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Die andere Welt

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DIE ANDERE WELT (The Other World)

von Murray Leinster

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Fritzheinz van Doornick

Dick Blair öffnete eine Grabstätte der Fünften Dynastie im Un-teren Ägypten und machte dabei die Feststellung, daß nur ein einziger Gegenstand durch Feuchtigkeit zerstört worden war – in einem Klima, das alle anderen in dem Grab befindlichen Dinge unversehrt erhalten hatte.

Als Dick Blair nach New York zurückkehrte, war er eine Zeitlang sehr beschäftigt, fand dann aber eines Abends doch die Gelegenheit, seinem Freund Tom Maltby eine Masse grünli-chen Staubes zu bringen. Dick hatte schon wieder etwas von der ägyptischen Sonnenbräune verloren; die Zivilisation begann ihn bereits zu langweilen, und vor allem klagte er über den in New York herrschenden Lärm.

„Das“, sagte er zu Maltby, „ist ein Häufchen Schmutz. Es ist mit Oxyden gefärbt und stellte früher einmal etwas dar, das vor mindestens 5000 Jahren von einem Ägypter hergestellt worden war. In unserem Museum verstehen wir es ausgezeichnet, Ge-genstände wiederherzustellen, die fast vollkommen zerstört wurden; aber wir benötigen zumindest einen Bruchteil von Me-tall, um daran arbeiten zu können. Die Röntgenstrahlen aber zeigen uns diesmal, daß hier jeder Metallrest vollkommen ver-schwunden ist.“

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Er reichte seinem Freund die Negative der mit den Röntgen-strahlen gemachten Aufnahmen. Sie ließen lediglich die Vertei-lung der dichteren Metalloxyde in dem grünen Staub erkennen.

Interessiert sah auch Maltby sich die Analyse an. „Wenn wir noch einen Splitter des ursprünglichen Metalls

hätten“, fuhr Dick fort, „würden wir einen Kontakt herstellen, den Splitter als Kathode benutzen und für die Dauer von 6 Mo-naten dauernd ein Viertelampere hindurchjagen, so daß sich die Oxyde ablösen, während das Metall seine ursprüngliche Form wieder annimmt. Es ist verwunderlich, welche großartigen Formen die Dinge dann wieder erhalten; wir entdecken mit dieser Methode sogar die einstmals an dem Gegenstand angebrachten Verzierungen wieder. Aber mit diesem Staub hier“, endete er, „können wir trotz aller technischen Hilfsmittel nichts mehr an-fangen.“

Dick Blair deutete hier eine Methode an, die gewöhnlich in Museen benutzt wird. Sofern nämlich das zerfressene Metall im Staub nicht ganz zerstört wurde, erhält man ausgezeichnete Rückgänge des Rostprozesses, und Gegenstände, die zuvor un-kenntlich waren, werden wieder so weit restauriert, daß man sie zur Schau stellen und zum Studium verwenden kann.

„Du hast doch ein System dieser Art in verbesserter Form ausgearbeitet“, deutete Dick Blair an.

Maltby nickte. „Die Sache schlägt zumindest in mein Fach“, meinte er.

„Ich kann einen Versuch mit diesem Staub unternehmen.“ Er war ein Ingenieur, der sich mit der Bekämpfung von elektroly-tischen Schäden befaßte, die durch Erdstrahlungen verursacht wurden. Jeder öffentliche Versorgungsbetrieb verfügte über mindestens einen Ingenieur, dessen Aufgabe darin bestand, Schäden der genannten Art zu verhindern, und Maltby war einer der besten unter ihnen.

Nachdem er den Staub gründlich betrachtet hatte, legte er ihn

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wieder zurück, um zwei Drinks zu mixen. Dick Blair setzte sich bequem hin.

„Dieser Staub ist jetzt offiziell dein Eigentum“, bemerkte er, „was auf meine Veranlassung zurückzuführen ist. Er kann früher einmal ein Kupfertopf gewesen sein, ein Tiegel oder etwas anderes. Ich kann mir aber nicht vorstellen, wie der betreffende Gegenstand verrostet ist. Der Ort war vollkom-men von der Wüste umgeben; dazu gab es kilometerweit kei-nen Tropfen Wasser. Das Grab war jedenfalls staubtrocken, und nichts anderes zeigte auch nur geringe Spuren von Feuchtigkeitsschäden. Ich frage mich, wo die Nässe herge-kommen sein kann.“

Maltby nippte an seinem Drink, und Dick fuhr fort: „Es fan-den sich noch weitere Absonderlichkeiten in diesem Grab. Sein Insasse war kein König, war aber für das Leben nach dem Tode in wahrhaft königlicher Weise aufgebahrt worden. In dem Grab befanden sich auch bedeutend mehr importierte Gegenstände, als man sich vorstellen kann. Da gab es beispielsweise Waren aus Zypern und Phönizien, aus Äthiopien und Nikene – natür-lich neben Dingen rein ägyptischer Herkunft. Die in dem Grab vorgefundenen Schriften sind recht eigenartig. Der Begrabene war einmal so etwas wie ein königlicher Physiker und Magier gewesen; außerdem war er ein Vetter des Pharaos. Unter den Dokumenten befindet sich ein Papyrus über medizinische Fragen, der noch großes Aufsehen erregen wird. Der Inhalt ist recht schwierig zu übersetzen, doch es ist unverkennbar, daß es sich hier um eine Beschreibung des Blutkreislaufs handelt – 4700 Jahre, ehe die modernen Menschen davon wußten! Eine andere Schrift ist noch verblüffender, denn sie beschreibt Tiere, die überhaupt nicht vorhanden sind. Am erstaunlichsten ist die Be-schreibung eines kleinen Pferdes mit 3 Zehen. Ich kann nur hinzufügen, daß der Eohyppos zu jener Zeit längst nicht mehr lebte. Wie kam der Mann nur auf eine solche Idee?“

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Maltby zuckte die Achseln. „Märchen müssen nicht immer falsch sein“, erwiderte er. „Versuche doch einmal, möglichst viele phantastische Behauptungen aufzustellen, und du wirst sehen, daß einige von ihnen sich bald als Wahrheit erweisen. Hingegen wirst du Schwierigkeiten haben, mir einzureden, daß es bereits vor 50 Jahrhunderten modernes Wissen gab, gleich-gültig, ob es in Papyri festgelegt wurde oder nicht.“

Dick Blair grinste. „Der alte Bursche im Grab hatte einen weiten Blick. Ich weiß nicht, ob du unterrichtet bist, daß es Pharaonen gab, die niemals Bürgerkriege erlebten und noch viel weniger Kriege, die nach außen geführt werden mußten. Der Mann im Grab erklärt in seinen hinterlassenen Schriften, daß er diese Dinge für seinen Vetter geregelt habe. Jeder, der auch nur einen schlechten Gedanken über den König hegte, starb auf ge-heimnisvolle Weise. Auch prahlte er über die Gemeinheiten, die er gegen den König von Zypern verübte. Es war geheimnisvoll, aber modern.“

Maltby runzelte die Stirn, und Dick fuhr fort: „Die so prahle-risch gehaltenen Schriften in seinem Grab berichten, daß der König von Zypern eine hübsche Tochter besaß, die der Pharao von ihrem Vater für seinen Harem anforderte. Der König von Zypern wies ihn ab, und kurz darauf verschwand er zusammen mit seinem ganzen Hofstaat in einer Quecksilberlache. Dieser Bursche nun, dessen Grab ich öffnete, behauptet, daß er dieses Wunder vollbracht habe. Der Sohn des Königs von Zypern be-reitete sich auf einen Krieg vor, doch statt dessen kam er mit seiner ganzen Familie und der hübschen Prinzessin auf geheim-nisvolle Art in einem Palast um, aus dessen Fenstern die Flam-men schlugen. Der nächste Herrscher war dann unterwürfiger und schickte dem Pharao seinen Tribut. Ähnliche Dinge ereig-neten sich übrigens in Phönizien, Äthiopien und Nikene.“

Er brachte die Teile einer Maschine angeschleppt, die er auseinandergenommen hatte, um sie für seine Rostumkeh-

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rungsversuche in einem bestimmten, für Gebäude gedachten Prozeß anzuwenden. Der Apparat hatte nur die übliche Labor-größe, mußte aber für den Staub genügen. Er befand sich in einem Etui aus Kunststoff, an dessen Seiten Elektroden ange-bracht waren.

Sorgfältig legte er den Staub in den Kasten. Ein Oszillator mit hoher Frequenz begann zu arbeiten.

„In diesen Staubresten befindet sich keine Metallart, die als Kathode wirken könnte“, meinte er nach einer Weile. „Doch es geht auch so. Ich werde den Staub zunächst mit Wellen durch-setzen, wodurch es zu einer Sonderung zwischen den einzelnen Bestandteilen – nämlich Mitte, Außenseite und Oberfläche – des ursprünglichen Gegenstandes kommt. Befindet sich tatsäch-lich Feuchtigkeit in dem Staub, dann wird sich daraus ein dau-erndes Fließen des Stromes aus allen Richtungen zum Mittel-punkt ergeben. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich dann ir-gendein Teil des Metalls zu seiner ursprünglichen Form wieder zusammenschließt. Möglicherweise geschieht dies auch bei mehreren, ja, es gibt vielleicht sogar Dutzende von Mittelpunk-ten immer dort, wo das Oxyd am dichtesten ist. Ich bin über-zeugt, daß das Ergebnis recht interessant sein wird, wenn es auch seine Zeit brauchen wird.“

„Im Museum“, meinte Dick, „rechnen wir mit 6 Monaten.“ „Ich würde 2 Wochen sagen“, sagte Maltby trocken. „Mein

Stromzufluß ist von den vorhandenen Ionen abhängig, nicht aber von der Kraft, den man ihm zuführt. Ich führe dem Appa-rat überhaupt keinen Strom zu, denn dieser erzeugt sich selbst.“

Er drehte am Oszillator und säuberte sich danach die Hände. „Jetzt müssen wir abwarten. Noch einen Drink?“

„N… nein“, erwiderte Dick. „Was wolltest du vorhin mit dieser Quecksilbergeschichte andeuten? Es ist sonderbar, daß sich so etwas in New York zugetragen haben soll. Als man mir von dem Fall aus Alexandria erzählte, wollte ich ihm nicht

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glauben, obgleich alle Einwohner es taten. Ich finde es absurd, die Angelegenheit mit einem alten Papyrus in Verbindung zu bringen, der denselben Unsinn berichtet.“

„Ich habe in dieser Hinsicht keine wesentlichen Überlegun-gen angestellt“, erwiderte Maltby lächelnd. „Du sprachst von einem verschwundenen Mädchen und Quecksilber, erwähntest einen vergessenen König und sprachst abermals von Quecksil-ber. Dabei fiel mir Sam Todd ein, der mir neulich von einem Safe erzählte, der vor knapp einem Monat in einer Parfümerie-fabrik erbrochen wurde. Es verschwanden zahlreiche Flaschen mit Ölessenzen, von denen jede Unze Hunderte von Dollar wert war, in Quecksilberlachen. Das kam mir seltsam vor, und des-halb dachte ich an gewisse Zusammenhänge.“

„Ich möchte gern einmal mit diesem Sam Todd sprechen“, sagte Dick nachdenklich. „Ich hasse es, für dumm verkauft zu werden, aber das alles ist wirklich recht seltsam.“

Er machte die Bekanntschaft von Sam Todd und entdeckte in ihm eine verwandte Seele. Sein ganzer Ehrgeiz ging dahin, ein großer Kriminologe zu werden, der seinen Kunden etwas bieten konnte.

Dann machte er die Bekanntschaft von Nancy Holt. Sie wurde von Sam Todd beschäftigt und mußte für ihn Nachforschungen anstellen. Später einmal, wenn Sam sein eigenes Büro eröffnet hatte, würde sie seinem Stab angehören.

*

Inzwischen ging die elektrolytische Wiederherstellung des Ge-genstands in dem Plastikbehälter weiter. Nach 4 Tagen ließen die Röntgenstrahlen im Staub ein halbes Dutzend kleiner Stück-chen festen Metalles erkennen; nach 6 Tagen hatten sich die Stückchen aneinandergefügt. Drei von ihnen stellten den Be-ginn einer runden flachen Scheibe dar, während die anderen

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von ihr in seltsam verlaufenden Winkeln getrennt waren. Acht Tage später aber waren sie ineinander aufgegangen.

Auf diese Weise entstand eine unregelmäßige Scheibe, die einen Durchmesser von etwa 10 Zentimeter hatte. Sie lief aus in einen kleinen Stab, von dem sich zwei noch kleinere Seitenarme abhoben.

Zehn Tage später war der Gegenstand zu erkennen; er hatte sich zu einem Zeremonienspiegel entwickelt, der auf einem kreuzförmigen Griff, einer sogenannten Crux ansata, saß. Spie-gel dieser und ähnlicher Art hatten zur Ausstattung der ägypti-schen Pharaonen gehört – von der Vergangenheit her bis in das Zeitalter Alexanders des Großen. Sie bedeuteten, daß der Pha-rao Herr nicht nur dieser Welt, sondern auch des Jenseits sein sollte.

Die Umrisse des Spiegels waren bereits deutlich zu erken-nen. Zwei Tage später aber zeigten die Röntgenstrahlen einen seltsamen Schatten, dessen Bedeutung Maltby unverständlich war. Auch am vierzehnten Tage begriff er noch nicht, was die-ser Schatten bedeuten sollte, doch die Röntgenstrahlen ließen ihn erkennen, daß der gesamte Staub seine ursprüngliche Form wieder angenommen hatte. Der Gegenstand war damit so voll-kommen wiederhergestellt, wie Maltbys Apparat es fertigbrin-gen konnte.

Er rief Dick an, der sich sofort zu ihm begab. „Verdammt“, sagte er, als er atemlos eintraf, „ich wollte

Nancy mitbringen, aber Sam bat sie, für ihn einige Aufnahmen im Polizeimuseum zu machen. Jetzt ist sie dabei, für die Foto-grafien die tollsten Mordinstrumente zu katalogisieren.“

„Dieser Staub“, sagte Maltby sanft, ohne auf seine Worte einzugehen, „scheint sich zu einer Crux ansata entwickelt zu haben. Ist das nicht interessant?“

„Meines Wissens gab es solche Kreuze zu jener Zeit noch gar nicht“, meinte Dick verwundert. „Außerdem durfte der Bur-

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sche so ein Ding nicht in seinem Grab haben, denn er war doch kein König!“

„Eine Scheibe, die sich gleichfalls aus dem Staub gebildet hat, ist mir unerklärlich“, fuhr Maltby fort. „Sie entwickelte sich erst am Ende des Prozesses und ist strahlenundurchlässig. Kannst du dir vorstellen, um was es sich handeln könnte?“

Dick, der mit seinen Gedanken noch bei Nancy war, schüt-telte den Kopf.

Als Maltby dann aber den Staub aus dem Behälter holte, er-wachte sein Interesse. Er schob dankend ein ihm angebotenes Messer zurück und nahm einen hölzernen Spatel, um den Staub herauszuholen, der den geschaffenen Gegenstand dicht umgab. Gründlich betrachtete er die Negative der Röntgenaufnahmen und formte den Staub genau nach dieser Vorlage. Dann machte er seltsame, fast chirurgische Einschnitte in die Masse und fegte alle Staubteilchen sauber zusammen. Sekunden später entnahm er ihnen das kupferfarbene Kreuz, wie es von den Strahlen ge-zeigt worden war.

Verwundert blickte er es an. „Es ist vollkommen“, sagte er. „Auch die erwähnte Glasplatte fehlt nicht.“

Die 10 Zentimeter große Scheibe hatte zunächst wie eine fe-ste Metallmasse ausgesehen. Jetzt aber ließ sich erkennen, daß sie handbreit und handdick sowie in der Mitte vollkommen durchsichtig war. Man konnte sie durchblicken.

Dick legte den Gegenstand zur Seite und wandte sich der zweiten, noch etwa 15 Zentimeter großen Sache zu, die nach seiner Meinung noch immer im Staub vergraben sein mußte. Doch diese Sache – einen Namen wußten sie ihr nicht zu geben – war nicht vorhanden. Minutenlang suchte er, bis er den verblei-benden Staub in so kleine Teile zerlegt hatte, daß in ihm nichts mehr verborgen sein konnte.

„Seltsam“, sagte Dick dann. „Wir werden die Röntgenstrah-len später noch einmal benutzen müssen. Jetzt möchte ich mir

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dieses Ding hier gründlich ansehen. Die Epoche der 5. Dynastie dünkt mich ein außerordentlich frühes Zeitalter für Glas zu sein. Glas wurde doch erst sehr viel später, und zwar zur Zeit der Römer, entdeckt. Vielleicht aber ist es ein Kristall …“

Er hob den eigenartigen Gegenstand ungeduldig auf und säu-berte zunächst die durchsichtige Oberfläche. Dann griff er hinter die Scheibe, um auch deren Rückseite zu reinigen – und seine Züge drückten Verwunderung aus. Er konnte nämlich den hin-teren Teil des Spiegels fühlen, denn er war aus Metall. Dafür aber konnte er seine Finger nicht sehen, sondern blickte einfach durch sie hindurch.

So hielt er den Spiegel an die Augen, betrachtete sich Maltby und sah durch ihn bis auf die andere Seite des Raumes …

Kopfschüttelnd griff er nach einem Buch und schob es hinter das angebliche Glas. Der dicke Band behinderte die Sicht in keiner Weise, denn er schien vollkommen durchsichtig gewor-den zu sein. Nach wie vor erblickte er Maltby und durch ihn die andere Seite des Raumes.

Maltby stieß einen verwunderten Ruf aus. „Hier, schau dir das einmal an“, sagte er scharf. Er nahm Dick die Crux ansata fort und drehte sie um, legte

sie mit der glänzenden Seite auf den Schreibtisch – und dann kam es zu einem erstaunlichen optischen Phänomen.

Eine dünne Oberschicht der Schreibtischplatte schien sich um 15 Zentimeter über ihr Niveau gehoben zu haben. Unter ihr wurde der kupferne Rücken der Scheibe erkenntlich, anschlie-ßend folgte ein leerer Raum und danach wieder ein Bruchteil der Tischplatte.

Es war natürlich unmöglich – und doch mußten sie sich zu der Tatsache bekennen, daß ihre Augen sie nicht belogen.

„Man kann durch die Platte blicken“, sagte Maltby und war blaß geworden. „Außerdem gibt es dort eine Stelle, an der sich das Licht zu brechen scheint. Es springt von der Vorderseite der

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Scheibe bis an einen Fleck, der etwa 15 Zentimeter seitlich liegt. Es sieht hierdurch aus, als ob die Gegenstände uns um einiges näher gerückt worden wären.“

Er nahm die Scheibe wieder hoch und hielt sie mit der ande-ren Seite über den Schreibtisch. Wieder schien die Platte etwas näher gekommen zu sein. Er beugte sich über das seltsame In-strument und stieß erneut einen Ruf des Staunens aus, denn nunmehr konnte er sämtliche Holzfasern und Einzelteile der Holzsubstanz wie unter einem Mikroskop erkennen. Als er dann den kleinen Apparat noch tiefer senkte, blickte er durch ihn in den Schreibtisch hinein, betrachtete den Inhalt der ober-sten Lade, ohne sie geöffnet zu haben – betrachtete ihn von au-ßen …

Sofort begannen die beiden ein erregtes Gespräch, und 20 Minuten lang machten sie die unmöglichsten Experimente. Doch die Tatsache blieb bestehen: Das Kristall, oder wie immer man es nennen wollte, hatte fast die gleichen Eigenschaften wie die Röntgenstrahlen.

„Was aber mag geschehen, wenn man etwas in die Öffnung schiebt, die sich zwischen Kristall und Rückwand befindet?“ fragte Dick Blair.

Vorsichtig schob er einen Finger in den Zwischenraum und betrachtete ihn dann durch das unglaublich alte Instrument. Sein Finger schien sich zunächst um einige Zentimeter zu nä-hern, und dann geschah das Unmögliche: Er sah in seinen eige-nen Finger hinein, ohne etwas dabei zu verspüren, erblickte das Fleisch, sah den Knochen, die Nerven, Muskeln und Blutge-fäße.

Kopfschüttelnd zog er die Hand zurück und sah Maltby an. Dieser war blasser als Dick selbst.

„Ich habe von der Seite her auf deinen Finger geblickt“, stammelte er mühsam. „Sein Ende verschwand, und dort, wo er verschwand, war es, als ob Quecksilber tropfe!“

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Sie zweifelten an ihrem eigenen Verstand, und doch ließ sich die gegebene Tatsache nicht leugnen. Sie schoben einen Blei-stift in den ungreifbaren Platz in der Mitte des Zwischenraumes, und der Bleistift verschwand. Von der Seite her betrachtet schien das verschwundene Stück ein Tropfen Quecksilber zu sein, der sich dann bewegte, wenn man den Bleistift drehte. Von der vorderen Seite der Vorrichtung aber blickten sie in die inneren Bestandteile des Stiftes.

Jetzt schoben sie eine Uhr in den Zwischenraum. Dick er-kannte die Hälfte der Maschinerie, und als die Uhr zurückgezo-gen wurde, war sie unversehrt. Und dann war es Dick, der ohne vorherige Ankündigung seine ganze Hand in den rätselhaften Raum tauchte. Er blickte dieselbe an und sah die Knochen, Muskeln und Adern, während Maltby von der Seite her eine Art Quecksilberreflex zu erkennen glaubte.

Plötzlich sagte Dick mit seltsamer Stimme: „Ich fühle etwas!“ Einen Augenblick stand er bewegungslos da, um dann seine Hand hervorzuziehen.

Er hielt etwas zwischen den Fingern. Es war ein grünes Blatt, das anscheinend frisch von einem Baum gepflückt worden war. Es war auch ein ganz eindeutiges, unverkennbares Blatt, aber zwei Dinge an ihm waren seltsam: Es war aus dem Nichts, in einer im dritten Stock gelegenen Wohnung gepflückt worden, wo es überhaupt keine grünen Blätter gab, und stammte zwei-tens von einer Pflanze, die kein Mensch auf der Erde kannte.

Dick fand heraus, daß das Ding, das durch Schreibtische, durch Knochen und Fleisch blicken konnte, von seinem lang verstorbenen Besitzer vermutlich benutzt worden war, um Ana-tomie zu studieren. Damit wurde auch die 5000 Jahre alte Be-schreibung des Blutkreislaufs verständlich. Man konnte mit dem kleinen Apparat direkt in einen lebenden Körper hineinse-hen.

Maltby begann zu philosophieren und Betrachtungen anzu-

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stellen, worauf Dick bemerkte, daß die Crux ansata als Symbol der Herrschaft über die andere Welt einmal eine wichtige Be-deutung gehabt habe.

Folglich mußte es irgendeine andere Welt geben, die diese Erde fortsetzte oder ergänzte. Über die andere Welt hatte man Spekulationen angestellt, seit Plato in den Windeln gelegen hatte, und es war offensichtlich, daß dieses grüne Blatt dieser Welt entstammte.

Dann sagte Dick, daß er seine Hand noch einmal in den Zwi-schenraum hineinführen werde, um zu sehen, was sich dann ereigne.

Er führte seine Absicht sofort durch und brach einen ganzen Zweig mit Blättern von unsichtbarer, unbekannter Herkunft ab, um ihn zurückzubringen. Es war für beide ein unheimliches Gefühl, sich in einem hellbeleuchteten und gutmöblierten Raum zu befinden, in die Leere zu greifen und dann aus dem Nichts einen Zweig zu holen, dessen Blätter denjenigen der Erde voll-kommen unähnlich waren.

Dieser Griff in das Unsichtbare aber brachte noch etwas an-deres mit. Um den Zweig hatte sich ein winziges lebendes Ding gerollt und sah aus, als ob es eben von einem Blatt gefressen habe. Es besaß riesige Augen und durchsichtige Flügel.

Im Schein des hellen Lichtes blinzelte es, rollte sich los und erhob sich in die Luft. Die beiden sahen genau, wie das Tier dahinschwebte und schließlich zum Fenster hinausflog. Es war sehr klein und harmlos, war aber eine Schlange gewesen, eine geflügelte Schlange …

„Aber geflügelte Schlangen sind auf der Erde doch ganz un-bekannt!“

Die beiden Männer sprachen aufgeregt miteinander, als die Glocke läutete und Sam Todd aufgeregt in das Zimmer gestürzt kam. Sein Gesicht war aschgrau.

„Dick“, sagte er mühsam, „ich suchte Sie. Ich war mit Nancy

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im Polizeimuseum. Wir aßen eine Kleinigkeit, und dann rief ich nach einer Taxe. Plötzlich roch ich etwas Seltsames. Ich drehte mich hastig um, denn ich roch nicht das Parfüm, das Nancy gewöhnlich benutzte, sondern etwas anderes. Und dann sah ich, wie Nancy am Verschwinden war … Ihr Oberkörper hatte sich bereits aufgelöst, und um sie bildete sich eine große Lache Quecksilber. Dasselbe fiel zu Boden, und dann war von Nancy nichts mehr zu sehen. Ich habe vielleicht den Verstand verloren, kann aber beschwören, daß dies tatsächlich geschehen ist!“

Dick Blair stieß wütende und erregte Schreie aus, denn er wußte ebenso gut wie Sam, daß keine Person, die jemals im Quecksilber verschwunden war, den Rückweg zur Erde gefun-den hatte.

Sam hob plötzlich den Kopf. „Ein seltsamer Geruch“, sagte er mühsam. „Mein Gott, und

denselben Geruch atme ich jetzt wieder ein. Es ist derselbe Duft, der in meine Nase stieg, als Nancy verschwand.“

Jetzt rochen es auch Dick und Maltby, die zuvor in ihrer Er-regung nicht darauf geachtet hatten. Die Ursache war deutlich zu erkennen. Der Geruch kam von der Crux ansata, und der von ihr ausströmende Duft war der Geruch eines Urwaldes bei Nacht – im Herzen von New York City.

*

Drei Tage lang arbeitete Maltby wie ein Besessener, während Dick Blair glaubte, den Verstand verlieren zu müssen. Am schlimmsten war die Tatsache, daß Maltby nichts versprechen konnte.

Er wagte es nicht, irgendeinen Teil des geheimnisvollen In-strumentes zu zerstören, das ihnen aus der Vergangenheit zuge-kommen war. Er mußte diesen Gegenstand analysieren, ohne ihn irgendwie zu beschädigen. So stellte er denn nach mehreren

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Versuchen fest, daß das Instrument aus Wismutbronze, aus Kupfer und Wismut bestand. Bronze enthält Zink oder Zinn, doch nur eine dieser Substanzen war hier eingeschmolzen, und das war die Wismut-Kupfer-Legierung. Die mikroskopische Untersuchung ließ erkennen, daß an der feinen Linie, die den durchsichtigen und undurchsichtigen Teil des Instrumentes trennte, eine Unregelmäßigkeit vorhanden war. Hier schien es eine einzige Stelle zu geben, an der das Metall ein Zwischen-stadium durchmachte. Es war nicht mehr das Metall des Grif-fes, aber auch noch nicht die rätselhafte Oberfläche, mit deren Hilfe man feste Gegenstände durchblicken konnte.

Hier also befand sich der Schlüssel des Rätsels. Maltby ar-beitete 24 Stunden lang. Dann hatte er einen durchsichtigen Ring von Zentimetergröße in Form einer flachen Scheibe aus einer Legierung von Kupfer und Wismut hergestellt. Dieser Ring war nur eine Nachahmung des Crux-ansata-Effektes, re-produzierte deshalb auch nur Teilwirkungen derselben.

Maltby hielt sein Werk an das Auge und erkannte zunächst Baumzweige und Blätter, die von einer nicht sichtbaren Seite her von Sonnenstrahlen beschienen wurden. Versuchsweise berührte er dann mit einer Bleistiftspitze die durchsichtige Oberfläche des Guckloches, aber nichts geschah. Die durch-sichtige Oberfläche war undurchdringlich.

Er rief Sam Todd an, bat ihn um sein Kommen und ersuchte ihn, auch Dick Blair mitzubringen. Dann arbeitete er weiter.

Als die beiden eintrafen, taumelte Maltby vor Müdigkeit. Doch inzwischen hatte er eine zweite Kupfer-Wismut-Scheibe hergestellt, die diesmal undurchsichtig war. An einer bestimm-ten Stelle konnte man einen Bleistift hindurchstecken, worauf derselbe verschwand. Er konnte aber mühelos wieder zurück-gezogen werden.

„Ich habe erst einen Anfang gemacht“, sagte Maltby sach-lich. „Ich nehme an, daß die andere Welt den gleichen Raum

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einnimmt wie die Erde und daß es nur eine Frage der Lichtbeu-gung ist, in diese andere Welt zu kommen und sie auch wieder zu verlassen. Das Licht muß in einem bestimmten, uns gemein-hin fast unvorstellbaren Winkel gebrochen werden. Ich weiß, das, was ich da ausführe, ist nur schwer verständlich, aber ich bin so müde, daß ich nicht mehr logisch denken kann.“

„Was hast du nun für uns fertiggemacht?“ fragte Dick ge-spannt.

„Ich habe ein Guckloch geschaffen, durch das man in die an-dere Welt blicken kann, und dazu eine Art Raum hergestellt, durch den Gegenstände in die andere Welt geschickt werden können. Jetzt weiß ich, wie ich vorzugehen habe. Wenn ich wach bleibe und nicht einschlafe, werde ich ein Tor schaffen, durch das auch Menschen in die andere Welt eindringen kön-nen.“

„Dann arbeite schnell“, bat Dick erregt. „Nancy ist dort, und wir müssen ihr helfen. Du mußt sofort beginnen!“

„Gewiß“, antwortete Maltby gähnend, „ich bin nur entsetz-lich müde. Ich schlage vor, zunächst einmal dieses Guckloch an euch zu nehmen, euch mit ihm an einen hochgelegenen Ort zu begeben und von dort aus in die andere Welt zu schauen. Ich werde inzwischen an dem Tor arbeiten.“

„Und ich werde für die nötigen Waffen sorgen“, erklärte Sam Todd.

„Wieviel Zeit wirst du dafür benötigen?“ erkundigte Dick sich bei Maltby.

„Drei oder vier Stunden.“ Die drei Männer trennten sich sofort. Verärgert begab Dick

sich zum Empire State Building und fuhr dort bis zur obersten Terrasse. Dort hielt er wie ein Wahnsinniger ein kleines Stück Kupferlegierung an sein Auge und blickte in die andere Welt.

Unter ihm breitete sich ein Gebiet aus, daß der Halbinsel Manhattan in Form und Aussehen vollkommen glich. Doch

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dieses Land war mit Bäumen bedeckt, deren Blätter nicht zu erkennen waren. Im Süden, wo in der wirklichen Welt Häuser zu finden waren, befanden sich Sümpfe; wo hier sich Straßen erstreckten, ergossen in jener Welt sich rauschende Ströme.

Zuerst ließ sich keine Spur eines menschlichen Wesens er-kennen. Dann aber erblickte er eine große, offenbar aus Ziegeln erbaute Villa, die in der Mitte eines gutgepflegten Rasens lag. Das Gebäude war jedoch zu weit entfernt und befand sich an der Brooklynküste, so daß sich etwa vorhandenes Leben von hier aus nicht feststellen ließ. Hier und dort auf Manhattan Is-land erblickte er Pfade, die sich scheinbar zufällig durch die Wälder zogen.

Dann fiel ihm plötzlich eine Bewegung auf einem der Pfade auf. Ein von Pferden gezogener Wagen rollte zwischen riesigen Baumstämmen dahin. Zwei menschliche Gestalten saßen auf dem Fahrzeug. Erst glaubte Dick, daß sie nackt seien, erkannte dann aber, daß sie Lendenschurze trugen.

Hinter dem Wagen lief ein vierbeiniges Wesen, das zu groß war, um ein Hund zu sein. Dann bewegte sich das Fahrzeug um eine Wegbiegung, und Dick verlor es aus den Augen.

Dick verließ das Empire Building und begab sich auf das Hochhaus von Radio City. Von hier aus erblickte er gepflügte Felder, die ihm zuvor verborgen gewesen waren – noch mehr: Inmitten der Wildnis spiegelte sich das Sonnenlicht auf weiten Grasflächen wider. Es sah aus, als ob hier ungezählte Treibhäu-ser erbaut worden wären, um die Bevölkerung einer kleinen Stadt mit Gemüse zu versorgen. Dick glaubte auch, zwei Pferde zu erkennen, die Pflüge hinter sich herzogen, war in dieser Be-ziehung jedoch angesichts der großen Entfernung seiner Sache nicht ganz sicher.

Diese andere Welt lag jenseits der Erde, die der Menschheit bekannt war, in einem größeren Kosmos, der den Menschen vorerst noch unbekannt blieb. Dick konnte sich jetzt einige

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Vorstellungen machen von der schrecklichen Bedeutung, die diese andere Welt für die Erde haben konnte.

Bereits vor undenklichen Zeiten mochten einzelne Menschen einen Weg gefunden haben, der ihnen gestattete, sich zwischen den beiden Welten zu bewegen. Menschen also waren es, die sich in diese andere Welt begeben hatten, Menschen, die die Möglichkeit hatten, jederzeit zur Erde zurückzukehren, wann immer und von wo sie es wollten. Und der Mensch ist das räu-berischste aller Geschöpfe, dessen liebste Beute andere Ge-schöpfe sind.

Die erste Entdeckung dieser anderen Welt fiel unzweifelhaft in vorgeschichtliche Zeiten, als das Herz der Zivilisation sich in Ägypten befand. Damals war es vermutlich ein Gelehrter oder Zauberer jenes Zeitalters gewesen, der als erster die Reise zwi-schen den Welten gemacht hatte. Vielleicht hatte er seinem Kö-nig über die erstaunliche Entdeckung berichtet, worauf der Kö-nig ihn umbringen ließ, um dieses Wissen für sich allein zu be-wahren.

Anfänglich war dem König diese andere Welt wahrschein-lich als ein sicherer Zufluchtsort vor rebellierenden Adeligen oder Aufständischen erschienen. Ein König, der durch seine Tyrannei vom Thron gestoßen worden war, konnte sich in die andere Welt flüchten und war dort vor seinen Feinden in Sicher-heit. Er konnte seine Frauen und Sklaven mitnehmen und sich einen Palast erbauen lassen, in dem er dann ruhig sein Leben verbrachte.

Er war maßlos erregt, als er zurück zu Maltby kam. Sam Todd traf fast gleichzeitig mit ihm ein. Er hatte Waffen mitge-bracht und begann, sie Dick zu zeigen und dabei Pläne zu ent-werfen.

Grimmig schüttelte Dick den Kopf. „Ich werde allein gehen, Sam. Ich werde das Tor durchschreiten, sobald Maltby es fer-tiggestellt hat. Ihr beide müßt zurückbleiben, denn es kann sein,

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daß ich Hilfe benötige. Folglich muß jemand hier auf der Erde sein, der mich durch das Guckloch beobachtet, um mir Unter-stützung zu bringen, sobald ich diese brauche. Außerdem“, setzte er nachdenklich hinzu, „muß da jemand sein, der die Be-hörden benachrichtigt und sie gleichfalls um Hilfe bittet Wer sollte das wohl tun, wenn wir beide gleichzeitig aufbrechen wollten?“

„Die Behörden benachrichtigen?“ wiederholte Sam mit iro-nischem Gesicht. „Wie lange würde es dann wohl dauern, bis ich in einer Gummizelle gelandet wäre? Es würde mir vielleicht gelingen, die Leute zu überzeugen, daß ich nicht wahnsinnig bin, aber dazu wären gewiß Wochen erforderlich. Und wenn sie dann festgestellt hätten, daß dieses Guckloch in eine andere Welt kein fauler Zauber ist, dann würden sie sich zunächst ein-mal mit ihren vorgesetzten Dienststellen in Verbindung setzen, die dann ihrerseits überzeugt werden müßten. Dann würden sie vermutlich beschließen, daß nach demokratischen Gepflogen-heiten ein Beobachter und ein Gesandter auszuschicken seien. Nein, Dick, erst wollen wir Naney zurückholen, und dann wer-den wir über das andere reden.“

„Auf alle Fälle möchte ich, daß Sie zurückbleiben, um mir zu helfen“, wiederholte Dick. „Sie wissen genau, daß Sie besser dazu in der Lage sind als Maltby. Sie verfügen über mehr Geld als er und haben dazu einen wissenschaftlichen Grund, diese Untersuchung durchzuführen. Schauen Sie mal her.“

Er breitete die Notizen aus, die er über die Topographie der anderen Welt gemacht hatte. Mit ihnen war es möglich, die ent-sprechenden Vergleiche zwischen der Erde und der anderen Welt anzustellen.

Sam sah sich die Schriftstücke an und mußte nun zugeben, daß Dick recht hatte. Er sah ein, daß es Wahnsinn gewesen wäre, zu warten, bis sie von irgendeiner Behörde die Erlaubnis zum Handeln bekommen hätten. Sie mußten ganz einfach auf eigene

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Faust ausziehen, mußten sich in das Abenteuer stürzen und versuchen, Nancy zu helfen. Wahrscheinlich gab es auch viele andere, die Hilfe benötigten. Jedenfalls war äußerste Eile ge-boten.

Dann brachte Maltby eine Platte aufgerollter Kupferfolie herbei. „Hier ist das, was du suchst“, sagte er dabei. „Es ist nur ein Eingang. Man kann nicht hindurchschauen, aber hindurch-gehen.“

„Ich werde an jener Stelle in die andere Welt steigen, an der Nancy verschwunden ist“, erklärte Dick grimmig. „Wir werden eine Taxe nehmen, und Sie, Sam, werden mir den betreffenden Ort zeigen.“

„Einverstanden“, nickte dieser. „Jetzt aber müssen wir noch eine Möglichkeit ausfindig machen, damit wir uns auch mitein-ander verständigen können – von jener Welt aus in die unsere.“

„Darüber können wir uns auch unterwegs noch unterhalten“, rief Dick drängend aus. „Kommen Sie!“

Maltby sagte: „Diese Folie muß an jener Stelle aufgerollt werden, wo man die andere Welt betreten will.“

„Gut, ich nehme das Tor an mich. Los jetzt!“ Sam Todd steckte seine Waffen wieder in den Sack, in dem

er sie hergebracht hatte. Sie schritten die Treppe hinab, und die Straße kam ihnen ganz alltäglich vor. Dick trug die aufgerollte Folie. Sie bestiegen eine Taxe und fuhren in die Stadt. Maltby quetschte sich in eine Ecke und schlief sofort ein.

An der 30. Straße öffnete Sam seinen Sack und übergab Dick dessen Inhalt. In ihm befanden sich 2 automatische Pistolen, die dazu gehörende Munition, ein automatisches Schrotgewehr mit abgesägtem Lauf, das mit Rehposten geladen werden mußte, zwei kleine Tränengasbomben und eine Feldflasche.

Die Taxe hielt, und der Fahrer drehte sich um. „Wir steigen nicht aus“, sagte Sam und deutete nach vorn.

„Hat jener Wagen dort nicht einen Plattfuß?“

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Der Fahrer blickte in die angedeutete Richtung, und Sam fand die Zeit, die Kupferfolie aufzurollen.

„Denken Sie immer daran, daß Sie mir eine Botschaft zu-kommen lassen müssen“, sagte er dabei.

Dick nickte und berührte seine Taschen, in denen er die Waf-fen und die Munition untergebracht hatte. Die Flinte mit dem abgesägten Lauf nahm er in die Hand.

Ohne ein Wort zu sagen, betrat er die Kupferfolie und sank nach unten.

Maltby schlief nach wie vor mit erschöpften Zügen. Er sah nicht, was geschah.

Plötzlich war Dick Blair in einer Quecksilberlache ver-schwunden.

*

In hellem Sonnenschein fand er sich wieder. Seine Augen sahen riesige Bäume, die fast die Höhe der Gebäude erreichten, die ihn vorher umgeben hatten. Er stand inmitten einiger Sträucher und erblickte dann eine rohe, aus Brettern erbaute Plattform. Auf ihr stand eine Art Käfig mit einer jetzt geöffneten Tür. Diese Tür konnte von innen offenbar nicht geöffnet werden. Der Käfig war leer, und es bestand eigentlich kein Zweifel, daß er von Menschen erbaut worden war.

Der Himmel war blau. Etwas Winziges flog in Dicks Nähe, doch die Gestalt war nicht diejenige eines Vogels. Etwas heulte plötzlich auf und machte einen schrecklichen Lärm. Dann watschelte ein gefiedertes Wesen mit entenähnlichem Gang dahin, blieb stehen, heulte noch einmal erschreckend auf und stolperte dann weiter, als ob es einen bestimmten Auftrag aus-zuführen habe. Das seltsame Wesen folgte einer Wagenspur, die sich durch den Wald zog und sorgsam die Nähe von Bäumen mied.

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Dick sah sich die Radspuren gründlich an. Sie mußten von hölzernen Rädern stammen, die keinerlei Metallbeschlag trugen. Auch die deutlich erkennbaren Pferdespuren ließen erkennen, daß sie von unbeschlagenen Hufen verursacht worden waren. Im weißen Staub dieser seltsamen Straße entdeckte Dick noch weitere Spuren, die von riesigen Hunden stammen mußten. Der junge Gelehrte dachte an Doggen.

Ein rhythmisches und unharmonisches Kreischen drang an sein Ohr, und er wandte sich um. Hufschläge wurden hörbar, und dann erschien auf der Straße ein Wagen. Es war ein normal gebauter Wagen mit einem gewöhnliches Pferd. Ein halbnack-ter Mann, der nur mit einem Lendenschurz bekleidet war und dem die Haare auf die Schultern fielen und der einen unge-pflegten Bart trug, saß auf dem Bock und führte das Pferd. Hin-ter ihm lief ein Tier, das aussah wie ein riesiger Wolf.

Mit erhobener Waffe lief Dick dem Wagen entgegen. „Halten Sie an“, sagte er kühl. „Ich möchte eine Auskunft

haben!“ Der bärtige Mann sah auf und fragte: „Mein Gott, wo kommen

Sie her?“ Er war weniger erschreckt als verwundert. Sein Mund öffnete sich, und er blickte Dick maßlos verblüfft an. Das Pferd blieb stehen.

Das Tier kam um den Wagen herum und beschnüffelte Dick. Es sah einem Wolf sehr ähnlich, stark behaart, mit scharfer Nase und hochstehenden Ohren. Doch noch niemals hatte ein Wolf Augen von ähnlich ausdrucksvoller Intelligenz besessen.

Das Tier blickte Dick abschätzend an. Offenbar dachte es nach, wie ein Mensch nachdenkt, dem etwas Seltsames begegnet. Dann wandte es den Kopf und blickte den Mann an, wobei es ein wenig knurrte. Das leise Geräusch klang beängstigend.

Der bärtige Mann wurde blaß. Langsam und furchtlos lief das Tier um Dick herum. Seine Augen waren angespannt. Dick hob die Waffe, worauf das Tier stehenblieb und ihn erneut an-

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blickte – nein, nicht ihn, sondern die Waffe. Dann stieß es Ge-räusche aus, die sich anhörten, als würde jemand sprechen.

Der Wagenführer sagte mit zitternder Stimme: „Er möchte wissen, woher Sie kommen.“

„Das ist mir vollkommen gleichgültig“, antwortete Dick rauh. „Ich meinerseits will wissen, wohin die neuen Gefangenen ge-bracht werden.“

Das Tier verstand die Frage. Es war zwar wider alle Vernunft, aber es verstand die gestellte Frage. Es stieß weitere Geräusche aus, und der Mann sagte voller Entsetzen: „Nein, bitte nicht. Du verstehst nicht …“ Er sprach zu dem Tier, worauf es nur den Kopf wandte und ihn anblickte. Das war alles, aber der Mann stöhnte auf. Er legte die Zügel um eine Ecke des Wagens und bereitete sich zum Absteigen vor.

„Zum Teufel“, rief Dick zornig aus, „ich will jetzt eine Ant-wort auf meine Frage haben. Wohin werden die Gefangenen gebracht?“

Der Mann, der an allen Gliedern zitterte, sprang ab und kam auf Dick zu.

„Es nützt nichts, mich zu töten“, sagte er. „Ich habe Ihnen nichts getan.“

Zugleich sah Dick aus den Augenwinkeln eine schleichende Bewegung. Er warf sich herum, und seine Pistole bellte auf. Die Kugel traf das eben aufschnellende Tier in die Brust, so daß es dicht vor ihm zu Boden fiel und konvulsivisch zuckte.

„Töte ihn“, brüllte der Mann. „Töte ihn, bevor er heult!“ Die Bestie versuchte Schreie auszustoßen, aber Dick feuerte

noch einmal, und das Tier verendete. Der Mann rang die Hände und schien wie erschlagen zu sein.

„Mein Gott“, sagte er mit dünner Stimme, „mein Gott, das wird nichts Gutes einbringen.“

„Seien Sie jetzt still“, fuhr Dick ihn an. „Ich sagte Ihnen be-reits, daß ich wissen möchte, wohin die Gefangenen gebracht

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werden!“ Der Lauf seiner Pistole zeigte unmißverständlich auf den Mann. „Ich komme aus New York“, fuhr er fort. „Vor drei Tagen ist ein Mädchen nach hier verschleppt worden. Wo ist es?“

Mit einem Ausdruck zweifelnder Hoffnung in der Stimme antwortete der Mann: „Sie kommen aus New York? Sind Sie denn nicht nach hier gebracht worden? Können Sie vielleicht auch wieder zurückkehren?“

„Allerdings, sobald ich das Mädchen gefunden habe“, erklärte Dick.

Der Mann bestieg wieder seinen Wagen und sah Dick fle-hend an.

„Welchen Weg sind Sie gegangen?“ fragte er bittend. „Wie kehrt man zurück? Sagen Sie es schnell, denn wir müssen uns beeilen, damit nicht jemand kommt.“

In diesem Augenblick kam ein zweites Tier um eine Weg-biegung geschossen. Der Mann schrie auf, und das an seinen Wagen gespannte Pferd hetzte davon.

Das Tier blickte erst Dick an und betrachtete dann seinen to-ten Gefährten.

Hierauf versuchte es, sich in das Gebüsch zu retten, doch im gleichen Augenblick bellte Dicks Pistole auf, und die Riesenbe-stie stürzte tot zu Boden.

Diese Tiere hatten Dick angesehen, als ob sie Menschen seien, und das erste Tier hatte dem bärtigen Mann sogar Befehle ge-geben. Der Mann hatte dem Tier widerstandslos gehorchen müssen. Es hatte ihm befohlen, aus dem Wagen zu klettern und Dicks Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und während Dick ihn ansah, war das Tier gegen ihn vorgegangen.

Auch das zweite Tier hatte gehandelt wie ein Mensch, der einen Schuß hört und sich dann plötzlich einem bewaffneten Feind gegenübersieht.

Dick hatte zuerst vorgehabt, in dieser anderen Welt einen

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Gefangenen zu machen, um ihn zu zwingen, ibn an jenen Ort zu führen, an dem Nancy sich befand. Doch wenn die Menschen den Tieren Untertan waren und von ihnen als den Herren unab-lässig begleitet wurden …

Er folgte dem Pfad und schlug dabei jene Richtung ein, aus der das zweite Tier gekommen war. Pferde-, Tier- und Wagen-spuren ließen erkennen, daß er über eine vielbenutzte Straße ging.

Dann erreichte er einen kleinen Fluß, durch den der Weg führte. Am Ufer befand sich ein zweites Pferd vor einem ande-ren Wagen, auf dem ein neuer halbnackter Mann saß. Dieser Mann, der einen langen Bart und wallende rote Haare trug, saß gelassen da und schien in stummer Ergebenheit auf Befehle zu warten. Es war aber kein Tier in Sicht, denn Dick hatte seinen vierbeinigen Begleiter erschossen.

Dick blieb in der Nähe des Fahrzeuges stehen und hob die Waffe.

„Sie“, sagte er drohend, „ich werde Ihnen einige Fragen stel-len, und Sie werden sie beantworten, verstanden?“

Auch dieser Mann sah Dick verwundert und erschrocken an. Seine Züge ließen die unterschiedlichsten Gefühle erkennen, bis endlich die Wut überwog.

„Wo kommen Sie her?“ fragte er krächzend. „Die Ruhks haben Sie nicht ausgezogen! Sind Sie von selbst gekommen, oder …? Nein, Sie sind gewiß der Falle entronnen. Gehen Sie schnell woandershin“, setzte er müde hinzu. „Ich habe Sie dann nicht gesehen. Die Ruhks würden es sonst wittern und mich töten. Gehen Sie weiter!“

Dick erwiderte: „Ich habe soeben zwei Tiere getötet, die aus-sahen wie Wölfe. Sind das die Ruhks, die Sie erwähnten?“

„Zwei von ihnen getötet?“ rief der Rotbärtige aus und fluchte vor Begeisterung. „Bursche, Sie haben Waffen? Ich hoffe, Sie werden eine Menge von ihnen töten, ehe Sie von ihnen erwischt

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werden. Ich hoffe, daß es Tausende sein werden. Sind Sie aus dem Käfig ausgebrochen, oder …?“

Er zitterte und war unfähig, eine so unsinnige Hoffnung in Worte zu kleiden.

„Ich kam durch einen Eingang, der von einem meiner Freunde hergestellt wurde“, erklärte Dick. „Vor einer halben Stunde war ich noch in New York. Meine Freunde können nach hier kom-men, wann immer sie Lust dazu haben.“

Der Rotbärtige fluchte vor Begeisterung. „Was ist mit den anderen Wagen und Ruhks, die hier vorbei-

kommen?“ erkundigte sich Dick. „Ist es ungefährlich, hier zu stehen und miteinander zu reden?“

Der Rotbart grinste plötzlich und schnalzte seinem Pferd zu. Das Tier trabte bis zur Mitte des kleinen Flüßchens und blieb dort stehen.

„Kommen Sie doch her“, forderte er Dick dann auf. „Durch ihre Witterung werden die Ruhks Sie bis an das Wasser verfol-gen und dann an jene Stelle jagen, an der Sie nach hier gekom-men sind. Sie können mit mir fahren, und ich werde Sie kilome-terweit von hier absetzen, damit Sie zu Ihren Freunden zurück-kehren können. Sagen Sie ihnen, Sie sollten den Palast mit Ben-zin überschütten, ihn anstecken und die Ruhks töten. Für den Rest werden wir sorgen.“

Als Dick sich in der Flußmitte auf den Wagen schwang, sah er, daß der Rücken des Rothaarigen mit Narben von Peitschen-schlägen und Tierbissen bedeckt war. Langsam fuhren sie dann weiter und folgten dabei einem der angedeuteten Wege. Dabei sprach der rothaarige Mann vertrauensvoll von der Vernichtung eines Palastes, der wahrscheinlich die Villa an der Brooklynküste war. Haßerfüllt malte er dann die unvorstellbaren Martern aus, die den Aufsehern zugefügt werden sollten.

Erst nach einiger Zeit erholte sich der Mann von seinem Haßausbruch und begann zu erzählen.

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Das Bild, das der Rotbart entwarf, entsprach nur teilweise Dicks Vorstellungen. Es gab natürlich menschliche Herren, und sie lebten in dem Palast auf der anderen Seite des Stromes. Der Rotbart war schon seit Jahren als Sklave tätig, hatte aber noch niemals einen Angehörigen der Rasse oder Familie gesehen, der er dienen mußte. Nur selten war ihm mehr als ein Aufseher auf einmal begegnet.

Vor Jahren war er Elektriker in New York gewesen. Eines Tages, auf dem Heimweg, war er plötzlich gefallen, um sich in einem hölzernen Käfig in diesem seltsamen Wald wiederzufin-den. Minuten später fiel noch ein anderer Mann in den Käfig und brach sich dabei den Arm.

Sie wußten nicht, wo sie sich befanden, und ahnten auch nicht, was ihnen geschehen war. Sie riefen um Hilfe, während in ihrer Nähe ein Tier schrecklich heulte. Dann verstummten sie vor Entsetzen, und während der ganzen Nacht glaubten sie, den Verstand verlieren zu müssen. Und unablässig heulte ein vor dem Käfig sitzendes Tier weiter.

Als der Morgen graute, konnten sie das Tier erblicken. Es war eines der wolfähnlichen, Ruhk genannten Wesen, das die beiden mit intelligenten Augen anblickte. Dann traf ein weiteres Dutzend dieser Tiere ein. In ihrer Mitte schritt ein Mann, der ein knielanges Gewand trug und mit einem Speer sowie einer Pistole bewaffnet war. Außerdem brachte er Fesseln mit.

Erbarmungslos betrachtete der Fremde die beiden Männer im Käfig. Mit dem Maul öffnete einer der Ruhks die Käfigtür, und die Gefangenen erzitterten vor Angst. Sie sprachen mit dem Mann, aber dieser beachtete sie nicht und winkte ihnen, ins Freie zu kommen. Als sie zögerten, trieb er sie mit dem Speer hinaus.

Draußen schoben sich die Tiere zwischen sie, trennten sie und warfen sie zu Boden. Dann, anscheinend von einem tieri-schen Befehlshaber angefeuert, der bellend hinter ihnen stand,

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zogen sie ihnen jedes Kleidungsstück vom Leib. Seltsam dabei war, daß die Tiere nicht wild, sondern eifrig und fast gewohn-heitsmäßig handelten. Dann erblickte der Anführer der Tiere den Mann mit dem gebrochenen Arm. Anscheinend unterhielt er sich über ihn mit dem speerbewaffneten Fremden. Dann warfen sich die Tiere auf ihn und zerrissen ihn, während der Rotbärtige abgeführt wurde.

Sie gingen viele Kilometer weit, bis sie an einen Sklaven-pferch kamen. Dort befanden sich andere Männer und Frauen, die wie Tiere eingesperrt waren.

Hier unterbrach Dick die Erzählung und erkundigte sich, ob Nancy ebenfalls in den Pferch gebracht worden war. Der Rot-bärtige verneinte. Seit drei Tagen waren keine Gefangenen ein-getroffen.

Der Mann setzte seine Erzählung fort. Durch die Ruhks wur-den sie gezwungen, Pferde zu führen, Felder zu bestellen und vieles andere zu tun, um Lebensmittel zu beschaffen. Die Ruhks befanden sich dauernd in ihrer Nähe. Einen kleinen Teil der geernteten Nahrungsmittel durften die Sklaven für sich be-halten, doch der Großteil der Früchte und anderen Dinge kam an die Stromküste. Dort wurden die Dinge von anderen Sklaven auf Boote geladen und wegtransportiert.

Wenn Sklaven auf Botengänge ausgeschickt wurden, wie es heute bei dem Rotbart der Fall gewesen war, dann wurden sie stets von Ruhks begleitet. In solchen Zeiten waren sie den Ruhks vollkommen Untertan.

Der Mann mit dem Speer war nicht ihr Herr gewesen, son-dern nur ein Aufseher. Der Herr oder die Herren lebten in einem Palast am anderen Stromufer. Was man über sie wußte, hatte man von einem Sklaven erfahren, der über den Strom in einem Boot zu ihnen gebracht worden war. Seine Erzählungen aber hatten den Aufsehern wohl mißfallen, und so hatte man den Unglücklichen nach wenigen Tagen den Ruhks übergeben.

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Die Sonne sank hinter den riesigen Bäumen, und der Rotbart hielt den Wagen an.

„Hier können Sie aussteigen“, sagte er bitter. „Ich selbst bin zu einem Sklaven geworden und werde es nicht mehr fer-tigbringen, wie ein Mensch zu leben. Im Pferch werde ich erzählen, daß mein Ruhk mir befahl, auf ihn zu warten, worauf er sich entfernte. Und weil ich Angst hatte, als Flüchtling be-trachtet zu werden, machte ich mich nach langem Warten auf die Suche nach meinem Ruhk, um ihn und das andere Tier dann als Tote zu entdecken. Ja“, nickte er, „das werde ich sagen.“

„Tun Sie das“, stimmte Dick grimmig zu, und der Rotbart fuhr davon.

Dick erkannte, daß diese Welt viel anders war, als er sie sich vorgestellt hatte. Offensichtlich waren die Ruhks auf diesem Planeten die herrschende Rasse gewesen, als ein alter ägypti-scher Magier erstmals hier erschien. Vermutlich hatten die Ruhks zunächst versucht, die Eindringlinge zu töten, was ihnen mißlungen war, und dann hatten die beiden Parteien einen Pakt miteinander geschlossen, der heute noch bestand.

Die Tiere wurden nicht wie Hunde gehalten, und verspürten für Menschen auch nicht die typisch hündische Verehrung. Sie waren zu Sklavenwächtern geworden und konnten als solche ihre tierischen Instinkte an den Unglücklichen auslassen, was ihnen die Herren dieser Welt gewiß hoch anrechneten. Solange die Ruhks ehrlich waren, würde es keinen Sklavenaufstand geben. Die Ruhks und ihre Herren würden gewiß jedes Mittel anwenden, um einen vielleicht ausgebrochenen Mann wieder einzufangen, denn sie hatten auf diesem Gebiete ja eine fünftausendjährige Praxis hinter sich.

Dick wagte es nicht, an Nancys mögliches Schicksal zu den-ken.

Unter den Ausrüstungsgegenständen, die Sam Todd ihm ge-

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geben hatte, befand sich auch ein Kompaß mit Leuchtbuchstaben. Mit seiner Hilfe machte Dick sich auf den Weg.

*

Dick Blair war eben im Quecksilber verschwunden, als der Taxi-fahrer sich umwandte. Er blinzelte erstaunt. Drei Mann waren doch in seinem Wagen gewesen, und jetzt waren es nur mehr zwei?

„He“, rief er aus, „was ist denn mit dem anderen Burschen los?“

„Er ist ausgestiegen“, antwortete Sam kurz angebunden. „Fahren Sie uns jetzt wieder an jenen Ort. an dem wir einge-stiegen sind.“

Auf der Rückfahrt bedachte Sam nochmals die Vorbereitun-gen, die er für Dicks Abenteuer getroffen hatte, und war unzu-frieden. Natürlich war Eile geboten gewesen, und es war auch selbstverständlich, daß jemand Nancy nacheilte. Doch die Dinge waren überstürzt worden.

Er zerrte Maltby aus der Taxe und schleppte ihn mühsam in sein Bett. Dann nahm er das kleine Guckfensterchen, mietete sich eine neue Taxe und fuhr nach Brooklyn Navy Jard. Dabei fuhr er durch New York, erblickte durch das Guckloch einen Dschungelpfad in einem seltsamen Urwald.

Einmal sah Sam in der Ferne einen hölzernen Käfig, dessen Zweck er nicht begreifen konnte. Dann überquerten sie die Brooklyn Bridge. In der anderen Welt gab es natürlich keine Brücke, so daß Sam die Dinge jetzt aus einer anderen Perspektive betrachtete. Er sah die Villa und eine Galeere auf dem Strom. Dann erblickte er einen luxuriösen, altmodischen und von vier Pferden gezogenen Wagen, neben dem mehrere vierbeinige Tiere hertrotteten.

Die Taxe hielt, Sam stieg aus, bezahlte den Fahrer, stellte

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sich auf die Straße und hielt wieder das Guckloch an die Au-gen. Unter sich sah er einen kunstvoll angelegten Garten. Als er bemerkte, daß er von neugierigen Passanten lächelnd beobachtet wurde, steckte er das kleine Instrument rasch ein, betrat ein Konfektionsgeschäft und ging dort in die Fernsprechkabine.

Dann klopfte jemand an die Kabine, und er verließ sie. Rasch suchte er die Telefonzelle eines anderen Warenhauses auf, wo er sich nahe der Villa in der anderen Welt wiederfand.

*

In der anderen Welt schien der Mond durch die Bäume. Dick erblickte die Sterne und die Milchstraße. Es dünkte ihn un-glaublich, daß die andere Welt der Erde so ähnlich und doch nicht dieselbe war. Die Geräusche im nächtlichen Dschungel klangen schrecklich und waren denjenigen der Erde ganz un-ähnlich.

Dick bewegte sich durch eine dichte Vegetation inmitten furchtbarer Geräusche. Er hörte das Rauschen von Wellen und wurde vorsichtig. Das Glitzern des Mondlichtes auf dem Wasser warnte ihn, und so lief er nur sehr langsam hinab an das Ufer des East River.

Die Küste machte einen wilden und unwegsamen Eindruck. Unbeirrt ging Dick in das Wasser hinein und setzte seinen Weg in unmittelbarer Nähe des Ufers fort. Dann, nach etwa einer Viertelstunde etwas mühsamen Marschierens, kam er an einen in das Wasser gebauten Kai.

An der Mole war ein Boot mit nackten Ruderern vertäut; auf der Mole selbst saßen zwei Ruhks.

Leise robbte Dick sich an das Ufer. Er überzeugte sich, daß seine beiden Tränengasbomben griffbereit waren, und machte seine Schrotflinte schußbereit. Bis jetzt hatte er drei Schüsse aus einer Pistole abgefeuert und dabei Glück gehabt. Doch er

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wollte nicht vom Glück allein abhängig sein – besonders nicht in der Dunkelheit. Da war ein Schrotgewehr schon sicherer.

Leise huschte er weiter und trat dabei ungewollt auf einen Zweig. Sofort drehte einer der Ruhks den Kopf. Dick blieb stehen, das Tier gähnte und sah in eine andere Richtung.

Dick setzte seinen Weg fort. Natürlich rechnete er nicht damit, unentdeckt bis an die Mole zu kommen, wollte aber zumindest versuchen, möglichst weit ungesehen vorzudringen.

Er hatte kaum so weit gedacht, als ein Ruhk in seine Richtung blickte und sofort aufsprang. Er war noch etwa 180 Meter von seinem Ziel entfernt.

Jetzt begann Dick, einen Laufschritt anzuschlagen, und es war ein Glück für ihn, daß hier der Boden ziemlich fest war und Bewegungsfreiheit gestattete. Die Ruhks hatten sich jetzt beide erhoben und starrten ihm entgegen, konnten ihn aber wegen des ihn umgebenden Gesträuchs nicht genau erkennen.

Eines der Tiere stieß einen fragenden Ruf aus. Da Dick nun selbst kein Ruhk war, konnte er für die Wesen dieser Welt nur ein Flüchtling sein. Dazu paßte allerdings nicht, daß er auf sie zugelaufen kam.

Unbeirrt lief er auf sein Ziel zu, worauf der Ruhk seinen Ruf etwas lauter wiederholte. Danach knurrte er. Die Ruhks waren Sklavenwächter und spürten Verachtung für die Menschen. Sie hielten sich jetzt unbewegt und warteten auf Dicks Näherkom-men. Es war ganz ausgeschlossen, daß sie sich vor ihm fürchte-ten; wahrscheinlich hielten sie selbst ein Gefühl der Vorsicht für eine überflüssige Anstrengung.

Dick war ihnen bereits sehr nahe gekommen, als der erste Ruhk ein hohes Heulen ausstieß und sich auf ihn zustürzte. Das Gewehr bellte auf und riß den Angreifer in Stücke. Das zweite Wesen versuchte, sich in die Büsche zu schlagen, aber es war bereits zu spät für eine Rettung.

Die Planken der Mole knirschten unter Dicks Schritten, als

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vom Ufer her neues tierisches Heulen laut wurde. Er sah vier-beinige, wütende Kreaturen auf sich zukommen und warf ihnen eine Tränengasbombe entgegen. Als dann die Nebelwolke auf-stieg, hastete er zur anderen Seite des Kais.

Nackte Gestalten krümmten sich in dem Boot, das einmal ein Ruderkutter eines Kriegsschiffes der US-Kriegsmarine gewesen war. Sein Verschwinden hatte damals nicht geringes Aufsehen erregt. Jetzt mußte sich in ihm ein Dutzend angeketteter Men-schen darin abquälen. Fragend, entsetzt, blickten sie Dick an, doch dieser hörte weitere Ruhks auf sich zukommen und feuerte. Einige Tiere sprangen ins Wasser.

Aus der Tränengaswolke kam ein Mann hervorgestolpert, der ein knielanges weißes Gewand trug und mit einem Speer sowie einer Pistole bewaffnet war. Doch vorerst konnte er nichts an-deres tun, als sich die tränenden Augen zu wischen, um zu er-kennen, was eigentlich hier vorging.

Dick feuerte ein ganzes Magazin seiner Automatik in die Tränengaswolke hinein. Als er dann zurückkehrte und an den Rand der Mole trat, brachte er den Speer und die Pistole des Aufsehers mit.

Mit dem scharfen Speer durchschnitt er die Seile, die das Boot an die Mole banden; das Fahrzeug begann zu treiben, und er sprang hinein.

Keiner der angeketteten Männer bewegte sich. Sie starrten ihn nur in stummer Fassungslosigkeit an.

„Verdammt noch mal, so rudert doch“, brüllte Dick. „Schnell fort von hier!“

In der Nähe hörte man ein Plätschern. Ein durch das Gas of-fenbar geblendeter Ruhk schwamm sinnlos im Kreise, er knurrte fürchterlich, und in eiskalter Wut nahm Dick ihm das Leben. Dann wandte er sich der Bootsbesatzung zu, um sie zum Rudern anzutreiben.

Plötzlich begannen die Leute aus ihrer Erstarrung zu erwa-

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chen. Sie griffen nach den Rudern und gingen bald in einen gleichförmigen Rhythmus über. Das Boot stach in den Strom hinein, und Dick fühlte, wie er von einem Dutzend Augen fra-gend gemustert wurde.

„Schaut her“, rief er aus, „jemand von der echten Erde hat einen Weg gefunden, um in diese Welt zu kommen, und ist auch in der Lage, dieselbe wieder zu verlassen. Ich bin gekommen, ein Mädchen zu befreien, das wahrscheinlich ebenso wie ihr selbst geraubt worden ist. Helft mir, und ihr werdet mit mir auf die Erde zurückkehren!“

Sie verhielten sich still. Die Männer ruderten monoton und schienen lebende Automaten geworden zu sein. Am Ufer, in der Nähe der Mole, veranstalteten die Ruhks einen fürchterlichen Lärm. Ein Tier übertönte alle anderen und stieß laute, gellende Schreie aus, die unheimlich über das Wasser hinweghallten.

Einer der Männer sagte dumpf: „Jetzt schicken sie uns die Ruhks nach, und wir werden ihnen vorgeworfen.“ Ein anderer fluchte, ruderte aber weiter. Ein dritter sagte bedeutungsvoll: „Er tötete einen Ruhk.“

„Ich werde noch viele töten“, erklärte Dick scharf. Er hob die Pistole des Aufsehers hoch. „Hier habe ich noch eine Schuß-waffe übrig. Wer will sie haben?“

Die Männer flüsterten untereinander, und dann meinte einer: „Damit könnte man Ruhks umbringen.“

„Oder Aufseher“, bemerkte ein anderer mit erstickter Stim-me.

„Schweigt“, rief Dick ihnen zu, denn der Ruderschlag wurde unregelmäßig. Die Männer gehorchten und ruderten im ge-wohnten Rhythmus weiter.

„Vor drei Tagen ist aus New York ein Mädchen verschwun-den“, gab Dick ihnen dann bekannt. „Sie wurde nicht in den Sklavenpferch gebracht. Wohin kann man sie transportiert ha-ben?“

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Nach langem Schweigen antwortete eine Stimme: „Wir ha-ben sie nicht über den Strom geführt. Wir haben nur Ruhks und Aufseher transportieren müssen.“

„Dann muß sie sich noch auf Manhattan Island befinden“, rief Dick aus. „Wie viele Sklavenpferche gibt es hier noch?“

„Einer befindet sich stromaufwärts bei den Treibhäusern.“ „Dann werden wir uns dort hinbegeben“, erklärte Dick

grimmig. Sie ruderten weiter, und plötzlich sagte ein Mann bittend:

„Geben Sie mir doch diese Pistole, mein Junge. Ich muß einen Aufseher umlegen. Er hat mein Mädchen den Ruhks vorgewor-fen.“

„Ich werde außer diesem noch andere erledigen“, versprach Dick.

Plötzlich begann ein im Bug sitzender Mann zu jammern. „Da kommt ein zweites Boot, und in ihm befinden sich die

Ruhks!“ Dick strengte seine Augen an und sah, wie das zweite Boot

über den weiten, vom Mond beleuchteten Strom dahinglitt. Es sah aus, als ob es zur Villa am anderen Ufer fahren wollte. Die Größe des Fahrzeugs war nicht zu erkennen, doch konnte es nur von Manhattan Island kommen. Vielleicht kam es sogar von dem zweiten Sklavenpferch, um Nancy zur Villa zu bringen. Zumindest aber mußte die Besatzung wissen, was aus ihr ge-worden war.

Er schwang die Steuerpinne herum. „Strengt euch an“, befahl er. Die beiden Boote kamen einander näher. In dem zweiten

Fahrzeug dachte niemand daran, den Kurs zu ändern. Seine Ru-derer, die wahrscheinlich ebenso angekettet waren wie die Sklaven in Dicks Boot, arbeiteten mit der gleichen Apathie, die auch die Ruderer seines eigenen Kutters erkennen ließen.

Langsam aber schien so etwas wie ein neuer menschlicher

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Geist seine Mannschaft zu erfassen. Eine Stimme fragte flü-sternd: „Werden wir dieses Boot erobern?“

„Natürlich“, antwortete Dick. „Ich möchte herausfinden, wo dieses Mädchen sich aufhält.“

Die Stimme von eben sagte leise: „Bursche, geben Sie mir diesen Speer. Ich bin zwar bereits so gut wie tot, aber viel-leicht …“

Schweigend reichte Dick ihm die Waffe, und der Mann er-faßte den Schaft, ohne dabei sein Ruder fahrenzulassen. Von dem anderen Boot wurden sie angerufen, aber Dick antwortete nicht. Er legte lediglich das Steuer etwas zur Seite, als das zweite Fahrzeug sie jetzt kreuzte. Dort schien man zu glauben, daß sich in dem Boot eine hochstehende Persönlichkeit befinde.

„Rudert schneller!“ brüllte Dick die Männer in seinem Boot an.

Der Vormann des anderen Bootes erteilte rasch einige Befehle, um einen Zusammenstoß zu verhindern. Einige Ruhks heulten auf und wandten sich dann knurrend Dicks Boot zu. Als es dicht neben dem Boot der anderen lief, gab Dick zwei Schüsse ab. Man vernahm einen wüsten Fluch, und ein Mann erhob sich, um nach seiner Pistole zu greifen. Zur gleichen Zeit be-gann in Dicks Boot ein tödlicher Kampf, denn ein verwundeter Ruhk hatte sich unter die Ruderer geworfen.

Dick feuerte noch einmal, und die Bestie starb. Jetzt drehte er sich der Besatzung des zweiten Bootes zu, er-

blickte den fast schußbereiten Aufseher, feuerte und sah den Mann zusammenbrechen. Dann rief er: „Haltet an! Wenn ihr zu flüchten versucht, werden wir euch versenken!“

Das eroberte Fahrzeug blieb ruhig liegen. Natürlich befand sich Nancy nicht an Bord; auch hatten die Leute niemals etwas von ihr gehört oder gesehen.

Dick überlegte. Es gab zwei Sklavenkrale auf Manhattan Is-land, aber Nancy war in keinen von ihnen gebracht worden.

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Auch war sie von keinem der beiden Schiffe in den auf Brook-lyn liegenden Palast geführt worden. Es gab jetzt eigentlich nur mehr eine Möglichkeit: Sie konnte wegen irgendeiner Verlet-zung von den Ruhks zerfleischt worden sein, und der bloße Ge-danke an dieses Verbrechen ließ jedes menschliche Gefühl in Dick verschwinden.

Sicher war jedenfalls, daß die Sklaven dieser anderen Welt nichts von ihr wußten. Es gab nur einen; nein, es gab zwei Wege, herauszufinden, was mit Nancy geschehen war: Er mußte ver-suchen, einen Aufseher lebend zu fangen, um ihn zu zwingen, ihm Nancys Schicksal bekanntzugeben – sofern er es kannte. Und dann blieb zuletzt immer noch der Palast selbst.

Er hatte nunmehr zwei Dutzend Männer unter sich. Sie gal-ten gegenwärtig vermutlich zwar als geächtet und vogelfrei, weil sie zu viel gesehen und erlebt hatten, was sie nicht hätten wissen dürfen, doch er konnte sie immerhin als seine Verbündete betrachten; 24 Leute, die in den Booten an ihre Plätze gekettet waren.

Vorerst befreite er sie nicht von ihren Fesseln. Statt dessen begab er sich mit dem zweiten Boot, das sich seinem gehorsam anschloß, an eine bestimmte Stelle der Manhattanküste. Wäh-rend die Fahrzeuge an das von ihm bezeichnete Ufer ruderten, nahm er sein Notizbuch aus der Tasche und begann hastig zu schreiben.

Er verfaßte einen Rapport für Sam Todd, den er zugleich um zusätzliche Waffen bat. In kurzen Umrissen gab er bekannt, was geschehen war, und verlangte in dringenden Worten Waf-fen, die eine Sklavenrevolte nicht nur möglich, sondern auch erfolgreich machen mußten. Durch die Waffen wollte er errei-chen, daß die andere Welt nicht länger ein Ort blieb, an dem Schufte und Verbrecher die frei geborenen Menschen verskla-ven und unterdrücken konnten.

5000 Jahre der Geheimnisse und Verbrechen waren vergan-

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gen. Jetzt durften sie nicht länger geduldet, es mußte ihnen ein Ende gemacht werden. Es mußte ganz einfach sein.

Er landete auf Manhattan, riß die Seiten mit dem Bericht aus dem Buch und befestigte ihn mit einem Dorn an den Stamm des größten und längsten Baumes, den er finden konnte. Von der Erde aus würde Sam die Baumstämme dieser Gegend betrach-ten, denn es war vereinbart worden, daß er am frühen Morgen, vielleicht sogar noch in dieser Nacht, sich in einen New Yorker Park begeben sollte, um dort mit seinem Guckloch die entspre-chende Gegend der anderen Welt zu überprüfen. Wenn er dann an der verabredeten Stelle eine Botschaft sah, sollte er den von Maltby hergestellten Eingang benutzen und sie holen, um an-schließend Dicks Bitten nach bestem Können zu erfüllen.

Nach Erledigung dieser Arbeit fuhr Dick mit seinen beiden Booten stromaufwärts, bis er ein sicheres Versteck gefunden hatte. Erst jetzt befreite er die Männer von ihren Ketten. Er hatte damit gewartet, bis er ihnen sagen konnte, daß die Mittel für den Kampf bald eintreffen würden.

Als alle Männer befreit und versteckt worden waren, war es bereits ziemlich spät. Doch die Zahl ihrer Waffen war vollkom-men ungenügend, denn sie verfügten nur über das, was Dick mitgebracht hatte, und dazu zwei Speere und zwei Automatics. So gab Dick ihnen die Anordnung, sich aus Holz notdürftige Speere sowie Pfeile und Bogen herzustellen. Das würde natürlich seine Zeit brauchen, doch vorerst schienen sie hier in Sicherheit zu sein und brauchten keine Entdeckung zu fürchten.

*

Sam Todd, der erneut zu schwitzen begann, wenn er an sein Experiment in Brooklyn dachte, begab sich in einen Park an der Manhattanküste. Es war tiefe Nacht, als er eintraf. Er setzte sich auf eine Bank und legte das kleine Guckloch an seine Augen.

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Es dauerte eine Weile, bis er die von Dick an einen Baum-stamm gehefteten Papiere entdeckte. Dann machte er eine enttäu-schende Entdeckung: Ausgerechnet an dieser Stelle hatte man auf der wirklichen Welt einen Hügel hochgeworfen und über ihn eine Wiese sowie einen Teich angelegt. Damit war die Boden-höhe zwischen hier und der anderen Welt keineswegs nivelliert; außerdem befanden sich Dicks Blätter ausgerechnet unter dem Springbrunnen des Teiches. Um sie zu erreichen, hätte Sam von der Seite her ein tiefes Loch in die Erde graben müssen.

Es war Sam damit unmöglich, an die Botschaft zu gelangen. Doch er verfügte neben dem Guckloch auch über eine kleine

Öffnung, die sich als winziges, zwischendimensionales Tor be-nutzen ließ. So nahm Sam wieder Platz und schrieb eine Ant-wort.

„Ihre Papiere werden hier von der Erde bedeckt und sind für mich unerreichbar. Dafür aber habe ich mich in Maltbys Woh-nung umgesehen. Zwei Meilen nordöstlich von hier befindet sich in Ihrer Welt ein kleiner Teich; an ihm vorbei windet sich eine Wagenspur. Neben der ersten Kurve dieses Weges, nörd-lich von dem genannten Teich, wächst ein außergewöhnlich hoher Baum mit befleckter Rinde. Dieser Baum wächst auf dem Raum, den Maltbys Wohnung auf der Erde einnimmt. Kommen Sie bitte nach dort. Ich werde dort etwas aufstellen, durch das Sie, hoffentlich zusammen mit Nancy, auf die Erde zurückkeh-ren können. Sam.“

Dann durchsuchte er seine Taschen. Die einzige passende Hülle für seine Botschaft war seine Brieftasche. Diese entleerte er und schob seine Antwort hinein. Dann steckte er die Briefta-sche zusammengerollt in einen Zylinder und ließ sie durch die kleine Öffnung nach unten fallen, wobei er sich weit über den Springbrunnen beugte. Zusätzlich hatte er den Zylinder mit ei-nem Taschentuch umwickelt, damit die Nachricht auch deutlich erkennbar war.

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Auf diese Weise mußte Dick die Antwort unbedingt erken-nen. Als Notlösung, um Dick zu erklären, warum seine Bot-schaft nicht angekommen war, konnte man seine Antwort als rechte gute Idee werten. Doch es gab einige Tatsachen, die Sam nicht berücksichtigt hatte.

Die Ruhks waren Sklavenwächter, und obwohl die Sklaven so niedergeschlagen waren, daß sie scheinbar jede eigene Initia-tive verloren hatten, konnten entsetzte Leute doch manchmal listig werden und aus lauter Angst sinnlos davonlaufen. Aus diesem Grunde wurde die Küste von Manhattan Island wenig-stens einmal in 24 Stunden von einem scharfwitternden und intelligenten Ruhk abgelaufen. Mit ihren tierischen Instinkten freuten sich die Ruhks auf diese Jagd und begeisterten sich an ihr. Sie genossen die Gerüche des Dschungels und schnappten sich auch manchmal ein Wild, um es zu reißen.

Doch ihre eigentliche Aufgabe bestand darin, menschliche Spuren zu entdecken.

Zwei Stunden nach jenem Zeitpunkt, da Sam seine Botschaft für Dick hinabgeworfen hatte, kam ein Ruhk durch die Dunkel-heit getrabt und kreuzte diese Stelle. Sofort witterte das Tier den Geruch von Dicks Fußspuren und beschnüffelte die Stelle, an der er gelandet war und seine Botschaft an einen Baumast gebunden hatte. Ein wenig geifernd – denn unbegleitete Men-schen auf unerlaubten Wegen waren die traditionelle Beute der Ruhks – folgte er der Spur, ohne Dick zu finden. Dafür aber entdeckte der Ruhk die beiden Botschaften.

Das Tier überzeugte sich, daß Dick wieder in das Wasser zu-rückgekehrt war, ergriff die in der Brieftasche befindliche Bot-schaft und rannte los, um den nächsten Aufseher zu suchen. Kurz darauf hatten andere Aufseher und Ruhks auch die zweite Botschaft ausfindig gemacht, und beides schickte man an Bord der durch Lichtsignale angeforderten Galeere über den Strom.

Der Herr aller Sklaven und Ruhks dieses Gebietes hatte an

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diesem Tage schon zwei Schrecken erlebt: Man hatte zunächst einen bewaffneten Mann beobachtet, was sich in dieser anderen Welt noch nie zuvor ereignet hatte und folglich ungemein schwerwiegend war, und zweitens ein zwischenweltliches Guckloch direkt über dem Palast gesehen. Es war beinahe, als ob es Feinde gebe, die der zwischendimensionalen Reise fähig waren und nun versuchten, ihn zu bespitzeln.

Der Herr ließ sich die aufgefundenen Notizen übersetzen, denn er hatte nie eine andere Sprache als diejenige seiner Ah-nen erlernt. Er war verärgert und erschreckt zugleich. Nach kurzem Überlegen befahl er, den Ort ausfindig zu machen, an dem sich nach Sam Todds Angaben ein Durchgang zwischen den beiden Welten befinden sollte.

Während man begann, die Befehle des Herrn auszuführen, fragte dieser sich, ob das ihm gemeldete Verschwinden von sechs Ruhks am Vortage etwas mit dieser ganzen Angelegen-heit zu tun habe. Er wußte nicht, daß kurz vor dem Verschwin-den der sechs Bestien eine junge Dame namens Nancy Holt durch einen Bürgersteig der Stadt gestürzt war, und konnte nicht ahnen, daß Sam Todd in jenem dramatischen Augenblick hilflos auf eine Quecksilberlache geblickt hatte. Aber der Herr in dem Palast auf Brooklyn würde das auch dann für unwichtig gehalten haben, wenn er davon gewußt hätte.

*

Bei Sonnenaufgang saß Sam Todd erneut in dem Park neben dem East River. Er fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. Als es langsam heller wurde, hielt er das Guckloch ans Auge.

Auch in der anderen Welt erhob sich die Sonne über dem Urwald. Dicks beide Boote fuhren lautlos am Ufer entlang. Ab und zu fiel die Sonne auf die nackten Körper der Ruderer und ließ sie in einer seltsamen Farbe aufleuchten.

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Jetzt legte ein Boot an der Küste an, und Dick begab sich an Land. Alles war still; die Ruderer schienen nicht einmal zu at-men. Dick blickte auf, lauschte, und plötzlich begannen seine Nasenflügel leicht zu beben. Er roch etwas – roch Tiere. Bewe-gungslos blieb er am Ufer stehen und sprach fast lautlos zu den Männern hinter sich.

Deren Körper strafften sich. Dick nickte und ging vorsichtig in das Unterholz.

Noch immer war alles still. Dann tauchte über dem Strom ein Vogel auf. Einer der Männer im Boot rutschte etwas zur Seite, und sein Ruder bewegte sich.

Als ob dieses kleine Geräusch ein Signal gewesen wäre, brach die Hölle los an jener Stelle, an der Dick verschwunden war. Eine donnernde Explosion war zu hören, die von den Bäumen zurückgeworfen wurde. Man vernahm einen zweiten und dritten Schuß, Tiere heulten auf, Männer brüllten, und es fielen weitere Schüsse.

Dann wurde abermals das Krachen von Dicks Gewehr laut, und schließlich tauchte dieser grinsend zwischen den Büschen auf. Kriechende, tierische Gestalten folgten ihm. Dick blieb stehen, feuerte zweimal, sprang ins Wasser und stieg in das erste Boot.

Die nackten Männer wichen entsetzt zurück und zitterten, aber Dick sagte ruhig: „Entfernt euch nicht, denn jetzt haben wir die Chance, einige Ruhks zu töten.“ Und seelenruhig lud er seine Waffen nach.

Jetzt erschienen im Gestrüpp rennende und wütende Gestalten. „Handelt, als ob ihr Angst hättet“, flüsterte Dick den anderen

zu, „und spielt eure Rolle einigermaßen überzeugend.“ Die Männer gehorchten. Es sah aus, als ob die Besatzung der

beiden Boote in hilflosem Entsetzen erstarre. „Rudert etwas hinaus“, forderte Dick seine Leute auf. „Wenn

die Biester im Wasser sind, werden wir sie leichter schnappen.“

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Die beiden Boote, die von den beiden Besatzungen gerudert wurden – wahrscheinlich fürchteten sie sich wirklich –, entfern-ten sich vom Ufer; die knurrenden Tiere, in denen der Mordin-stinkt größer war als die Intelligenz, folgten ihnen schwim-mend.

„Jetzt!“ brüllte Dick. Außer seinen eigenen Waffen befanden sich in den Booten

nur noch zwei Speere und zwei Pistolen, doch ungeachtet dieser bescheidenen Ausrüstung wandten die Männer sich plötzlich ihren Verfolgern zu.

Den Tieren kam wahrscheinlich nicht einmal der Gedanke, daß die Sklaven gegen sie angehen könnten. Die Männer schlu-gen mit allen verfügbaren Gegenständen auf die Ruhks ein und heulten vor Freude, wenn es ihnen gelang, eines der Tiere zu treffen. Man hörte fast keine Schüsse. Dick selbst hielt sich zu-rück; er wollte nur eingreifen, wenn irgendwo sich eine ernst-hafte Gefahr abzeichnete.

Aber die Ruhks konnten denken und wußten genau, was sie taten. Das stellte Dick unvermittelt fest. Die Aufseher dachten nicht daran, auf die Sklaven zu feuern, obwohl sie mit Pistolen bewaffnet waren und die Entfernung zwischen ihnen und den Booten nicht allzu groß schien. Sie mußten etwas anderes vor-bereitet haben.

Dick wandte den Kopf und fand sofort eine Antwort auf die sich stellende Frage.

Um eine Biegung des Stromes erschien ein großes, zweidecki-ges Schiff. Auf beiden Decks rannten Aufseher herum und schlugen mit ihren Peitschen erbarmungslos auf die Ruderer, auf 60 Männer, 60 verzweifelte, angekettete Männer.

Am Heck des Fahrzeugs standen mehrere bekleidete Aufse-her neben einem Mann, der ein modernes, kleines Schiffssteuer in der Hand hielt. Außer ihnen befanden sich auch zahlreiche Ruhks an Bord der Galeere.

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Dieses Fahrzeug brauchte nicht zu kämpfen. Es konnte die kleinen Boote einfach überrennen, was auch offenbar die Ab-sicht dieser Leute war.

In dem Augenblick, da Dick die Galeere erblickte, brach ein Tumult aus – sowohl an der Küste, wie unter den schwimmen-den Tieren. Die Ruhks auf der Galeere bellten Antworten. Dick richtete sich auf, und die beiden Kutter ergriffen die Flucht.

Aber es schien keine Rettung zu geben. Sie konnten natürlich an die Küste flüchten, aber auf Manhattan befanden sich Ruhks und die Aufseher, und im Dschungelkampf würden die Tiere gewiß überlegen sein.

Jetzt strahlte die Sonne bereits sehr hell. Die beiden kleinen, flüchtenden Boote hoben sich von der dichtbewachsenen Küste in seltsamer Weise ab.

Dick Blair tat jetzt etwas Unverständliches: Er riß Blätter aus seinem Notizbuch, zerriß sie zu kleinen Fetzen und warf sie in die Luft. Dann erteilte er der Besatzung einige Befehle.

Das zweite Boot kam näher und berührte sie beinahe, was beide Besatzungen ungemein beruhigte. Dann, als das große Schiff sehr nahe gekommen war, wandten sie sich der weiter entfernten Manhattanküste zu.

Triumphierend drang die Galeere auf sie ein, als ob sie nun-mehr zermalmt werden sollten – und in diesem Augenblick warf Dick seine zweite Tränengasbombe. Er hatte ein voll-kommenes Ziel vor sich, und ihm gelang auch ein vollkomme-ner Wurf.

Die Bombe zerplatzte auf der Galeere – inmitten der Männer, die darauf warteten, sie töten zu können. Sie explodierte, und ein weißer Nebel verbreitete sich. Dicks Papierwurf in die Luft hatte seinen Grund gehabt, denn hierdurch hatte er die Wind-strömung bestimmen können.

Die Tränengaswolke hing fest in der Luft, und die Galeere kam nur langsam durch sie hindurch. Sie blendete Aufseher,

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Sklaven und Ruhks. Als die Galeere dann langsam die Wolke verließ, schlugen die Ruderer ohne Rhythmus hin und her, und die Peitschen der Aufseher bewegten sich nicht. Die Galeere verlor ihren Kurs und begann zu schwanken.

Der Kampf dauerte nur kurze Zeit. Dann waren Dicks Leute auf 80 Mann angewachsen, und dazu hatten sie die Galeere des Herrn der Villa in ihren Besitz genommen, 60 an den Galeeren-rudern sitzende Sklaven weinten noch immer, weil das Gas so stark war, aber dabei lachten sie auch vor Begeisterung und schlugen ihre Ketten aneinander.

Um nicht auch seine Leute zum Weinen zu bringen, befahl Dick, die Galeere ganz aus der Wolke herauszufahren.

*

Mit bleichem Gesicht steckte Sam Todd das Guckloch wieder ein, durch das er der Schlacht im Morgengrauen zugesehen hatte. Er erhob sich von der Parkbank.

Jetzt wußte er, daß seine Botschaft nicht in Dicks Hände ge-raten war. Die ihm gestellte Falle ließ erkennen, daß ein anderer sie gefunden und ihm einen Hinterhalt gelegt hatte, in den Dick und seine nackten Männer geraten sollten.

Dann überlief es Sam eiskalt. Nicht eine Botschaft, sondern beide mußten in falsche Hände geraten sein – und er hatte Dick geschrieben, wie er den Baum finden konnte, der in der anderen Welt durch Maltbys Wohnung wuchs. Die Leute aber, die die Gewohnheit hatten, Erdmenschen zu entführen und zu Sklaven zu machen, hatten es sicherlich für nötig erachtet, die englische Sprache zu erlernen.

Sam hatte noch vor Morgengrauen den Park betreten, um nachzusehen, ob Dick seine Nachricht erhalten hatte. Jetzt wußte er, daß sie in falsche Hände geraten war.

Er wurde blaß und fühlte sich entsetzlich elend. Plötzlich be-

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gann er zu rennen über eine Brücke des East River, ohne sich um den Verkehr zu kümmern. Wagen bremsten, Fahrer brüllten, aber das alles bekümmerte ihn nicht. Zitternd und bebend fand er endlich eine Fernsprechkabine, eilte hinein und wählte mit unsicheren Händen Maltbys Nummer.

Mehrmals läutete er durch, aber keiner antwortete. Im Taxi, auf dem Weg nach Maltbys Wohnung, klapperten seine Zähne, aber er konnte es einfach nicht über sich bringen, das Guckloch zu benutzen, um in die andere Welt zu blicken. Erst im aller-letzten Augenblick, als der Wagen den letzten Häuserblock er-reicht hatte, raffte er sich dazu auf. Er ließ die Taxe halten, stand auf und schob das Guckloch vor das Auge.

Er sah jedoch nur den Dschungel der anderen Welt und sonst nichts. Langsam ging er die Straße entlang, und die Geräusche des morgendlichen New York kamen ihm sehr laut vor.

Vor Maltbys Haus blieb er wieder stehen und betrachtete die entsprechende Stelle in der anderen Welt. Er erblickte Urwald und sah den großen Baum, den er Dick beschrieben hatte. Dann erkannte er Spuren, die Zeichen von etwas Schwerem, das die Sträucher niedergewalzt hatte. Etwas war hier auf Rädern ange-kommen. Es war jetzt wieder verschwunden, denn es hatte getan, wozu es bestimmt gewesen war.

Sam wußte genau, daß hier vor kurzer Zeit viele kleine Quecksilbertropfen aufgeglitzert waren. Mit schweren Schritten ging er in das Haus und betrat Maltbys Wohnung. Sie war natür-lich leer. Maltby war verschwunden und mit ihm ein Großteil seiner Apparate. Alles, was er benutzt hatte, um ein Tor zwischen zwei Welten herzustellen, war nicht mehr aufzufinden.

Maltby war jetzt ein Sklave in der anderen Welt. Die Tür, die er für Dick geschaffen hatte, bestand nicht mehr. Man konnte auch keine weiteren Tore mehr herstellen, denn Maltby war der einzige Mann gewesen, der genau wußte, wie sie hergestellt werden mußten.

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Sam ließ sich in sein Hotel fahren und begann zu packen. Er hatte nicht genug Geld bei sich, und als er eben überlegte, ob er es wohl wagen dürfe, die Bank aufzusuchen, um einen Scheck einzulösen, läutete das Telefon.

Er ließ den Apparat einfach klingeln und ging mit zwei schweren Koffern hinaus. Einige Minuten später befand er sich in der Bank, um dort einen hohen Scheck einzulösen. Dabei verfluchte er sich selbst, denn er wußte, daß er sehr blaß aussah; noch heftiger aber beschimpfte er sich, weil er unfähig war, einen Plan zu entwerfen, der Maltby und Dick retten konnte. Er versuchte, seine Gedanken auf andere Dinge zu lenken, ließ sich in einer Taxe an die Pennsylvaniastation bringen und fuhr von dort mit der Untergrundbahn zum Grand Central. Dort ver-ließ er dann den Zentralbahnhof, als ob er mit einem einlaufen-den Zug gekommen wäre. In einer Taxe ließ er sich in ein Hotel mittleren Ranges etwas außerhalb der Stadt bringen. Dort mie-tete er ein Zimmer, das möglichst hoch über der Straße gelegen war.

Von seinem Zimmer im 8. Stockwerk blickte er über Dschungel und ruhige Wasser hinweg. Er sah nur diese und erkannte einmal das reflektierende Sonnenlicht auf dem Dach der Villa. Mehr ließ sich von hier oben nicht erblicken.

Er schöpfte tief Atem und bewaffnete sich danach so ausge-zeichnet, daß er fast wirkte wie ein lebendes Arsenal. Mit bissi-gem Humor bedachte er, daß diese Waffen bei einer Festnahme durch die Polizei als Beweis gegen ihn gewertet werden wür-den. Auch wenn sich eine Brücke zwischen den Welten zeigen würde, war es keinesfalls sicher, ob ihm die Waffen nützlich sein würden. Trotzdem blieb er bei seinem Arsenal.

Langsam ging er die Straße entlang, um seine Suche zu be-ginnen, und dann fiel ihm etwas ein. Er betrat eine Telefonka-bine und läutete das vorhin so überstürzt verlassene Hotel an, in dem sich seine eigentliche Wohnung befand.

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„Hier ist Sam Todd“, gab er bekannt „Ich bewohne Zimmer 406. Ich bin plötzlich aus der Stadt gerufen worden und muß nach Cleveland und möglicherweise auch nach Chicago. Heben Sie mir meine Post bitte auf; meine neue Adresse werde ich Ihnen telegrafisch bekanntgeben.“

Der Angestellte antwortete schnell: „Sehr wohl, Sir. Übri-gens hat Ihre Sekretärin in der letzten Stunde schon dreimal angerufen. Sie sagte, daß sie Ihnen eine überaus wichtige Mit-teilung zu machen habe und um Ihren Anruf bitte. Es sei unge-mein wichtig“, wiederholte der Mann.

Sams Haar sträubte sich. Nancy Holt war die einzige Sekretärin, die er besaß. Vor 4

Tagen war sie in einer Quecksilberlache verschwunden, und keiner, der so verschwunden war, war jemals wiedergekommen. Es mußte eine Falle sein.

„Gut“, sprach er heiser in den Apparat, „ich werde sie anrufen. Hat sie ihre Nummer hinterlassen?“

„Nein, Sir.“ „Danke“, antwortete Sam und hing mit verzerrtem Gesicht

den Hörer ab. Nancy hatte keine Telefonnummer hinterlassen. Sie brauchte es natürlich nicht, denn er kannte ja ihre Fernsprech-nummer. Hingegen hätte jeder, der für Nancy oder in ihrem Auftrag anrief, eine Nummer bekanntgegeben. Jemand, der Nancy vielleicht gezwungen hatte, ihn anzurufen, hätte es viel-leicht für verdächtig gehalten, keine Nummer anzugeben, unter der sie zu erreichen war.

Obwohl es fast unmöglich schien, konnte es sein, daß dieser Anruf tatsächlich gemacht wurde, sofern nicht eine weit schrecklichere Macht, als er sich vorstellen konnte, Nancys Geist in ihrem Körper versklavt hatte.

Er sah sich vor eine schwierige und folgenschwere Entschei-dung gestellt, aber er mußte die Gefahr auf sich nehmen. Von einem anderen Stadtteil aus rief er an und ließ die Taxe vor der

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Telefonkabine warten, damit er sofort flüchten konnte, sofern es notwendig werden sollte.

Er hörte ihre Stimme. Es war ohne Zweifel Nancys Stimme, obgleich sie angestrengt und gespannt klang.

„Hallo!“ „Nancy“, sagte er heiser, „hier ist Sam Todd.“ Sie stieß einen Schrei der Erleichterung aus. „Sam, ich bin beinahe verrückt geworden. Ich versuche

dauernd, Dick zu erreichen, aber das Museum weiß nicht, wo er ist.“

„Er ist Ihnen nachgegangen“, sprach Sam müde. Sie lachte hysterisch auf. „Das konnte er doch gar nicht,

Sam. Er wird denken, daß ich den Verstand verloren habe.“ „Sie kommen aus einer anderen Welt“, erklärte Sam. „Man-

hattan Island ohne Gebäude. Sklaven! Tiere, die aussehen wie Hunde oder Wölfe und die denken können wie die Menschen. Ringsherum Urwald. Stimmt es?“

„Sam“, rief sie aus. „Woher wissen Sie das?“ „Dick sucht Sie dort“, sagte er, „und die Leute, die dort woh-

nen, haben soeben Maltby entführt. Wie sind Sie zurückge-kehrt?“

Entweder hatte sich hier die erste Rettung seit 5000 Jahren zugetragen, oder Nancy war zur Verräterin an der Erde und ihrer Rasse geworden.

„Sam“, erwiderte sie, „es gibt da gewisse Tore, die von die-ser Welt in die andere führen. Auch stellen sie den Menschen Fallen, damit sie in dieselben hineintappen. Durch eine dieser Fallen bin ich zurückgekehrt. Sie sah genau so aus wie dieje-nige, durch die ich stürzte, als ich mit Ihnen über die Straße ging. Wenn Sie sich beeilen, können Sie sich die Falle anse-hen und …“

„Wo ist diese Falle?“ fragte Sam rasch. „Erklären Sie es mir. Wo befanden Sie sich, als Sie zurückkehrten?“

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„In einer schmalen Gasse zwischen zwei alten Häusern.“ Sie erklärte ihm die genaue Lage.

„Ich komme sofort zu Ihnen!“ „Gut. Ich habe einen Mann, der in der anderen Welt ein

Sklave war, mit nach hier gebracht. Wo befinden Sie sich jetzt, Sam?“

„Bereits auf dem Wege zu Ihnen“, erwiderte er. „Ich bin bald dort.“

*

Sonnenstrahlen fielen durch ein Fenster. Ein Mann mit zerzau-stem, ungepflegtem Haar und langem Bart saß an einem Tisch und war in einen Morgenrock gehüllt, der offenbar Nancys Ei-gentum war. Er war am Essen, und zwar aß er gierig mit den Fingern. Nancy war nirgendwo zu sehen.

Der Mann blickte bei seinem Eintritt auf. Sam lehnte sich gegen die Wand und entsicherte die in der Tasche steckenden Pistolen.

Der Mann warf Sam einen unsicheren Blick zu, erzitterte und fragte: „Sam Todd?“

„Bin ich“, nickte Sam. „Und wer sind Sie?“ „Mein Name ist Kelly“, stellte der Langhaarige sich vor. „Ich

war ein Sklave – auf der anderen Seite. Sie hat mich mit nach hier genommen. Ich glaube, sie ist eben dabei, sich zu wa-schen.“

Nancys Stimme wurde laut. „Sam, sind Sie gekommen?“ „Ich bin hier“, antwortete er und dachte, daß dies alles nicht

aussah wie eine Falle. „Nur einen Augenblick“, rief Nancy von nebenan. „Ich bin

gleich soweit. Lassen Sie sich inzwischen von Kelly alles er-zählen.“

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„Dann mal los“, forderte Sani den Mann auf, blieb aber an der Wand stehen.

Der Mann stand auf und legte das Kleidungsstück ab. Unter ihm trug er nur einen Lendenschurz. Auf seinem Rücken be-fanden sich schrecklich tiefe und kaum verheilte Narben.

„Das kommt von den Peitschenschlägen“, sagte er sachlich. „Der Aufseher erklärte, ich sei schwierig zu behandeln, und die Ruhks würden mich gewiß noch einmal erwischen. Aber das taten sie nicht. Ich war beim Holzhacken, als ein Ruhk kam und meinem Wächter mitteilte, daß ein Ruhk mich zu sehen wünsche. So begleitete ich das Tier.“

„Was ist ein Ruhk?“ fragte Sam. Der Mann warf das Kleidungsstück wieder über die Schultern

und setzte sich. „Ein Geschöpf des Teufels“, antwortete er dann mit harter

Stimme. „Kreaturen, die aussehen wie Polizeihunde, nur daß sie doppelt so groß sind. Sie können denken wie Menschen. Sie können auch miteinander reden, und wir Sklaven mußten erler-nen, ihre Befehle zu verstehen.“

Sam wartete. Er wollte diesem Mann gern glauben, aber er wagte es nicht ganz.

„Der Ruhk hat mich zu ihr gebracht.“ Er deutete mit dem Kopf in die Richtung, aus der Nancys Stimme gekommen war. „Da stand sie, war blaß wie ein Leintuch und sprach mit den Ruhks, die mit den Schweifen wedelten und auf der Erde he-rumkrochen, wenn sie sie nur anblickte. Nie zuvor hatte ich einen Ruhk gesehen, der sich derartig verhielt. Außerdem trug sie ihre Kleider, was ebenso seltsam war. Sklaven werden näm-lich entkleidet, sowohl Männer als auch Frauen, und das ist das Zeichen für das Sklaventum. Die Aufseher tragen ein hemdähn-liches Gewand; sie aber war gekleidet, wie es die Menschen in New York sind. Also war sie weder eine Sklavin noch ein Herr.“

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Das Wort „Herr“ schien sich offenbar auf Männer und Frauen zu beziehen, and zwar auf eine bestimmte Kaste von Menschen, von denen Kelly offenbar eine sehr bestimmte Vorstellung hatte.

„Als ich zu ihr kam, sagte sie: ‚Ich bin hier, weiß aber nicht, wo ich mich befinde. Ich befürchte, daß ich den Verstand verlo-ren habe. Diese Tiere scheinen zu verstehen, wenn ich mit ih-nen spreche Können Sie mir sagen, was mit mir geschehen ist’?“

Das hört sich ganz nach Nancy an, dachte Sam. „Sie hatte sich in einem Käfig wiedergefunden“, fuhr Kelly

fort, „genau wie ich. Wenn sie nämlich Sklaven brauchen, stel-len sie irgendwo Fallen auf – in einer Gegend, in der sich zu der betreffenden Zeit vermutlich nur ein Mensch befindet. Oder aber sie stellen ihre Fallen auf zu Stunden, da sich hier auf der Erde an der betreffenden Stelle nicht allzu viele Menschen be-wegen. Man gerät ganz von selbst in eine solche Falle. Etwas schlägt über einem zusammen, und man befindet sich in der anderen Welt. Bei jedem Käfig befindet sich ein Ruhk als Wächter. Wenn dann ein Mann gefangen wurde, kommen wei-tere Ruhks und bringen einen Aufseher mit. Damals holten mich die Tiere aus dem Käfig und rissen mir die Kleider vom Leib. Dann wurde ich zum Sklavenpferch gebracht. Als sie sich“, er deutete wieder auf das Badezimmer, „im Käfig wieder-fand, sah sie sich einem Ruhk gegenüber, der ihre Käfigtür öff-nete und ängstlich winselte, um ihr mitzuteilen, daß sie ihm leid tue. Sie sagte, daß er sich wie ein kleines Hündchen benahm. Am Morgen versuchte sie, wegzugehen, und er folgte ihr. Zwei weitere Ruhks erschienen und benahmen sich ebenfalls wie Hündchen.“

Kelly begann wieder zu essen. Was er gesagt hatte, klang vollkommen unsinnig, aber Sam glaubte ihm. Er versuchte, eine Erklärung dafür zu finden.

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„Erst am nächsten Morgen fragte sie die Tiere, ob sie ihr nicht einen Menschen bringen könnten, mit dem sie sprechen konnte. Die Ruhks verstehen unsere Sprache so gut wie Men-schen, können sie aber nicht reden, da ihnen die entsprechenden Stimmbänder fehlen. Jedenfalls rannte ein Tier fort und holte mich zu ihr. So gut ich konnte, erzählte ich ihr, wo sie sich be-fand und was ihr geschehen war. Aber wir brauchten zwei Tage, um herauszufinden, was die Ruhks veranlaßte, so unterwürfig zu handeln. Wenn sie sagte, daß sie hungrig sei, fingen die Ruhks ihr Wild und brachten es ihr. Ich steckte dann ein Feuer an, um das Fleisch zu braten, und die Ruhks standen um uns herum, winselten und taten, als ob sie verrückt nach ihr seien. Als wir dann endlich des Rätsels Lösung fanden, sorgten wir dafür, daß sie auch nach mir verrückt wurden.“

Er lachte plötzlich auf. „Was war es denn?“ fragte Sam. „Das Parfüm ihrer Großmutter“, meinte Kelly ironisch. „Jenes

Parfüm, das sie nach dem Rezept ihrer Großmutter herstellt. Die Ruhks verlieren den Verstand, wenn sie es riechen. Als ich ihr alles sagte, was ich wußte, da meinte sie, daß sie gewiß so roch wie die Herren, die über den Ruhks und Aufsehern stehen. Wahr-scheinlich würden die Ruhks von dem Duft ebenso angezogen, wie Jagdhunde von der Witterung irgendeines Wildes. Sie sagte auch, daß es bestimmte Möglichkeiten gebe, wenn man die Zeit habe, ein Tier mit dem Duft vertraut zu machen und …“

„Eine Zeit, die mehr oder weniger 5000 Jahre dauerte“, warf Sam ruhig ein. „Das ist eine genügend lange Zeit, um einen In-stinkt auszubilden, und es ist klug, sehr klug gedacht. Deshalb können die Leute auch den Tieren vertrauen, und es wird nie-mals eine erfolgreiche Revolte unter den Aufsehern und noch weniger den Sklaven geben, weil diese den Geruch nicht auf sich tragen und folglich für die Ruhks sofort erkenntlich sind. Aber erzählen Sie weiter …“

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„Ich habe eigentlich alles erzählt“, erwiderte Kelly. „Als wir herausgefunden hatten, wie die Dinge lagen, besprengte sie mich aus einer kleinen Parfümflasche, die sie noch bei sich trug. Jetzt wurden die Ruhks auf einmal auch nach mir verrückt. Nachdem ich ein Sklave gewesen war, war ich nunmehr zum Herren ge-worden. Wir befahlen den Tieren, uns an eine Falle zu bringen. Wir gingen in den Käfig, sie nahmen eine Manipulation vor, und dann befanden wir uns wieder in New York. Ohne großes Auf-sehen zu erregen, kamen wir in einer Taxe hierher.“

Er nickte, um dann kalt hinzuzusetzen: „Ich kehre wieder zu-rück, das haben wir miteinander besprochen. Sie wird viele Li-ter von diesem Parfüm herstellen, und ich habe eine ausge-zeichnete Verwendung dafür. Die Ruhks haben wir aufgefor-dert, vor dem Käfig auf uns zu warten. Ich weiß aber nicht, wie lange sie es tun werden, und deshalb müssen wir uns beeilen. Vor allem benötigen wir Waffen.“

Jetzt tauchte die lächelnde Nancy auf. Sie war ein Jahr lang Sams Sekretärin gewesen. Er hatte ihre Fähigkeiten bewundert und ihre Intelligenz respektiert, hatte in ihr aber niemals die Frau gesehen. Vier Tage lang hatte er entsetzliche Gewissensbisse verspürt, weil sie in seiner unmittelbaren Nähe zum Opfer eines Verbrechens geworden war und er ihr nicht hatte helfen können. Jetzt war sie weiblich schön, war frisch gekämmt, hatte ihr Haar gründlich ausgebürstet und sich umgekleidet. Sie sah angespannt, aber nicht ängstlich aus und blickte ihn freundlich an.

„Vorhin am Telefon erklärten Sie, daß Dick sich in die andere Welt begeben habe, um mich zu suchen“, sagte sie. „Wie ge-schah das, Sam, und wo befindet er sich dort? Wir müssen uns mit ihm in Verbindung setzen und ihm etwas von dem Parfüm geben, damit er vor den Ruhks in Sicherheit ist. Außerdem ist es unsere Pflicht, etwas für die Sklaven zu tun, Sam. Leute aus unserer Stadt werden zu Arbeitstieren und noch Schlimmerem gemacht. Kelly hat es mir genau erzählt.“

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Sam Todd ließ seine beiden Pistolen los und seufzte leise. „Sagen Sie mir, was Sie benötigen, Nancy“, bat er grimmig.

„Zunächst einmal werde ich für Kelly einen anständigen Anzug besorgen. Ich habe Geld genug und kann auch den Rest an-schaffen. Kelly, können wir durch den Eingang in die andere Welt gehen, wenn wir beide den entsprechenden Duft um uns verbreiten?“

„Wenn Sie das Ding meinen, durch das wir gekommen sind, dann ganz bestimmt“, nickte Kelly. „Die Fallen werden immer von einem Ruhk bewacht, damit ein Gefangener nicht entflie-hen kann. Ebenso soll auf diese Weise verhindert werden, daß ein vielleicht herumstreunender Sklave einen solchen Gefangenen findet. Kein Sklave darf sich außerhalb des Pferches bewegen, ohne daß ein Ruhk ihn begleitet. Jetzt aber werden uns die Ruhks nichts antun.“

„Ich habe schon Anordnungen getroffen, damit das Parfüm hergestellt wird, und mich zu diesem Zweck mit einem Ge-schäft in Verbindung gesetzt“, gab Nancy bekannt. „Ich habe gebeten, die größtmögliche Menge zu fabrizieren. Das Parfüm muß jeden Augenblick hier eintreffen.“

„Dann werde ich zunächst Kleider für Kelly besorgen“, ant-wortete Sam. „Kümmern Sie sich einstweilen um das Parfüm.“

Er ging die Treppe hinab und verhandelte unten mit dem Hausmeister des Gebäudes, in dem Nancy wohnte, um dann mit einem Mantel, einer Hose und einem Pullover zurückzukehren. Allzu sauber waren die Dinge nicht; auch Schuhe brachte er keine mit.

„Sie gelten dann eben als ein Naturbursche, Kelly“, sagte Sam, „denn in diesem Teil der Stadt darf man schon einmal ein wenig närrisch sein. Ist das Parfüm eingetroffen?“

„Alles steht bereit“, erklärte Nancy. „Wir brauchen es nur noch abzuholen.“ Gemeinsam begaben sie sich in das betreffende Geschäft und brachten eine Vielzahl kleiner Flaschen mit.

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Als ihre Taxe dann weiterfuhr, sagte Sam: „Hier ist im voraus etwas Geld für Sie, Nancy. Ich hätte gern, daß Sie in irgendeine kleine Stadt fahren und sich dort aufhalten, bis ich mit Dick zurückkehre. New York City ist für Sie zu gefährlich; hingegen halte ich es für unwahrscheinlich, daß außerhalb der großen Städte gleichfalls Fallen aufgestellt werden.“

Nancy schüttelte den Kopf und sagte mit fester Stimme: „Ich bin in der anderen Welt sicher, Sam. Die Ruhks würden für mich kämpfen, und Dick ist dort!“

„Ich könnte Ihnen ja das Guckloch geben, damit Sie uns beo-bachten können“, schlug Sam vor, „befürchte aber, daß wir es nicht entbehren können. Ich kann von der anderen Welt sicher-lich auf diese Erde blicken, und das wird unbedingt erforderlich sein.“

„Natürlich“, nickte Nancy. „Aber wenn Dick mir nachge-kommen ist, ohne zu wissen, was ihn in der anderen Welt er-wartete, dann ist es für mich eine selbstverständliche Pflicht, ihm gleichfalls nachzugehen. Das ist um so selbstverständlicher, als ich genau weiß, wohin ich mich wenden muß.“

Hölzern warf Kelly ein: „Auch wenn ich dieses Zeug auf mir habe, werde ich den Biestern doch weniger sympathisch sein als Sie, Nancy.“ Er wandte sich Sam zu. „Sie hat recht, wenn sie sagt, daß sie für sie kämpfen werden. Wenn Sie jedoch eine Waffe für sie haben sollten, dann geben sie ihr eine. Da ich meine eigenen Pläne verfolge, bin ich gewillt, jedermann mit-zunehmen, der mir helfen kann.“

Sam zog Pistolen und Munition für Kelly aus der Tasche. Der Wagen ging in eine Kurve und blieb stehen. Dann sah der Fahrer sich um und beobachtete, wie die Waffen verteilt wur-den. Sam blickte ihn durchdringend an, jener erblaßte etwas und meinte stockend: „Ich habe nichts gesehen!“ Aber Sam wußte nur zu gut, daß er sie beobachtet hatte.

Sie verließen das Fahrzeug und gingen zu Fuß weiter. Sam

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beobachtete, wie die Taxe weiterfuhr, um an der nächsten Stra-ßenecke vor einem Polizisten anzuhalten. Dort begann der Fahrer mit dem Blauen erregt zu gestikulieren. Der Schutzmann griff an seine Hüfttasche und kam auf sie zu. Sam setzte das Guck-loch ans Auge. Ja, die Falle stand bereit, und die Tür war geöff-net. Sechs Ruhks saßen wartend neben ihr.

Der Polizist stieß einen schrillen Pfiff aus. Ein Funkstreifen-wagen, der durch die Straße fuhr, schwenkte scharf herum, kreuzte den Verkehr und fuhr auf Sam zu. Die Taxe stand nach wie vor an der Kreuzung, und der Chauffeur blickte neugierig zurück.

„Okay, Kelly“, sagte Sam müde, „wir müssen uns beeilen. Nancy, Sie haben keinen Revolver; die Blauen können Ihnen also nichts tun. Handeln Sie also, als ob Sie ahnungslos seien und nichts wüßten. Kommen Sie, Kelly, hierher!“

Sie traten auf die Stelle zu. Etwas schien sich über ihre Köpfe zu werfen, und dann fielen sie geräuschlos nach unten. Vor ihnen breitete sich die andere Welt aus.

Wütendes Knurren wurde laut. Sechs Ruhks sahen sie aus bösen, mordlustigen Augen an. Es waren riesige Geschöpfe, und Sam verspürte ein unheimliches Entsetzen. Dann sagte Kelly. „Ich habe mich gewaschen. Verdammt, wo ist dieses Parfüm?“

Sam durchsuchte seine Taschen, und dann durchfuhr es ihn eiskalt. Er hatte den Taxifahrer beobachtet, hatte dann den Ver-kehrspolizisten beobachtet und sich schließlich um Nancy ge-kümmert. Jetzt fiel ihm ein, daß er das kleine Paket mit den Fla-schen in seiner Aufregung in der Taxe vergessen hatte.

Bitter erwiderte er: „Wir haben das Parfüm im Auto liegen-lassen, aber vielleicht kommen diese Tiere zur Tür, und dann können wir sie töten, ehe sie jemand rufen.“

Doch seine Hoffnung war nur sehr gering. Dann fiel etwas gegen sie, und plötzlich befand sich Nancy an ihrer Seite im Käfig. Das Grollen der Ruhks änderte sich nicht, sondern wurde

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nur noch lauter, denn auch das Mädchen trug den Herrengeruch nicht mehr auf sich. Auch Nancy hatte sich gebadet und die Kleider gewechselt.

*

Als Manhattan Island hinter ihnen lag, hatte die Galeere im Hudson Anker geworfen. Die beiden Boote waren an sie geket-tet. Die Männer blickten ängstlich nach Verfolgern aus, aber dabei redeten sie aufeinander ein, riefen, unterhielten sich in lärmender Weise – vielleicht, weil man ihnen als Sklaven ver-boten hatte, miteinander zu sprechen.

Es gab nur diese drei Schiffe im ganzen Hafen jener Stadt, die das New York der anderen Welt darstellte. Die Boote waren gewöhnlich als Fähren von Manhattan zu der Villa in Brooklyn benutzt worden, während die Galeere größere Vorratsmengen und bei sehr seltenen Gelegenheiten auch einen Angehörigen der Herrenfamilie transportierte. Aber es gab in der anderen Welt weder Motorboote noch Flugzeuge oder Motorfahrzeuge zu einer schnellen Verfolgung Flüchtiger.

„Warum aber bleiben die Ruhks ehrlich und treu?“ fragte Dick. „Weshalb arbeiten sie für ihre Herren? Wenn sie so intel-ligent sind, können sie doch flüchten, um freie und wilde Tiere zu werden.“

Keiner kannte das Geheimnis. „Ich habe niemals einen Herrn gesehen“, grollte ein unter-

setzter, muskulöser Mann, „aber die Ruhks haben es. Jeder Ruhk kommt für eine bestimmte, manchmal kürzere, dann wie-der längere Zeit in den Palast. Dafür sorgen schon die Aufseher. Ich kann Ihnen aber versichern, daß auch die Aufseher langsam genug haben von den Ruhks – vollkommen genug. Vor 3 oder 4 Jahren ist ein Aufseher den Ruhks zum Spiel vorgeworfen wor-den. Ich habe es gesehen, und es war das erste Mal, daß ich

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mich über das grausame Spiel der Ruhks gefreut habe. Aber die Herren kennen irgendeinen Trick, der die Ruhks zwingt, ihnen zu dienen.“

„Eines ist mir nicht klar“, sagte Dick scharf. „Die Aufseher wollen also nichts von den Ruhks wissen und geben ihnen doch ihre Befehle. Warum nehmen die Ruhks Befehle von ihnen und nicht solche von den Sklaven an?“

Ein großer Mann meinte: „Es sind die Gewänder. Den Poli-zeihunden beispielsweise bringt man bei, jedem Mann in Uni-form zu gehorchen. Nur die Aufseher tragen Gewänder, und diese sind wie Uniformen für sie. Vielleicht hat das Kleid auch einen besonderen Geruch, den die Ruhks erkennen. Sklaven hingegen sind fast nackt, denn jeder neugefangene Sklave wird zunächst einmal entkleidet. Damit wird er für die Vorstel-lungswelt der Ruhks ein Sklave.“

„Aber die Tiere sollen doch so intelligent sein“, warf Dick ein. „Genügt denn dieses einfache Entkleiden?“

„Warum nicht?“ fragte der große Mann. „Analphabetische Bauern würden ähnliche Folgerungen anstellen. Die Ruhks sind intelligent, aber nicht erzogen. Sie gehorchen einem jeden Mann, der nach ihrer Meinung uniformiert ist. Das bedeutet nicht, daß sie keinen Verstand haben; ihnen fehlen nur die ent-sprechenden Kenntnisse. Es gibt ja keine Schulen für die Ruhks; sie sind eben intelligent wie Menschen mit begrenzter Erziehung. Ja, ich bin überzeugt, daß die Ruhks in einem be-stimmten Maße einem jeden von uns gehorchen würden, wenn wir gebadet und bekleidet wären. Zumindest für kurze Zeit würden wir sie täuschen können.“

„Gut“, lachte Dick. „Dann werden wir also ein paar von uns aussuchen und sie zu Aufsehern ernennen. Einverstanden?“

Der große Mann erklärte: „Aufseher sind rasiert, doch kein Sklave hat jemals eine Klinge besessen, die er zum Rasieren oder Durchschneiden seiner Kehle benutzen könnte.“

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Dick überlegte. Er teilte den anderen seine Absichten mit, aber zu seiner Überraschung waren sie nicht begeistert.

„Wir wollen noch nicht heimkehren“, grollte der Mann mit der gebrochenen Nase. „Gewiß, wir träumen alle von einer Rückkehr zur Erde, aber das soll erst geschehen, wenn diese Bande hier vernichtet ist. Wenn es sich nur um mich handeln würde, wäre ich bereit, jede sich bietende Gelegenheit sofort wahrzunehmen. Aber es befinden sich hier viele von uns, und ich möchte erst erleben, daß mit einigen Ruhks und Aufsehern abgerechnet wird, ehe ich verschwinde.“

Murmelnde Zustimmung wurde laut. „Dann werden wir den eben erwähnten Trick durchfuhren“,

schlug Dick vor. „Ich besitze ein Taschenmesser, und wir wer-den versuchen, es zum Rasieren zu benutzen. Dann legen einige die Gewänder der getöteten Aufseher an, und wir werden weitere Gewänder herstellen, wenn wir den passenden Stoff an Bord finden. Und jetzt an die Arbeit.“

Die Leute erhoben sich und gingen, aber der große Mann blieb zurück und berührte Dick an der Schulter.

„Nur einen Augenblick, bitte“, sagte er. „Ich war einmal Pro-fessor für Physik. Vielleicht können Sie mir erklären, wie Ihr Freund es fertigbrachte, eine Tür zwischen den beiden Welten herzustellen.“

Etwas hilflos erklärte Dick ihm das wenige, das er darüber wußte. Es war nicht allzu viel. Maltby hatte ihm erzählt, daß das Verfahren darin bestand, eine zufällige und etwas überra-schende Zusammenstellung der Moleküle durchzuführen.

Ungemein aufmerksam lauschte der große Mann. Dick warf ein, daß Maltby, während er ununterbrochen und bis zur Er-schöpfung tätig war, gesagt hatte, daß das, was man gemeinhin Dimensionen nenne, unter bestimmten Voraussetzungen nur verschiedene Richtungen seien, in denen die uns bekannten Kräfte arbeiteten.

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„Und wie geht es weiter?“ fragte der andere. Dick runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern, was

Maltby weiter ausgeführt hatte. Doch als dieser seine Erklärun-gen abgab, war er maßlos müde gewesen, und Dick hatte nicht das Bedürfnis gehabt, ihm zuzuhören; auch war ihm Nancys Verschwinden sehr nahe gegangen.

Doch er bemühte sich, seine Erinnerungen zusammenzusu-chen, und begann zu sprechen.

„Weiter fällt mir nichts ein“, endete er, als er Maltbys Dar-legungen nach bestem Können, aber doch nur unvollständig wiedergegeben hatte. „Maltby war es nur seltsam vorgekom-men, daß die Crux ansata, mit der wir begonnen hatten, Wis-mut enthielt. Diese Crux muß sehr früh, vielleicht noch vor der Epoche der Fünften Dynastie, hergestellt worden sein. Die Ägypter besaßen damals noch kein Zinn, doch da Ägyptologie nun einmal mein Fach ist, konnte ich ihm erklären, daß sie über Wismut verfügten – fast zu derselben Zeit, da sie den Gebrauch des Kupfers und des Antimons entdeckten. Die Frauen, so berichten die Papyri, benutzten Antimon zum Um-schatten der Augen, damit sie größer und eindrucksvoller wir-ken sollten.“

Gespannt hörte der große Mann ihn an und zupfte dabei an einem Ohrläppchen. „Ich muß nachdenken“, murmelte er.

„Maltby“, fügte Dick hinzu, „war sehr erstaunt, zu erfahren, daß die Alten wußten, daß ein Metall das andere in einer Lö-sung ersetzen kann. So elektroplatierten sie Gold und Silber und benutzten meteorisches Eisen, um die edlen Metalle zu er-setzen, weil diese als magisch betrachtet wurden.“

„Das ist es“, sagte der große Mann. „Wenn ich Kupfer und Wismut hätte, würde ich den Versuch sofort unternehmen.“ Dann entspannten sich seine Züge. „Wo könnte ich hier schon Wismut auftreiben? Die Herren würden sicherlich keines frei-geben, und ich habe auch keine Ahnung, wo man es finden

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kann und wie es aussieht. Aber jedes Fachgeschäft auf der Erde könnte mich mit einigen Wismutteilen versehen.“

Sein Gesicht verfinsterte sich wieder. „Würden Sie Wismut erkennen?“ fragte er. Dick schüttelte den Kopf. „Ich denke mir, daß wir nach entsprechendem Suchen schon

einen Sklaven finden, der es kennt, und wenn nicht hier, dann in einem anderen Sklavenkral bei einer feingelegenen Villa“, meinte der Mann. „Wir werden versuchen, diesen Herrn hier zu vernichten, und werden anschließend einen Krieg gegen die anderen führen, um Wismut aufzutreiben.“

„Wir könnten auch den Versuch unternehmen, von einem der Käfige aus ein Tor zur Erde zu öffnen“, meinte Dick.

Jetzt schüttelte der große Mann den Kopf. „Unsere Herren sind Wahnsinnige – unsere Herren sowie alle

anderen, die mit ihnen zusammenhängen“, bemerkte er gleich-gültig. „Sie vergeuden die ganze Intelligenz ihrer Sklaven und unterdrücken dieselbe durch Brutalität, die nur dem Zweck dient, die eigene Dummheit zu schützen. Aber solche Narren sind sie doch nicht, daß sie Sklavenfallen mit geöffneten Toren zur Erde im Freien lassen, nachdem eine mit Sklaven besetzte Galeere befreit wurde. Wir dürfen sicher sein, daß sie alle Skla-venfallen und Tore eingezogen und zur Villa gebracht haben; sollten sie aber vor uns flüchten müssen, dann werden sie diese Tore vernichten. In einem Fall ganz großer Not werden sie sich vielleicht sogar auf die Erde zurückziehen, aber ich glaube nicht, daß sie die Erde lieben werden.“

Er kehrte zu den anderen zurück, und Dick wandte sich der Ausführung der dringendsten Probleme zu. Sie waren etwa 200 Meter vom Ufer entfernt vor Anker gegangen, und da sie alle verfügbaren Boote in ihren Besitz gebracht hatten, brauchten sie auch keine Angreifer zu befürchtet.

Plötzlich erschien eine nackte Gestalt an einem Steilufer, wo

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das tiefe Wasser offenbar bis dicht an das Land ging. Hinter dem gebückt rennenden Mann bewegte sich ein Ruhk. Der nackte Mann erreichte den Abhang und machte einen wunder-vollen Kopfsprung ins Wasser. Der Ruhk zögerte sekunden-lang, als er die verankerte Galeere sah, sprang dem Mann dann aber nach.

Mann und Tier flogen gleichzeitig durch die Luft, doch der Mann tauchte bereits unter, ehe der Ruhk das Wasser berührte. Das Tier hatte offenbar abgeschätzt, daß es den Mann würde töten können, ehe ihm von der Galeere aus Hilfe gebracht wer-den konnte. Der Ruhk tauchte fast sofort wieder auf, paddelte mit den Pfoten wie ein Hund und blickte sich knurrend nach seinem Opfer um.

Auf der Galeere und in den Booten erhob sich Geschrei. Dick übertönte alle Stimmen und gab seine Anordnungen, wor-auf ein Boot davonzurudern begann. Im Bug stand ein Mann mit erhobenem Speer.

Der Flüchtling durchschwamm das Wasser, und der Ruhk folgte ihm gierig. Dann drehte der Mann im Wasser sich plötz-lich um, zeigte dem Ruhk sein Gesicht und tauchte. Die Insas-sen des Bootes bearbeiteten ihre Ruder, wie sie es unter den Peitschenhieben eines Aufsehers noch niemals getan hatten. Der Ruhk knurrte und suchte nach dem verschwundenen Mann. Er schwamm gut, aber das Tauchen gehörte offenbar nicht zu seinen Kenntnissen.

Plötzlich heulte das Tier brüllend auf und schlug wild um sich, so daß das Wasser aufspritzte. Der Kopf des Mannes erschien in seiner Nähe. Er rang nach Luft und tauchte wieder unter.

Der Ruhk wandte sich voller Hast dem Ufer zu, aber der Mann tauchte hinter ihm wieder auf. Er packte das Tier beim Schwanz, während seine Rechte wild auf ihn einschlug. Wü-tend warf der Ruhk sich schließlich herum, und es entstand ein unerkenntliches Durcheinander von Schaum und Wellen.

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Von der Galeere aus konnte Dick nur das Aufsprühen des Wassers sehen. Das Boot mit den angestrengt rudernden Männern fuhr auf die Stelle zu, an der Mensch und Tier miteinander kämpf-ten. Dann ertönte ein schluchzender Schrei, und alles wurde still.

Endlich tauchte der Kopf des Mannes wieder auf. Die Män-ner im Boot streckten ihm die Hände entgegen, als der Bug den Schwimmenden erreichte. Der Ruhk trieb tot im Wasser. Der Mann mit dem Speer stieß unablässig auf ihn ein, aber die Bestie bewegte sich nicht mehr.

Einige Minuten später kehrte das Boot mit dem Geretteten zurück. Er war blaß, lächelte aber. Mit einer Hand hielt er sich den linken Arm fest, in dem aus einer tiefen Bißwunde das Blut floß. Ein Galeerensklave rief: „Bringt ihn her; ich bin Arzt.“

Der Verwundete wurde verbunden, während Dick ihm einige Fragen stellte. Der entkommene Sklave, der noch immer lächelte, erzählte seine Geschichte. Er war mit einem ihn bewachenden Ruhk zur nächsten Villa entsandt worden, um eine Botschaft den Hudson aufwärts zu bringen. Es sollte eine Zweitagereise werden.

Unweit der Villa lag noch ein kleines Einmannboot, und er hatte sich mit seinem tierischen Wächter an Bord begeben. Sie waren stromaufwärts gefahren, dann ans Ufer zurückgekehrt und hatten den bekannten Weg zu Fuß fortgesetzt. Noch vor dem Ruhk erblickte er die Galeere und die Boote, um sofort zu begreifen, was hier geschehen war. Auch der Steilhang war ihm bekannt.

Als der Ruhk die Gespräche von der Galeere vernahm, blieb er für einen Augenblick stehen, um zu horchen, während der Sklave erst weitergegangen und dann davongerannt war.

„Ich war einmal im Pazifik“, sagte er grinsend, „und da er-lernte ich von den Eingeborenen einige nette Tricks. In meinem Haar hatte ich einen großen Dorn versteckt, den ich als Dolch benutzen konnte. Ich dachte mir, daß ich, nachdem ich einmal

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einen Hai getötet hatte, wohl auch mit einem Ruhk fertig wer-den müsse. Und das gelang mir denn auch.“

Der Dorn war riesenlang und groß und besaß eine nadelartige Spitze. Da die Sklaven niemals rasiert und geschoren wurden, konnte er die Waffe mühelos in seinem langen Haar verstecken. Kein Baum der Erde hatte jemals solche Dornen getragen, aber hier …

„Welche Botschaft sollten Sie denn transportieren?“ fragte Dick. Die Lage war bereits schlimm genug, und es war wirklich nicht erforderlich, daß nun auch noch von den anderen Villen Hilfe gebracht wurde.

Der Bote zeigte ein in eine moderne Ölhaut eingewickeltes Paket, in dem sich eine an beiden Enden mit Korken verschlos-sene Metallröhre befand. Die Korken gaben bereitwillig nach, und ein aufgerolltes Blatt fiel in Dicks Hand.

„Es ist unleserlich“, sagte unwillig der Bote. „Es sind ganz verrückte Bildzeichen.“

Dick betrachtete das Blatt mit beruflichem Interesse. Es war ein pergamentähnliches Papier, sehr schön und stark, aus hand-gearbeitetem Material hergestellt. Auf ihm war mit farbiger Tinte sehr schön geschrieben worden. Anfang und Ende der Botschaft erglänzten im Goldstaub, der auf die Tusche geschüt-tet worden war, während diese noch feucht gewesen war.

Das Dokument war in ägyptischen Hieroglyphen geschrie-ben, die Dick nicht alle bekannt waren. Einige Formen gingen unzweifelhaft auf die Fünfte Dynastie zurück, aber die Sprache und Ausdrucksformen hatten sich seither gewiß verändert. Es gab wahrscheinlich Abkürzungen und mit Gewißheit neue Wör-ter. Doch es bestand nicht der geringste Zweifel daran, daß die Schrift aus dem Altägyptischen kam, und Dick war einer der wenigen, kaum hundert Mann zählenden irdischen Fachleute, die die Bedeutung dieser Worte erkennen und sie entziffern konnten.

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„Ich denke, daß ich das Pergament übersetzen kann“, meinte Dick. „Die Leute, die die Botschaft verfaßten, haben natürlich niemals damit gerechnet, daß sie nicht abgeliefert oder ein an-derer außer ihnen sie lesen könnte. Ich hoffe nur, daß wir hier-durch etwas von ihren Plänen erfahren.“

Das war tatsächlich der Fall, aber er benötigte zwei Stunden, um die Bedeutung der Nachricht herauszufinden. Vieles konnte er nur vermuten, doch schließlich brachte er es fertig, den Text einigermaßen sinngemäß wiederzugeben.

Er war blaß, als er die Lektüre beendet hatte, denn es war keine Botschaft, die ihn ermutigen konnte. Sie verlangte im Gegenteil eiliges Handeln und bedeutete zusätzlich, daß von der Erde möglicherweise keine Hilfe kommen würde. Im anderen Falle nämlich war nicht ausgeschlossen, daß auf dem zivilisier-ten Planeten so großer Schrecken und solche Zerstörung ent-standen, daß Sklaverei und Raubüberfälle der letzten 5000 Jahre direkt als Wohltat wirken mußten.

*

Die Ruhks, die Sam Todd, Nancy und Kelly anknurrten, als sie in dem Käfig auftauchten, erkannten Nancy nicht mehr als eine Angehörige der Herrenrasse, da sie logischerweise den Geruch nicht mehr auf sich trug. Sam sagte zu Kelly.

„Ich verteidige die Käfigtür, sofern die Bestien versuchen sollten, hier einzubrechen. Sie werden Nancy inzwischen durch die Tür heben. Sie wird dann auf der Erde von den Po-lizisten empfangen und an einen anderen Ort gebracht wer-den.“

Dann aber vernahm man ein leises Spritzen, nämlich das Ge-räusch eines Parfümzerstäubers, und es verbreitete sich ein an-genehmer Duft. Das Knurren erstarb, und die Tiere begannen zu schnüffeln. Die Ruhks waren erstaunt, und Nancy sagte ernst

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zu ihnen: „Ihr solltet euch schämen, jemand anzuknurren, der den Duft auf sich trägt!“

Die Ruhks warfen sich vor ihr auf den Boden und winselten erbärmlich.

„Spritzen Sie auch etwas von dem Zeug auf mich“, sagte Kelly kurz.

Sam Todd war erstaunt. Er wandte sich Nancy zu. Sie war sehr blaß, aber sie lächelte und trug einen blitzenden Metallge-genstand sowie ein Paket in den Händen.

„Sie vergaßen, Sam, daß ich nach hier kam, um Dick den Herrengeruch zu übertragen“, sagte sie, „und so habe ich das hier mitgebracht …“ Sie zeigte die mit Parfüm bis an den Rand gefüllten kleinen Flaschen sowie einen ebenfalls vollen Krug. „Sie hatten das in der Taxe vergessen, aber ich nahm es an mich.“

Jetzt hatte sich die Lage vollkommen gewandelt, und sie handelten auch In entsprechender Weise.

Kelly verließ als erster die Falle. Er trug Kleider, die die Ruhks erkennen ließen, daß er eigentlich niedergeworfen und ausgezogen werden mußte. Aber er hatte den Geruch der Götter auf sich.

Als nächster ging Sam Todd hinaus und hielt nach wie vor die Pistolen schußbereit in der Hand. Doch obgleich sich sein Verdacht nicht minderte, mußte er schließlich doch weichen, als die Tiere sich winselnd vor ihm ausstreckten. Er weigerte sich aber, etwas zu tun, ehe er die noch leeren vielen kleinen Fla-schen, die er in der Tasche trug, ebenfalls mit Parfüm gefüllt hatte.

Nachdem sie sich selbst noch einmal einparfümiert hatten, sagte Sam zu Kelly: „Versuchen Sie doch einmal, ob Sie von diesen Tieren nichts über die Galeere erfahren können.“ Er selbst konnte sich mit ihnen nicht unterhalten, da er ihre Ant-worten nicht verstand.

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Während Kelly sich autoritär mit den Tieren unterhielt, be-gab Sam sich an die Falle. Im Dach des Käfigs befand sich eine runde Scheibe, die den Eingang bildete. Wenn man dieselbe nicht entfernte, konnte ein gelenkiger Mann durch sie mühelos wieder auf die Erde zurückklettern, aber die meisten Menschen waren nach ihrem Sturz wohl zu entsetzt, um eine solche Mög-lichkeit zu erwägen.

Kelly trat neben ihn. „Die Galeere liegt irgendwo auf dem Hudson“, berichtete er. „Die Ruhks hörten Geheul, das die Nachricht verbreitete; das aber ist alles, was sie wissen.“

Damit konnte man wenig anfangen. Das Wolfsheulen trug die Nachrichten über weite Gebiete und setzte die Ruhks über alle Ereignisse in Kenntnis.

„Gut“, meinte Sam, „doch zunächst haben wir eine andere Arbeit vor uns. Wir werden diesen Wagen an seiner Deichsel mit uns ziehen und versuchen, ihn durch das zu bringen, was eigentlich die Straßen New Yorks sind, ohne daß uns fette Frauen und Katzen hereinfallen. Mit Hilfe des Guckloches werden wir uns zur nächsten Polizeiwache begeben und dort Tränengas-bomben und vielleicht auch einige Gewehre stehlen. Dafür werden wir dieses Tor hier benutzen.“

Durch das Guckloch blickte er auf die Straße New Yorks, aus der sie nach hier gekommen waren. Es wimmelte von Po-lizisten, die die drei so plötzlich verschwundenen Leute such-ten.

Sam steckte das Guckloch wieder ein, und sie machten sich auf den Weg. Die drei Menschen gingen in die westliche Rich-tung, und dann tauchten in einer Polizeistation einige Quecksil-berlachen auf. Anschließend fehlten auf der Erde einige Trä-nengasbomben sowie zwei Gewehre und die dazu gehörende Munition. Die Männer, die auf der Wache soeben Dienst hatten, würden später natürlich einige Schwierigkeiten haben, weil man ihnen diese Dinge sozusagen vor der Nase gestohlen hatte.

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Doch Sam und die anderen machten sich deswegen keine Sor-gen, sondern begaben sich weiter.

Sechs große Tiere umgaben sie, rannten manchmal vorwärts und blieben zurück, kehrten aber immer wieder, um demütig den Herrengeruch einzuatmen.

Sam begann sich Sorgen zu machen. Er brauchte ein Boot Natürlich konnte er alles, was er benötigte, von der Erde stehlen, aber wie sollte er ein Boot der gewünschten Größe durch ein Tor bekommen, das nur für Menschen geschaffen war?

Von Zeit zu Zeit blickte er durch das Guckloch in das richtige New York, um dann schließlich auf dem Hudson River die Antwort auf seine Frage zu finden. Dort stand ein kleines Bootshaus, in dem die Kanus für die Bewohner eines nahe ge-legenen Appartementhauses eingelagert waren.

Zwei Stunden nach ihrer Ankunft in der anderen Welt waren sie am Hudson eingetroffen. Dann brauchten sie weitere andert-halb Stunden, um zwei kleine Kanus zu entwenden und diese durch eine Plattform zu verbinden, auf die sie dann einen Außen-bordmotor befestigten.

Jetzt besaßen sie also ein Motorboot, das sie vorwärts brin-gen konnte. Ihr Fahrzeug war in geringem Maße sogar seetüch-tig und fuhr nicht einmal so langsam.

Als sie sich von der Küste entfernten, heulten die Ruhks ih-nen lärmend nach, weil sie zurückbleiben mußten.

Sam warf den Motor an, der zu seiner Überraschung sofort ansprang und recht ordentlich lief. Sie fuhren stromaufwärts, während das verzweifelte Geheul der Tiere ihnen in die Ohren klang. Die Tiere folgten ihnen am Ufer, so lange sie konnten, kamen aber bald außer Sicht.

Sie waren noch nicht allzu weit gefahren, als sie die Galeere erblickten. Das Fahrzeug war an einer Stelle vor Manhattan Island verankert, und zwar in einer Gegend, die auf der Erde der 70. Straße von New York entsprach. Irgendeine Bewegung

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war vorerst weder auf der Galeere noch auf den beiden angetäu-ten Booten zu erkennen. Als sie dem Fahrzeug jedoch näher kamen, heulten ihnen Männerstimmen warnend entgegen, wäh-rend drohend die Ruder erhoben wurden.

„Dick müßte mich eigentlich erkennen“, meinte Nancy un-behaglich. „Was meinen Sie, Sam?“

Dann erhob Kelly sich im Bug des rechten Kanus. Seine Stimme übertönte das Geschrei der Sklaven, und als er zu spre-chen begann, verstummte deren Lärm schlagartig.

Es befand sich nicht mehr als ein Dutzend Menschen an Bord der Galeere. Sie blickten fassungslos, als der Motor schwieg und die beiden Kanus näher kamen.

Kelly kletterte an Bord, und die beiden anderen hörten ihn sprechen. Sie sahen, wie er seinen Pullover abstreifte und ihnen die Peitschennarben zeigte. Doch am überzeugendsten waren die Waffen, die er gleichgültig zu Boden legte.

Dann beugte er sich über die Reling. „Die Leute sind ans Ufer gegangen“, rief er Sam und Nancy

zu. „Einige von ihnen haben sich wie Aufseher gekleidet. Sie beabsichtigen, die Sklavenlager zu überfallen, und wollen die Ruhks bekämpfen, bis sie eine Falle gefunden haben. Die wol-len sie dann erobern, um durch sie zur Erde zurückzukehren.“

„Wir müssen ihnen nach – mit dem Geruch“, rief Nancy aus. „Einverstanden“, nickte Sam. „Wer von den Männern Lust hat

mitzukommen, soll sich uns anschließen – aber schnell.“ „Sie möchten schon mitkommen“, meinte Kelly, „aber sie

haben keine Waffen und fürchten sich deshalb.“ Sam zerstreute ihre Befürchtungen, die Männer nahmen in

den Kanus und den ins Schlepptau genommenen Booten Platz, der Motor begann zu tuckern, und so fuhren sie an die Küste.

Nancy sah sich die Männer an und erschauerte. Sie hatte Kelly gesehen, wie er vor ihr auftauchte, nur mit einem Lendenschurz bedeckt und entsetzliche Narben auf dem Körper; weil aber sie

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sich so entsetzlich vor den winselnden Ruhks gefürchtet hatte, war er ihr doch als ein menschliches Wesen erschienen. Doch diese entsetzlich aussehenden, vernarbten Männer wirkten ge-radezu erschreckend.

Nüchtern bat Kelly: „Geben Sie ihnen etwas von dem Duft. Es ist besser, eine oder zwei Flaschen herauszurücken. Wenn sie erst feststellen, daß das Parfüm ihnen Sicherheit bringt, wer-den sie auch wieder ruhiger,“

Es war am Spätnachmittag, kurz vor Sonnenuntergang, als die seltsame Gruppe ihren Weg durch den Urwald begann. Kelly und Sam besaßen Gewehre sowie Pistolen, und auch zwei andere Männer waren mit Gewehren bewaffnet. Unterwegs ver-teilte Sam den Rest des kleinen Arsenals, das er auf sich getra-gen hatte.

Riesige Bäume und ein seltsames Unterholz umgaben sie. Aus den Bäumen erklangen die Rufe unbekannter Tiere.

Als sie etwa einen Kilometer weit gegangen waren, hörten sie plötzlich Schüsse, viele Schüsse. Sie begannen zu laufen. Das Schießen wurde lauter, und Sam rief einem Galeerenskla-ven zu:

„Wie viele Gewehre haben unsere Leute?“ „Vierzehn“, stotterte der Sklave. „Der Rest ist mit Speeren

bewaffnet.“ „Da vorn schießen bedeutend mehr“, rief Sam. „Machen wir

rasch.“ Sie eilten auf den Kampflärm zu, der näher und näher kam.

Jetzt vernahmen sie auch Rufe und Schreie. Mindestens 50 Gewehre mußten dort in Aktion sein.

Und es waren 50 Schußwaffen verschiedener Art, denn eine Expedition, die von dem Herrn der Villa entsandt worden war, hatte sich am frühen Morgen nach Manhattan Island begeben, um Maltby zu entführen. Sie bestand ausschließlich aus Aufse-hern und Ruhks.

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Sie hatten Maltby auftragsgemäß entführt, konnten aber nicht zur Villa zurückkehren, weil die große Galeere verschwunden war. So war die Abteilung sehr verstimmt beim Sklavenpferch eingetroffen.

Dick Blair und seine angeblichen Aufseher, die tun wollten, als ob sie eine Reihe geflüchteter Sklaven wieder eingefangen hatten, traten auf diese Weise 40 bewaffneten Männern im Sklavenlager gegenüber, von denen jeder mit Pistole und Speer ausgestattet war – gegen die 14 unterschiedlichen Schußwaffen der Angreifer. Und dann wurden sie dort auch von den Ruhks erwartet.

Es kam zu einer richtiggehenden Schlächterei. Von Anfang an schien eine Niederlage unvermeidlich zu sein, aber kein Mensch floh, solange noch die Möglichkeit bestand, einen Ruhk oder Aufseher mit einer Kugel zu töten. Nicht einmal die unbewaffneten Sklaven ergriffen die Flucht, denn jeder hoffte, daß ein Bewaffneter sein Leben verliere und er dann dessen Waffe benützen könne.

Tiergestalten tauchten auf dem Wege auf – grollend und knurrend. Doch dann blieben die Ruhks stehen und legten sich vor Kelly und Sam, vor Nancy und den Sklaven winselnd auf den Bauch.

Haßerfüllt feuerten die Sklaven, und die winselnden Ruhks ließen sich widerstandslos töten. Einige rannten heulend davon. Sie konnten keine Wesen angreifen oder ihnen widerstehen, von denen man ihnen in 2000 Generationen beigebracht hatte, daß sie ihnen gehorchen müßten.

Eine Panik überkam die Tiere, weil sie von ihren Göttern ge-schlagen wurden.

Weiter vorn schossen die wenigen Männer im Urwald, um sich einen Rückzug zu sichern. Aber Urwaldkampf war die be-sondere Spezialität der Ruhks. Die speerbewaffneten Sklaven mußten sich Seite an Seite stellen und eine Wand von Speeren

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gegen die Ruhks bilden. Und doch kamen die Tiere näher und konnten die Menschen fassen.

Natürlich starben viele Ruhks, aber auch Menschen verloren ihr Leben. Es war ein großes Durcheinander und ein schreckli-cher Lärm. Als die Neuankömmlinge auf die kämpfenden, ver-zweifelten Sklaven losrasten, sprangen Ruhks gegen sie an, fielen dann aber winselnd auf den Bauch. Die Männer aber, die eben erst von der Galeere kamen, erkannten nunmehr, daß sie den Ruhks entgehen konnten. Und mit brüllendem Gelächter warfen sie sich auf die Tiere und töteten sie.

Nancy kämpfte sich durch bis an Dicks Seite und besprengte ihn mit dem Herrschergeruch.

Dick begriff sofort. „Bespritzen Sie bitte alle erreichbaren Leute“, rief er ihr zu, und Nancy gehorchte. Und von diesem Augenblick an wurden die Sklaven nicht mehr angegriffen. Der Herrscherduft lagerte auf diesem ganzen Flecken. Winselnd zogen die Ruhks sich zurück, und als die Aufseher ihnen befah-len, erneut anzugreifen, heulten sie verzweifelt auf.

Dann rannte Kelly aus der Sklavengruppe hervor, denn die Gottheit umgab auch ihn. Durch Gesten und Worte befahl er den Tieren, die Aufseher anzugreifen. Sie taten es begeistert, und damit wurde der Spieß umgedreht. Diesmal standen die Ruhks mit den Sklaven im Bunde. Sie stürzten sich auf die ge-ruchlosen, bekleideten Männer, und die Aufseher entsetzten sich und glaubten den Verstand zu verlieren. Sie flüchteten, aber diejenigen, die nicht von den Sklaven überwältigt wurden, wurden zu Opfern der Ruhks.

Keiner der Aufseher kam mit dem Leben davon, ausgenom-men diejenigen, die in den Sklavenpferch geflüchtet waren. Und jetzt zeigte es sich, wie wertvoll es gewesen war, die Skla-ven als Aufseher zu verkleiden. Mit den geradezu auf den Bäu-chen rutschenden Ruhks näherten sie sich dem Pferch und brachten auch die dort noch gebliebenen Aufseher ums Leben.

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Die im Pferch wachenden Ruhks warfen sich vor den An-kömmlingen auf den Bauch, wurden aber rücksichtslos vernich-tet. Dann betraten andere Menschen den Pferch und bewegten sich unter den erschütterten und überraschten Sklaven, um diese mit dem süß riechenden Parfüm zu besprengen. Sie setzten ihre Arbeit fort, bis auch der letzte Sklave den Duft auf sich trug, der für die Ruhks Unverletzlichkeit bedeutete. Dann jagten sie alle Ruhks in den Pferch und töteten sie.

5000 Jahre lang waren die Ruhks die Opfer einer Entdeckung gewesen, die die Zauberer Ägyptens machten, als sie sich erst-mals durch diese Welt bewegten. Der Geruch hatte sie zur Treue gezwungen einer Rasse gegenüber, die über Ruhks, Auf-seher und menschliche Sklaven mit derselben Autorität und Unerbittlichkeit herrschte. Jetzt konnten die Tiere einfach nicht fassen, daß sie von Menschen vernichtet wurden, die den Göt-tergeruch auf sich trugen. Einige winselten nur, als sie getötet wurden; andere kämpften, waren dabei aber halb gelähmt durch den 5000 Jahre lang gezüchteten Instinkt.

Aber sie starben alle. Die Nacht brach herein, und im Sklavenpferch brannten große

Feuer, in deren Licht begeisterte, halbnackte Menschen tanzten. Dick rief jene Männer um sich, die sich bereits auf der Galeere als Führer erwiesen hatten. Es waren ein Mann mit einem nar-bigen Gesicht, ein anderer von untersetzter, gedrungener Ge-stalt, und ein dritter, der Professor der Physik gewesen war. Dick hatte schließlich auch Maltby entdeckt, der dann von Nancy sofort mit dem Parfüm besprengt worden war.

Dick also versammelte die Männer um sich und setzte sie von seinen Plänen in Kenntnis. Jubelnd und singend kehrte man dann durch den Urwald zurück zu den Schiffen. Die Leute tru-gen Fackeln und schoben die Maschine vor sich her, durch die sie alles von der Erde erlangen konnten, was immer sie sich wünschten. Sam Todd hatte in dem Gewand eines Aufsehers

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sogar eine Brille entdeckt, die er wiedererkannte. Diese Brille auf der Nase, ging er durch den Urwald und konnte gleichzeitig die Erde und die andere Welt beobachten.

Die triumphierenden Männer erreichten den Strom, zogen die Boote ans Ufer, errichteten zwischen ihnen eine Plattform und brachten auf ihr den Apparat unter. Das verdoppelte Kanu transportierte ihn dann hinüber zur Galeere.

Mit einiger Anstrengung wurde der Apparat auf die Galeere geladen, worauf sie losfuhren. Sam Todd gab das Guckloch an Dick zurück und blickte selbst durch die Brille des toten Aufse-hers in die Nacht. Schließlich ging die Galeere vor Anker, und die Männer gerieten ins Schwitzen, als sie den Apparat erneut an Land zogen, und zwar an einer Stelle, die eigentlich Governor’s Island war.

Sam führte die Männer durch die Dunkelheit, denn Governor’s Island stellte einen wichtigen Stützpunkt der Armee und vor allem der Luftwaffe dar und war daher für jeden erdenklichen Notfall ausgestattet.

Da gab es Gewehre, Munition und Handgranaten sowie an-dere Dinge, die den Männern von der Galeere und den Booten bedeutsamer waren als reines Gold. Und in dieser Nacht verlor die Armee viele und wichtige Ausrüstungsstücke.

Dann kehrten Sam Todd und seine Männer zurück, um die Boote und die Galeere zu beladen. Dick nahm an dieser Arbeit nicht teil. Er sprach mit Nancy und versuchte sie zu überzeugen, daß es wichtig für sie sei, auf die Erde zurückzukehren. Doch das Mädchen schüttelte den Kopf und weigerte sich, seinem Wunsch nachzukommen.

Als Dick ihr dann erklärte, weshalb weder er noch ein anderer Mann unter den Sklaven jetzt auf die Erde zurückkehren konnte, erschauerte sie, sah aber seine Darlegungen als neuen und wei-teren Grund an, bei ihnen zu bleiben.

Ein wenig unsicher standen sie einander gegenüber, denn

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Dick hatte zwar beschlossen, daß kein anderer Nancy jemals heiraten dürfe, hatte sich ihr gegenüber aber noch nicht erklärt. Plötzlich sagte er drängend: „Wir müssen wenigstens für so lange Zeit zurückkehren, daß wir heiraten können.“

Sie lächelte sanft, und damit war auch dieser Zwiespalt bei-gelegt.

*

Als die Galeere und die Boote wieder durch die Dunkelheit fuh-ren, rief Dick die Besatzung eines jeden Bootes an und gab allen seine Instruktionen. Dann begann die eigentliche Expedition.

Alle drei Fahrzeuge legten an der Manhattanküste an. Als nach kurzem Marsch die schwachen Lichter der Villa sichtbar wurden, gab Dick ein Zeichen, und eines der Boote fuhr an die Brooklynküste.

Noch ehe einige Ruhks sie erblicken und Alarm geben konn-ten, begaben sich einige Männer an Land und folgten dort der Uferlinie. Die sie vielleicht erblickenden Ruhks konnten jetzt getrost auf sie zukommen; sie würden sofort unter ihren Kugeln sterben.

Die Galeere wurde am Steg der Manhattanküste befestigt, wo Dick den ersten Aufseher erschossen und das erste Boot erobert hatte.

Eine duftausstrahlende, zum Töten bereite, bewaffnete Gruppe folgte dem Pfad bis an den Sklavenpferch. Für einmal blieb Nancy freiwillig hinter den Leuten zurück und unterhielt sich mit Maltby.

Ein verwundeter Ruhk hinkte den Weg entlang auf den Kai zu. Ein Angehöriger der Galeerenwache eilte ihm entgegen – ein Mann, der nach Gottheit roch. Der Ruhk stolperte mühsam auf ihn zu und stieß Laute aus, die von dem Unheil an dem ersten Sklavenpferch berichteten. Die Wache tötete das Tier.

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Inzwischen fuhr das andere Boot an der Villa vorbei und setzte den größten Teil der Besatzung an Land ab.

Dicks Plan wickelte sich wunschgemäß ab. Es war ein sehr einfacher Plan.

Menschen bewegten sich durch den Urwald, um einen großen Halbkreis um die Villa zu schließen – weit hinter den Keinen der menschlichen Wächter. Dort würde es natürlich auch Ruhkpa-trouillen geben, aber man konnte die Tiere entweder töten oder ihnen befehlen, den ehemaligen Sklaven zu gehorchen.

Als die Nacht bis zu einem gewissen Zeitpunkt vorgeschrit-ten war, ließen sich kaum mehr Ruhkpatrouillen entdecken. Von einem Sklavenpferch her, in dem sich die als Gärtner be-schäftigten Sklaven aufhielten, ertönte ein einzelner Schuß. Da-nach begab sich eine Reihe von befreiten Sklaven, die einen seltsamen Duft ausströmten, durch den Urwald bis an ein Boot, wo sie sich bewaffneten. Jeder Mann und jede Frau bekam eine Waffe, ohne daß man in der Villa etwas von diesem Tun be-merkt hätte.

Der Herr der Villa war bis jetzt nicht gestört worden; allen-falls war er etwas verwirrt. Man hatte festgestellt, daß ein Mann die Villa durch ein zwischendimensionales Fenster beobachtet hatte. Später erblickte man ihn als freien Menschen auf Manhat-tan Island – mit Waffen in den Händen. Er war der durch ihn angeordneten Festnahme entgangen und hatte für jemand eine Botschaft zurückgelassen. Anscheinend hatte ein unabhängiger Experimentator es fertiggebracht, die andere Welt zu entdecken, hatte sie erreichen können und es fertiggebracht, mit Leuten, die noch auf der Erde waren, in Verbindung zu bleiben.

Da er eine Botschaft an einen Baum gehängt hatte, die der andere nicht erreichen konnte, mußte das Vorhandensein dieser anderen Welt für die Mehrzahl der Erdenmenschen noch ein Geheimnis sein.

Jedenfalls hatte der Herr der Villa befohlen, daß der auf der

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Erde befindliche Gefährte des Eindringlings gefangengenom-men werde. Von ihm würde man erfahren können, wie viele Menschen in das Geheimnis eingeweiht waren und wo man sie finden konnte. Wenn es möglich war, würde man auch diese Wissenden gefangennehmen und in die andere Welt bringen, um sie den Ruhks vorzuwerfen. Würde es aber sehr viele Wis-sende geben, dann würde man die bereits vor langer Zeit be-schlossene Methode anwenden, um die Entdeckung der anderen Welt durch die Erdenmenschen zu verhindern.

Von einer Eroberung der Galeere wie auch der Gefangen-nahme des gesuchten Mannes hatte der Herr bis jetzt nichts er-fahren. Zu seinem Ärger war ihm über den Ausgang seiner Auf-träge nichts mitgeteilt worden, weshalb er bereits beschlossen hatte, einen der Aufseher den Ruhks zu übergeben.

Als die Galeere in den letzten Nachtstunden den Strom über-querte, war sie bis an den Rand mit Geschöpfen beladen, die einmal zivilisierte Menschen gewesen waren, jetzt aber als le-bende Inkarnationen der Rache angesehen werden mußten. Große Gruppen gingen gleichzeitig auf dem Landweg gegen die Villa vor, um zu verhindern, daß sie durch die Gärten und den Urwald verlassen wurde.

Dann erhob sich die Sonne. Ein Schuß krachte, und in ge-schlossener Formation bewegte sich die Armee der ehemaligen Sklaven auf die Villa zu.

Es war eine schöne und große Villa mit wunderbaren, gutge-pflegten Gärten. Hier und dort wurden die Rufe der Sklaven laut. Dann vernahm man das Knallen von Schüssen.

Doch keine der Parteien ließ sich auf Verhandlungen ein, und nicht im entferntesten dachte man daran, wegen irgendwel-cher Übergabebedingungen zu sprechen. In den vergangenen 5000 Jahren war es gewiß schon mehrfach zu Sklavenaufstän-den gekommen, von denen der eine oder andere mit Gewißheit auch Erfolg gehabt hatte.

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Die Aufseher fürchteten sich, das war unverkennbar, doch sie unternahmen eigentlich nichts, um den Angriff aufzuhalten. Sie schossen nur aus den oberen Fenstern und trafen einige Sklaven. Doch die Angreifer unterwarfen sich einer stummen Disziplin. In einzelnen Gruppen suchten die Menschen Schutz hinter Blumenbeeten und Sträuchern, um von hier aus die Fenster zu beschießen. Hierbei verloren viele Verteidiger ihr Leben. Fiel vom Hause her auch nur ein einzelner Schuß, dann wurde er gleich durch einen ganzen Geschoßhagel beantwortet.

Jetzt hörte jedes weitere Vorwärtsdringen auf. Die Angreifer warteten und hatten jede in der Umgebung des Hauses befindli-che Deckungsmöglichkeit ausgenutzt. Und sie waren Leute, die die gehaßten Unterdrücker vernichten wollten.

Dann aber schien die Erde Ruhks auszuspeien – Tiere, die aus dem Palast kamen. Man hatte sie in die Villa gebracht, da-mit sie dort ihren Herrn kennenlernten und um die Düfte der Gottheit einzuatmen. Beim Anblick des Herrn waren sie gera-dezu in Ekstase geraten.

Jetzt schickte er sie aus, um die rebellierenden Sklaven aus-einanderzutreiben, und sie rannten direkt in das Feuer hinein. Ein Dutzend von ihnen fiel, und die anderen erreichten die An-greifer. Dann aber zuckten sie zusammen und erzitterten, weil sie diese Männer nicht angreifen konnten.

Hierauf versuchte eine verzweifelte Reihe von Aufsehern, den Ring der Sklaven zu durchbrechen, um sie von der Flanke her zu erfassen. Der Angriff der Ruhks hatte sich als ein großes Fiasko erwiesen, denn keines der überlebenden Tiere unter-nahm den Versuch, gegen die Sklaven anzugehen.

Der Angriff der Aufseher endete noch katastrophaler, denn als alle Männer das Freie erreicht hatten, explodierte unter ihnen eine Granate. Ein rothaariger Mann warf eine weitere Granate in ein Fenster hinein und ließ ihr eine zweite, eine dritte und vierte folgen. Freudiges Aufheulen ertönte, und dann stürzten

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die Sklaven wütend und brüllend durch die Tore in die Villa selbst hinein.

Danach hörte man für kurze Zeit Kampflärm, der aber nicht lange andauerte.

In einem Teil der Villa befanden sich Kinderzimmer. Zit-ternde junge Sklavenmädchen wurden verschont, doch einige wenige Aufseher kämpften wütend und mit den letzten Kräften, bis sie zusammenbrachen. In einem Raum entdeckte man Frauen der Herrenrasse, sehr zart und hübsch anzusehen, wunder-voll in schöne Stoffe gekleidet. Sie hatten sich selbst den Tod gegeben.

Zum letzten Kampf kam es in der ehemaligen Waffenkam-mer der Villa. Hier verteidigten sich die überlebenden Aufseher in verzweifelter Weise, und als die Sklaven schließlich den Raum erstürmten, erkannten sie auch die Ursache ihres Mutes. Hier befanden sich nämlich die Tore zur Erde, und man war eben dabei, dieselben zu vernichten. Auf dem Steinboden in der Mitte des Raumes brannte ein großes Feuer.

In diesem Raum befand sich auch ein Kind, ein großäugiges, herrscherhaft aussehendes, vielleicht 6 Jahre altes Mädchen. Es stand neben einem Mann, der von dem zarten Typ der über-züchteten Herrenrasse war.

Während seine Diener bis in den Tod kämpften, entleerte der Vater des Kindes Schmuckkassetten. Er legte dem Kinde goldene Ketten um Hals und Hände und füllte die kleinen Taschen des Mädchens mit Edelsteinen. Dann schob er das Kind durch eine große Scheibe von Kupferlegierungen. Die Kleine verschwand.

Rasch warf der Herrscher die Scheibe in die auflodernden Flammen, ergriff dann eine Waffe und stürzte sich in das Kampfgewühl. Binnen weniger Minuten hatte er das Leben ver-loren.

Einige der befreiten Leute verlangten, sofort auf die Erde zu-rückzukehren.

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Andere, vor allem die Frauen, protestierten bitter gegen eine Rückkehr. Auch viele Männer schämten sich, zur Erde zu gehen.

Nachdem sie ihre Rachegelüste befriedigt hatten, fiel ihnen ein, daß es in der anderen Welt noch weitere Villen gab. So be-fand sich eine in der Nähe von Albany, eine weitere unweit von Philadelphia und eine bei Boston. Dort warteten andere Männer in Sklavenpferchen auf die Freiheit.

Dann zeigte Dick Blair den anderen die Übersetzung, die er von der Botschaft des Herrn gemacht hatte. Diese lautete:

„Von Zozor, dem Sohn Hatons, von der Rasse der Herren und Beherrscher der Menschen und Ruhks, an Kahfre, dem Sohn Siuts, dem Sohne von Zoros Onkel – Gruß zuvor.

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Ein Sklave vom Land der Sklaven, Erde oder New York, läuft in meinem Lande frei herum. Er kam auf eigene Veranlas-sung aus dem Land der Sklaven, konnte aber nicht gefangen werden. Ein anderer, der im Lande der Sklaven geblieben ist, weiß von seinem Hiersein. Ich habe Ruhks und Diener ausge-schickt, um ihn zu fangen und zugleich seinen Gefährten hier-herzuholen, um ihn zu verhören. Laß die gedruckten Nachrich-ten des Sklavenvolkes, die Du jeden Tag von Deinen Dolmet-schern erhältst, genau durchsuchen und überprüfen, ob sie ir-gendwelche Beschreibungen oder Mitteilungen aus unserer Welt veröffentlichen. Wenn solche Nachrichten erscheinen soll-ten, dann teile es allen Angehörigen unserer Rasse mit und for-dere sie auf, Feuer, Tod und Pestilenz im Lande der Sklaven zu verbreiten; sie sollen diese in jedes Haus und jede Stadt tragen, so daß sie durch ihre eigenen Sorgen unser Land vergessen. Tue es in jener Art, in der es in den Tagen unserer Väter vereinbart wurde, beginne es aber nicht, bevor die Nachrichten der Erde unsere Welt erwähnen. Lebe wohl. Dies schreibt Dir Zozor, der Sohn Hatons, von der Rasse der Herrscher und Beherrscher der Menschen und Ruhks.“

„Es gibt gewiß andere Villen und weitere Sklaven“, sagte Dick, als er die Lektüre beendet hatte. „Die Sache hat einmal in Ägypten begonnen und sich dann über diese ganze Welt verbrei-tet. Diese Herren kennen jedenfalls nur eine Furcht: daß nämlich die Menschen unserer Erde etwas über ihre Welt erfahren könn-ten und dann eintreffen, um sie zu zerstören. Wenn man bei uns also von dieser anderen Welt spricht, werden sie mit ihrem Ver-nichtungswerk beginnen. Natürlich werden sie die Menschheit nicht auslöschen, aber sie können Feuer in den Keller eines jeden Hauses, eines jeden Gebäudes und Treibstofflagers tragen. Sie können das Trinkwasser durch Bakterien verseuchen und alle Lebensmittel vernichten. Sie können auch Bomben stehlen und sie an jeder beliebigen Stelle zur Explosion bringen.

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Dabei könnte ihnen keiner Einhalt gebieten. Unsere Rück-kehr zur Erde würde für die Herren dieser Welt jedenfalls eine Katastrophe bedeuten. Sie würden die Menschheit nicht ver-nichten, wohl aber dicht an den Abgrund bringen, würden je-denfalls viel von unserer Zivilisation zerstören. Deshalb sollten wir hier erst beginnen, gegen sie anzugehen. Wir müssen alle Herren und Aufseher sowie sämtliche Ruhks töten, bis zumin-dest unser Land vor ihrer Rache sicher ist. Vielleicht können wir sogar noch weitergehen. Wenn wir jeden Sklavenpferch vernichten und alle Sklaven befreien, können wir als Eroberer statt als Opfer uns zurück auf die Erde begeben.“

Die anderen nickten beeindruckt. Das Argument hatte vieles für sich.

Noch vor dem Sonnenuntergang am Tage des Sieges sah Dick, wie tote Männer aus der Villa getragen wurden. Man schickte sich an, ihre Bestattung vorzubereiten. Das wirkte, als ob es eine Selbstverständlichkeit sei und man überzeugt wäre, daß das Leben hier weitergehen müsse.

Dick bedachte dann die Aussichten eines Kriegszuges, der sie stromaufwärts führen würde. Ein solcher würde einfacher sein als dieser Angriff hier, denn er mußte für die Angegriffenen eine schmerzhafte und peinliche Überraschung darstellen. Hun-dert bewaffnete Männer, die den Herrengeruch auf sich trugen, würden für diesen Zweck genügen. Kein Ruhk würde vor ihrem Eintreffen warnen, keine Aufseherrotte würde gesammelt wer-den, um sich ihnen entgegenzuwerfen.

Der große Mann, der einmal ein Professor der Physik gewe-sen war, stellte sich neben Dick, als er eben eine Besprechung abschloß, in deren Verlauf Sam Todd ihm dargelegt hatte, daß er an der Expedition teilnehmen würde.

„Keiner von uns beabsichtigt, zur Erde zurückzukehren“, sagte der Professor trocken zu Dick. „Kein Mann und keine Frau, die hier als Sklave tätig war, möchte wieder auf die Erde

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zurück. Sie schämen sich. Natürlich stellen sich damit verschie-dene Aufgaben. So muß jemand in diskreter Weise Traktoren und andere Maschinen, muß Kleider, Rasierapparate und Le-bensmittel beschaffen, um sie durch einen Toreingang nach hier zu bringen. Im Palast befinden sich Gold und Juwelen genug, durch die das alles bezahlt werden kann. Wir hoffen, daß Sie diese Aufgabe übernehmen. Außerdem möchte ich Sie bitten, mir etwas Wismut zu beschaffen. Ich habe mich mit Ihrem Freunde Maltby unterhalten. Er kann Toreingänge machen, die so groß sind, daß sie selbst von hochseetüchtigen Schiffen be-nutzt werden können. Verstehen Sie, wir haben hier eine Auf-gabe durchzuführen, die es wert ist, angegriffen zu werden. In 5000 Jahren haben diese Teufel Villen an hundert, vielleicht sogar an tausend verschiedenen Stellen erbaut, die dem Erdbo-den gleichgemacht werden müssen.“

„Vielleicht aber gibt es doch den einen oder andern unter Ih-nen, der zurückkehren möchte“, sagte Dick.

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„Keiner von ihnen wird zurückkehren“, erklärte der große Mann. „Wir haben darüber abgestimmt. Keiner hat sich für die Rückkehr auf die Erde ausgesprochen; jeder will bleiben, zu-mindest für eine bestimmte Zeit. Ich bezweifle sogar, daß über-haupt noch einer von uns jemals zurückkehren wird. Wir haben uns nämlich auszumalen versucht, was geschehen würde, wenn die Erdenbewohner etwas von diesem Planeten erfahren sollten. Können Sie sich den Wettlauf der einzelnen Nationen nach be-stimmten Teilen dieser Welt vorstellen? Können Sie sich vor-stellen, wie sie Bomben werfen werden durch ihre Tore – von der Erde auf diese Welt, und von dieser Welt auf die Erde?“

Dick fuhr etwas zusammen und nickte. „Von hier aus können wir jedem Krieg auf der Erde Einhalt

gebieten“, fuhr der große Mann fort, „und ich glaube, daß wir es tun werden. Wir haben bereits zu viele Morde und Grausam-keiten erlebt.“

„Vorhin sprach ich mit einigen anderen Leuten“, gab Dick zu, „und habe festgestellt, daß sie wie Sie selbst denken.“

„Gewiß“, nickte der große Mann. „Doch im Augenblick stellen wir uns lediglich die Aufgabe, alle anderen Sklaven zu befreien. Außerdem werden wir verhindern müssen, daß ein zwischen-dimensionaler Angriff auf die Erde verübt wird. Wir werden aber jemand benötigen“, wiederholte er, „der alles für uns Not-wendige erwirbt und uns von Zeit zu Zeit berät. Für diesen Zweck brauchen wir jemand, der niemals ein Sklave war, denn wir sind durch unseren Aufenthalt hierselbst dazu veranlagt, leicht ins Extreme zu fallen.“

„Es war mein Plan“, erwiderte Dick, „mich mit Maltby auf die Erde zu begeben. Dort wollte ich jene Dinge kaufen, die hier benötigt werden, möchte anschließend heiraten und dann nach hier zurückkehren.“

Und so sollte es auch geschehen. Sie brachten den Apparat mit dem Toreingang an seinen frü-

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heren Platz in der Villa zurück. Er würde niemals mehr benutzt werden, um die Erde zu berauben. Danach machten sie sich daran, sich von den Kampfspuren zu säubern, und es gab Hun-derte zusätzlicher Dinge, die erledigt werden mußten. Dick stellte eine Liste von mehr als tausend verschiedener Gegen-stände auf, die für die andere Welt gekauft werden mußten, und diese Einkäufe mußten sehr diskret durchgeführt werden, um nicht die Neugier der Menschheit zu erregen.

Bei Sonnenuntergang brachte der Kutter sie hinüber zur Manhattanküste. Sie nahmen einen Ein- und Ausgang mit, der in einem verborgenen Zimmer jenes Hauses aufgestellt werden sollte, das Dick und Nancy für das Wohlergehen der anderen Welt kaufen wollten.

Keine der Personen, die sie begleiteten, ließ den Wunsch er-kennen, sie nach New York zu begleiten. Sie dachten nur an den morgigen Tag, an dem sie stromaufwärts fahren würden, um eine andere Villa anzugreifen.

Sie grinsten, als Maltby durch das Tor zur Erde zurückkehrte und damit ihren Blicken entschwand. Maltby hatte sich Sam Todds Kleidung geliehen. Sam trug einen Lendenschurz und eine Pistole, worüber er sich fast kindisch freute.

Nancy ging durch das Tor, und dann folgte Kelly mit einem Paket. Dick machte den Beschluß. Dann befanden sie sich in New York – in einer kleinen Gasse, die unweit einer belebten Straße gelegen war.

„Das ist mein Hochzeitsgeschenk“, sagte Kelly und über-reichte Nancy das Paket. „Ich habe es im ersten Sklavenpferch erobert. Ich hoffe, daß Ihnen die Gabe gefallen wird.“

„Was ist es?“ fragte Nancy. „Eine Crux ansata“, erwiderte Dick. „Auf der Erde war sie

Eigentum Maltbys, bis sie ihm in der anderen Welt abgenommen wurde. Jetzt betrachtet Kelly sie als Kriegsbeute, und er hat recht; sie ist eine Beute.“ Er lächelte. „Maltby wird die Crux

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nicht mehr zurückbekommen. Ich werde sie zu einem. Hand-spiegel für dich umarbeiten.“

Nancy errötete. „Wollen Sie nicht bei uns bleiben, bis wir geheiratet haben, Kelly?“ fragte sie.

„Nein“, erwiderte Kelly kurz. „Ich habe stromaufwärts eine Verabredung.“

Maltby verließ die Gasse und betrat die Straße. „Wir sehen uns nächste Woche wieder“, sagte Dick. „Einverstanden“, nickte Kelly. „Viel Glück.“ Er verschwand

in einer Quecksilberlache. Mehr war nicht zu sagen. Dick griff nach Nancys Arm und

führte sie auf die Straße. Dort hob er drei Finger hoch und pfiff einem vorüberfahrenden Wagen zu.

„Hallo, Taxi“, rief er.

– Ende –

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