brutto=netto-Status jährlich die Arbeitszeit reduzieren, um die Mi-nijob-Grenze einzuhalten. Die Tariflohnerhöhun-gen führen somit nicht zu einer Steigerung des verfügbaren Einkommens bei geringfügig Be-schäftigten, sondern ausschließlich zu kürzeren Arbeitszeiten. Diese jährlichen (bei z.B. 3% Lohnerhöhung und 120 Minuten täglicher Ar-beitszeit) nur 3,6 Minuten „Zeitgewinn“ wollen

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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weder Arbeitnehmer noch Arbeitgeber. Die klei-nen Zeiteinheiten sind nicht durch Neueinstel-lungen zu kompensieren bzw. anders zu organi-sieren. Hier zeigt sich der entscheidende Nach-teil der unflexiblen Minijobs.

3. Eine wesentliche Ursache für die oben darge-stellte Sperrwirkung der Minijob-Grenze und feh-lenden Bereitschaft der geringfügig Beschäftigten zu einem Wechsel in eine sozialversicherungs-pflichtige Beschäftigung (Midi-Job) liegt neben der Beitragspflicht in der Sozialversicherung auch in der Steuerpflicht (Steuerklasse V). Daher ist die Entlastung bei der Sozialversicherung durch einen gleitenden Anstieg bei den Midi-Jobs ein wichtiger, aber nicht ausreichender Schritt. Dringend erforderlich ist eine flankie-rende Maßnahme im Steuerrecht. Die Problema-tik der Steuerklasse V wird seit vielen Jahren als diskriminierend diskutiert, aber weiterhin nicht in Angriff genommen. Die hohen Abzüge in der Steuerklasse V wirken demotivierend, da auch

ein späterer Lohnsteuerjahresausgleich bei die-sen Beschäftigten bei gemeinsamer Veranlagung nicht spürbar ankommt. Statt eine höhere Teil-zeitbeschäftigung mit der Steuerklasse V zu kom-binieren, verharrt dieser Beschäftigtenkreis daher im geringfügigen Mini-Job.

Ein Mini- und Midijob-Vergleich auf Basis 2018 zeigt, dass ein Midijobber brutto 607,90 Euro ver-dienen muss, um wie ein Minijobber 450 Euro netto zu erhalten. Anders dargestellt: Für den gleichen Nettolohn muss ein Midijobber aktuell 35% mehr arbeiten als ein Minijobber bei glei-chem tariflichen Bruttostundenlohn. Diese Sperr-wirkung muss überwunden werden.

Im Interesse der Unternehmen und Beschäftigten bit-ten wir um eine wohlwollende Prüfung unseres Vor-schlags und würden uns freuen, wenn Sie für ein persönliches, erläuterndes Gespräch in dieser durch-aus komplexen Materie zur Verfügung stehen wür-den.

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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DEUTSCHER BUNDESTAG Ausschussdrucksache 19(11)184 Ausschuss für

Arbeit und Soziales 31. Oktober 2018

19. Wahlperiode

Information für den Ausschuss

Sozialverband VdK Deutschland e.V.

Unaufgeforderte Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in

Berlin am 05. November 2018, um 15:00 Uhr zum

a) Gesetzentwurf der Bundesregierung

Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzli-

chen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz) -

BT-Drs. 19/4668

b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Schielke-Ziesing, Marc Bernhard, Stephan Brand-

ner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD

Anrechnungsfreistellung der Mütterrente beziehungsweise der Rente für Kindererzie-

hungszeiten bei der Grundsicherung im Alter BT-Drs. 19/4843

c) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Do-

ris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Vollständige Gleichstellung und gerechte Finanzierung der Kindererziehungszeiten in

der Rente umsetzen – Mütterrente verbessern - BT-Drs. 19/29

d) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Die Erwerbsminderungsrente stärken BT-Drs. 19/31

1 Zur Zielsetzung des Gesetzentwurfs eines RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsge-setz

Der Entwurf betont, dass die gute Absicherung im Alter nach einem Leben voller Arbeit das Kernver-sprechen des Sozialstaats und eine wesentliche Grundlage für den Zusammenhalt unserer Gesell-schaft ist. Das starke Fundament dieser Absicherung und damit maßgeblicher Eckpfeiler unseres Sozial-staates ist die gesetzliche Rentenversicherung. Umso wichtiger ist es daher, dass dieser Eckpfeiler tragfä-hig, solide und belastbar ist. Das bedarf immer wie-der Anpassungen im System der gesetzlichen Ren-tenversicherung. Dabei sind sowohl die Interessen der Rentner als auch der Beitragszahler in den Blick zu nehmen. Während die Rentner durch eine oftmals langjährige Beitragszahlung wesentlich zur Finanzie-rung und Stabilisierung der gesetzlichen Rentenver-sicherung beigetragen haben, müssen auch die Bei-tragszahler auf das System vertrauen können und dürfen entsprechend des Entwurfs gleichzeitig finan-ziell nicht übermäßig belastet werden. Aus diesen

Gründen ist es notwendig, die Entwicklung der zent-ralen Leitplanken der allgemeinen Rentenversiche-rung, das Sicherungsniveau und den Beitragssatz, zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. Ein an-gemessenes und stabiles Sicherungsniveau ist wich-tig für die Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversi-cherung. Es muss generationenübergreifende ver-trauensbildende Zusagen geben. Ebenso muss die Belastung der Beitragszahler angemessen bleiben.

Um zukünftige Erwerbsminderungsrentner noch bes-ser abzusichern, wird das Ende der Zurechnungszeit nun bereits früher und in größerem Umfang als bis-her vorgesehen angehoben. Das Ende der Zurech-nungszeit wird nunmehr in Anlehnung an die Anhe-bung der Regelaltersgrenze vom Jahr 2020 bis zum Jahr 2031 schrittweise auf das vollendete 67. Lebens-jahr verlängert.

Elternteilen wird künftig für die Erziehung von vor 1992 geborenen Kindern ein weiteres halbes Kinder-erziehungsjahr in der gesetzlichen Rentenversiche-rung anerkannt.

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Ausschussdrucksache 19(11)180neu Ausschuss für Arbeit und Soziales

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Geringverdiener sollen bei den Sozialabgaben entlas-tet werden. Dazu wird die bisherige Gleitzone, in der Beschäftigte mit einem monatlichen Arbeitsentgelt von 450,01 bis 850,00 Euro verringerte Arbeitneh-merbeiträge zahlen, zu einem sozialversicherungs-rechtlichen Einstiegsbereich weiterentwickelt: Die Obergrenze der Beitragsentlastung wird auf 1300 Euro angehoben und es wird sichergestellt, dass die reduzierten Rentenversicherungsbeiträge nicht mehr zu geringeren Rentenleistungen führen.

Bewertung des Sozialverbands VdK

Insgesamt begrüßt der Sozialverband VdK, dass das Rentenpaket I Leistungsverbesserungen bei der ge-setzlichen Rente beinhaltet. Die Maßnahmen gehen zusammenfassend zwar in die richtige Richtung, bleiben jedoch auf halber Strecke stehen. So wird zwar das Rentenniveau stabilisiert, allerdings nur bei einem Sicherungsniveau von 48 Prozent und nur bis zum Jahr 2025. Auch ist es grundsätzlich positiv zu bewerten, dass alle Elternteile künftig für die Er-ziehung von vor 1992 geborenen Kindern ein weite-res halbes Kindererziehungsjahr rentenrechtlich an-erkannt bekommen sollen. Eine vollständige renten-rechtliche Gleichbehandlung der Kindererziehungs-zeiten, wie vom VdK gefordert, ist jedoch erst bei ei-ner Verlängerung um ein ganzes Jahr gegeben.

Bei der Erwerbsminderungsrente wurden zwar Ver-besserungen bei den Zurechnungszeiten vereinbart, welche jedoch nur für die neuen Erwerbsminde-rungsrentner gelten sollen. Es ist nicht akzeptabel und nicht nachvollziehbar, dass die Bestandser-werbsminderungsrentner in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt werden. Zudem bleiben die sys-temwidrigen Abschläge bestehen.

Finanziert werden sollen, die vom Verband geforder-ten, Verbesserungen für alle Erwerbsminderungs-rentner aus einem, in Vergleich zum Arbeitnehmer-anteil, höheren Arbeitgeberanteil beim Rentenversi-cherungsbeitrag.

Die geplanten Entlastungen bei den Lohnnebenkos-ten von Geringverdienern sind generell zu begrüßen. Die Ausweitung der Gleitzone und die damit ver-bundene Steigerung der Attraktivität der Midi-Jobs ist jedoch der falsche Ansatz.

2 Doppelte Haltelinie beim Rentenniveau bei 48 Prozent und beim Beitragssatz bei 20 Prozent bis zum Jahr 2025

In der gesetzlichen Rentenversicherung wird für den absehbaren Zeitraum bis 2025 eine doppelte Halteli-nie für das Sicherungsniveau bei 48 Prozent und den Beitragssatz bei 20 Prozent eingeführt. Für die Ein-haltung der Haltelinien werden die erforderlichen gesetzlichen Regelungen geschaffen und geeignete fi-nanzielle Vorsorge getroffen. Für die Zeit nach dem Jahr 2025 erfolgt noch keine Festlegung.

Für die Stabilisierung der Leistungsfähigkeit der all-gemeinen Rentenversicherung wird gewährleistet, dass das Sicherungsniveau bis zum Jahr 2025 min-destens 48 Prozent beträgt. Hierfür wird die Renten-anpassungsformel um eine Niveausicherungsklausel

1 Blank, Florian, 2017: Das Rentenniveau in der Diskussion. In: Policy Brief WSI Nr. 13 08/2017: 1-13. Steffen, Johannes, 2015: Für eine Rente mit Niveau, Zum Diskurs um das Niveau der Renten und das Rentenniveau, URL: http://www.portal-sozialpolitik.de/uploads/sopo/pdf/2015/2015-08-24%20Fuer%20eine%20Rente%20mit%20Niveau.pdf (25.07.2018)

ergänzt, die dafür sorgt, dass die Renten bis zum Jahr 2025 so angepasst werden, dass mindestens ein Ni-veau von 48 Prozent erreicht wird. In den kommen-den Rentenanpassungsverordnungen wird zum 1. Juli jeden Jahres dokumentiert, dass dieses Ziel durch die Rentenanpassung eingehalten wird.

Zur Wahrung der Beitragssatzstabilität wird dafür Sorge getragen, dass der Beitragssatz zur allgemeinen Rentenversicherung die Marke von 20 Prozent bis zum Jahr 2025 nicht überschreitet. Die Einhaltung der Beitragssatzobergrenze wird durch eine neu ein-geführte Beitragssatzgarantie abgesichert, indem bei Bedarf weitere Bundesmittel für die allgemeine Ren-tenversicherung bereitzustellen sind. Dafür wird im Bundeshaushalt Vorsorge getroffen. Die Beitragssatz-garantie gilt uneingeschränkt, so dass auch bei un-vorhersehbaren Entwicklungen die Beitragssatzober-grenze eingehalten wird.

Zusätzlich leistet der Bund in den Jahren 2022 bis 2025 Sonderzahlungen in Höhe von 500 Millionen Euro pro Jahr an die allgemeine Rentenversicherung als Finanzierungssockel. Diese werden entsprechend der bestehenden Regelungen für den allgemeinen Bundeszuschuss fortgeschrieben. Diese zusätzlichen Bundesmittel werden ausschließlich für die Einhal-tung der Beitragssatzobergrenze von 20 Prozent ver-wendet. Durch die Erhöhung des Bundeszuschusses wird ferner die unterjährige Liquidität der allgemei-nen Rentenversicherung gestützt, insbesondere auch nach Abbau der Nachhaltigkeitsrücklage auf die Höhe der Mindestrücklage von 0,2 Monatsausgaben.

Damit wird die Beteiligung des Bundes an der Ein-haltung der Beitragssatzobergrenze klar geregelt. Mit der Obergrenze für den Beitragssatz und der Niveau-sicherungsklausel bei der Rentenanpassung wird eine doppelte Haltelinie festgelegt, mit der die Ver-lässlichkeit und Stabilität der allgemeinen Renten-versicherung gestärkt werden.

Bewertung des Sozialverbands VdK

Der Sozialverband VdK begrüßt generell das Ziel der Stabilisierung des Rentenniveaus, die der Verband seit langem fordert. Spätestens ab 2025 muss das Rentenniveau jedoch dauerhaft wieder auf 50 Pro-zent erhöht und die Dämpfungsfaktoren in der Ren-tenanpassungsformel gestrichen werden. Die Renten-versicherung muss nach langjähriger Erwerbstätig-keit ein angemessenes Leistungsniveau sicherstellen, da ein Kriterium für die Leistungsfähigkeit der ge-setzlichen Rente ihre „strukturelle Armutsfestig-keit“1 ist: Ein, wie vom VdK vorgeschlagenes, Ren-tenniveau in Höhe von 50 Prozent ist kein Instru-ment zur Bekämpfung von bestehender Altersarmut. Dennoch verhindert es das Abrutschen in die Alters-armut und bildet damit die Grundlage einer zielge-nauen Unterstützung von Risikogruppen. Das Leis-tungsniveau der Rentenversicherung sollte so bemes-sen sein, dass nach einer langjährigen Vollzeitbe-schäftigung und einer entsprechenden Beitragsleis-tung die Nettorenten auf jeden Fall oberhalb der Grundsicherung liegen. Zudem ist die Lohnersatz-funktion der Rente bei einem sukzessive sinkenden Rentenniveau in Gefahr.

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Wie der Referentenentwurf zutreffend hervorhebt, ist ein angemessenes und stabiles Sicherungsniveau wichtig für die Akzeptanz der gesetzlichen Renten-versicherung. Es muss generationenübergreifende vertrauensbildende Zusagen geben. Der VdK kriti-siert deshalb, dass die geplante Stabilisierung des Rentenniveaus nicht über das Jahr 2025 hinausgeht. Falls das Rentenniveau entsprechend den Vorhersa-gen nach 2025 sinkt, entstehen Legitimations- und Akzeptanzprobleme der Rentenversicherung, wenn nach jahrzehntelanger Beitragspflicht die individu-elle Rente nicht oberhalb der Grundsicherung liegt und sich kein Unterschied mehr ergibt zu Personen, die nicht in die Rentenversicherung eingezahlt ha-ben.

Die Ausgleichswirkungen von Reformstrategien, wie drei Jahre Kindererziehungszeiten für alle Mütter und die erweiterte Anerkennung von Zurechnungs-zeiten bei der Erwerbsminderungsrente, verlieren durch die Absenkung des Rentenniveaus nach 2025 ebenfalls sukzessive an Bedeutung.

Schließlich ist das Ziel der Lebensstandardsicherung in der Altersvorsorge aus drei Säulen gescheitert, da ein flächendeckender und ausreichend hoher Aus-gleich durch Renten aus der privaten und betriebli-chen Altersvorsorge nicht zu erwarten ist. Deshalb muss bei der ersten Säule dauerhaft nachjustiert und das Rentenniveau spätestens ab 2025 auf 50 Prozent erhöht werden.

Der Sozialverband VdK begrüßt zudem die Erhöhung des Bundeszuschusses zur Einhaltung der doppelten Haltelinie beim Rentenniveau und beim Beitragssatz, auch nach Abbau der Nachhaltigkeitsrücklage auf die Höhe der Mindestrücklage. Diese Sonderzahlun-gen in Höhe von 500 Millionen Euro pro Jahr in den Jahren 2022 bis 2025 aus Bundesmitteln sind der richtige Weg, um die Stabilisierung des Rentenni-veaus zu finanzieren. Auch nach 2025 benötigt es diese Sonderzahlungen aus Steuermitteln, um das Rentenniveau dauerhaft zu stabilisieren bzw. zu er-höhen.

3 Erhöhung der Zurechnungszeit bei der Erwerbs-minderungsrente

Das Ende der Zurechnungszeit bei Erwerbsminde-rungsrenten wird für Rentenzugänge im Jahr 2019 in einem Schritt auf das vollendete 65. Lebensjahr und acht Monate verlängert. Anschließend wird das Ende der Zurechnungszeit von 2020 bis 2031 schrittweise auf das vollendete 67. Lebensjahr verlängert. Er-werbsgeminderte werden damit ab dem Jahr 2031 so gestellt, als ob sie, entsprechend der Bewertung ihrer Zurechnungszeit, bis zur Regelaltersgrenze gearbeitet hätten. Entsprechendes gilt für die Renten wegen To-des. Die Verlängerung wird auch auf die Alterssiche-rung der Landwirte übertragen.

Bewertung des Sozialverbands VdK

Der durchschnittliche Zahlbetrag bei den Erwerbs-minderungsrentenzugängen ist in den letzten Jahren auf einem äußerst niedrigen Niveau: Er lag 2016 bei 697 Euro und damit deutlich unter der Grundsiche-rungsschwelle. Die Ergänzung von Erwerbsminde-rungsrenten durch betriebliche und/oder private Al-tersvorsorge hat sich seit der Riester-Reform in 2001 als nicht praktikabel erwiesen. Hinzu kommt, dass für behinderte und chronisch kranke Menschen die private Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos

aufgrund von Risikozuschlägen und Leistungsaus-schlüssen kaum möglich ist. 14,7 Prozent der Er-werbsminderungsrentner waren 2016 auf ergänzende Leistungen der Grundsicherung angewiesen. Nicht berücksichtigt sind hierbei diejenigen, die aus Scham, Unkenntnis oder der unbegründeten Be-fürchtung einer Unterhaltsverpflichtung ihrer Kinder keine Grundsicherung in Anspruch nehmen.

Der Sozialverband VdK begrüßt deshalb sehr die ge-plante, beschleunigte Anhebung der Zurechnungs-zeiten bei der Erwerbsminderungsrente, welche der Verband seit jeher gefordert hat.

Diese Leistungsverbesserungen begünstigen jedoch nur neue Erwerbsminderungsrenten. Dies ist für Be-standsrentner nicht nachvollziehbar und nicht ver-mittelbar, weil sich an ihrer Situation nichts ändert. Nicht vermittelbar ist den Bestandsrentnern auch, dass der Gesetzgeber bei der „Mütterrente II“ auch die Bestandsrentner berücksichtigt, bei den Erwerbs-minderungsrentnern diese aber ausgeschlossen wer-den. Deshalb braucht es vor allem Verbesserungen für die Erwerbsminderungsbestandsrentner, die seit der Riester-Reform 2001 in Rente gegangen sind. Für diese Personen, die zudem Abschläge hinnehmen mussten, braucht es einen Aufschlag aus einem Ex-trabudget auf ihre Erwerbsminderungsrente.

Insgesamt reichen die Maßnahmen zudem nicht aus, um die Erwerbsminderungsrenten jetzt und in Zu-kunft armutsfest zu machen. Reformbedarf besteht weiterhin bei den systemwidrigen Abschlägen von maximal 10,8 Prozent für die Erwerbsminderungs-rentner, die die entsprechende Regelaltersgrenze nicht erreichen. Hiervon sind fast alle Bezieher be-troffen. Diese müssen endlich abgeschafft werden, wie der Antrag der Fraktion DIE LINKE richtiger-weise fordert. Die Abschläge sind systemwidrig, weil, eine korrekte medizinische Beurteilung im Rentenverfahren unterstellt, Erwerbsminderung schicksalhaft bedingt ist und ihr Eintritt nicht wie eine vorzeitige Altersrente freiwillig gewählt werden kann. Die Begründung im Referentenentwurf, dass Abschläge bei den Erwerbsminderungsrenten den vorzeitigen Rentenbezug und die damit verbundene längere Rentenlaufzeit ausgleichen sollen, trifft nicht zu. Darüber hinaus sollten die letzten vier Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung als beitragsgemin-derte Zeit eingestuft werden. Vor Eintritt der Er-werbsminderung werden wegen Krankheitszeiten, Reduzierung der Arbeitszeit oder Arbeitslosigkeit häufig nur geringere Einkommen erzielt. Diese wir-ken sich nicht nur negativ auf die Bewertung der Zu-rechnungszeit aus, sondern bedingen gleichzeitig ge-ringere Rentenanwartschaften.

Finanziert werden sollten diese Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente durch, im Vergleich zu den Arbeitnehmeranteilen, höhere Arbeitgeberan-teile beim Rentenversicherungsbeitrag.

4 Ausweitung der anrechenbaren Kindererzie-hungszeiten für vor 1992 geborene Kinder (Müt-terrente II)

In Zukunft wird die Erziehungsleistung von Müttern und Vätern, die vor 1992 geborene Kinder erzogen haben, in der Rente umfassender als bisher aner-kannt. Für Mütter und Väter, die ab dem 1. Januar 2019 in Rente gehen, wird die Kindererziehungszeit

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um weitere sechs Monate verlängert. Mütter und Vä-ter, die zu diesem Zeitpunkt schon eine Rente bezie-hen, erhalten ab dem 1. Januar 2019 einen Zuschlag, der dem Rentenertrag eines halben Kindererzie-hungsjahres entspricht. Mütter und Väter, für die in der Rente bereits ein Zuschlag für die Erziehung von Kindern aus der Verlängerung der Kindererziehungs-zeit im Jahr 2014 enthalten ist, erhalten zukünftig ei-nen um einen halben persönlichen Entgeltpunkt er-höhten Zuschlag, sofern sie im 24. Kalendermonat nach Ablauf des Monats der Geburt das Kind erzo-gen haben. Die Regelung entspricht strukturell grundsätzlich der Regelung, die 2014 mit der Aus-weitung der Kindererziehungszeiten auf zwei Jahre erfolgte. Diese pauschale Anrechnungsweise erfolgt, wie schon die Verlängerung der Kindererziehungs-zeit im Jahr 2014, aus Gründen der Verwaltungsver-einfachung, damit die Rentenversicherungsträger nicht Millionen von Renten neu feststellen müssen.

Ab 1. Januar 2019 erhalten auch diejenigen einen Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten, die im Jahr 2014 keinen Zuschlag erhalten haben (weil sie im 12. Kalendermonat keine Kindererziehungszeit im Rentenversicherungskonto hatten), aber die ge-nannten Voraussetzungen, insbesondere die Erzie-hung von mehr als zwei Kindern, erfüllen.

Abweichend von den seinerzeit bei der Verlänge-rung der Kindererziehungszeiten im Jahre 2014 ge-troffenen Regelungen soll jetzt unter bestimmten Vo-raussetzungen ein besonderes Antragsrecht für die Fälle Abhilfe schaffen, die seit 1. Juli 2014 keinen Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten wegen Kindererziehung bekommen oder mit der jetzigen Ausweitung der Anrechnung von Kindererziehungs-zeiten keinen Zuschlag an persönlichen Entgelt-punkten erhalten, weil pauschal auf die Erziehung in einem bestimmten Kalendermonat (Kindererzie-hung im 12. bzw. 24. Kalendermonat) abgestellt wird.

Das neue Antragsrecht betrifft etwa Adoptionen oder die Erziehung im Inland nach Rückkehr aus dem Ausland, wenn die Adoption beziehungsweise der Wohnsitzwechsel erst nach dem 12. bzw. 24. Kalen-dermonat nach dem Monat der Geburt erfolgte. Vo-raussetzung für die Anerkennung ist aber, dass nicht schon einem anderen Versicherten oder Hinterblie-benen für dasselbe Kind Kindererziehungszeiten o-der Zuschläge anzurechnen sind, soweit dies dem Rentenversicherungsträger auch tatsächlich bekannt ist.

Auch für Mütter, die bei der erstmaligen Einführung der Kindererziehungszeit 1986 im Rentenalter waren und daher eine Kindererziehungsleistung erhalten, wird diese Leistung um die gleiche Höhe aufge-stockt.

Die Verlängerung der Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder führen mit Inkrafttreten zum 1. Januar 2019 zu Mehrausgaben in der gesetzlichen Rentenversicherung.

Bewertung des Sozialverbands VdK

Der Sozialverband VdK sieht die Anerkennung eines weiteren halben Jahres an Kindererziehungszeit für alle Erziehende als Schritt in die richtige Richtung, wenn in einem zweiten Schritt die vollständige ren-tenrechtliche Gleichbehandlung bei der Anrechnung

der Kindererziehungszeiten vollzogen wird. Somit wird der Antrag der Fraktion DIE LINKE unterstützt.

Darüber hinaus fordert der Sozialverband VdK wei-terhin einen monatlichen Freibetrag von 208 Euro in der Grundsicherung, damit die Verbesserungen bei der Mütterrente nicht wie bisher vollständig auf die Grundsicherung angerechnet werden. Derzeit exis-tiert ein solcher Freibetrag nur für die betriebliche und private Altersvorsorge in der Grundsicherung. Zunächst gilt dabei ein anrechnungsfreier Freibetrag von 100 Euro. Danach wird die zusätzliche Alters-vorsorge zu 70 Prozent angerechnet, bis zu einem Gesamtfreibetrag von aktuell 208 Euro (50-Prozent des Eckregelsatzes der Grundsicherung). Aus Sicht des Verbands ist es nicht gerechtfertigt, dass diese Regelung nicht auch für Ansprüche aus der gesetzli-chen Rentenversicherung gilt.

Generell positiv zu bewerten ist, dass ab dem 1. Ja-nuar 2019 auch diejenigen einen Zuschlag an per-sönlichen Entgeltpunkten erhalten sollen, die im Jahr 2014 keinen Zuschlag erhalten haben, da sie im 12. Kalendermonat keine Kindererziehungszeit im Rentenversicherungskonto hatten. Unter bestimmten Voraussetzungen soll ein besonderes Antragsrecht für die Fälle Abhilfe schaffen, die seit dem 1. Juli 2014 keinen Zuschlag an persönlichen Entgeltpunk-ten wegen Kindererziehung bekommen oder mit der jetzigen Ausweitung der Anrechnung von Kinderer-ziehungszeiten keinen Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten erhalten, weil pauschal auf die Er-ziehung in einem bestimmten Kalendermonat (Kin-dererziehung im 12. bzw. 24. Kalendermonat) abge-stellt wird. Die derzeitige, vom Sozialverband VdK kritisierte, Regelung führt zu Benachteiligungen etwa bei Adoptionen oder Kindererziehung im In-land nach Rückkehr aus dem Ausland, wenn die Adoption bzw. der Wohnsitzwechsel erst nach dem 12. bzw. 24. Kalendermonat nach dem Monat der Geburt erfolgte.

Auch hier ist jedoch kritisch anzumerken, dass die Voraussetzung dafür die Erziehung von mehr als zwei Kindern ist. Diese ungleiche rentenrechtliche Anerkennung der Erziehungsleistung ist aus Sicht des VdK nicht zu rechtfertigen. Auch alle adoptier-ten Kinder und die, die erst nach dem 12. bzw. 24. Kalendermonat ihren Wohnsitz nach Deutschland wechselten, müssen rentenrechtlich gleich behan-delt werden.

Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirt-schaftsforschung (DIW) tragen 48 Prozent der Kosten der „Mütterrente II“ die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten über ihre Rentenversicherungsbeiträge. 40 Prozent zahlen die Rentner, da die Ausgaben die üblichen Rentensteigerungen, die sich aus der Ren-tenanpassungsformel ergeben, bremsen. Die restli-chen zwölf Prozent finanzieren die Steuerzahler, da durch die höheren Beiträge zur Finanzierung der Mütterrente automatisch der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung steigt. Der Sozialverband VdK kritisiert, dass die Mütterrente II nicht vollständig aus Steuermitteln bezahlt werden soll. Es handelt sich dabei eindeutig um eine versicherungsfremde Leistung, da die Kindererziehung eine gesamtgesell-schaftliche Aufgabe darstellt. Der VdK unterstützt somit den Antrag der Fraktion DIE LINKE, dass die Gleichbewertung der Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rente aus Steuermitteln finanziert wird.

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5 Ausweitung der Gleitzone zur Entlastung von Geringverdienern bei den Sozialabgaben

Geringverdiener sollen bei den Sozialabgaben entlas-tet werden. Dazu wird die bisherige Gleitzone, in der Beschäftigte mit einem monatlichen Arbeitsentgelt von 450,01 bis 850,00 Euro verringerte Arbeitneh-merbeiträge zahlen, zu einem sozialversicherungs-rechtlichen Einstiegsbereich weiterentwickelt: Die Obergrenze der Beitragsentlastung wird auf 1300 Euro angehoben und es wird sichergestellt, dass die reduzierten Rentenversicherungsbeiträge nicht mehr zu geringeren Rentenleistungen führen. Davon profi-tieren ab Inkrafttreten des Gesetzes sowohl die bis-her in der Gleitzone bis 850 Euro beschäftigten Ar-beitnehmer als auch diejenigen im neuen Einstiegs-bereich bis 1300 Euro.

Bewertung des Sozialverbands VdK

Der Sozialverband VdK begrüßt grundsätzlich das Ziel, Geringverdiener bei den Lohnnebenkosten zu entlasten, ohne dass sich gleichzeitig ihre Renten-leistungen verringern. Die Ausweitung der Midi-Jobs mit einer Gleitzone von 450,01 bis 1300 Euro ist je-doch der falsche Ansatz. Es ist nicht zielführend, Jobs im Niedriglohnbereich durch Schwächung der

Finanzierung der Sozialversicherungssysteme dauer-haft zu fördern. Die Erhöhung der Attraktivität der Midi-Jobs ist ein falscher Anreiz im Hinblick auf die Finanzierungsgrundlage in der Sozialversicherung. Der Vorschlag entzieht der Rentenversicherung Ein-nahmen und erhöht ihre Ausgaben. Zudem sind viele Midi-Jobs nicht an Tarifverträge gebunden. Eine Ausweitung solche Beschäftigungsverhältnisse würde somit Unternehmen ohne Tarifbindung stär-ken. Zur gezielten Entlastung von Haushalten mit ge-ringen Einkommen sind dagegen Änderungen bei der Einkommensteuer das effektivere Mittel. Eine Er-höhung des Grundfreibetrags bei der Einkommens-steuer ist beispielsweise der geeignetere Weg.

Deshalb ist langfristig die Forderung des VdK „Ar-beit muss fair und auskömmlich bezahlt werden“, sodass alle Beschäftigten in die Lage versetzt wer-den, ihre Beiträge in die Sozialversicherung einzu-zahlen. Es braucht in diesem Zusammenhang einen Mindestlohn von über 12 Euro, damit die Arbeitneh-mer nach jahrzehntelanger Arbeit eine gesetzliche Rente erhalten, die oberhalb der Grundsicherung liegt. Zudem muss die Tarifbindung gestärkt werden.