36
Die Bedingungen für ein erfolgreiches Lehren und Lernen aus Sicht der Kognitions- und Neurowissenschaften G. Roth, 2019 GERHARD ROTH INSTITUT FÜR HIRNFORSCHUNG UNIVERSITÄT BREMEN

Die Bedingungen für ein erfolgreiches Lehren und Lernen ... · Die Bedingungen für ein erfolgreiches Lehren und Lernen aus Sicht der Kognitions- und Neurowissenschaften G. Roth,

  • Upload
    others

  • View
    7

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Die Bedingungen für ein erfolgreiches Lehren

und Lernen aus Sicht der Kognitions- und

Neurowissenschaften

G. Roth, 2019

GERHARD ROTH

INSTITUT FÜR

HIRNFORSCHUNG

UNIVERSITÄT BREMEN

• Kompetenz, Vertrauenswürdigkeit und Feinfühligkeit des

Lehrenden und ein respektvoller Umgang mit den Lernenden

• Gehirngerechte Präsentation des Lerninhalts

• Intelligenz, Motivation, Aufmerksamkeit

• Anschlussfähigkeit des Stoffes an das Vorwissen

• Anstrengung, Fleiß und Gewissenhaftigkeit

• Vielfalt der Unterrichtsformen

• Mehrfache Wiederholung des Stoffes

FOLGENDE FAKTOREN BESTIMMEN

DEN LEHR- UND LERNERFOLG

WIE FUNKTIONIEREN LERNEN

UND GEDÄCHTNISBILDUNG?

Lernen ist eine mittel- bis langfristige Veränderung im Nervensystem

bzw. Gehirn, die früher oder später zu einer mittel- bis langfristigen

Änderung des Verhaltens führt.

Diese Veränderung muss aus Sicht des Gehirns positive Folgen

haben, d.h. mit einer Belohnungserwartung bzw. einem Vorteil

verbunden sein.

Lernen ist nicht notwendig an Bewusstsein gebunden; man unter-

scheidet unbewusstes (implizites), intuitives und bewusstes

(explizites) Lernen. Letzteres ist beim Menschen an sprachliche

Berichte gebunden.

Seitenansicht des menschlichen Gehirns

(nach Nieuwenhuys et al. 1991)

Großhirnrinde

(Cortex)

Enthält rund

14 Milliarden

Nervenzellen

mit rund 500

Billionen

Synapsen

BEWEGUNGS-VORSTELLUNGEN

OBJEKTE GESICHTER SZENEN

ANALYSE PLANUNGINTELLIGENZ

KÖRPER RAUM SYMBOLE

Funktionale Gliederung der Großhirnrinde

MOTORIK SOMATOSENSORIK

SEHEN

HÖREN/SPRACHEAUTOBIOGRAPHIE

SPRACHE

BEWERTUNG

Zellulärer Aufbau der

Großhirnrinde

(Cortex)

Zeichnung von

S. Ramón y Cajal

(nach Spektrum der Wissenschaft)

CORTICALE SYNAPTISCHE KONTAKTE(nach Spektrum der Wissenschaft, verändert)

Noradrenerges System/Noradrenalin/Locus coeruleus:

Aktivierung, Erregung, unspezifische Aufmerksamkeit

Serotonerges System/Serotonin/Raphe-Kerne: Dämpfung,

Beruhigung, Wohlbefinden

Dopaminerges System/Dopamin/VTA und Nucleus

accumbens: Antreibend, belohnungs-versprechend, Neugierde

Cholinerges System/Acetylcholin/basales Vorderhirn:

Gezielte Aufmerksamkeit, Gedächtnissteuerung

Die Einwirkung dieser neuromodulatorischen Systeme trägt

wesentlich zum Ausmaß der Konsolidierung von Gedächtnis-

inhalten bei.

Neuromodulatorische Systeme

Verbindungen zwischen

Cortex und Hippocam-

pus und umgebender

Rinde

Der Hippocampus

„organisiert“ die Einspei-

cherung und den Abruf

deklarativer Gedächtnis-

inhalte.

Die Großhirnrinde ist

„Sitz“ des deklarativen

Gedächtnisses

Ereignis- und Kontextgedächtnis

Faktengedächtnis

(nach Nieuwenhuys et al. 1991)

Im Hippocampus findet unter dem Einfluss der Amygdala die Verbin-

dung von Sach- und Kontextinformationen mit Emotionen statt. Diese

spielen bei der Verankerung der Inhalte im LZG ebenso wie beim

Wiedererinnern eine wichtige Rolle.

Konvergenz sensorischer und neuro-modulatorischer Eingänge auf corticalen Pyramidenzellen

WO?

WAS?

NEU?

WICHTIG?

NeuromodulationSensorischer Input

Gedächtnissystem(Hippocampus)

Bewertungssystem(Limbisches System)

ORGANISATION DES GEDÄCHTNISSES

DEKLARATIVES(EXPLIZITES)GEDÄCHTNIS

EMOTIONALESGEDÄCHTNIS

PROZEDURALES(IMPLIZITES)GEDÄCHTNIS

Positiv Negativ

Episodisches G.Vertrautheits-G.

Wissens-G.

G.-Module

Autobio-grafisches G.

Quellen G.

FertigkeitenAuswendig-lernen

Gewohnheiten KlassischeKonditionierung

Priming

ZEITSTRUKTUR DES DEKLARATIVEN GEDÄCHTNISSES

KURZZEITGEDÄCHTNIS/ARBEITSGEDÄCHTNIS: Spanne von 2 –

30 Sekunden. Kapazität sehr begrenzt (ca. 7 Items). Störanfällig.

Verbesserbar durch Wiederholung und einfache Assoziationen. Ort:

Präfrontale und parietale Großhirnrinde.

INTERMEDIÄRES GEDÄCHTNIS: Spanne von 30 Sekunden bis 30

Minuten. Kapazität begrenzt. Kann durch Mnemotechniken verbessert

werden. Ort: Hippocampus und umgebende Hirnrinde.

LANGZEITGEDÄCHTNIS: Spanne von 30 Minuten bis Jahrzehnte.

Kapazität unbegrenzt. Kann durch Mnemotechniken wesentlich

verbessert werden. Ort: Gesamte Großhirnrinde.

ZEITVERLAUF DER GEDÄCHTNISBILDUNG

Lehren und Lernen sind eine Sache des Vertrauens!

(R. Adolphs, TICS 3, Dezember 1999)

Gesichtererkennung und

Einschätzung der

Vertrauenswürdigkeit (i.W.

rechtshemisphärisch):

FG: Fusiformer Gyrus

STS: Superiorer

temporaler Gyrus

AM: Amygdala, links

explizit, rechts implizit

INS: Insulärer Cortex

• Blick und Länge des Blickkontakts

• Augenstellung und Mundwinkelstellung

• Gestik

• Schulter- und Körperhaltung

• Stimme, Sprachmelodie und Sprachführung

Nichtverbale Kommunikation findet in wenigen Minuten oder

gar Sekunden statt und hängt von wenigen und mehrheitlich

vor- und unbewusst wirkenden Faktoren ab:

NICHTVERBALE KOMMUNIKATION

Dies ist die Grundlage der spontane Vertrauenswürdigkeit und

gibt den Rahmen für weitere vertrauensbildende Maßnahmen

vor.

ANSCHLUSSFÄHIGKEIT DES STOFFS

Neues Wissen entsteht, indem bereits vorhandenes Wissen neu

verknüpft wird. Neues Wissen muss also stets anschlussfähig sein,

und zwar sowohl an vorhandenes Wissen wie an die Lebenswelt der

Lernenden.

Dies erfordert, dass vor Beginn mit einem neuen Stoff der Inhalt den

Lernenden überhaupt etwas sagt, und dass das bisherige Wissen

sorgfältig überprüft wird. Wissens- und Verständnislücken führen zur

Unfähigkeit, neues Wissen zu erwerben.

Durch die Absicht der Lehrenden, mit einem bestimmten „durchzu-

kommen“, wird dies vereitelt. Es kommt aber darauf an, dass der

Stoff bei den Lernenden „ankommt“ (H. Meyer).

Das Arbeitsgedächtnis ist zuständig für kurzfristige Speicherung

von Informationen und wird zum Beispiel benötigt; um einen Satz

inhaltlich zu verstehen: so muss man sich an den Anfang des

Satzes erinnern können, wenn man am Ende angelangt ist.

Auch im Zusammenhang mit der Lösung komplexer Aufgaben und

dem Erfassen der Bedeutung von Informationen ist das Arbeits-

gedächtnis notwendig, um mit Fakten, Erinnerungen und Vor-

stellungen mental „hantieren“ zu können.

Der „Flaschenhals“ der Gedächtnisbildung ist das Arbeitsgedächt-

nis. Es ist in seinen Ressourcen und seiner Geschwindigkeit

hochgradig beschränkt und anfällig für Störungen. Es ist eng mit

Aufmerksamkeit verbunden.

ARBEITSGEDÄCHTNIS

Arbeitsgedächtnis als Integrationszentrum

Vorderes Arbeits-gedächtnis(allg. Intelligenz)

Expertenwissen

Hinteres Arbeits-gedächtnis

Schnelles Zusammen-fügen

Intelligenz ist schnelles Problemlösen unter Zeitdruck. I. besteht aus

der allgemeinen Intelligenz, die ca. zur Hälfte genetisch bedingt und

frühkindlich geprägt ist, und aus vorhandenem Wissen und Können.

Allgemeine Intelligenz korreliert als schnelles Denken und Verstehen

am besten mit der Effektivität des Arbeitsgedächtnisses.

Das Arbeitsgedächtnis ist in seinen Ressourcen und seiner

Geschwindigkeit hochgradig beschränkt und stellt beim Problem-

lösen den kognitiven „Flaschenhals“ dar.

Das Arbeitsgedächtnis selbst lässt sich nicht nachhaltig verbessern,

jedoch sind intelligente Personen besser in der Lage, mit den

typischen Beschränkungen des Arbeitsgedächtnisses besser

umzugehen (Denk- und Merkhilfen sowie Routinisierung.)

INTELLIGENZ

PHÄNOMENOLOGIE DER AUFMERKSAMKEIT

Der Gesamtbetrag der pro Zeiteinheit aufwendbaren Aufmerk-

samkeit ist konstant: Je mehr ich mich auf einen bestimmten

Sachverhalt konzentriere, desto mehr verschwinden andere

Sachverhalte aus meinem Bewusstsein.

Dies bedeutet, dass geteilte Aufmerksamkeit (z.B. beim „Multi-

Tasking“) nur bei niedrigen Aufmerksamkeitsstärken möglich

ist.

Je stärker ich einen Sachverhalt aufmerksam verfolge, desto

stärker und nachhaltiger wird er im Langzeitgedächtnis

verankert

MOTIVATION

Motivation beruht auf der Aussicht auf positiver Zustände

(Lustgefühle, Belohnung) bzw. auf Vermeidung negativer

Zustände (Schmerz, Enttäuschung, Entbehrungen).

Wichtig ist dabei das Belohnungs- und Bestrafungsgedächtnis.

Ventrales TegmentalesAreal

Mesolimbisches

System:

Reaktion auf neuartige,

überraschende Reize

Antrieb durch

Versprechen von

Belohung (Dopamin)

Belohnungssystem

(hirneigene Opioide)

Nucleusaccumbens

EXTRINSISCHE UND INTRINSISCHE MOTIVATION

Extrinsische Motivation bezeichnet die Einflüsse von außen, die

zur Lern- und Leistungsbereitschaft beitragen. Hierbei handelt es

sich z. B. um Lob, Ermutigung oder gute Zensuren.

Intrinsische Motivation bezeichnet die inneren Antriebe einer

Person wie Neugier, Interesse oder Leistungswille.

Es wird davon ausgegangen, dass intrinsische Motivation sich

längerfristig auf den Lernerfolg auswirkt und extrinsische

Motivation eher kurzfristig zu Leistungssteigerung führt.

Allerdings beeinflussen sich die beiden Formen gegenseitig und

sind nicht immer klar voneinander zu unterscheiden.

• Detailwahrnehmung

• Semantisch tiefe Verarbeitung

• Behandlung und Lösen neuer, komplizierter Probleme

• Erlernen neuer komplizierter Fertigkeiten

• Erfassen der Verhaltensrelevanz von Sachverhalten

• Komplexe mittel- und langfristige Handlungsplanung

• Nachhaltige Verankerung im Gedächtnis

WOZU BRAUCHEN WIR AUFMERKSAMKEIT?

Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis sind notorisch begrenzt –

niemand kann neuen und komplexen Informationen länger als 5

Minuten konzentriert zuhören.

Die Vermittlung von Lerninhalten sollte in 3-5-minütigen „Span-

nungsbögen“ gegliedert werden. In kurzen Unterbrechungen oder

bei erläuternden Beispielen kann das Arbeitsgedächtnis „Atem

holen“.

Andernfalls wird es schnell überlastet; durch die neu angebotenen

Informationen werden die zuvor aufgenommenen Informationen

aus dem Kurzzeitgedächtnis verdrängt, ohne über das Zwischen-

gedächtnis in das Langzeitgedächtnis zu gelangen.

STRUKTURIERTE EINFÜHRUNG

IN EINEN NEUEN STOFF

FLEISS UND GEWISSENHAFTIGKEIT

Fleiß und Gewissenhaftigkeit sind wie Intelligenz abhängig teils von

der Persönlichkeit, teils von prägenden Faktoren in Kindheit und

früher Jugend wie einem lernbegünstigenden und intellektuell

offenem Familienklima, dem Vorbild der Eltern, Ermutigung und

frühen Lernerfolgen.

Dies erklärt, warum Motivation, Fleiß und Gewissenhaftigkeit

signifikant mit dem Bildungsgrad der Eltern korrelieren.

Die Einstellung zum Fleiß und zur Gewissenhaftigkeit ist in Deutsch-

land deutlich geschlechtsspezifisch ausgeprägt: bei Mädchen und

jungen Frauen wird Fleiß „toleriert“, bei Jungen und jungen Männern

gilt er als „uncool“. Dies drückt signifikant deren Leistungen.

HERAUSFORDERUNG UND ANSTRENGUNG

Der Grad der Anstrengung geht direkt in den Lernerfolg ein: Je mehr

geistige Energie und Zeit ich für die Aneignung eines Wissens oder

Könnens aufgewendet habe, desto besser beherrsche ich es später.

Inhalte dagegen, die leicht erscheinen, verschwinden schnell, weil

das Gehirn feststellt „ Kenne ich schon!“

Anstrengung ist nicht zu verwechseln mit psychischem Stress und

Angst, die Lernen und Gedächtnisbildung blockieren. Bei der Balance

zwischen Herausforderung und Angst ist die Feinfühligkeit des

Lehrers in hohem Maße gefordert.

STRESS/HERAUSFORDERUNG UND LERNERFOLG

C. Sandi, Trends Cogn. Sci. 34 (2011)

VIELFALT DER UNTERRICHTSFORMEN

Alle empirischen Untersuchungen sprechen für eine Vielfalt von

Unterrichtsformen.

Frontalunterricht ist geeignet, auf neue Inhalte vorzubereiten und sie

einzuführen. Dies muss in „hirngerechter“ Weise geschehen.

Gruppenarbeit dient der weiteren Aneignung des Stoffes in Form

kooperativen Lernens und evtl. gegen-seitigen Unterrichtens. Die

Einzelarbeit dient dem vertiefenden „Durcharbeiten“ und erstmaligem

Wiederholen des Stoffes. Sie sollte „begabungsgerecht“ durchgeführt

werden.

Gruppen- und Einzelarbeit sind wichtig, müssen aber vom Lehrenden

angeleitet und überwacht werden und können die instruktive Lehre

nicht ersetzen. Gruppen- und Einzelarbeit sollten soweit möglich

praktische Übungen enthalten.

NOTWENDIGKEIT DER SYSTEMATISCHEN

WIEDERHOLUNG

Neben Anschlussfähigkeit, Anstrengung und Fleiß ist Wieder-

holung das A und O der Verankerung im Langzeitgedächtnis.

Nichts wird im einem Mal nachhaltig gelernt!

Jeder Stoff sollte in etwas abgewandelter und zunehmend

komprimierter Form in zunehmenden Intervallen (Tagen, Wochen,

Monaten) wiederholt werden.

Die beste Form der Wiederholung ist das aktive Erinnern auf

Seiten der Lernenden. Dies trägt besonders stark zur Konso-

lidierung des Wissens bei.

VIELEN DANK FÜR IHRE

AUFMERKSAMKEIT!