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Die Bewohner aus dem Dachgeschoss Seit über zwei Monaten lebte Sabrina nun schon mit ihren Eltern in dem Wohnhaus in der Einhornstraße. Und das war eigentlich ganz schön, denn ihre neue Wohnung war viel größer, und außerdem auch viel schöner und netter eingerichtet als ihre alte. Im Treppenhaus war es immer sauber und frisch gewischt. Es roch nicht so modrig und unangenehm wie in dem alten großen Wohnblock, wo sie früher gewohnt hatten. Und die schneeweißen, frisch gestrichenen Wände waren auch nicht mit Filzstiften und Spray beschmiert. Ja, eigentlich gefiel es Sabrina sehr gut in ihrem neuen Heim, aber es gab auch so manche Dinge von früher, die sie sehr vermisste. Und dazu gehörten auch die beschmierten Wände, auch wenn die Mutter das niemals verstehen konnte. „So ein Schweinkram!“ hatte sie sich immer aufgeregt, wenn sie den Flur entlanggegangen oder mit dem Fahrstuhl in das Erdgeschoss heruntergefahren waren. „Wenn ich irgendwann einmal die Kinder erwische, die hier alles voll kritzeln, dann werde ich mal ein ernsthaftes

Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

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Sabrina fragt sich schon lange, wer die seltsamen Bewohner des Dachbodens sind, die man niemals im Treppenhaus sieht. Eines Tages lernt sie sie kennen und erlebt viele Abenteuer mit ihnen.

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Page 1: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Die Bewohner aus dem Dachgeschoss

Seit über zwei Monaten lebte Sabrina nun schon mit ihren

Eltern in dem Wohnhaus in der Einhornstraße. Und das war

eigentlich ganz schön, denn ihre neue Wohnung war viel

größer, und außerdem auch viel schöner und netter eingerichtet

als ihre alte. Im Treppenhaus war es immer sauber und frisch

gewischt. Es roch nicht so modrig und unangenehm wie in dem

alten großen Wohnblock, wo sie früher gewohnt hatten. Und

die schneeweißen, frisch gestrichenen Wände waren auch nicht

mit Filzstiften und Spray beschmiert.

Ja, eigentlich gefiel es Sabrina sehr gut in ihrem neuen Heim,

aber es gab auch so manche Dinge von früher, die sie sehr

vermisste. Und dazu gehörten auch die beschmierten Wände,

auch wenn die Mutter das niemals verstehen konnte.

„So ein Schweinkram!“ hatte sie sich immer aufgeregt, wenn

sie den Flur entlanggegangen oder mit dem Fahrstuhl in das

Erdgeschoss heruntergefahren waren. „Wenn ich irgendwann

einmal die Kinder erwische, die hier alles voll kritzeln, dann

werde ich mal ein ernsthaftes Wörtchen mit ihnen reden.“

„Aber, Mama!“ hatte Sabrina dann immer gesagt. „Wenn diese

Schmierereien nicht wären, dann hätte ich ganz sicher nicht so

schnell das Lesen gelernt.“

Und das stimmte wohl auch. Denn Sabrinas Mutter las ihr fast

jeden Abend vor dem Zubettgehen eine Geschichte vor. Das

war immer sehr spannend. Am liebsten hörte sie Geschichten

von Detektiven oder auch von Seefahrern, die alte Briefe mit

geheimen Zeichen und Schriften entdeckten, die sich dann als

Schatzkarten entpuppten. Oh, was sie dann für spannende

Abenteuer erlebten, wenn sie nach den Schätzen suchten!

Solche Abenteuer hätte Sabrina am liebsten selber erlebt. Und

damals, als sie noch nicht lesen konnte, hatte sie geglaubt, dass

all die Kritzeleien, die an die Wände geschmiert waren,

geheime Botschaften enthielten. Einige von ihnen waren

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vielleicht selber Schatzkarten und sie wünschte sich nichts

mehr, als sie endlich entziffern zu können. Sie war ziemlich

fasziniert von den älteren Kindern gewesen, die solche Dinge

schreiben und lesen konnten. Am liebsten wäre sie eine der

Banden beigetreten, die sich in dem Wohnviertel gebildet

haben, aber niemand wollte sie dabei haben.

„Kleine schwache Mädchen können wir nicht gebrauchen!“

hatte einer der größeren Jungen gesagt und ihr verächtlich vor

die Füße gerotzt. Ihre Mutter war auch dagegen, dass sie etwas

mit den Kindern zu tun hatte. Die sind nicht gut erzogen, sagte

sie immer. Die bringen dir nur allerlei schlechte Sachen bei.

Stattdessen hatte sie jeden Tag mit Mira, Vanessa und Carlo

spielen müssen. Die waren in ihrem Alter und ihre Mutter hatte

nichts gegen sie. Diese drei Freunde waren die andere Sache,

die sie an ihrem alten Zuhause so sehr vermisste. Manchmal

waren sie hinunter auf den Hof gegangen. Dort gab es auch

einen Spielplatz, wo sie oftmals im Sandkasten gespielt hatten.

Aber dann waren meist die großen anderen Kinder gekommen

und hatten sie geärgert. Am meisten hatten sie es auf Carlo

abgesehen. Er war ein äußerst klein und dünn, sodass ihn auch

keiner der anderen Jungen mit in ihrer Bande haben wollte.

Deswegen spielt er immer nur mit Mädchen, weshalb man ihn

auslachte und verspottete.

Schließlich waren sie alle zusammen in die Schule gekommen,

und Sabrina war im Lesen bald die Klassenbeste geworden.

Erstens, weil sie versuchte, die Geschichten, die ihr die Mutter

jeden Abend vorlas, bald selbst zu lesen. Zweitens, weil sie

jeden Tag auf dem Nachhauseweg die Schriften an den

Hauswänden entzifferte. Ihre Mutter war dagegen, denn sie

meinte, da stünde nichts, was kleine Kinder lesen sollten.

Sabrina merkte bald selber, dass das mit Schatzkarten und

ähnlich spannenden Geheimnissen nichts zu tun hatte.

Meistens waren es nur Flüche, oder man schrieb gemeine

Sachen über andere Menschen, die im Haus wohnten. Aber

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lesen tat sie es trotzdem gern.

Sabrinas Mutter kam eigentlich aus recht gutem Hause und

hatte anständige Manieren beigebracht bekommen. Dass sie

trotzdem in diesen alten gammeligen Plattenbau gezogen war,

lag daran, dass sie sehr früh von zuhause ausgezogen war. Sie

wollte möglichst früh selbstständig werden, aber in ihrer

Ausbildung zur Gärtnerin hatte sie nicht soviel Geld verdient,

um sich eine bessere Wohnung zu leisten.

Einen Vater hatte sie auch. Aber den sah sie nicht so oft, weil

er Busfahrer war und sich auf Fernreisen spezialisiert hatte.

Manchmal war er über zwei Wochen nicht zuhause, weil er mit

Reisegruppen durch ganz Europa fuhr. Aber wenigstens

brachte er Sabrina von jeder Reise wunderbare Bilder und

allerlei andere Geschenke mit. Am liebsten mochte sie kleine

Häuser aus Ton, die es in jedem Land als Andenken zu kaufen

gab. Sie merkte bald, dass die Häuser im Norden ganz anders

aussahen, als beispielsweise die im Süden. Aber trotzdem hatte

sie die vierzehn Häuser, die sie bereits besaß, auf einer

Tischplatte zu einem Dorf zusammengestellt. Ein sehr lustiges

Dorf, in dem Häuser aus ganz Europa vereint standen.

Nun aber hatten ihre Mutter und ihr Vater soviel Geld

zusammengespart, dass sie sich eine bessere Wohnung leisten

konnten. Sie lag in einem weißen Haus, das anstelle von zwölf

nur vier Etagen besaß. Außerdem hatte es ein spitzes und kein

flaches Dach. Wie gesagt, Sabrina gefiel es gut dort. Das

einzige, was sie langweilte, war, dass es im gesamten Haus

keine anderen Kinder gab. Aber wenigstens lebte in der

unteren Etage ein junges Paar, das einen schwarzen Hund

hatte. Die beiden waren sehr nett und verstanden sich auch mit

Sabrinas Eltern gut. Manchmal luden sie die ganze Familie

zum Kaffee ein, und Sabrina durfte die ganze Zeit über mit

dem Hund spielen. Oder sie gingen zusammen in den Wiesen,

die ein paar hundert Meter vom Haus entfernt lagen, spazieren,

und sie durfte für den Hund, der übrigens Mio hieß, den Ball

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werfen.

Oftmals aber hatte Sabrina auch Langeweile und dann

wünschte sie sich, dass all die Kinder, mit denen sie früher

gespielt hatte, mit in dieses Haus gezogen wären. Aber außer

ihnen und dem jungen Paar wohnten dort nur noch ein

alleinstehender Mann, der nicht besonders gesprächig war, und

ein altes Rentnerehepaar, das sich oftmals beschwerte, wenn

man im Treppenhaus zuviel Krach machte.

Da gab es aber noch einen weiteren Bewohner - oder waren es

vielleicht sogar mehrere Bewohner? - die Sabrina noch nicht

kennengelernt hatte. Ihre eigene Familie wohnte im vierten

Stock, also ganz oben im Haus. Doch das Treppenhaus endete

dort noch nicht. Es ging noch eine Treppe weiter hinauf, doch

sie war nicht aus Marmor, sondern aus Holz. Die Stufen waren

kleiner, und ziemlich schmal. Als Sabrina das erste Mal

hinaufgeklettert war, hatte sie so gewackelt, dass man Angst

haben musste, sie könne jederzeit zusammenbrechen. Ein

dicker Erwachsener konnte sich hier nicht so einfach

hinaufwagen.

„Also, Sabrina!“ hatte ihr Vater damals gesagt. „Du kannst da

doch nicht einfach so hinaufklettern, vielleicht ist das ja

privat!“

Aber die Vermieterin, die ebenfalls sehr nett war, hatte nur

gelacht.

„Das macht nichts“, hatte sie gesagt. „Da geht es nur zum

Dachgeschoss hinauf. Sie kann sich dort ruhig einmal

umgucken, denn die Tür dort oben ist ja sowieso verschlossen.

Aber sie sollte nicht zu oft dorthin gehen, denn sonst könnten

sich die Leute dort gestört fühlen.“

„Dort oben wohnen Leute?“ hatte Sabrinas Mutter ganz

erstaunt gefragt. „Ich habe gedacht, dass es dort oben nur eine

Dachkammer gäbe.“

„Doch, dort oben wohnen Leute“, hatte die Vermieterin mit

einem geheimnisvollen Lächeln gesagt. „Sie sind ein bisschen

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sonderbar, und sie kommen nur sehr selten hinaus. Aber sie

sind nicht gefährlich und werden sie ganz gewiss nicht

belästigen. Kümmern Sie sich nicht um sie, und sie werden

sich auch nicht um euch kümmern.“

Dass mit diesen Leuten irgendetwas anders war, als bei

normalen Menschen, hatte Sabrina im ersten Augenblick

gemerkt. Alle anderen Wohnungen hatten eine schlichte weiße

Tür als Eingang, doch diese Tür dort oben war aus dunklem,

massiven Holz gebaut. Ihre Oberfläche war außerdem nicht

glatt, sondern kunstvoll verschnitzt. Es war eine Tür, die eher

in ein altes Schloss oder in ein Herrenhaus gepasst hätte, und

sie sah im ersten Augenblick etwas unheimlich aus. Doch

Sabrina merkte bald, dass es nur Blumen und lustige Gesichter

waren, die in ihr eingeschnitzt waren. Keine Totenköpfe,

Skelette, oder andere Dinge, vor denen man sich fürchten

musste. Aber wie klein diese Tür war! Sie selbst hätte ja kaum

dadurch gepasst, ohne den Kopf einzuziehen, und sie war doch

nur ein Kind! War das Seltsame an den Leuten vielleicht, dass

sie Liliputaner waren?

Sabrina hatte nach einem Klingelschild gesucht, auf dem der

Name des Menschen oder der Familie stand, aber sie hatte

weder Klingel noch Schild gefunden. Und selbst wenn sie

geklingelt hätte, hätte möglicherweise keiner geöffnet, denn

die Tür war mit einer dicken Eisenkette verschlossen.

„Warum verschließt man die eigene Tür von außen mit einer

Eisenkette?“ hatte sie die Vermieterin gefragt, nachdem sie

wieder hinuntergeklettert war.

„Die Tür ist mit einer Eisenkette verschlossen?“ hatte die

Mutter etwas entsetzt gefragt.

Sie hatte sich sehr darüber gefreut, endlich in dieses schöne

Haus zu ziehen, aber in diesem Augenblick sah sie so aus, als

bereue sie es fast. Sie hatte die Vermieterin von oben bis unten

gemustert, um zu sehen, ob irgendetwas Seltsames oder

Unheimliches an ihr war. Aber sie sah völlig normal aus und

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lächelte sie freundlich an.

„Sie sind ein bisschen schüchtern und fürchten sich vielleicht

sogar ein kleines bisschen vor anderen Menschen. Aber

eigentlich sind sie ganz in Ordnung. Sie wohnen schon seit

Jahren hier. Schon als dieses Haus noch meiner Großmutter

gehört hat, und niemals hat sich jemand über sie beschwert. Sie

bezahlen auch regelmäßig ihre Miete. Es gibt also wirklich

keinen Grund sich Sorgen zu machen.“

Aber ihre Mutter machte sich Sorgen. Als sie am Abend nach

ihrem Einzug am Küchentisch gesessen, und Abendbrot

gegessen hatten, hatte sie den Vater gefragt, was er von der

Sache hielte. Doch der hatte nur gebrummt und gemeint, es

wäre schon alles in Ordnung, wenn die Vermieterin das sagte.

Und er behielt Recht. Ein paar Tage später hatten sie sich in

ihrer Wohnung eingelebt. Die Mutter hatte neue Freunde in der

Nachbarschaft gefunden, die sie manchmal zum Kaffeeklatsch

einlud. Und niemals war in der Wohnung, oder im Haus etwas

Eigenartiges passiert. Auch die Vermieterin entpuppte sich als

eine sympathische und angenehme Frau, mit der man sich gut

unterhalten konnte. Sie war weder eine Hexe, noch schien sie

irgendwelche anderen düsteren Geheimnisse mit sich

herumzutragen. Bald schon hatte die Mutter die Sache mit dem

Dachgeschoss vergessen. Selbst wenn sie von der Arbeit nach

Hause kam, sah sie nur zu, dass sie in die Wohnung ging, und

beachtete die Treppe, die nach oben führte, gar nicht mehr.

Sabrina aber konnte diese seltsame Geschichte nicht so schnell

vergessen. Immer wieder hoffte sie darauf, diese Bewohner

eines Tages kennenzulernen. Sie lauschte, ob sie über der

Decke Schritte und Stimmen hörte. Oder ob jemand draußen

die Holztreppe benutzte. Vor allem, wenn ihre Eltern nicht da

waren, saß sie manchmal stundenlang direkt vor der

Wohnungstür und las ein Buch. Sie wollte so schnell wie

möglich herauslaufen können, wenn sie hörte, dass dort

jemand war. Aber sie hörte ja niemanden. Sie untersuchte die

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Treppe manchmal auch nach Fußabdrücken, aber sie fand

niemals welche. Oftmals überlegte sie sich schon, ob sie

einfach mal herauf laufen und an der Tür klopfen sollte. Aber

sie traute sich nicht, denn sie erinnerte sich an die Worte der

Vermieterin, dass sie diese Leute möglichst nicht stören sollte.

Einmal, als ihr Vater am Wochenende zuhause war, fragte sie

den, was er von der Sache hielt. Aber der lachte nur.

„Das ist doch nur irgendein Märchen, dass dir die Frau Hansen

erzählt hat“, sagte er. „Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft,

dass dort oben jemand wohnt.“

„Wieso denn nicht?“ meinte sie trotzig. Ihr Vater wusste ja

nicht, dass er gerade dabei war, einen ihrer größten Träume zu

zerstören.

„Na, das müsste, wenn überhaupt, dann eine Zwergenfamilie

sein“, er lachte noch einmal, „Nein, nein, da hat dir die gute

Frau Hansen irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt und

sonst nichts. Nicht mal deine Mama glaubt mehr daran.

Wahrscheinlich ist es nichts weiter als irgendeine Hauslegende.

Die Großmutter der Frau Hansen soll eine ziemlich seltsame

Dame gewesen sein.“

Doch Sabrina konnte er damit nicht von diesem Gedanken

abbringen. Sie glaubte fest daran, dass dort oben jemand

wohnte und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als sie eines

Tages kennenzulernen.

Und eines Nachts ging ihr größter Wunsch schließlich in

Erfüllung. Sie wachte irgendwann, mitten in der stockfinsteren

Nacht, auf, und wusste sofort, dass sie viel zu früh dran war.

Normalerweise weckte ihre Mutter sie nämlich, weil sie einen

so guten Schlaf hatte, dass kein Wecker sie wach bekam. Aber

in dieser Nacht war es anders. Dabei schien es zunächst nichts

weiter als eine stille und rabenschwarze Nacht wie jede andere

zu sein. Doch dann schreckte sie hoch, ohne zu wissen, warum.

Verschlafen knipste Sabrina die Nachttischlampe an und sah

auf die Uhr. Es war zwei Uhr, mitten in der Nacht.

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„Puuh“, machte sie und knipste schnell wieder aus.

Sie kuschelte sich wieder in ihr Bett und drehte sich herum.

Auf keinen Fall durfte sie um diese Uhrzeit so wach werden,

dass sie nicht mehr einschlafen konnte. Wie übermüdet würde

sie dann am nächsten Morgen in der Schule sein?

Doch an Schlaf war in dieser Nacht kaum noch zu denken. Das

merkte sie, als sie eine Minute später Geräusche hörte.

Sie schreckte erneut auf. In ihrer alten Wohnung war es normal

gewesen, dass man nachts Stimmen und Laute aus

Nachbarwohnungen hörte, aber hier hatte sie so etwas noch nie

erlebt. Sie hielt die Luft an und horchte.

Tatsächlich, hoch oben, auf der anderen Seite der Decke schien

sich jemand zu unterhalten. Es war aber nur ein leises Wispern,

sodass man keine einzelnen Worte verstehen konnte. Sabrina

spitzte die Ohren und horchte, ob es nicht vielleicht auch ein

anderes Geräusch aus dem Haus sein konnte. Schließlich aber

war sie sich ganz sicher. Dies war das erste Mal, seitdem sie

eingezogen waren, dass sie etwas von den geheimnisvollen

Bewohnern mitbekam.

Sie war dermaßen aufgeregt, dass sie am liebsten sofort

aufgestanden und in das Schlafzimmer ihrer Eltern gerannt

wäre. Sie konnte sich nicht eine ganze Nacht lang die

Geräusche anhören, ohne jemand anderem davon etwas zu

sagen. Das hielt sie einfach nicht aus!

Aber dann fiel ihr ein, dass ihr Vater mit einer Reisegruppe in

Griechenland war. Er würde erst in drei Tagen wiederkommen.

Ihrer Mutter durfte sie solche Sachen erst recht nicht erzählen.

Sie würde nur in Panik geraten und glauben, dass es im Haus

spukt. Es war wohl ganz gut, dass sie zwei Zimmer weiter im

Bett lag, tief und fest schlief, und von all dem herzlich wenig

mitbekam.

Zunächst hatte auch Sabrina ein bisschen Angst. Mit einer

Gänsehaut auf dem Rücken kauerte sie sich zusammen,

während sie horchte. Aber bald schon wurde sie mutiger,

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sodass sie ein schwaches Licht anknipste, sich auf einen Stuhl

stellte und direkt an der Decke horchte. Die Menschen, die dort

oben waren, unterhielten sich nicht nur, nein, zwischendurch

lachten sie auch mal. Es mussten mehrere verschiedene Leute

sein, denn Sabrina konnte bald mehrere verschiedene

Lacharten heraushören. Da war einer, der lachte so laut auf, als

wenn er einen Schluckauf hatte. Dafür war er danach aber auch

eine ganze Weile still. Während ein anderer leiser, dafür aber

so lange lachte, dass man meinen konnte, er wollte nie wieder

damit aufhören.

Schließlich hörte Sabrina, wie irgendetwas leise über den

Boden schleifte. Es war so, als würde man dort oben Möbel

verrücken. Aber es konnten nur sehr kleine, vielleicht sogar nur

Puppenmöbel, sein. Dann aber bullerte es unter der Decke so

laut, dass sie vor Schreck fast vom Stuhl gefallen wäre. Sie

fand, dass es sich wie ein Tanz hörte. Aber es musste ein

ziemlich wilder und ausgelassener Tanz sein, bei dem sie

ziemlich heftig auf dem Boden aufstampften.

Sabrina überlegte, ob sie diesen Menschen ein Zeichen geben

sollte. Sie konnte ja einmal kurz gegen die Decke klopfen, oder

vielleicht auch etwas rufen. Wenn sie niemand hörte, brauchte

sie es ja nicht noch einmal zu tun. Dann aber erinnerte sie sich

an die Worte der Vermieterin. Diese Leute dort oben waren

etwas schüchtern und fürchteten sich vor Menschen. Sabrina

war eigentlich ein ziemlich braves Kind und deshalb beschloss

sie, die Bewohner des Dachgeschosses auf keinen Fall zu

erschrecken. Sie stieg wieder hinunter, ging zu Bett, und hörte

von da aus weiter. Es hörte sich ein bisschen so an, als würde

man da oben eine Feier geben. Bald aber wurden die

Geräusche leiser und verstummten schließlich ganz. Sabrinas

Augen fielen zu und am Ende fand sie in dieser Nacht doch

noch ein paar Stunden Schlaf.

Am nächsten Tag war Sabrina kein bisschen müde. Im

Gegenteil, dazu war sie viel zu aufgeregt. In der Schule konnte

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sie kaum ruhig auf ihrem Stuhl sitzen, und als sie zuhause

angekommen war und Mittagessen gegessen hatte, musste sie

sofort zu der Vermieterin, und ihr von dem wundersamen

Erlebnis berichten. Die Vermieterin wohnte selber nicht im

Haus. Sie hatte ihr eigenes kleines Haus, das am anderen Ende

der Straße stand.

„Aha, da haben die Schürigs wohl endlich mal etwas von sich

hören lassen“, sagte sie und grinste dabei.

„Die Schürigs?“ fragte Sabrina. „Heißen sie etwa so?“

Die Vermieterin nickte.

„Und warum haben wir bisher noch nie etwas von ihnen

gehört?“ fragte Sabrina weiter. „Warum zum ersten Mal in

dieser Nacht?“

„Das weiß ich auch nicht so genau“, antwortete die

Vermieterin. „Denn ich kenne sie genauso wenig wie du. Du

weißt, dass ich dieses Haus erst seit einem halben Jahr

vermiete. Seitdem meine Großmutter gestorben ist. Und ich

habe diese Familie selber noch nicht einmal gesehen. Ich

kenne nur die Geschichten, die man mir über sie erzählt hat

und dass sie immer pünktlich ihre Miete bezahlen.“

Sie lachte.

„Hm“, meinte Sabrina. „Glaubst du, es wäre gut, wenn ich

vielleicht mal an ihrer Tür klopfe, oder vielleicht auch an der

Decke?“

„Nein, das würde ich an deiner Stelle lieber nicht tun“, sagte

die Vermieterin. „Damit verängstigst du sie nur. Meine Oma

hat mir gesagt, man kann mit dieser Familie wirklich sehr viel

Spaß und Freude haben, aber man muss auch sehr geduldig mit

ihnen sein. Man muss warten, bis sie von allein kommen und

einen besuchen, denn das tun sie ganz bestimmt, wenn sie

glauben, im Haus wohnt jemand, dem sie vertrauen können.“

In den nächsten Tagen war Sabrina so damit beschäftigt zu

horchen, dass sie alle anderen Dinge fast vergaß. Sie horchte

nicht nur abends, wenn sie im Bett lag, nein, auch tagsüber.

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Wenn sie zum Beispiel am Schreibtisch saß und ihre

Hausaufgaben machen sollte, traute sie sich manchmal für fünf

Minuten nicht, den Stift zu bewegen. Immer hatte sie das

Gefühl, von oben etwas gehört zu haben, aber meist war es nur

ihre Mutter, die in der Küche mit dem Geschirr

herumklapperte.

Die Mutter wunderte sich sehr bald über Sabrinas

merkwürdiges Verhalten. Nicht nur, dass sie für ihre

Hausaufgaben immer viel länger brauchte. Nein, sie machte

auch fast nie mehr Musik in ihrem Zimmer an. Beim Essen

sprach sie viel weniger mit ihr und sah dabei auch so aus, als

ob sie mit den Gedanken gar nicht richtig da war. Manchmal

schob sie sich das Essen sogar am Mund eigenen vorbei. Und

wenn sie sie darauf ansprach, reagierte sie so erschrocken, dass

sie die Gabel mit einem lauten Knall auf den Teller

zurückfallen ließ.

„Siehst du Gespenster?“ fragte sie dann. Aber Sabrina druckste

nur herum. Solange die Mutter diese Geräusche nicht selber

hörte, wollte sie ihr nichts davon erzählen.

Und ab und zu hörte sie von oben auch etwas. Aber so laut wie

in dieser einen Nacht wurde es nie wieder. Oftmals waren es

auch keine Stimmen oder die Geräusche von auftretenden

Füßen, sondern nur, dass ein Gegenstand mit einem Knall oder

mit etwas Geschepper zu Boden fiel.

Nach einigen Tagen aber hatte sich Sabrina an die Geräusche

gewöhnt und beachtete sie kaum noch. Nur ab und zu saß sie

da und malte sich aus, was für eine Familie das wohl sein

könnte, die dort oben wohnte. Und dann fand sie es fast noch

schöner, dass sie die Leute eigentlich nicht kannte, weil es so

wunderbar geheimnisvoll war. Sie konnte ihrer Phantasie

freien Lauf lassen und sich allerlei Geschichten über sie

ausdenken. Und wenn sie mal wieder das Gefühl hatte, dort

oben lachte jemand, dann lachte sie einfach mit. Und wenn sie

das Gefühl hatte, dort sang jemand, dann versuchte sie, die

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Melodie mitzusummen. Manchmal hörten sie dann auf, oder

gaben verdutzte Geräusche von sich. Dann freute sich Sabrina,

weil sie auf diese Weise mit ihnen geredet hatte.

Über eine Sache aber wunderte sie sich immer wieder.

Nämlich, dass immer noch niemand die Treppe, die nach oben

führte, benutzt hatte. Ihre Mutter schien hingegen von alldem

nichts mitzubekommen. Seltsam. Entweder diese Geräusche

ertönten nur direkt über ihrem Zimmer, oder sie konnten von

Erwachsenen nicht gehört worden.

Eines Tages war Sabrina allein zu Hause, als es plötzlich an der

Tür klingelte. Ihr Vater war gerade in Schottland und ihre

Mutter im Supermarkt, um einzukaufen. Vorsichtig schlich sie

sich zur Wohnungstür hinüber. Zum Glück gab es im Haus eine

Sprechanlage. Wenn dort jemand war, den sie nicht kannte,

brauchte sie ihm nicht zu öffnen. Aber bevor sie es schaffte,

auf den Knopf zu drücken, klopfte jemand vom Flur aus an die

Tür.

Vielleicht sind es die Schürigs, dachte Sabrina, und ihr Herz

wäre ihr beinahe in die Hose gerutscht. Doch nur eine Sekunde

später ertönte die Stimme der Vermieterin.

„Ist jemand zuhause?“

Sabrina beeilte sich, die Tür aufzumachen.

„Ach, da ist ja endlich jemand“, sagte die Vermieterin und

strahlte sie freundlich an. In den Händen hielt sie einen großen

braunen Sack, der oben mit einem Faden zugeschnürt war.

„Ist deine Mutter eigentlich auch da, Sabrina?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ach, das ist schade. Aber du kannst ihr diesen Sack ja ebenso

geben. Richte ihr dazu einen schönen Gruß aus.“

„Was ist denn in dem Sack drin?“ fragte Sabrina neugierig.

„Ja, das frage ich mich selber“, sagte die Vermieterin. „Darf

ich vielleicht einmal kurz reinkommen?“

Sabrina trat zur Seite und sie setzten sich gemeinsam an den

Küchentisch, wo die Vermieterin den Sack in aller Ruhe öffnen

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konnte. In seinem Inneren waren hunderte, wenn nicht

tausende von kleinen Körnern. Sabrina nahm ein paar davon in

die Hand und fand, dass sie wie kleine Sterne aussahen.

„Weißt du, was das ist?“ fragte die Vermieterin. „Ich habe so

etwas noch nie gesehen. Sie kommen mir aber ein bisschen vor

wie Samenkörner. Deshalb wollte ich deine Mutter mal fragen,

ob sie etwas damit anfangen kann. Sie arbeitet doch noch in

der Gärtnerei Schmitzke, oder etwa nicht?“

„Doch, doch“, antwortete Sabrina. „Aber wo haben sie diese

Körner denn gefunden?“

„Unten im Keller. Dort liegt noch allerlei altes Zeug, von

meiner Großmutter herum. Ich bin nämlich noch gar nicht dazu

gekommen, dort unten für Ordnung zu sorgen. Aber dieser eine

Sack stand in einem ganz besonderen Fach, dort wo sie die

wichtigsten Dinge ihres Lebens aufbewahrt hatte. Und an

Schnüre war ein Etikett angebracht, wo draufstand: Ganz

besonders wertvoll. Bitte gut aufbewahren. Aber sonst stand

nichts dabei. Keine Erklärung oder dergleichen.“

„Hm“, sagte Sabrina. „Das ist ja seltsam. Aber bis meine

Mutter wiederkommt, könnte es noch ein oder zwei Stunden

dauern. Sie muss nämlich heute ganz besonders viel einkaufen,

weil mein Vater am Wochenende wiederkommt. Er hat

Geburtstag und will eine Feier machen.“

„Na, dann sagt aber rechtzeitig dem Ehepaar Müller Bescheid.

Nicht, dass sie sich wieder wegen zuviel Lärm beschweren.“

Da die Vermieterin nicht soviel Zeit hatte, um so lange zu

warten, verabschiedete sie sich und ging.

Danach saß Sabrina eine ganze Weile da und rätselte, was es

mit diesen merkwürdigen Körnern wohl auf sich haben

können. Sie hatten wirklich eine merkwürdige Form, und sie

fühlten sich auch ein bisschen seltsam an. Sie waren nicht hart,

aber auch nicht so weich, dass man sie zerquetschen konnte.

Ja, eigentlich konnte man sie fast mit einem Gummi

vergleichen. Wenn man sie zwischen Daumen und Zeigefinger

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zu doll drückte, sprangen sie einem urplötzlich in die Höhe.

Sabrina überlegte schon, ob sie eines von Mamas vielen

Pflanzenbüchern hervorholen und nachgucken sollte, als sie

sich plötzlich zu etwas anderem entschied. Sie hatte doch in

ihrem eigenen Zimmer noch eine große Blumenvase, in die sie

noch nichts gepflanzt hatte. Wieso legte sie nicht einfach ein,

oder vielleicht auch zwei oder drei der Körner hinein, goss sie

ein bisschen und wartete dann ab, was passierte. Wenn die

Pflanze genauso sonderbar war, wie die Körner, dann würde

ihre Mutter aber ziemlich darüber staunen. Es wäre doch ein zu

tolles Ding, dass ihre kleine Tochter eine Blume

hervorzauberte, die sie selbst als Gärtnerin noch nie gesehen

hatte.

Also tat Sabrina das, was sie sich ausgedacht hatte, und

versteckte danach den Sack in ihrem Schrank. Als die Mutter

nach Hause kam, erzählte sie ihr nicht, dass die Vermieterin zu

Besuch gekommen war und ein Geschenk mitgebracht hatte.

Der nächste Tag war ein Freitag und die Mutter weckte sie

etwas später als normal. Sie hatte ein bisschen verschlafen,

weil sie am Abend zuvor noch einen Geburtstagskuchen für

den Papa gebacken hatte. Deswegen merkte Sabrina gar nicht,

dass in dem großen Blumentopf schon ein kleiner Spross

empor gekeimt war. Nach gerade einmal einer Nacht!

Erst als sie aus der Schule zurück war, hatte sie die Zeit dazu,

ihr selbst heran gezüchtetes Gewächs etwas genauer zu

betrachten. Und sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus!

Das Gewächs war in der Zwischenzeit mindestens zwanzig

Meter gewachsen. Es hatte sogar schon Blätter bekommen. Sie

waren zwar noch ein bisschen klein und fipsig, aber wenn es

weiter mit einer solchen Schnelligkeit wuchs, dann würde es

bald ein prächtiges Blätterkleid bekommen. Die Pflanze wuchs

aus der Mitte des Topfes hervor, aber Sabrina sah, dass in vier

Ecken weitere Keime heranwuchsen.

Als ihre Mutter anklopfte, wollte sie ihr voller Stolz ihr

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Züchtung zeigen, aber diese hatte keine Zeit dafür. Sie wollte,

dass Sabrina zum Mittag kam und danach in ihrem Zimmer

selbstständig den Teppich saugte. Denn sie hatte an diesem

Wochenende soviel zu tun, dass sie kaum wusste, was sie

zuerst und zuletzt anfangen sollte.

Na, dann hebe ich mir die Überraschung noch ein bisschen

länger auf, dachte Sabrina. Vielleicht bis Morgen, denn morgen

war ja der Geburtstag ihres Vaters.

Sie goss die Pflanze, aber nur ein bisschen. Nicht, dass ein paar

Stunden später ihr Zimmer wie ein einziger Urwald aussah.

Am Abend ging Sabrina viel später ins Bett als sonst. Papa war

nämlich zurückgekommen und erzählte beim Abendbrot von

all seinen Erlebnissen unterwegs. Außerdem war ja Freitag und

sie konnte am nächsten Morgen lange ausschlafen. Vorm Zu-

Bettgehen kontrollierte sie allerdings noch einmal die Pflanze,

und war beinahe schockiert!

Sie war in der Zwischenzeit so gewachsen, dass sie bald den

halben Weg zur Zimmerdecke erreicht hatte. Auch die vier

Keime in den Ecken des Blumentopfes hatten sich verändert.

Im Gegensatz zur Mittelpflanze, die geradeaus wuchs,

wuchsen diese spiralförmig um sie herum. Es sah beinahe wie

eine Art Zopf aus. Trotzdem bildeten sie auch dünne Seitenäste

aus, an denen Blätter keimten. Aber nicht nur Blätter, an den

Enden mancher Zweige hing etwas, was so wie Glocken

aussah. Waren das etwa schon die Ansätze der ersten Blüten?

Sabrina bekam es beinahe ein bisschen mit der Angst zu tun,

als sie das sah. Man stelle sich nur vor, die Pflanze war so

stark, dass ihre Wurzeln den Blumentopf zersprengen konnten.

Vielleicht noch mitten in der Nacht, wenn sie schlief.

Aber sie beruhigte sich schnell wieder und ging zu Bett. Denn

der Abend war lang gewesen, und nun war sie müde.

Schade, dass sie so schnell einschlief! Denn dann hätte sie

sehen können, wie sich die Glocken in der Nacht langsam

öffneten und sich zu sternförmigen Blüten umwandelten. Aber

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sie waren nicht nur sternförmig, nein, sie leuchteten auch wie

Sterne. Und zwar nicht nur in gelb, sondern auch in blau, rot

oder grün. Es war ein wirklich wunderbarer Anblick, aber als

Sabrina am nächsten Morgen aufwachte, war von alldem nichts

mehr zu sehen. Das einzige, was sie sah, war, dass die Pflanze

weiter gewachsen war. Die Spiralen, die sich um den

Hauptstängel gebildet hatten, waren mittlerweile so dick und

fest geworden, dass sie wie eine dicke Kordel aussahen. Nur

noch wenige Zentimeter fehlten, und die Pflanze hatte die

Decke erreicht.

Als am Abend Papas Gäste da waren, seine Eltern, seine

beiden Schwestern, von denen eine ein Baby hatte, und ein

paar Arbeitskollegen, durften sie natürlich alle in Sabrinas

Zimmer kommen, um die Wunderpflanze zu bewundern.

Der Mama stockte fast der Atem, als sie das sah.

„So schöne große, weiße Glocken!“ sagte sie und musste sich

am Schreibtisch festhalten, damit sie nicht vor Schreck umfiel.

„So etwas habe ich ja noch nie gesehen. Und dieser

merkwürdige Stängel… falls man es überhaupt Stängel nennen

darf, dass… dass… ist ja. Was für eine Pflanze ist das, die du

mir da eingepflanzt hast?“

„Tja, da sieht man mal, dass sogar eine erfahrene Gärtnerin

wie du von seiner eigenen Tochter noch was lernen kann!“

sagte der Papa, und kraulte seiner Tochter anerkennend durch

das Haar.

„Und das Beste ist ja, dass sie in gerade einmal zwei Tagen

gewachsen ist!“ rief Sabrina triumphierend.

„Nein!“ sagte die Mutter nur. „Liebes Kind, das kann nicht

sein! Und da weiß ich als erfahrene Gärtnerin ganz sicher mehr

als du. Keine Pflanze dieser Welt kann so schnell wachsen!

Egal wie man sie gießt. Egal, was für einen Dünger sie

bekommt.“

„Aber wenn ich es doch sage!“ maulte Sabrina.

„Eine wirklich nette Tochter hast du“, sagten Papas

Page 17: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Arbeitskollegen. „Und was für eine Phantasie sie hat.“

Wirklich zu glauben wollte ihr an diesem Abend niemand.

Außer Papa vielleicht ein bisschen. Aber es klang doch eher so,

als wollte er nur ein paar dumme Witze machen wollte, um

Mama zu ärgern.

„Wenn dieser Strauch aber die nächsten Tage weiter so wächst,

wie Sabrina gesagt hat, dann sollten wir schnellstens sehen,

dass wir den bei irgendwem im Garten auspflanzen. Denn

ansonsten wächst der uns noch dieses Wochenende durch die

Decke hindurch.“

Sabrina erstarrte, als sie das Wort Decke hörte und musste

sofort an die Gesellschaft dort oben denken, die genauso

seltsam zu sein schien wie diese Pflanze.

„Nein, das werde ich zu verhindern wissen“, sagte die Mutter.

„Spätestens am Montag werde ich dieses Gewächs einmal mit

in die Gärtnerei nehmen und meine Chefin, die Frau Dinkler

fragen. Vielleicht hat die ja eine Ahnung, was das ist.“

„Aber Mama!“ beschwerte sich Sabrina. „Es ist doch mein

Gewächs.“

„Ja, mein Liebes. Aber ich glaube nicht, dass wir diese

Monsterpflanze bei uns in der Wohnung behalten können. Dies

hier ist eine gewöhnliche Stadtwohnung und kein botanischer

Garten.“

Da es Papas Geburtstag war, ging Sabrina auch an diesem

Abend wieder spät ins Bett. Als sie die Pflanze vorm

Zubettgehen noch einmal betrachtete sah sie, dass sie

tatsächlich die Decke erreicht hatte. Eigentlich hätte sie nun

trotzig zur Mutter gehen und es ihr zeigen können. Aber sie

war ein bisschen beleidigt, dass ihr niemand glauben wollte.

Deshalb ging sie, ohne etwas zu sagen, ins Bett.

Sie konnte nur wenige Stunden geschlafen haben, als sie erneut

erwachte. Sie hatte Geräusche gehört, genau wie in der Nacht,

als sie zum ersten Mal von der Familie im Dachgeschoss

gehört hatte. Doch nachdem sie sich den Schlafdreck aus den

Page 18: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Augen gerieben hatte, vergaß sie dies sofort. Denn da hatte sie

nur noch Augen für den leuchtenden Zauberbaum, der dort in

der Ecke in ihrem Zimmer stand.

Kann man sich so etwas vorstellen? Einen Baum, auf dem

lauter bunte Sterne leuchten? Sabrina war so fasziniert davon,

dass ihr nichts daran unheimlich war.

Wenn in ein paar Monaten Weihnachten ist, werde ich die

übrigen Samen für viel Geld verkaufen, dachte sie nur. Denn

wer möchte zu Weihnachten nicht gerne einen Baum haben,

der leuchtet, ohne dass man erst mit viel Mühe und Not eine

Weihnachtskette anbringen muss?

Angst bekam sie erst, als sie wieder die Geräusche hörte. Sie

kamen zwar von oben, aber nicht aus dem Dachgeschoss.

Nein, aus ihrem eigenen Zimmer kamen sie. Es war so, als ob

irgendjemand an der Decke kratzte. Oder vielleicht sogar in sie

hineinbohrte. Dann hörte es sich auch immer wieder so an, als

ob feiner Sand oder Staub zu Boden fiel. Erst als das Kratzen

so laut war, dass man eine Gänsehaut bekam, und eine

Sekunde später ein paar richtige Brocken auf dem Boden

aufbullerten, erwachte Sabrina aus ihrer Starre.

Panisch vor Entsetzen knipste sie das Licht an, und schon hatte

sie den Übeltäter gefunden! Die Pflanze war es, niemand

anders als die Pflanze! Und sie hatte noch nicht einmal den

Anstand, damit aufzuhören, jetzt, wo sie ertappt war. Wie eine

dicke grüne Schraube bohrte sie sich weiter in die Decke

hinein, dass der Staub vom Putz nur so herunterrieselte. Wie

auf einer Baustelle. Zur gleichen Zeit hörten natürlich auch die

Sterne auf zu leuchten und verwandelten sich zu weißen

Glocken zurück. Aber das bemerkte Sabrina kaum. Jetzt

konnte sie nur noch an die Decke starren.

Vielleicht wäre sie ein paar Augenblicke später zu ihren Eltern

gelaufen, hätte sie wach gemacht, und ihnen alles gezeigt.

Doch dann hörte sie neue Geräusche, die sie erstarren ließen,

und diese kamen nun wirklich aus dem Dachgeschoss.

Page 19: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Die Familie, dachte Sabrina beunruhigt. Wir sollen sie nicht

stören, aber sie werden sich sicherlich gestört fühlen, wenn

sich etwas von unten durch die Decke bohrt.

Plötzlich wusste sie nicht mehr, ob es gut war, diese Pflanze

heimlich zu pflanzen. Sie hätte ja nicht ahnen können, was für

einen Ärger sie ihr machen würde.

Es musste eine ziemlich aufgeregte Unterhaltung sein, die da

oben stattfand, denn die Stimmen gingen immerzu auf und ab.

Schließlich aber wurden sie von einem wirklich lauten Krach

übertönt, und das war, als sich ein richtig großer Stein aus der

Decke löste. Mit einem lauten Bums fiel er zu Boden.

Wie gut, dass unter ihnen der einsame Mann und nicht das

Rentnerehepaar wohnte. Die hätten sich jetzt bestimmt wieder

über den Lärm beschwert.

Sabrina wusste, dass es spätestens jetzt an der Zeit war, ihren

Eltern Bescheid zu sagen. Aber sie war so gelähmt, dass sie es

nicht mehr wagte, sich vom Fleck zu rühren. Nach dem großen

Brocken fielen noch ein paar kleinere Steinchen herab, aber

das Schlimmste war jetzt überstanden. Dafür waren die

Stimmen von oben noch deutlicher zu hören, denn anscheinend

hatte die Pflanze bereits ein Loch in die obere Wohnung

hindurchgebohrt. Doch den Stimmen nach zu urteilen, schien

deswegen niemand betrübt zu sein. Im Gegenteil, man schien

sich beinahe darüber zu freuen.

Sabrina versuchte genauer zu lauschen, und bald schon glaubte

sie, einzelne Worte herauszuhören. Die dort oben sprachen

Deutsch, soviel war klar.

„du zuerst“, hörte sie eine eher hohe Stimme sagen, während

im Hintergrund ein leiser, aber fröhlicher Gesang erklang.

Bald aber wurde dieser Singsang von einem weit weniger

melodischen Gebrumme übertönt. Und dieses Gebrumme

schien durch das Loch in der Wand zu klettern und immer

weiter in Sabrinas Zimmer hinunterzukommen. Das wurde ja

immer unheimlicher. Konnte diese seltsame Pflanze nun etwa

Page 20: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

auch singen?

Aber nein. Es war nicht die Pflanze, die da gesungen hatte, es

war das Männchen, dass sich kurze Zeit später zwischen den

dicken spiralförmigen Stängeln des Gewächses

hindurchquetschte. Es war ein ziemlich seltsames Männchen.

Sabrina hatte schon längst vermutet, dass die Menschen dort

oben im Dachgeschoss kleiner waren als gewöhnliche

Menschen. Aber so klein? Den konnte sie ja locker mit einer

einzigen Hand tragen, und das, obwohl sie noch ein kleines

Mädchen war.

Sabrina betrachtete das Männchen genauer und fand, dass es

ein bisschen altmodische gekleidet war. Hose und Jacke waren

braun und sahen ein bisschen lumpenhaft aus. Auf dem Kopf

trug es einen Hut, der ebenfalls braun war, und unter dem

dunkles, dichtes, lockiges Haar zum Vorschein kam. Das

fremde Wesen war eindeutig ein Mann, und zwar ein richtiger

Mann, kein Junge. Das sah man ihm deutlich an, wenn er auch

ziemlich klein war. Denn er trug auch einen Bart im Gesicht,

der unterm Kinn zwar lang und spitz herunterhing, der aber

nicht besonders dicht war.

„Hallo“, grüßte der kleine Mann und winkte ihr freundlich zu.

Sabrina war zunächst ein bisschen verdutzt, weil er überhaupt

nicht schüchtern zu sein schien. Dann aber freute sie sich wie

eine Schneekönigin. Sie erinnerte sich an die Worte der

Vermieterin. Wenn sie glauben, jemandem vertrauen zu

können, kommen sie ganz von alleine.

„Hallo“, sagte Sabrina leise. „Was bist du denn für einer?“

„Mein Name ist Honzi Hossenheim“, antwortete der Mann.

„Ich bin vor ein paar Tagen dort oben eingezogen.“

„Vor ein paar Tagen erst?“ fragte Sabrina. „Ich dachte, ihr

wohnt schon viel länger dort oben. Die Besitzerin dieses

Hauses hat gesagt, schon seit vielen Jahrzehnten. Schon, als

ihre Großmutter dieses Haus noch vermietet hat.“

„Das stimmt“, antwortete Honzi. „Das Ehepaar Schürig wohnt

Page 21: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

bereits seit vielen Jahren da. Aber ich und meine Familie, wir

sind erst vor etwa zwei Wochen dort eingezogen. Hast du nicht

gehört, wie wir damals eine große Feier veranstaltet haben?

Bis in die tiefe Nacht hinein haben wir uns an der Hand

gehalten, einen Kreis gebildet und getanzt wie die Wilden.

Hast du das gar nicht gehört? Es muss doch ziemlich laut

gewesen sein. Denn wir hatten noch Gäste da, die uns beim

Umzug geholfen haben.“

„Doch“, antwortete Sabrina und nickte. „Ich bin mitten in der

Nacht aufgewacht. Und seit diesem Tag habe ich noch öfters

was von euch gehört. Früher habe ich nie etwas gehört, und ich

habe manchmal gar nicht glauben können, dass dort oben

tatsächlich jemand wohnt.“

„Das liegt daran, dass die Schürigs schon sehr alt sind“,

erklärte Honzi. „Sie reden nicht mehr viel und sie kommen fast

nie mehr aus der Schublade, in der sie wohnen heraus.

„Schublade?“ fragte Sabrina ganz überrascht. „Sie wohnen in

einer Schublade?“

„Ja, freilich. Halb aufgezogene Schubladen sind die Orte, wo

wir Dachbodenbewohner am liebsten wohnen. Vor allem die

älteren davon uns. In der Hälfte, die noch im Schrank steckt,

hat man es wunderbar dunkel. Wenn man ein paar kleine

Kissen und dünne Decken dort hinlegt, hat man eine

gemütliche Schlafecke, in der man sogar tagsüber gut schlafen

kann. In der Ecke, die offen ist, kann man sich einen kleinen

Tisch und ein paar Stühle aufstellen. Wenn die Schublade sehr

hoch ist, hat man von dort oben eine wunderbare Aussicht über

den gesamten Dachboden. Von dort aus beobachten die

Schürigs immer meine Kinder beim Spielen. Sie sind so froh,

dass endlich wieder ein bisschen Leben in der Bude ist.“

„Du hast also Kinder?“ fragte Sabrina. Sie war jetzt hellwach

und sie spürte, dass dies eine der aufregendsten und schönsten

Nächte in ihrem Leben werden würden.

„Ja, klar, habe ich Kinder“, antwortete Honzi. „Der älteste

Page 22: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

heißt Joppo. Er ist bereits ein großer Junge. Lange wird‘s nicht

mehr dauern und er wird ein kleiner Mann sein. Mein kleinster

Sohn hingegen ist noch ziemlich jung. So jung, dass er nicht

einfach so in den Schränken und Gardinen herumklettern kann

wie die anderen beiden. Er heißt übrigens Fenno. In der Mitte

zwischen beiden aber habe ich ein Mädchen. Ihr Name ist Neli

und sie dürfte in deinem Alter sein.“

„In meinem Alter?“ fragte Sabrina. „Das kann ich mir gar nicht

vorstellen. Sie ist doch mit Sicherheit viel kleiner als ich.“

„Das stimmt allerdings. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass

ihr euch richtig gut verstehen werdet. Sie sehnt sich nach einer

Freundin, weil sie das einzige Mädchen in der Familie ist.

Mein Bruder hat nämlich auch drei Kinder, und das sind alles

Jungs.“

„Ja, aber warum kommt sie dann nicht einfach runter zu mir?“

fragte Sabrina.

„Sie haben noch ein bisschen Angst“, antwortete Honzi.

„Deswegen haben sie mich vorgeschickt, weil ich der

Familienvater bin. Aber wenn ich ihnen ein Zeichen gebe, dass

du harmlos bist, werden sie sogleich die Traumblume

herunterkommen. Nur Fenno wird wohl oben, bei meiner Frau

Malli, bleiben. Wie gesagt, er ist noch nicht so geschickt im

Klettern.“

Sabrina lachte.

„Ich bin ganz bestimmt nicht gefährlich“, sagte sie. „Ihr könnt

ruhig in mein Bett kommen und ich werde nicht fressen. Aber

sie dürfen nicht so laut sein, denn sie dürfen meine Eltern nicht

wecken. Meine Mama ist es nämlich ein bisschen unheimlich,

dass dort oben Leute wohnen, die wir nicht kennen. Sie wäre

bestimmt nicht begeistert, euch hier bei mir zu sehen.“

„Na, dann muss ich Neli wohl sagen, dass sie aufhören zu

singen soll“, sagte Honzi. „Sie sing nämlich so gerne. Hörst du

es?“

Ja, Sabrina hörte es. Sie sang beinahe ein bisschen wie ein

Page 23: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Engel, fand sie. Im nächsten Augenblick aber stieß Honzi einen

Pfiff aus und dann hörte sie, wie sich im Inneren der Pflanze

erneut etwas bewegte. Nun kamen sie also, Honzis Kinder.

Sabrina rieb sich die Hände, weil sie es kaum erwarten konnte.

Und drei Minuten später saßen sie tatsächlich bei ihr auf der

Bettdecke. Honzi, Joppo und Neli. Joppo hatte ähnliche

Kleider an wie sein Vater. Er hatte aber keinen Hut. Und bei

ihm war auch nur die Hose braun, während die Jacke

dunkelgrün war. Er sah insgesamt auch etwas ordentlicher aus.

Wenn sie ihn genauer ansah, dann fand sie beinahe, dass er

etwas edles an sich hatte. Er hatte helles, glattes Haar und sein

Gesicht hatte sehr kräftige Züge. Trotzdem sah er sie

schüchtern an. Oder sagen wir besser, geheimnisvoll.

Neli hingegen hatte langes, glattes und dunkles Haar. Sie war

in ein wolkenweißes Kleid gehüllt, auf dem winzige silberne

Sterne glänzen. Sie war ein bisschen dick, aber sie hatte ein

sehr freundliches und verträumtes Gesicht.

„So groß bist du!“ staunte sie, als sie Sabrinas dicken Finger

betastete. „Ich bin noch nie einem so großem Menschen so

nahe gewesen.“

Sabrina musste ein bisschen kichern. Sie erinnerte, dass die

Kinder in ihrem alten Wohnblock immer gesagt hatten, sie sei

viel zu klein.

Eine Weile saßen sie alle zusammen auf ihrem Bett und taten

nichts, als sich gegenseitig anzustarren. Die Kinder schienen

nicht so gesprächig zu sein wie der Vater, der wieder zur

Pflanze zurückgekehrt war, um die Gesundheit ihrer Blätter zu

begutachten. Doch das täuschte. Als das Eis zwischen ihnen

erst einmal gebrochen war, schwatzten sie drauflos, was das

Zeug hielt.

Am Anfang redete meist Neli. Sie erzählte Sabrina alles von

dem Leben, dass die Familie auf dem Dachboden führte. Auf

einem Brett in einem Regal hatte sie sich so etwas wie ein

eigenes Zimmer eingerichtet. Eine Pappröhre hatte sie mit

Page 24: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Stoffen ausgelegt, sodass sie eine richtig gemütliche

Kuschelhöhle zum Schlafen hatte. Dann hatte sie noch mit

einem Bindfaden einen Sack an die Decke gebunden, in dem

sie manchmal schaukelte. Besondere Mühe hatte es ihr

gemacht eine große Schale mit lauter kleinen Plastikperlen auf

ihr Regalbrett zu tragen. Joppo und der Vater hatten ihr dabei

geholfen, aber die Mühe hatte sich gelohnt. Denn sie liebte es,

an manchen Tagen ein Perlenbad zu nehmen und ihren kleinen

Körper in ihnen unterzutauchen. Wenn es ihr abends zu dunkel

war und sie noch etwas machen wollte, brauchte sie nur eine

der beiden Kerzenstummel anzünden, die sie in ihrem Zimmer

hatte. Sabrina überlegte sich, wie eine solche Kerze wohl

aussah, wenn man so klein wie Neli war. Wie eine große

brennende Säule musste sie für sie sein. Wenn Neli in ihrem

Zimmer ungestört sein und nicht beobachtet werden wollte,

brauchte sie bloß den Vorhang zu ziehen, den sie an der

Außenseite des Regals angebracht hatte. Den Stoff dafür hatte

sie in einer Schublade gefunden. Worauf sie aber am

allerstolzesten war, war die Holzrinne, die von dem Boden in

ihre Regaletage hinaufführte. Wenn sie dort hinunterrutschte,

war sie in Windeseile unten und brauchte nicht erst eine

anstrengende Kletterpartie zu machen.

Ihr Bruder Joppo lebte nicht im selben Regal wie sie. Er hatte

sich sein Zimmer auf einer Holzfläche eingerichtet, die direkt

unterm Dach lag. Es war die höchste Wohnfläche, die es auf

dem Dachboden gab. Er mochte es nämlich, weit oben in der

Höhe zu sein, wo ihn niemand störte. Während Neli geredet

hatte, hatte er meist schweigend auf der Bettkante gesessen

und die Beine baumeln lassen. Sabrina dachte zunächst, er

wolle nichts mit ihr zu tun haben, aber dann fing auch er zu

erzählen an.

Oh, was für eine geheimnisvolle Stimme er hatte! Sabrina

konnte sich kaum entscheiden, ob sie eher aus einem Märchen

oder aus einer Schauergeschichte stammen könnte. Zunächst

Page 25: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

bekam sie eine Gänsehaut, als sie ihm zuhörte, aber dann war

es einfach nur schön und unheimlich spannend. Neli hatte mit

ihr geredet, wie die Mädchen in ihrer Schulklasse mit ihr

redeten. Sie hatte ihr von ihrem Zimmer erzählt, von der

Familie, von ihren Spielen. Joppo hingegen redete über ganz

andere Dinge. Er liebte es, in der Höhe auf den Stützbalken

spazieren zu gehen. Manchmal blieb er dabei stehen,

beobachtete die Fliegen, und versuchte, ihre Sprache zu lernen.

Jeden Tag kletterte er mindestens einmal zu der kleinen

Dachbodenluke herüber und spähte in die weite Welt hinaus.

Er musste doch schauen, ob die dunklen Ritter auf ihren

fliegenden Pferden angeritten kamen und versuchten, seine

Familie anzugreifen. Er selber wollte, sobald er groß war,

selbst ein großer Ritter werden, aber einer der guten, nicht der

bösen Seite. Er übte dafür jetzt schon mit einem Holzschwert,

dass er sich selbst geschnitzt hatte. Er machte seine Übungen

sogar auf den Querbalken des Daches. Der gesamten Familie

wurde schwindelig dabei, wenn sie ihm dabei zusehen musste.

Aber er sagte, ein guter Ritter darf niemals Angst vor tiefen

Abgründen haben.

Sabrina fragte ihn einmal, ob das, was er erzählte, ernst

gemeint war, oder ob es nur Märchen und Phantasien waren.

Aber darüber schwieg er, wie über viele andere Dinge, die sie

gerne von ihm gewusst hätte.

Je länger ihr die beiden aber erzählten, desto trauriger fand

Sabrina es, dass sie selbst nicht so klein war, und auf dem

Dachboden leben konnte. Sie war schon einmal auf dem

Dachboden ihrer Oma gewesen und sie wusste, wie viele

Verstecke es auf so einem Boden geben konnte. Wie gerne

wäre sie selber all die Schränke und Regale hinaufgeklettert.

Wie gerne hätte sie sich aus alten Gardinen und Stoffen ihre

eigenen Kleider zusammengeflickt. Wie gerne wäre sie selber

einmal auf den Dachbalken entlang balanciert, wenn Joppo bei

ihr war, und aufpasste, dass sie nicht herunterfiel. Wie gerne

Page 26: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

wäre sie einmal in eine der Schubladen gekrochen und hätte als

kleiner Zwerg in all dem alten Ramsch herumgewühlt.

Und wie sie so davon schwärmte, stand plötzlich Honzi wieder

auf ihrem Bett. Die ganze Zeit war er umhergegangen, hatte

sich in ihrem Zimmer umgeschaut, und sich nicht in die

Gespräche unter Kindern eingemischt. Was wollte er auf

einmal? Wollte er seine Kinder abholen, damit sie wieder nach

oben zurückkehren konnten.

„Oh, könnt ihr nicht für mich vielleicht einmal die

Dachbodentür aufmachen?“ fragte Sabrina ihn. „Dann kann ich

wenigstens einmal bei euch hereinschauen und ich euch

zugucken. Auch wenn es schade ist, dass ich niemals bei euren

Spielen mitmachen kann.“

Dieser Abend war wirklich das sonderbarste, was Sabrina

jemals erlebt hatte. Doch das, was Honzi ihr dann antwortete,

war fast noch sonderbarer.

„Nein, die Bodentür können wir nicht für dich aufmachen. Es

wäre viel zu kompliziert, die schwere Eisenkette zu entfernen.

Wieso kommst du nicht einfach durch das kleine Loch in der

Decke, wie wir es auch tun?“

Sabrina dachte zunächst, er wolle sie veräppeln, aber er meinte

es tatsächlich ernst. Er bat sie, zu der Pflanze, die er

Traumblume nannte, herüberzugehen, und leicht an ihren

glockenförmigen Blüten zu wackeln. Sabrina tat, was er sagte,

und schon bald kullerte eine kleine Kugel in ihre Hand.

„Was ist das?“ fragte sie. „Ein Samenkorn?“

„Nein, das ist ein Traumplätzchen“, erklärte Honzi. „Wenn du

es vor dem Schlafengehen isst, dann kannst du in deinen

Träumen tatsächlich bei uns sein. Jedoch musst du dafür eine

Puppe haben, die in unserer Größe ist. Wie wäre es zum

Beispiel mit der Prinzessin dort in deinem Regal?“

Sabrina holte die Prinzessin herüber in ihr Bett.

„Und nun?“ fragte sie.

„Du legst die Prinzessin auf deine Bettdecke, isst das Plätzchen

Page 27: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

und schläfst ein“, sagte Honzi. „Und sobald du eingeschlafen

bist, wandert deine Seele in die Puppe hinüber. Wenn du mit

deiner Seele in der Prinzessin steckst, wird diese lebendig, und

du kannst mit ihrem Körper hingehen, wo du willst. Dein

echter Körper bleibt aber im Bett zurück. Erst, wenn du zu ihm

zurückkehrst und du dir selbst einen bestimmten Satz in das

Ohr flüsterst, geht deine Seele in deinen echten Körper

zurück.“

„Aber bin ich dann nicht total übermüdet, wenn ich die ganze

Nacht mit euch auf dem Dachboden spiele, anstatt zu

schlafen?“ fragte Sabrina, die von der Geschichte fasziniert

und besorg zugleich war.

„Nein“, sagte Honzi. „Denn dein Menschenkörper schläft ja

weiter. Sobald du aufgewacht bist, wird es dir so vorkommen,

als sei alles nur ein Traum gewesen. Trotzdem wirst du dich an

alles erinnern können. Und wenn du am nächsten Abend

wieder Lust hast, kannst du es ruhig noch einmal probieren.

Wir haben jeden Abend Zeit für dich, denn wir Dachbewohner

sind sowieso eher Nacht- als Tagmenschen.“

„Ganz besonders ich“, schwärmte Joppo. „Das einzige, was

etwas schade ist, ist, dass ich noch nie einem Nachtflügel

begegnet bin. Aber hoffentlich wird es eines Tages noch

passieren.“

„Ein Nachflügel?“ fragte Sabrina. „Was soll denn das sein?“

„Das ist ein Flügel, der dieselbe Farbei wie die Nacht hat,

sodass man ihn nicht sehen kann. Doch du spürst ihn, wenn er

direkt in deine Nähe kommt. Wenn du dann schnell genug bist,

und dich auf ihn draufstellst, kannst du innerhalb kürzester Zeit

zu den unmöglichsten Orten reisen.“

„Zu was für Orten denn?“ fragte Sabrina.

„Zu anderen Kontinenten. Aber auch zu anderen Sternen, wenn

du willst. Oder eben zu all den Orten der Dämmerung, wo die

Tiere und die Wesen der Dämmerung wohnen. Ein normaler

Mensch, und auch wir Dachbewohner können diese Orte aus

Page 28: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

eigener Kraft nicht finden. Denn sie sind geheim und die

Wesen der Dämmerung achten darauf, dass niemand sie

entdeckt. Nur ein Flügel der Nacht, der kann einen an alle Orte

bringen, ohne dass man dabei Angst haben muss. Man kann

sich sogar in den Mittelpunkt der Sonne wünschen und er

bildet eine Schutzhülle aus, damit man nicht verbrennt.“

„Oh, ich wünsche, mir würde dieser Flügel der Nacht auch

einmal begegnen“, sagte Sabrina. „Aber am besten nur wenn

du dabei bist, Joppo. Denn mit dir zusammen würde ich

bestimmt niemals Angst haben.“

Sabrina war sich auch sicher, dass ihr ohne Joppo dieser Flügel

ganz sicher nie begegnen würde. Deswegen konnte sie sich gar

nicht genug beeilen, das kleine Plätzchen der Traumblume

herunterzuschlucken. Sie vertrieb die kleinen Menschlein, die

nun allesamt ihre Freunde waren schnell aus dem Zimmer,

denn nun wollte sie nur noch eins: Schnell einschlafen und

ihnen dann hinterdrein folgen.

Niemals zuvor hatte sich Sabrina so seltsam gefühlt, wie in

dem Augenblick, als sie sich selbst beim Schlafen zusah. Sie

war nun klein, nicht einmal so groß wie eine Hand, und das

Zimmer war riesig. Ihr Kleiderschrank sah aus wie ein

Wolkenkratzer, und die Traumblume schien in der

Zwischenzeit noch einmal um das zehnfache gewachsen zu

sein. Er leuchtete wieder so wunderbar in der Nacht, dass sie

sich in ihrem Zimmer gut umsehen konnte. Als sie die

Bettkante heruntersah, kam sie sich vor wie auf einem Drei-

Meter-Turm, nur dass unter ihr kein Wasserbecken war. Aber

Honzi hatte ihr gesagt, dass kleine Leute viel größere Sprünge

machen konnten, und er hatte Recht. Mit einem kleinen Hopser

war sie unten, ohne dass sie dabei ausrutschte oder sich sonst

wie wehtat. Von oben hörte sie bereits, wie Neli ein paar

Lieder für sie sang, und sie beeilte sich, zur Blume zu kommen

und hinaufzuklettern.

Auch das war viel einfacher, als sie es sicher vorher vorgestellt

Page 29: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

hatte. Im Innenraum der spiralförmigen Stängel hatten sich

kleine Zweige und starke Blätter ausgebildet, an denen man

heraufklettern konnte, wie in einem Treppenhaus.

„Willkommen bei uns, im Reich der Dachbewohner“, begrüßte

sie eine Frau, sobald sie oben ihren Kopf herausgestreckt hatte.

„Bist du die Malli?“ fragte Sabrina und die Frau nickte.

Sie war ein bisschen dick, und ziemlich kräftig gebaut. Man

sah ihrem Körper und ihrem Gesicht an, dass sie sehr viel

arbeitete. Aber sie sah auch ziemlich gütig aus. Juppo und Neli

konnten froh sein, so eine Mutter zu haben. Und Fenno

natürlich auch. Das war die andere Person, die Sabrina traf, als

sie zum ersten Mal aus dem Loch guckte. Und endlich wusste

sie, zu wem das Lachen gehörte, dass sich wie ein Schluckauf

anhörte. Im Gegensatz zu seinen beiden Geschwistern war er

kein bisschen schüchtern. Er lachte und quasselte immerzu und

wollte auch sogleich mit Sabrina spielen. Aber er war auch

ziemlich tollpatschig und fiel alle paar Sekunden auf die Nase.

Neli fand eine kleine Plastikkugel und sie schlug vor, dass sie

ein Fußballspiel mit Fenno spielen sollten, damit er sich

beruhigte. Juppo aber spielte nicht mit, obwohl er der größte

Junge unter ihnen war. Fußballspielen auf dem Boden, konnte

ihm nicht begeistern. Er hätte es lieber oben auf dem

Dachbalken getan, wo man immer aufpassen musste, dass die

Kugel nicht herunterfiel. Aber das ging nicht, weil Fenno zu

klein war und die Mädchen sich nicht trauten. So kletterte er

auf eine alte Kommode hinauf und schaute ihnen von oben aus

zu.

„Wirklich merkwürdig, was ihr da macht“, sagte er. „Ich habe

noch nie eine Prinzessin Fußball spielen sehen.“

Da erst fiel es Sabrina ein, dass sie ja wie eine Prinzessin

angezogen war. Aber doch nur, weil sie im Zimmer sonst keine

Puppe in Nelis Größe gefunden hatte. Sie aber pfiff darauf,

eine zu sein, und achtete auch nicht darauf, dass sie ihr weißes

Kleid nicht kaputt machte.

Page 30: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

„Ich will genauso aussehen, wie ihr“, sagte Sabrina, als Fenno

endlich müde war, und ihn die Mutter mit hinauf in die

Schublade nahm, in der sie wohnten.

„Kein Problem“, meinte Neli und zeigte auf die Kommode, auf

der ihr Bruder noch immer saß. „Siehst du die obere, offene

Schublade? Dort gibt es Nadeln, Garn und Stoffe. Mama hat

dort ein Nähstudio eingerichtet. Sie hat dort auch ein neues,

fertiges Kleid für mich liegen, was ich mir aber noch nicht

abgeholt habe. Das kannst du gerne haben, wenn du willst.“

Also kletterten sie zusammen die Kommode hinauf und

Sabrina war überrascht, wie schnell sie das konnte. Was sie

auch wunderte, war, dass es so hell war. Aber das log wohl an

den Kerzen, die in manchen Ecken des Dachbodens brannten.

Und an den Blumen, die in kleinen Blumentöpfen angepflanzt

waren. Sie leuchteten genauso wie ihre Traumblume, nur

waren ihre Blüten nicht sternförmig und auch nicht so groß.

„Sind das auch Traumblumen?“ fragte Sabrina.

„Nein, Traumblumen nennt man nur die Blumen, die durch die

Decke wachsen, damit Kinder in ihren Träumen zu uns

hinaufklettern können“, erklärte Neli. „Aber mit solchen

Fragen gehst du am besten zu Joppo. Er kennt sich besser mit

den Geheimnissen unserer kleinen Welt aus.“

Als sie aber oben waren, hatte Sabrina keine Zeit dazu. Sie war

zu sehr damit beschäftigt, das dunkelrote Kleid zu bewundern,

das Nelis Mutter genäht hatte. Es passte gut in diese Gegend

hinein, denn es sah geheimnisvoll aus, wie es so im Licht der

Wunderbäume glänzte und schimmerte. Und es war auch nicht

so lumpig, wie die Kleidung von Honzi. Gerne wollte Sabrina

es tragen, während sich Neli das Prinzessinnenkleid borgte.

„So wie ihr ausseht, könntet ihr glatt in einer Modenschau

auftreten“, meinte Joppo und grinste.

„Au ja“, rief Neli vor Begeisterung. „Ich habe gehört, dass es

bei euch großen Menschen so etwas gibt. Ich würde so etwas

gerne mal selber machen.“

Page 31: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Aber Sabrina war dagegen. Sie war hergekommen, um die

Geheimnisse des Dachbodens zu erkunden. Da kann man

Eitelkeiten nicht gut gebrauchen. Sie sah sich auf der

Kommode um, um nach etwas zu suchen, womit man spielen

konnte. Sie entdeckte aber nur ein altes Photo. Ein verstaubtes

Schwarz-Weiß-Photo, das in einem goldenen, verzierten

Bilderrahmen steckt. Es zeigt eine junge Dame in weißem

Kleid und einen jungen Mann in schwarzem Anzug. Es sieht

ganz danach aus, als ob sie ein Brautpaar sind.

„Weißt du, wer diese beiden Leute sind?“ fragt Sabrina Neli.

Aber bevor diese antworten kann, kommt ihr Joppo schon

dazwischen.

„Das sind ein Graf und eine Gräfin, die früher einmal in

diesem Haus gelebt haben.“

„In diesem Haus?“ Sabrina tippte sich mit dem Finger an die

Stirn. Man kann ihr ja eine ganze Menge einreden, aber so

einen Unsinn glaubt sie doch nicht. „Dies hier ist doch ein

ganz normales Wohnhaus. Wahrscheinlich ist es noch nicht

einmal besonders alt. Hier leben doch keine Grafen und

Gräfinnen.“

„Nein, besonders alt ist es wirklich nicht“, antwortete Joppo.

„Besonders alt kann es auch gar nicht sein, denn vor etwas

mehr als einhundert Jahren hat an derselben Stelle noch ein

prächtiges Schloss gestanden. Doch eines Tages hat man es

völlig niedergerissen, nur diese eine Dachbodenkammer ist

geblieben.“

Sabrina wusste nicht recht, ob sie das glauben sollte.

Schließlich hatte sie an diesem Tag schon allerlei verrückte

Dinge gehört und erlebt. Aber es war ja völlig gleich, ob es

wahr war, oder nicht. Joppo konnte gut erzählen und sie wollt

ihm gerne weiter zuhören.

„Wie kann es sein, dass eine einzige Dachbodenkammer

geblieben ist?“ frage sie. „Ohne Haus müsste die doch zu

Boden gekracht sein.“

Page 32: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

„Weil sie verzaubert war“, erklärte Joppo. „Die Gräfin und ihr

Mann waren in diese Dachkammer geflohen, weil sie Opfer

einer großen Verschwörung geworden waren. Man glaubte, sie

sei gar nicht die echte Gräfin, sondern eine Schwindlerin. In

Wirklichkeit war es nur ihr böser Onkel, der dieses Gerücht in

die Welt gesetzt hatte. Er war erzürnt darüber, dass sie nach

dem Tod seines Bruders den Thron geerbt hatte und nicht er.

Deswegen tat er alles, um ihr zu schaden. Und er war so

mächtig und listig, dass er es bald geschafft hatte, das gesamte

Volk gegen sie aufzubringen. Welch ein Glück, dass die Gräfin

einmal einer kleinen Elfe das Leben gerettet hat und nun einen

Wunsch bei ihr freihatte. So wünschte sie sich, dass diese

Dachbodenkammer unsichtbar wurde, und niemand sie dort

finden konnte. Ihr Onkel ließ das ganze Schloss nach ihr

absuchen. Er wusste, dass sie noch da war, aber er konnte sie

nirgends finden. Er war so voll Hass gegen sie, dass er am

Ende sogar das eigene Schloss abreißen ließ. Nur diese

Dachbodenkammer nicht, weil niemand sie sah. Und so harrten

die Gräfin und der Graf viele Jahre in dieser Kammer aus, bis

ihr böser Onkel gestorben war. Die Elfe war so großzügig, dass

sie der Gräfin einen zweiten Wunsch gewährte. Und so

wünschte sie sich, dass man um die Dachkammer ein ganz

normales Haus herum baute. Und als dies geschehen war,

lebten sie in dem Haus viele Jahre wie ganz gewöhnliche

Leute. Die große Zeit der Grafen war vorüber, und es hatte ihr

ohnehin mehr Schwierigkeiten als Freude bereitet eine Gräfin

zu sein. Niemand weiß heute mehr, dass hier früher einmal ein

Schloss gestanden hat, nur die Tür zur Dachkammer. Die

starke, hölzerne Tür mit der Eisenkette, sie ist von damals

geblieben.“

Sabrina hatte die ganze Zeit über eher vermutet, dass sich

Joppo die Geschichte nur ausdachte. Aber als er von der

Dachbodentür erzählte, war sie sich nicht mehr sicher. Sie

erinnerte sich daran, dass sie sofort an ein altes Schloss

Page 33: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

gedacht hatte, als sie sie zum ersten Mal sah.

Gerne hätte sie ihn auch noch gefragt, ob die Gräfin die

Großmutter ihrer Vermieterin gewesen war. Aber plötzlich

hörte sie, wie Malli nach ihnen rief. Sie stand in einer

geöffneten Schublade in dem kleinen Schrank gegenüber.

„Kommt rüber, meine Kinder! Ich habe für euch ein

Nachtmahl zubereitet, damit ihr nicht verhungert.“

Sabrina hatte noch nie zuvor in der Nacht gegessen. Aber sie

war neugierig darauf, was die Dachbodenbewohner wohl für

Speisen hatten. Deswegen wollte sie schnell herunterklettern.

„Doch nicht klettern!“ sagte Neli da. „Wir nehmen einfach die

Seilbahn.

„Die Seilbahn?“ fragte Sabrina zunächst verdutzt. Doch dann

wusste sie, dass Neli die dünne weiße Schnur meinte, die

zwischen der Kommode und dem Regal aufgespannt war. Sie

war ihr schon die ganze Zeit über aufgefallen, aber sie hatte

nicht gewusst, dass es eine Seilbahn war.

„Die hat Joppo gebaut“, erklärte Neli. „Er ist in solchen

Dingen immer sehr tüchtig.

Also gingen sie herüber zur Kante, wo am Anfang des Seiles

zwei große Schlüsselanhänger hingen. Joppo war als erstes da

und zeigte Sabrina, wie es ging. Er löste den

Schlüsselanhänger aus einer Halterung, umklammerte mit den

Füßen das Plastikteil und schon fuhr er wie ein Sausewind

davon. Es dauerte nicht lange, da war er drüben.

„Kann man die Anhänger auch wieder zurückbewegen?“ fragte

Sabrina. „Es ist nämlich nur noch einer da.“

„Schlecht“, antwortete Neli. „Weil es von drüben aus ja nur

bergauf geht. Sie werden meistens von allein zurückbewegt,

wenn wir schlafen. Joppo behauptet, es seien unsichtbare

Nachtfalter, die das täten.“

Aber die beiden fanden einen Weg, wie sie gemeinsam mit

einem einzigen Schlüsselanhänger fahren konnten. Und

Sabrina war sich sicher, dass es viel mehr Spaß machte, wenn

Page 34: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

sie beim Fahren der Freundin ins Gesicht schauen konnte. Da

konnten sie nämlich gemeinsam lachen und sich über die Fahrt

freuen.

Schließlich saß die gesamte Familie in der Schublade, in der

die Schürigs wohnten. Die Schürigs, das waren zwei wirklich

angenehme Leute, die Sabrina schon bald in ihr Herz

geschlossen hatte. Sie sprachen wenig, aber wenn sie sprachen,

dann musste man ihnen ganz aufmerksam zuhören, weil es so

interessant war. Sie erzählten manchmal von unheimlichen

Dingen, wie Joppo, aber meistens erzählten sie von früher, wie

es damals auf den vielen Dachböden gewesen war, in denen sie

gelebt hatten. Einige Geschichten waren sehr traurig. Sie

hatten nämlich auch noch die Zeiten des letzten Krieges erlebt,

und die Oma Schürig, die übrigens von allen auch nur Oma

Schürig genannt wurde, wäre einmal fast verbrannt, als der

Dachstuhl bei einem Angriff ausgebrannt war. Aber auch Opa

Schürig hatte so einiges zu berichten, denn er war in seinem

Leben viel in der Welt herumgekommen. Er vermisste das

Reisen so sehr, und es war so traurig, dass er heute kaum noch

seine Schublade verlassen konnte. Aber zum Glück war jetzt ja

die Familie Hossenheim da, die extra hergezogen war, um den

beiden Alten zu helfen.

„Es ist so schön, dass jetzt wieder ein bisschen Leben bei uns

eingezogen ist“, sagte Oma Schürig und schnurrte zufrieden.

„Und du, Sabrina, kannst so oft zu uns hoch kommen, wie du

möchtest.“

Sie saßen übrigens alle an einem Tisch der eigentlich gar nicht

so groß war, dass sie alle daran gepasst hätten. Aber sie rückten

ein bisschen zusammen, sodass sie es richtig gemütlich hatten.

Auch hatten sie nicht genug Stühle, aber die Kinder konnten

sich auch gut auf die Kante von der Schublade setzen. Als

Essen gab es eine Suppe, die Malli über einer Kerzenflamme

warmgemacht hatte. Sabrina war ein bisschen skeptisch, weil

sie grau und dickflüssig war. Als sie es aber probiert hatte, fand

Page 35: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

sie doch, dass es ziemlich gut schmeckte.

„Was ist denn da drin?“ fragte sie.

„Die zerraspelten Flügel einer Stubenfliege und mehrere

Mückenstachel“, antwortete Joppo sogleich.

„Wirklich?“ fragte Sabrina und war ziemlich geschockt.

„Na klar. Und gewürzt wurde die Suppe mit einer Prise

Hausstaub.“

Aber Malli sagte sogleich, dass Joppo nur wieder einen

Quatsch erzählte. Was wirklich in der Suppe war, wollte sie

aber nicht sagen. „Eine gute Hausfrau nimmt verrät ihre

Geheimrezepte höchstens auf dem Totenbett“, sagte sie.

Außerdem war sie der Meinung, dass die Dachbewohner auch

noch so manche Geheimnisse vor den Besuchern aus der

Menschwelt bewahren sollten.

„Was seid ihr eigentlich für welche?“ fragte Sabrina. „Seid ihr

Zwerge, Wichtel oder… oder einfach nur zu klein geratene

Menschen.“

„Wir haben für uns keinen eigenen Namen“, antwortete Honzi

darauf. „Wir nennen uns auch nur Menschen. Oder eben

Dachbewohner, wenn wir uns von euch unterscheiden wollen.

Denn unser Volk liebt es nun einmal in alten Dachböden zu

leben, wo es viele Verstecke gibt und ihr großen Menschen

selten oder gar nicht hinkommt. Es gibt in dieser Stadt noch

Dutzende andere Familien, die wir manchmal besuchen.“

„Aber wie macht ihr denn das?“ fragte Sabrina. „Ich habe noch

nie gehört oder gesehen, wie jemand von euch die Treppe

heruntergegangen ist.“

„Wir gehen ja auch nicht über die Straße wie ihr?“ antwortete

Joppo mit schwärmerischen Augen. „Wir haben einen

Flugdrachen, der uns bei Nacht durch die ganze Stadt fliegen

kann. Muron ist sein Name.“

Sabrina blickte sofort zu Malli und Honzi herüber. Und als sie

sah, das die beiden nickten, wusste sie, dass dies keine

Phantasiegeschichte war, die sich Joppo gerade für sie

Page 36: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

ausgedacht hatte.

„Wo ist denn dieser Drachen?“ fragte Sabrina. „Ich möchte ihn

zu gerne einmal sehen.“

„Er ist nicht hier, denn Drachen leben meistens in den

Innenwänden der Schornsteine“, erklärte Joppo. „Außerdem

muss er ja außer uns manchmal noch andere Familien

transportieren. Aber morgen Nacht will er zu uns kommen und

am Bodenfenster anklopfen. Das hat er mir vor ein paar Tagen

selbst versichern.“

„Dann werde ich morgen wiederkommen“, sagte Sabrina

erwartungsfreudig. Sie wollte unbedingt einmal bei Nacht auf

einem fliegenden Drachen über die Stadt reiten.

Am nächsten Morgen aber hatte Sabrina ein ganz anderes

Problem.

„Ach, du lieber Gott!“ rief die Mutter, als sie ins Zimmer kam,

um ihre Tochter zu wecken. Sie hatte aber nur noch Augen für

die Traumblume, die mit ihrer Spitze ein Loch in die Decke

gebohrt hatte. Natürlich wusste sie nicht, dass es eine

Traumblume war, weswegen sie sie sofort aus dem Zimmer

nehmen wollte.

Sabrina hatte an diesem Sonntagmorgen lange geschlafen, und

am liebsten wäre sie noch ein bisschen länger liegengeblieben.

Denn der Traum, den sie gehabt hatte, war so wunderbar

gewesen. Als ob sie ihn in Wirklichkeit erlebt hätte!

Als sie aber sah, was ihre Mutter gerade anstellen wollte, war

sie mit einem Schlag hellwach. Und sofort wusste sie, dass ihr

der Traum ihr nicht nur echt vorgekommen war, nein, sie hatte

ihn in Wirklichkeit erlebt! Wenn die Mutter ihr nun aber die

Traumblume wegnehmen würde, konnte sie nie wieder einen

solchen Traum erleben.

„Lass das sein!“ schrie sie und sprang mit einem Satz aus dem

Bett. „Es ist meine Blume! Ich habe sie selber gepflanzt und

ich möchte, dass sie hier stehen bleibt!“

Page 37: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

„Aber das geht doch nicht, das siehst du doch!“ entgegnete die

Mutter. „Sie hat ein Loch in die Decke gebohrt. In ein paar

Tagen bohrt sie sich womöglich durch das Dach hindurch.“

Aber Sabrina wusste, dass dies nicht passieren würde. Seitdem

die Blume das Dach erreicht hatte, war sie kaum einen

Zentimeter mehr gewachsen. Aber die Mutter wollte nicht mit

sich reden lassen.

„Wenn die Vermieterin das sieht“, sagte sie. „Oh, jemine, wie

unangenehm. Am Ende schmeißt sie uns noch aus der

Wohnung!“

„Ich glaube nicht, dass die Vermieterin da so streng ist“, meinte

Sabrina, doch die Mutter wollte darauf nicht hören.

Welch ein Glück, dass genau in diesem Moment das Telefon

klingelte.

„Sabrina, ich muss schnell weg!“ rief die Mutter ganz außer

Atem, als sie zwei Minuten später ganz gehetzt bei ihr

hereinkam. „Einer Arbeitskollegin ist etwas Schlimmes

passiert, ich muss sie dringend im Krankenhaus besuchen.“

Sabrina fand es natürlich sehr schade für die arme Frau. Aber

wenigstens hatte sie jetzt ein bisschen Zeit, in der sie sich

einen Plan überlegen konnte, das mit der Blume zu verhindern.

Hastig kletterte sie auf einen Stuhl, zwängte ihren Zeigefinger

durch das Loch und machte ein Klopfzeichen. Es dauerte nicht

lange, da kniff ihr jemand in den Fingern. Es war Fenno, der

ein bisschen mit ihr spielen wollte. Aber sie hatte für so etwas

keine Zeit.

„Sag schnell deine Eltern oder Joppo Bescheid!“ rief Sabrina

zu ihm herauf. „Meine Mama will mir meine Traumblume

wegnehmen. Dann kann ich heute Abend nicht zu euch

kommen.“

Ein paar Minuten musste Sabrina ungeduldig warten. Dann

kam Honzi an, der es gar nicht gewöhnt war, um diese Zeit

wach zu sein. Aber als er Sabrinas Problem mit anhörte, sah er

sofort ein, dass es dringend war.

Page 38: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

„Ich kann deiner Mama doch einen Brief schreiben, dass es uns

nichts ausmacht, wenn die Pflanze in unsere Wohnung herein

wächst.“

„Ich weiß nicht“, meinte Sabrina. „Sie soll doch eigentlich gar

nicht wissen, dass dort oben jemand wohnt. Sie fürchtet sich

doch so sehr vor Gespenstern und kleinen Männchen und so.

Außerdem nützt das auch nichts, weil ja der Vermieterin das

Haus gehört und sie zu entscheiden hat.“

„Dann werde ich der Vermieterin jetzt einen Brief schreiben“,

entschied Honzi. „Ich habe sie noch nie gesehen und noch nie

mit ihr gesprochen. Aber ihre Großmutter hat den Schürigs

einiges über sie erzählt. Wenn sie wirklich so ist, wie die alte

Frau Hansen gesagt hat, dann wird sie deswegen bestimmt

keinen Ärger machen.“

„Hoffentlich“, sagte Sabrina, die vom Stuhl stieg und wartete,

dass das kleine Briefchen zu ihr heruntergeflogen kam. „Ich

werde den Brief gleich zu ihr bringen. Hoffentlich trifft sie sich

danach sofort mit Mama und sagt ihr, dass alles kein Problem

ist.“

Als Sabrina bei der Vermieterin auf dem Sofa saß, während sie

den Brief las, guckte sie ein bisschen ängstlich drein. Ihre

Mutter hatte ihr immer beigebracht, dass man die Leute am

Sonntag nicht einfach so stören durfte. Und dann hatte sie

Angst, dass sie sich wegen dem Loch in der Decke aufregen

würde.

Wie erleichtert war sie, als die Vermieterin zu ihr aufsah und

lachte.

„Das ist aber schön, dass sich die Herrschaften auch mal bei

mir melden“, sagte sie. „Ich bin eigentlich nicht so neugierig

und lasse den Leuten Ruhe. Aber ein bisschen traurig war ich

schon, dass sie mir niemals auch nur einen Brief geschrieben

haben.“

„Du hast also nichts dagegen, dass ein Loch in der Decke ist?“

fragte Sabrina erleichtert.

Page 39: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

„Wenn du nichts dagegen hast, und die Familie im Dachboden

auch nicht, dann wüsste ich nicht, wo das Problem ist“, sagte

sie verständnisvoll. „Die Hauptsache ist nur, dass es nicht

größer wird. Wenn ihr wieder auszieht kann man das Loch ja

immer noch schließen.“

Sabrina lächelte.

„Aber du musst zu uns herüberkommen und Mama das auch

sagen“, fügte sie noch hinzu. „Die will meine schöne

Traumblume sonst nämlich aus der Wohnung werfen.“

„Ich werde sowieso kommen“, sagte die Vermieterin. „Denn

ich habe diese wunderbare Blume ja noch gar nicht gesehen.“

„Oh, was sieht die toll aus!“ staunte sie, als sie sie ein paar

Minuten später direkt vor sich sah. „Sie passt aber gut zu

meiner Großmutter, denn sie war eine sehr geheimnisvolle

Frau. Vielleicht sollte deine Mutter eine eigene Gärtnerei

aufmachen und dort mit den übrigen Samenkörnern diese

Pflanzen züchten. Sie wird damit gewiss ein Wahnsinns-

Geschäft machen.“

„Lieber nicht“, sagte Sabrina. Denn wenn die Mutter reich

wurde, dann würde sie sich bestimmt ein eigenes Haus im

Grünen kaufen wollen. Früher hätte Sabrina gern in so einem

großen Haus, das sie für sich allein hatten, wohnen wollen.

Aber seitdem sie die Schürigs und die Hossenheims kannte,

wollte sie nie wieder aus dieser Wohnung weg.

„Dann schenke ich dir die übrigen Samenkörner“, sagte die

Vermieterin. „Vielleicht wirst du später ja selber einmal

Gärtnerin. Wenn du willst, kann ich den Beutel auch weiter für

dich im Keller aufbewahren.“

Sabrina fand es gut, dass die Vermieterin das Geheimnis nicht

groß herumerzählen wollte. Sie versuchte sich zu erinnern, ob

sie schon einmal eine Frau getroffen hatte, die so nett war wie

sie, aber ihr fiel keine ein.

Am Ende schaffte sie es sogar, ihre Mutter davon zu

überzeugen, dass die Traumblume in Sabrinas Zimmer

Page 40: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

stehenbleiben durfte.

„Und wenn sie weiter wächst?“ fragte die Mutter dennoch

skeptisch. „Was ist, wenn plötzlich die Decke einstürzt. Oder

wenn wir in Sabrinas Zimmer plötzlich einen Urwald haben.“

„Sie wächst nicht weiter!“ sagte Sabrina trotzig. „Sie ist seit

heute Morgen noch keinen Zentimeter gewachsen.“

„Na gut, aber so ganz wohl ist mir bei der Sache trotzdem

nicht“, sagte sie, als sie die Vermieterin zur Tür begleitete.

„Aber wenn Sie die Verantwortung dafür übernehmen. Bitte.“

Am Sonntagabend wollte Sabrina sofort nach dem Abendbrot

ins Bett, das war um kurz nach sieben.

„Komisch“, sagte die Mutter. „Sonst gehst du doch nie

freiwillig ins Bett.“

„Ich bin die letzten Tage so lange aufgeblieben, deswegen bin

ich heute müde“, erklärte Sabrina.

Auch der Vater war ein bisschen traurig, denn er hatte sie lange

nicht gesehen und hätte gerne noch mit ihr ein Spiel gespielt.

„Also gut, eine Runde Halma“, gab sie schließlich nach, aber

pünktlich um halb acht lag sie in den Federn.

Der Dachboden war noch viel größer, als Sabrina es am Abend

zuvor erlebt hatte. Da waren sie nämlich nur in der kleinen

Ecke gewesen, in der die Familie lebte. Sie war wahrscheinlich

nur wenige Meter breit und lang, aber natürlich kam sie einem

viel größer vor, wenn man klein war. An zwei Seiten wurde sie

vom Dach begrenzt, an der anderen Seite lag die Mauer mit der

Tür zum Treppenhaus, und an der vierten Seite schließlich war

quer durch den Raum ein großer Vorhang aufgespannt.

„Der hängt da, damit sich im Raum die Wärme besser hält“,

erklärte ihr Neli. „Wir können ja nicht den ganzen großen

Dachboden heizen.“

„Wie heizt ihr eigentlich genau?“ fragte Sabrina.

„Das solltest du besser Joppo fragen, der hat bestimmt gleich

wieder eine Geschichte parat“, sagte sie.

Aber Joppo war nicht da. Er war den ganzen Abend noch nicht

Page 41: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

aufgetaucht und so beschlossen Sabrina und Neli, allein etwas

zu unternehmen. Zuerst spielten sie wieder Fußball und eine

Runde Verstecken mit Fenno, damit er sich austoben konnte

und ihnen hinterher nicht mehr auf die Nerven ging.

Dann aber zog es Sabrina wie magisch zu dem Vorhang hin.

„So ein Riesenvorhang!“ staunte sie, als sie direkt vor ihm

stand und in die Höhe schaute. „Es kommt einem ein bisschen

so vor, als ob hier das Ende der Welt liegt. Aber auf der

anderen Seite ist eine andere Welt, die voller Rätsel und

Geheimnisse ist. Vielleicht gibt es dort Monster und

Gespenster. Vielleicht kommt sogar einmal eins zu uns

herübergekrochen und erschreckt uns.“

„Du redest ja fast schon so wie Joppo!“ sagte Neli. „Der liebt

es, dort drüben auf der anderen Seite zu sein. Er erzählt mir

manchmal von seinen Erlebnissen dort drüben. Aber ich gehe

fast nie dorthin. Es ist mir zu unheimlich.“

„Und ich interessiere mich unheimlich dafür, was dort drüben

ist“, sagte Sabrina. Sie nahm sie an der Hand, denn sie merkte,

dass ihre Freundin ein bisschen zitterte.

„Wenn du mitkommst, und mir versprichst, dass du immer bei

mir bleibst, gehe ich vielleicht doch mal“, sagte sie da. „Aber

mit Joppo allein mag ich das nicht. Er nimmt nie Rücksicht auf

mich, klettert überall hoch und verkriecht sich in allen dunklen

Ecken. Wenn ich ihn nicht folge, lässt er mich einfach allein

auf dem Flur stehen. Und dann stehe ich da und zittere und

traue mich kaum, mich zu rühren.“

„Ich werde ganz bestimmt immer bei dir bleiben“, sagte

Sabrina.

„Lasst uns erst einmal am Vorhang hochklettern“, schlug Neli

vor. „Damit ich ein bisschen Mut bekomme.“

Der Stoff des Vorhangs war nicht sonderlich glatt, sondern aus

ziemlich groben Fasern gewoben. Wenn man so klein war wie

sie, fand man überall zwischen den Fäden Halt und bald schon

waren sie über einen halben Meter in die Höhe geklettert.

Page 42: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

„Das macht mir Spaß“, jubelte Neli und schaukelte sogar ein

bisschen hin und her. „Wenn im Hintergrund das Licht der

Kerzen scheint und ich genau weiß, dass Mama und Papa mich

sehen können, traue ich mich schon eine ganze Menge Dinge.“

„Und was ist, wenn plötzlich von der anderen Seite ein Vampir

angeflogen kommt und in den Vorhang beißt?“ fragte Sabrina.

„Genau dort, wo du gerade deine Hand hast.“

„Oh, sag so etwas nicht, sonst komme ich ganz bestimmt nicht

mit dir!“ beschwerte sie Neli.

Schließlich aber kam sie doch. Auf der anderen Seite des

Vorhangs war es wirklich dunkel, das musste Sabrina zugeben.

Es gab nämlich keine Kerzen und keine Wunderbäume, die

ihnen Licht spendeten. Nur wenig blasses Mondlicht drang

durch ein Dachfenster, ganz weit hinten rechts, zu ihnen

herein. Neli aber hatte ein brennendes Streichholz in der Hand,

damit sie wenigstens etwas sahen. Sie hatte es zuvor in

flüssiges Kerzenwachs getaucht, damit es länger brannte.

Langsam verstand Sabrina, warum sich Neli so vor dem Raum

fürchtete. Er war nicht nur dunkel, er war auch fünf- oder

sechsmal so groß wie der Raum, in dem sie wohnten. Er ging

ja noch so weit um die Ecke herum, wo bei ihnen schon längst

die Wand mit der Tür zum Treppenhaus gewesen wäre. Sie

bekam eine leichte Gänsehaut, als sie sich überlegte, was in

den vielen Ecken und Winkeln dieses Bodens alles sitzen und

auf sie lauern könnte. Aber dann erinnerte sie sich an die Zeit

zurück, als ihr ihre Mutter noch abends am Bett Geschichten

vorgelesen hatte. Damals hatte sie beschlossen, einmal genauso

viele Abenteuer zu erleben, wie die Menschen in den Büchern.

Da konnte sie jetzt, wo sie endlich die Gelegenheit dazu hatte,

nicht kneifen. Mit mutigem Schritt ging sie voran. Der Raum

war kühl und leer und auf dem Boden war es auch viel

staubiger als dort, wo Malli wenigstens einmal pro Woche den

Boden wischte. An den Rändern zum Dach und in den Ecken

aber, da stand das Gerümpel, dass es die reinste Freude war.

Page 43: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Alte Stofftiere, Kisten, die vielleicht mit Bauklötzen oder

anderem Spielzeug gefüllt waren, alte Lampenschirme,

Teppichrollen, mehrere Stühle, alte Werkzeuge, und vieles,

vieles mehr.

„Das ist doch ungeheuer aufregend, da mal drin herum zu

wühlen“, sagte Sabrina.

„Aber dort ist alles so schmutzig und staubig“, entgegnete

Neli. „Ich habe immer Angst, dass zwischen all dem Staub

dicke Spinnen oder andere ekelige Tiere sitzen könnten.“

Nachdem sie ein kurzes Stück gegangen waren, schaute sich

Sabrina auch nach rechts herum, dorthin, wo der Dachboden

mehrere Meter weit um die Ecke ging.

„Sag bloß nicht, da willst du auch noch hinein“, stöhnte Neli.

„Das geht wirklich zu weit. Wenn uns da etwas geschieht,

hören uns Mama und Papa vielleicht noch nicht einmal, wenn

wir um Hilfe rufen.“

„Aber da steht eine Art Schrank, den ich mir gerne einmal

anschauen möchte“, sagte Sabrina. „Er sieht sehr alt aus, denn

er ist ziemlich kunstvoll verziert.“

„Er ist entsetzlich!“ jammerte Neli. „Joppo hat gesagt, er hat

Türgriffe, die aussehen wie Schlangen. „Und auch

Totenschädel und Werwölfe und andere unheimliche Dinge

sind in ihm eingeritzt. Ich habe so eine Angst, dass dort drin

irgendwelche Wesen der Finsternis sitzen und uns gefangen

nehmen.“

„Das glaub ich nicht“, meinte Sabrina. „Joppo hat selber

gesagt, die Wesen der Finsternis wohnen an Orten, wo nie ein

Mensch hinkommt. Ich würde gerne mal auf diesen Schrank

heraufklettern.“

„Heraufklettern ist ja noch schlimmer“, sagte Neli. „Dort oben

gibt es nämlich lauter Spiegel, die einen von allen Seiten her

anstarren. Joppo hat gesagt, manchmal blitzen auf ihm Lichter

auf, obwohl es im ganzen Raum dunkel ist.“

„Joppo hat gesagt, Joppo hat gesagt…“, stöhnte Sabrina. „Lass

Page 44: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

dir von dem doch keine Angst einreden. Lass uns die

Geheimnisse lieber selber erkunden.“

„Und was ist, wenn auf dem Spiegelglas plötzlich ein

gefährlicher Drache erscheint, und uns böse anguckt?“

„Dann lass ihn doch böse gucken. Solange er kein Feuer speit,

ist es halb so schlimm“, sagte Sabrina. Dann nahm sie der

zitternden Neli das Streichholz ab und ging einfach vorneweg.

Das wohl die einzige Möglichkeit, Neli zu etwas zu bewegen.

Wenn sie nicht im Dunklen stehenbleiben wollte, konnte sie

gar nicht anders, als ihr zu folgen. Doch ein bisschen mehr

Vorsicht hätte Sabrina schon gut getan. Es dauerte nicht lange,

da stolperte sie und ließ den brennenden Streichholz fallen,

dass er mehrere Zentimeter über den Boden rutschte. Sofort

fing Neli an gellend zu schreien.

„Eine Falle!“ rief sie. „Du bist in eine Falle getreten. Jetzt

werden die Monster kommen und dich holen!“

„Ach wo“, sagte Sabrina nur, nachdem sie den ersten Schock

überwunden hatte. „Da ist nur eine Bodenplatte etwas locker.“

Sie lief schnell weiter, um das Streichholz wiederzuholen.

Schließlich war der Boden aus Holz uns sie wollte keinen

Hausbrand verursachen.

„Lose Bodenplatten sind etwas ganz Geheimnisvolles“, sagte

sie, drückte Neli wieder das Streichholz in die Hand und

bückte sich. „Ganz oft sind Schatzkarten darunter versteckt.

Das habe ich schon in vielen Geschichten gehört.“

Sie hob das Brett an, so weit sie es mit ihren kleinen Händen

schaffte. Dann steckte sie neugierig den Kopf darunter, aber sie

entdeckte nichts als Schaumstoff.

„Wir müssen das Brett weiter absuchen“, sagte sie, als ihr Kopf

wieder hervorkam. „Vielleicht ist die Schatzkarte ein Stück

weiter versteckt.“

„Und was ist, wenn unter diesem Brett die Unterirdischen

wohnen?“ fragte Neli zitternd.

Aber bevor Sabrina antworten konnte, ertönte plötzlich eine

Page 45: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Stimme von ganz oben, die sich laut und heulend anhörte.

„Huuuuuu-Uhuuuuuu“

Was war das nur? Ein Vogel, vielleicht? Oder am Ende gar ein

Gespenst?

Für einen kurzen Moment hatte Sabrina fast mehr Angst als

Neli. Denn die merkte schon bald, dass es ihr Bruder war. Sie

wusste schließlich, wie gut er seine Stimme verstellen, und war

für Geräusche er damit nachmachen konnte.

„Wenn ihr eine Schatzkarte haben wollt, warum guckt ihr dann

nicht dort hinten in der großen Büchertruhe nach!“ sprach er

und seine Stimme war so laut und dunkel, dass er sich beinahe

wie ein finsterer Burgherr anhörte.

„Joppo, wo bist du?“ fragte Neli.

„Ich balanciere auf den Dachbalken, wie ich es immer tue,

mein Schwesterherz“, war die Antwort.

„Aber doch nicht hier, wo es so dunkel ist!“ entgegnete sie.

„Komm sofort herunter!“

„Wenn dich die Dunkelheit stört, dann zünde ich eben ein

Licht an“, war alles, was der Bruder darauf sagte.

Und tatsächlich! Es zischte kurz und ein paar Sekunden später

brannte ganz oben, fast direkt unter dem Dach, ein Kerzenlicht

auf. Aber dadurch wurde es auf dem Boden fast noch

unheimlicher als zuvor. Das Licht war schwach und fern.

Riesig aber waren die Schatten, die es verursachte. Die

Schatten der Dachbalken, aber auch die Schatten von einem

Spinnennetz, das unter der Decke hing. Und natürlich die

Schatten von all dem vielen anderen Dingen, die in den Ecken

standen oder von oben herunterhingen. Manche davon wirkten

auf den ersten Blick wie furchtbare Ungeheuer.

„Joppo, lass das!“ flehte seine Schwester ihn an. Aber Joppo

legte jetzt erst richtig aus. Neli konnte sich nicht entscheiden,

was schlimmer war. Zu sehen, wie Joppo selber dort oben auf

dem dünnen Balken balancierte, oder seinen Schatten auf dem

Boden zu beobachten. Als er einmal zum Ende des Balkens

Page 46: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

spaziert war, ohne dass etwas passiert war, atmete Neli

erleichtert auf. Aber dann ging er plötzlich zurück, und zwar

mit den Händen. Als er in der Mitte des Balkens war, wackelte

er sogar ein bisschen mit den Beinen, um ihnen zuzuwinken.

Aber da konnte Neli nicht mehr hingucken. Sie schloss die

Augen, und selbst dann fürchtete sie sich noch. Sie fürchtete

sich davor, jeden Moment den Knall zu hören, wenn Joppo zu

Boden fiel. Aber ihr Bruder wusste, was er tat. Er fiel nicht und

Sabrina klatschte laut Applaus, als er es endlich geschafft hatte

und zum Abschluss eine Verbeugung machte.

Schließlich kam Joppo doch herunter, aber Neli war es gar

nicht recht, wie er das anstellte. An der Dachwand hatte er in

weiten und unregelmäßigen Abstand Stangen angebracht, die

mehrere Zentimeter hervorragten. Die Abstände zwischen

ihnen waren aber so groß, dass man nicht einfach an ihnen

herunterklettern konnte. Man musste sich fallen lassen, und

dann versuchen, mit den Händen, die nächste Stange zu

ergreifen. Neli hatte immer ein bisschen Angst, er könne eine

Stange verfehlen. Sie war sehr froh, als er endlich unten war.

„Hättest du vielleicht nicht oben das Licht ausmachen sollen?“

fragte ihn Sabrina da.

„Ach, was. Ohne Licht kann man doch gar nichts sehen, wenn

wir in der Büchertruhe sitzen.“

„Ich dachte nur. Nicht dass irgendwann das ganze Dach

anfängt zu brennen.“

„Da brauchst du keine Angst haben“, sagte er nur. „Wir

löschen die Kerzen hier fast nie selber. Mama auch nicht. Es

gibt hier nämlich ein kleines Gespenst, das sie ausmacht, wenn

sie zu weit heruntergebrannt sind oder wir sie nicht mehr

brauchen.“

„Ein Gespenst?“ fragte Sabrina. „Ein richtiges Gespenst?“

Er nickte. „Es ist aber ein gutes Gespenst“, antwortete er.

„Hast du es selber schon einmal gesehen?“ fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. „Es kommt immer nur, wenn wir

Page 47: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Menschen nicht hingucken“, erklärte er. „Dann pustet es

blitzschnell die Kerze aus und verschwindet schnell wieder

hinter einer Dachritze.“

Sabrina wollte sitzen bleiben und warten, bis das Gespenst

erneut kam. Sie wollte endlich wissen, ob all das wahr war,

was Joppo ständig erzählte. Aber er war dagegen. Wie es sich

für einen großen, starken Bruder gehört, nahm er plötzlich an

jede Hand ein Mädchen und ging mit ihnen davon.

Wenn ihr Bruder dabei war und sich so nett, um sie kümmerte,

hatte auch Neli fast keine Angst mehr. Denn er hatte in seiner

Lederscheide ja sein Schwert dabei, mit dem er sich sicher

jedem gefährlichen Angreifer in den Weg stellen würde. Sie

hielt seine Hand ganz fest, damit er ihnen ja nicht wieder

davonrannte. Bald schon waren sie an der Büchertruhe

angekommen, die ganz am anderen Ende des Bodens lag. Als

sich Sabrina nach rechts umsah, merkte sie plötzlich, dass im

unteren Teil der Wand einige dunkle Löcher waren.

„Was ist das?“ fragte sie. „Gibt es hier auf dem Dachboden

etwa auch Mäuse.“

„Das sind die geheimen Höhlen und Katakomben“, erklärte ihr

Joppo flüsternd. „Die Bewohner, die vor vielen hundert Jahren

diesen Dachboden bevölkert haben, sollen dorthin ihre

Gefangenen verschleppt haben. Man sagt, dass tief in ihnen

drin noch ihre Skelette liegen. Manchmal, an ganz bestimmten

Tagen, sollen sie sogar noch aufstehen, in den Höhlen

herumtanzen und dabei ihre Klagelieder singen. Wollen wir

mal hineingehen und nach ihnen suchen. Wenn sie heute ihren

großen Tag haben, können wir sie ja zum Tanz auffordern. Ich

kann wunderbar tanzen.“

Aber das ging Neli eindeutig zu weit. Es kam Sabrina fast

schon wie ein Wunder vor, als sie nach dieser Geschichte noch

mit ihnen in die Büchertruhe hinaufkletterte. Joppo hatte eine

Art Leiter hinauf gebaut, sodass sie sogar ihr Streichholz

mitnehmen konnten.

Page 48: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

„Denn zum Lesen braucht man richtiges Licht“, sagte er. „Wir

müssen nur aufpassen, dass wir nicht aus Versehen eine Seite

anzünden. Also gibt es lieber mir, ich bin stärker.“

Oh, was waren das für viele Bücher! Die Truhe war mindestens

zwei Meter lang, einen Meter hoch und über einen Meter breit.

Aber sie war von unten bis oben gefüllt mit Büchern, die nicht

immer ganz gut geordnet waren, sondern kreuz und quer lagen,

wie Sabrina bald feststellte. Es waren übrigens ziemlich alte

Bücher, nicht solche neuen, wie sie selbst im Regal stehen

hatte, bei denen die Einbände noch richtig glänzten. Nein,

diese Bücher waren alt und vergilbt. Manche waren schon so

kaputt, dass sie gar keine Einbände mehr hatten. In vielen

Seiten waren Löcher, sodass man sich kaum traute, sie

anzufassen. Man musste Angst haben, dass sie jederzeit zu

Staub zerfallen konnten. Es war ohnehin schwierig, die Seiten

der Bücher zu blättern, wenn man so klein war. Aber mit

vereinten Kräften konnten sie das ganz gut schaffen.

„Das sind Bücher nach meinem Geschmack“, murmelte

Sabrina, als sie die Titel auf den Einbänden las. Es waren viele

Bücher über Piraten und Seeräuber dabei. Und in solchen

Büchern kamen sehr oft auch Schatzsuchen vor. Aber warum

mussten diese Schätze eigentlich immer in der Südsee

versteckt sein?

„Die Südsee ist wirklich ein bisschen zu weit“, meinte auch

Joppo. „Wenn uns heute nicht gerade ein Flügel der Nacht

begegnet, schaffen das heute nicht mehr. Aber vielleicht wäre

dies hier ja das richtige Buch für dich.“

Er führte Sabrina zu einem sehr großen Buch, dessen Titel

„Die Geheimnisse unserer Stadt“ draufstand. Schon die erste

Seite klang sehr vielversprechend. Es war ein kurzes Gedicht,

das so lautete:

Sind diese Geschichten Wahrheit oder nicht?

Kann man sie glauben oder führt man euch hinters Licht?

Das müsst ihr selbst erkunden,

Page 49: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Denn ich selber weiß es nicht

„Oh, wenn sie nur wahr sind, und wir finden es heraus!“ sagte

Sabrina und rieb sich aufgeregt die Hände. Sie konnte es kaum

erwarten sie im schwachen Flackerlicht des Streichholzes zu

lesen.

Die Geschichten waren kurz. Meist nicht länger als zwei oder

drei Seiten. Auch waren sie in altmodischer Schrift

geschrieben. Doch Sabrina hatte diese Schrift früh zu lesen

gelernt, denn sie wusste ja, dass fast alle Schatzkarten und

Geheimnisse der Welt in dieser Schrift aufgeschrieben waren.

Die Geschichten handelten nicht von der Südsee, sondern von

ihrer eigenen Stadt und all den unheimlichen Dingen, die sich

dort in all den Jahrhunderten zugetragen haben sollen. So las

sie von Gespenstern, die aus den Orgelpfeifen der Marktkirche

hervor krochen, wenn man eine bestimmte Melodie auf ihr

spielte. Oder von einem gefährlichen Wehrwolf der ganz in der

Nähe im Wald in einer Höhle hauste. Jahrelang hielt er einen

tiefen Schlaf und niemand wusste, dass er da war. Nur alle

hundert Jahre wachte er auf, zog mit seinem gierigen Maul in

die Stadt und tötete und fraß so viele Jungfrauen, wie er nur zu

fassen bekam. Und schließlich kam auch so etwas wie eine

Schatzgeschichte.

Sie handelte von einem jungen Räuber. Eigentlich war er gar

kein richtiger Räuber, sondern nur ein Junge, der so arm war,

dass er nichts zu essen hatte. Er kam aus einer dummen

Familie, aber er selber war schlauer als viele vermuteten. Und

so schaffte er es tatsächlich, die kostbaren Schätze des Grafen

zu stehlen. Nur leider war in der Nähe des Schlosses ein böser

Zauberer, der es ebenso auf die Schätze des Grafen abgesehen

hatte. Da er aber nicht die Kraft hatte, ihm den Beutel mit den

Reichtümern zu entreißen, musste er es durch einen Zauber

hinbekommen. So verzauberte er den armen Jungen, sodass er

Page 50: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

bald nicht mehr Herr über sich selbst war. Mit gleichmäßigen

Schritt und glasigen Augen ging er auf den Waldfriedhof hinzu,

wo er sich sein eigenes Grab schaufelte und sich dort mitsamt

der Schätze hineinlegte. Den Beutel hielt er immer noch fest

mit seinen Händen und soviel der Zauberer auch daran riss, er

konnte ihn nicht bekommen. Also schaufelte er schnell Erde

ins Grab und rieb sich danach gierig die Hände. In ein paar

Stunden wird das Bürschlein tot sein, dachte er. Und so

beschloss er, dass er in der nächsten Nacht wiederkommen und

den Schatz holen wollte. Dann würden die Arme des Jungen

schlaff sein und es würde keine Mühe mehr machen, ihm den

Beutel wegzunehmen. Er hatte gar nicht daran gedacht, dass

die nächste Nacht, die Nacht vor Allerheiligen war, und auf

allen Gräbern rote Lichter leuchteten. Erst als er bereits über

den Friedhof marschierte, merkte er plötzlich, wie ihn die

Geister der Toten bei seiner Schadtat beobachteten. Er

versuchte dagegen anzukämpfen, aber gegen die Seelen der

Toten konnte er selbst mit Zauberei nichts ausrichten. Er spürte

bald, dass sie ihm sogar unter die Kleidung schauen konnte,

und er fühlte sich so unheimlich nackt dabei. In dieser einen

Minuten, in der es geschah, wurde der Zauberer so verrückt,

dass er davonlief und niemals wiederkam. Der Schatz aber, der

ist immer noch auf dem Friedhof vergraben. Viele haben ihn

gesucht, aber niemand hat ihn gefunden. Nur der Wetterhahn

auf der Friedhofskapelle, der all das beobachtet hat, weiß, wo

er ist. Doch bisher ist es niemandem geglückt, ihm sein

Geheimnis zu entlocken.

„Oh, wollen wir nicht zum Friedhof gehen und nach dem

Schatz suchen?“ fragte Sabrina.

„Aber er ist doch zusammen mit dem Jungen begraben“, sagte

Neli. „Stell dir mal vor, wir graben sein Skelett mit aus. Das

wäre doch schrecklich.“

Joppo wollte etwas antworten, aber mit einem Mal ertönte ein

lautes Geklapper durch den Raum. Neli und Sabrina zuckten

Page 51: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

zusammen, aber Joppo stellte sich kerzengerade auf und spitzte

die Ohren.

„Muron?“ rief er. „Muron!“

Als es ein zweites Mal klapperte, sauste er blitzschnell über die

Bücher hinweg, kletterte die Leiter hinunter, und rannte über

den Boden. Er lief auf die Wand zu, die direkt unter dem

Dachbodenfenster lag.

Neli und Sabrina beobachteten das Fenster ebenfalls.

„Da ist ein Schatten“, flüsterte Sabrina. „Sind das etwa diese

fliegenden Ritter, die kommen, um euch anzugreifen.“

„Diese fliegenden Ritter hat sich Joppo bestimmt nur

ausgedacht“, meinte Neli. „Nein, das ist Muron. Vor ihm

braucht man sich wirklich nicht zu fürchten. Er ist der beste

Flugdrachen, den es im ganzen Land gibt.“

„Aber können Drachen nicht Feuer speien?“ fragte Sabrina.

„Nicht alle. Nur die Großen, die in fernen Teilen der Welt

leben, wo es keine Menschen gibt. Muron kann wie alle

Stadtdrachen nur Rauchwolken auspusten.“

„Wie kommt das?“ fragte Sabrina.

„Die Eltern erkennen schon sehr früh, wenn ein Drache kein

Feuerspucker wird“, erklärte Neli. „Dann geben sie ihnen

kaum noch zu fressen, sodass sie gar nicht wachsen können.

Die Feuerdrachen sind riesiggroß, viel größer noch als ihr

großen Menschen. Die Stadtdrachen aber sind kaum größer als

ein großer Vogel. Wenigstens aber können sie fliegen. Sie

verdienen sich ihr Futter damit, indem sie uns

Dachbodenbewohner durch die Stadt zu unseren Freunden und

Verwandten tragen.“

Bald klapperte es noch viel entsetzlicher, aber das war, als sich

das Fenster nach Innen hin öffnete.

„Wie hat er das gemacht? Er ist doch gar nicht

hinaufgeklettert“, sagte Sabrina.

„Er hat mit Seilen einen Mechanismus gebaut, sodass es auch

vom Boden aus geht“, antwortete Neli.

Page 52: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Dann aber mochte keiner von ihnen mehr sprechen. Sie

schauten dabei zu, wie der dunkle Schatten des Drachen mit

gespreizten Flügeln durch das Fenster hereinkam, eine kurze

Ehrenrunde durch den Raum machte, und dann auf dem Boden

landete. Sabrina wunderte sich ein bisschen, wie sachte er es

tat, denn im Gegensatz zu einem Vogel sah er ziemlich plump

aus. Noch faszinierender aber fand sie es, dass er aus Maul und

Nase permanent Rauch ausstieß, als wäre er eine

Dampflokomotive.

Als Joppo auf ihn zulief, um schnell auf seine Schultern zu

springen, und ihm den Kopf zu kraulen, merkte Sabrina erst so

richtig, wie groß er eigentlich war. In Wirklichkeit war er

wahrscheinlich kaum größer wie die Stofftiere, die in ihrem

Regal standen. Doch wenn sie selbst klein war, musste er für

sie ungefähr so groß sein, wie sonst ein Elefant. Er konnte

sicherlich drei oder vier kleine Männchen auf seinen Rücken

nehmen, wenn er wollte.

„Los!“ sagte Neli. „Lass uns auch schnell zu ihnen

herunterklettern, sonst fliegt Joppo nämlich ohne uns.“

„Das würde er tun?“ fragte Sabrina beinahe etwas empört.

Neli nickte. „Muron ist sein ein und alles. Ich glaube, wenn er

könnte, würde er am liebsten die ganze Nacht mit ihm durch

die Dämmerung fliegen, und zwar ganz allein. Muron kann

sprechen wie ein Mensch. Aber trotzdem hat er die

Drachensprache gelernt, damit er sich mit ihm unterhalten

kann, und niemand von uns die beiden versteht.“

Also beeilten sie sich, zu ihm zu kommen und löschten dann

das Streichholz aus. Als die beiden Mädchen auf Murons

Rücken kletterten, schien Joppo sie noch nicht einmal zu

hören. Er hatte seinen Kopf dicht an den von Muron gelehnt

und dann gab er so seltsame keuchende, zischende und

grunzende Laute von sich. Der Drache gab ihm darauf eine

Antwort und dabei erzitterte sein Körper so sehr, dass Sabrina

und Neli beinahe heruntergefallen wären.

Page 53: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

„Er freut sich“, sagte sie. „Wahrscheinlich hat Joppo ihm

einen Witz erzählt. Wenn er seinen Körper so schüttelt, dann

bedeutet das, dass er lacht.“

„Na, ich hoffe, er lässt diese Scherze bleiben, wenn wir in der

Lüfte sind“, sagte Sabrina. „Ich habe nämlich keine Lust

herunterzufallen.“

„Selbst wenn, dann wäre es nicht so schlimm, weil er dich

garantiert wieder auffangen würde“, meinte Neli.

„Nanu“, sagte Sabrina ganz erstaunt. „Warum bist du plötzlich

so mutig?“

„Weil man bei einem Drachen wie Muron niemals Angst haben

muss“, sagte sie und kniff dem Tier ein bisschen in seine

dunkelgrüne, glänzende, schuppige Haut. Sie selber saß

übrigens ganz hinten, während Sabrina in der Mitte der beiden

Geschwister Platz genommen hatte. Ein paar Sekunden

standen sie noch. Es sah so aus, als müsse der Drache noch

einmal kurz durchschnaufen. Dann aber streckte er seinen

Kopf weit nach vorne. Die Kinder konnten direkt spüren, wie

er unter seiner Haut die Muskeln anspannte, eine Sekunde

später war er in der Luft. Er drehte erst noch eine Ehrenrunde

durch den Dachboden und die einsame Kerze auf dem

Dachbalken sah plötzlich gar nicht mehr so unendlich weit und

entfernt aus. Als Sabrina nach unten schaute und sie sah, wie

tief der Boden entfernt war, wuchs ihre Ehrfurcht vor Joppo

noch mehr. Dass er es sich traute, so hoch oben solche

Experimente zu machen!

Dann aber ging es wieder ein paar Zentimeter bergab und

Muron sauste durch das geöffnete Dachfenster hinaus, hinein

in die frische, kühle Luft der dunklen Nacht.

Ach, was war das für ein Gefühl! Es dauerte keinen

Augenblick und sie waren über das Dach des eigenen Hauses

hinweggeflogen. Zu fliegen war ja ohnehin schon ein

unglaubliches Erlebnis! Aber dann noch auf einem Drachen,

und direkt über den Dächern der Stadt…

Page 54: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Sabrina drehte sich zu Neli um, doch diese hatte die Augen

geschlossen. Dann fing sie an zu singen. Sie sang ja so gern:

Heut bin ich geflogen

Über unsere Stadt

Hab die Freiheit eingesogen

Die man mir genommen hat

Bin geflogen über Dächer

Doch sah nur den Horizont

Sacht und leise wie ein Fächer

Stahl ich langsam mich davon

Eigentlich passte dieses Lied nicht ganz, denn niemand hatte

ihnen die Freiheit genommen und sie stahlen sich auch nicht

davon. Sie lebten gern in dem Haus, das für alle drei erst seit

Kurzem ihre neue Heimat war. Aber Nelis Gesang war so

wunderbar und beruhigend, dass Sabrina dies gar nicht auffiel.

Das Kribbeln im Bauch wurde ein bisschen schwächer, sodass

einem nicht schwindelig davon wurde. Aber es wurde auch

nicht so schwach, dass sie es gar nicht mehr spürte. Denn dann

wäre der Flug ja langweilig geworden. Sie sah nach unten und

erkannte die unscharfen Umrisse ihrer Stadt bei Nacht. Es war

wirklich schon sehr dunkel dort unten. Sie mussten ziemlich

lange in der Büchertruhe gelesen haben, denn die

Straßenlaternen in den schmalen Seitenstraßen waren bereits

abgeschaltet und nur in wenigen Fenstern brannte noch Licht.

Direkt vor ihnen aber ragten sechs Türme wie spitze Stacheln

in den Himmel hinauf.

„Wollen wir dahin fliegen?“ fragte sie Joppo aufgeregt.

„Wollen wir in die Kirche hinein fliegen, auf der Orgel spielen

und warten, bis die Gespenster oben aus den Pfeifen

herausgeschwebt kommen?“

Aber Joppo hörte nichts. Es kam einem beinahe so vor, als

hätte er aufgehört, er selbst zu sein, und war nun vollkommen

Page 55: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

mit Muron vereinigt.

„Aber du kennst doch die Melodie gar nicht, die du dafür

spielen musst“, antwortete Neli stattdessen.

„Aber du vielleicht“, sagte Sabrina. „Du bist doch so

musikalisch. Dir fällt bestimmt sofort eine Melodie ein, mit der

man die Gespenster aus allen Löchern und Ritzen hervorlocken

kann.“

„Selbst wenn, dann würde ich sie nicht spielen“, sagte Neli.

„Ich mag nämlich keine Gespenster.“

Danach schwiegen sie eine Weile, aber schließlich war es

Muron selbst, der seinen Drachenkopf zu ihnen herumdrehte,

und sie ansprach. Es hörte sich lustig an, denn sein

Drachenmaul war eigentlich nicht dafür geformt, um

Menschenlaute nachzumachen. Aber er gab sich wirklich große

Mühe beim Sprechen.

„Wie ich sehe, habe ich einen neuen Fluggast“, sagte er. „Und

dann auch noch so ein hübsches, nettes Mädchen. Wie heißt du

denn, meine Kleine.“

„Sabrina“, antwortete sie.

„Sabrina, und dann auch noch so ein schöner Name. Ist es das

erste Mal, dass du fliegst? Es hört sich nämlich fast so an.“

„Nicht ganz“, war ihre Antwort. „Ich bin schon einmal mit

einem Flugzeug geflogen, aber das war bei Weitem nicht so

schön.“

„Ach, dann bist du in Wirklichkeit wohl ein Menschenkind“,

stellte der Drache fest. „Eines von den großen

Menschenkindern, meine ich.“

„Genau. In Wirklichkeit bin ich auch gar nicht hier. In

Wirklichkeit liege ich in der Einhornstraße Nr. 17, 3. Stock, im

Bett und träume das alles nur.“

„Na, dann ist es für mich eine besonders große Ehre“, sagte

Muron. „Es ist nämlich das erste Mal, dass ich in einem Traum

mitspielen darf. Also will ich dafür sorgen, dass dieser Traum

ein ganz besonderer wird, einer, den du auch in fünfzig Jahren

Page 56: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

nicht vergessen wirst. Denn lass dir gesagt sein, liebe Sabrina,

wenn du mit einem Drachen über die Stadt fliegst, kannst du

diese auf eine Art und Weise sehen, wie du sie sonst nie wieder

sehen wirst.“

„Was meinst du damit?“ fragte sie.

„Na, das will ich dir gleich einmal zeigen.“

Der Drache streckte seinen Kopf wieder nach vorn und gab

Gas, wie nie zuvor. Dabei dampfte er so sehr, dass die Kinder

auf dem Rücken bald in einem richtigen Nebel eingehüllt

waren. Aber sie brauchten sich nicht davor zu fürchten, eine

Rauchvergiftung zu bekommen. Denn dieser Rauch, oder

Dampf, oder was auch immer es war, roch sehr angenehm, und

war ganz gewiss nicht schädlich.

„Huch, jetzt können wir aber gar nichts mehr sehen“, sagte

Sabrina.

Und da drehte sich Joppo zum ersten Mal, seit sie auf dem

Drachen saßen, zu ihr herum und sprach mit ihr. Sein Gesicht

und seine Augen wirkten ja sonst schon immer so träumerisch,

aber jetzt sah er fast so aus, als ob er nicht von dieser Welt

wäre.

„Das ist ja gerade das Besondere, wenn man mit einem

Drachen fliegt“, sagte er. „Wenn man so dahin gleitet, ohne zu

wissen wohin, und dann plötzlich an einem Ort ankommt, den

man noch nie zuvor gesehen hat.“

„Dass ist ja fast wie bei so einem Flügel der Nacht“, sagte

Sabrina.

„Ja, ein bisschen kann man das schon vergleichen.“

Der Flug dauerte vielleicht nicht länger als zwei Minuten, aber

wenn man so aufgeregt ist, wie Sabrina, dann können einen

zwei Minuten wie eine halbe Ewigkeit vorkommen. Dann

bremste Muron so ruckartig, dass sie beinahe von seinem

Rücken gepurzelt wäre, hätte sie sich nicht schnell noch an

Joppos Schulter festgehalten.

Und dann hielt er völlig an, an einem Ort, an dem es

Page 57: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

stockfinster war. Der Mond und die Sterne über ihren Köpfen

waren verschwunden.

„Wo sind wir hier?“ fragte Sabrina.

„Wenn du an Joppo vorbei und über Murons Kopf

hinwegkletterst, dann kannst du eine Wand aus altem Stein

betasten“, antwortete Neli und lachte. „Ich glaube nämlich fast,

wir sind am Rathaus.“

„Am Rathaus?“ fragte Sabrina. „Ich glaube eher, im Rathaus,

so duster, wie es hier ist.“

„Nein, wir sind am Rathaus“, widersprach Joppo. „Du kennst

doch wohl das Rathaus deiner eigenen Stadt, oder etwa nicht?“

„Doch, schon.“

„Na, dann weißt du vielleicht auch, dass das schräge Dach des

Rathauses, ziemlich weit über die Wand übersteht. Und genau

unter diesen Überstand sind wir geflogen.“

„Ja, aber was wollen wir hier?“ fragte Sabrina beinahe ein

wenig enttäuscht.

„Wart‘s nur ab. Ihr denkt wohl, das Rathaus ist nur für euch

große Menschen da, aber da habt ihr euch geirrt. Hier an dieser

Wand, wo ihr Menschen von unten nicht hingucken können, ist

unser Teil des Rathauses. Hier kommen wir hin, um all die

Dinge zu erfahren, die wir Dachbodenbewohner wissen

müssen.“

Eine Weile warteten sie noch ab. Bis irgendwann links von

ihnen ein Licht erschien. Ein glänzendes, goldenes Licht, das

bald wie eine Schlange über die gesamte Wand wuchs.

„Das… das ist ja eine Schrift!“ staunte Sabrina. „Eine richtige

goldene Schrift.“

Ja, das war es. Und wenn Joppo seinen Kopf ein bisschen

einzog, konnte sie auch lesen, was man ihnen mitteilen wollte:

In der alten Ruine, Wieselstraße 27, Nordstadt, findet heute ein

großes Mitternachtskonzert statt

„Ein Konzert!“ jubelte Neli. „Da müssen wir unbedingt hin!

Ich war schon so lange nicht auf einem Konzert.“

Page 58: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

„Aber sind wir für Mitternacht nicht ein bisschen spät dran?“

fragte Sabrina. „Die Straßenlaternen sind doch längst

ausgeschaltet.“

„Keine Sorge“, meinte Joppo nur. „Wenn wir Dachbewohner

einmal richtig am feiern sind, dann halten wir das bis in die

frühen Morgenstunden durch. Wir können uns unterwegs ruhig

noch ein bisschen Zeit lassen.“

Und das taten sie. Muron machte zuvor noch einen kleinen

Abstecher über den Stadtpark. Er flog direkt in das Geäst eines

dichtbewachsen Baums hinein.

„Wenn man klein ist, dann macht es bestimmt noch viel mehr

Spaß, auf einen Baum zu klettern“, meinte Sabrina. „Weil man

dann ja auch auf all die dünnen Zweige drauf kann, die bei uns

Großen sofort abbrechen würden.“

„Darauf kannst du dich verlassen“, antwortete Joppo. „Man

kann sich auch viel besser an der Baumrinde festhalten. Und

was meinst du erst, wie herrlich es ist, ganz hoch oben auf

einem Ast zu sitzen und im Wind hin und her zu schaukeln.

Die Kinder mussten sich ein bisschen ducken, damit sie von

den Ästen und Blättern nicht erschlagen wurde, dann landete

Muron auf einem Ast.

Aber… aber da saß ja schon jemand im Baum! Es war

allerdings kein kleiner Dachbewohner wie Joppo und Neli,

nein, es war ein Riese.

Obwohl. In Wirklichkeit mochte er wohl kaum größer sein als

Sabrina. Aber er hatte eine dunkelgraue Haut, als wäre er aus

Stein gemacht.

Merkwürdig, dachte Sabrina. Irgendwie kommt mir dieses

Gesicht bekannt vor.

Und dann plötzlich wusste sie es. Dieser Junge war eigentlich

eine Statue, die schon seit vielen Jahrzehnten unten im

Stadtpark auf einem Steinsockel stand. Über ihn gab es auch

eine schöne Legende. Angeblich soll er vor vielen Jahren

einmal die Stadt gerettet haben. Natürlich nicht die Statue

Page 59: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

selber, sondern der Junge, der damals wirklich gelebt hatte.

Nun aber war er eine Statue und lebendig zugleich, und saß

oben in einem Baum.

„He, Adrian!“ rief Joppo ihm zu. „Gib uns bitte drei Beutel,

gemischte Nachtfrüchte! Und für unseren Muron bitte ein

großes Stückchen Kauholz.“

„Wird gemacht“, sagte der Junge und griff mit seiner Hand in

eine Höhle des dicken, mächtigen Baumstamms.

Ein paar Sekunden später drückte er jedem der Kinder einen

Beutel in die Hand und Muron ein dickes Stück Holz in das

Maul.

„Was schaust du mich denn so an?“ fragte er, als er Sabrinas

erstaunten Blicke bemerkte.

„Ist die Legende wahr?“ fragte sie. „Hast du damals wirklich

die Stadt gerettet? Und wieso stehst du nicht unten im Park,

wie sonst immer?“

„Ja, ich habe die Stadt gerettet“, war Adrians Antwort. „Aber

nicht allein. Was viele heute nicht mehr wissen, ist, dass ich

einen Zwillingsbruder habe. Aber das ist eigentlich nur

praktisch für uns beide. Dann können wir uns nämlich

abwechseln. Einen Tag steht er unten, still und starr, und tut so,

als ob er ein steinernes Denkmal wäre, während ich im Baum

sitze und das Leben genieße und bei Nacht Köstlichkeiten an

vorbei fliegende Kunden verkaufe. Den anderen Tag machen

wir es genau andersherum.“

„Eine geniale Idee“, meinte Sabrina. Sie hätte sich gerne noch

länger mit ihm unterhalten, aber Neli wollte endlich zum

Konzert. Also kostete sie unterwegs von den Früchten und

Nüssen, die Joppo für sie gekauft hatte.

„Die schmecken ja wirklich köstlich!“ schwärmte sie. „Wo

wachsen sie denn?“

„Auf den Bäumen im Stadtpark“, war Nelis Antwort.

„So ein Quatsch!“ lachte Sabrina. „Das sind doch ganz

normale Eichen, Linden, Buchen, und so weiter. Da wachsen

Page 60: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

doch solche Früchte nicht.“

„Ich habe dir doch gesagt, mein Kind, fliegst du einmal mit

einem Drachen bei Nacht über die Stadt, dann kannst du Dinge

erleben, die du nie in deinem Leben für möglich gehalten

hättest“, konnte Muron darauf nur antworten.

Weit oben am Nordrand der Stadt gab es ein großes

Industriegebiet. Nachdem sie an den großen Kirchtürmen der

Innenstadt vorbeigeflogen waren, waren es die Schornsteine,

die vor ihnen in den Himmel ragten. Am Tag waren hier viele

Menschen, um zu arbeiten, doch in der Nacht war fast alles

leer uns still. An einem Ende des Industriegebiets gab es auch

ein paar alte Fabriken, die längst stillgelegt waren. Nun

standen sie da und gammelten vor sich hin. Und zwischen all

diesen Fabriken gab es auch ein altes Backsteinhaus, in dem

früher einmal die Fabrikarbeiter gewohnt haben. Und man

konnte schon von Weitem hören, dass genau dort das Konzert

stattfand. Hier lebten ja keine großen Menschen weit und breit,

von denen die Dachbodenbewohner gestört werden konnten.

Das Haus war so kaputt, dass auf dem Dach kaum noch Ziegel

waren. Wenn Muron die Flügel einklappte und sich ein

bisschen schlank machte, war es für ihn kein Problem, sich

einfach durch das Holzgerüst des Dachstuhls zu zwängen.

Aber noch bevor sie drinnen waren, spürte Sabrina, dass da

drinnen die Party schon voll im Gange war. Erstens an den

vielen Lichtern, die ihr entgegenstrahlten und zweitens an dem

Lärm der Instrumente, dem Gesang und dem fröhlichem

Gequatsche der Konzertbesucher.

Als Sabrina dann endlich nach unten auf den Tanzsaal hinab

sah, konnte sie kaum glauben, wie viele Dachbewohner es in

ihrer Stadt gab. Das mussten ja weit über hundert sein, und

viele waren vielleicht gar nicht gekommen, wie Joppos und

Nelis Eltern, zum Beispiel. Seltsam, dass sie zuvor noch nie

etwas von ihnen gehört hatte.

Die Musiker selber saßen übrigens hoch oben auf den

Page 61: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Dachbalken, wo sie auf ihren seltsamen Instrumenten spielten.

Unter der Decke hing eine alte Lampe, die längst nicht mehr

leuchtete Dafür konnte man auf ihrem Lampenschirm und ihrer

Glühbirne gut herumtrommeln. Andere hatten zwischen

verschiedenen Dachbalken Fäden aufgespannt, auf denen sie

Geige oder Gitarren spielen konnten. Wieder andere hatten aus

dem Kabel, das zur Lampe führte, eine Art Flöte gebaut.

Ja, es waren seltsame Instrumente und trotzdem hörte sich die

Musik gut und richtig flott an. Sodass man direkt Lust hatte,

dazu zu tanzen. Und das taten sie dann auch, genau wie die

vielen anderen Leute es auch taten. Die Tänze der

Dachbodenbewohner waren wild und ausgelassen. Sie

stampften hart mit ihren Schuhen auf, machten große

Luftsprünge, als wollten sie den Musikern oben ihre

Instrumente klauen, und drehten sich schnell wie die

Wirbelstürme. Sabrina fand es toll, denn bei solchen Tänzen

konnte man einfach nichts falsch machen. Es machte auch

nichts aus, wenn man einem anderen dabei einmal anrempelte

oder ihm auf die Füße trat. Manchmal kam es vor, dass

wildfremde Leute, die sie nie zuvor gesehen hatte, sie an den

Händen nahmen, eine Weile mit ihr tanzten, und sich dann

plötzlich wieder von ihr lösten. Am Anfang fand sie es ein

bisschen komisch, aber sie gewöhnte sich schnell daran. Denn

auf diese Art und Weise lernte sie schnell alle anderen

Konzertgäste kennen. Sogar Neli, die sonst manchmal ein

bisschen schüchtern war, machte frohen Herzens mit.

Ein paar Leute, die sich nicht viel aus dem Gehopse und

Gespringe machte, gab es aber doch. Joppo zum Beispiel. Er

kletterte lieber an dem Dachgerüst bis oben auf den Dachfirst

hinauf, wo er und ein paar andere ihre eigenen seltsamen

Tänze machten. Also noch über die Musiker hinweg. Auf dem

Boden zu tanzen fand er nämlich langweilig.

In der anderen Hälfte der Dachhalle saßen übrigens Muron und

viele andere Drachen. Sie schienen sich auch nicht viel aus

Page 62: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Musik zu machen, aber sie waren wohl froh, sich einmal

wiederzusehen und unterhielten sich in ihrer seltsamen

Drachensprache. Ein paar von ihnen kreisten auch immer um

das Dach herum, um zu sehen, ob große Menschen oder andere

Gefahren in der Nähe waren.

Von dem Getanze wurden Sabrina und Neli bald hungrig, aber

sie konnten ja immer zwischendurch zu ihren Säcken mit den

Nachtfrüchten gehen, um sich zu stärken. In der einen Ecke

des Dachbodens stand auch eine alte Frau mit einem

dampfenden Kessel. Zum Tanzen war sie bereits zu alt, aber

dafür schenkte sie Tee an alle Gäste aus.

Sabrina wunderte sich darüber, dass die Musiker niemals eine

längere Pause machten. Sie spielten und spielten, als wollten

sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes mehr tun.

Dann aber brachen sie ganz plötzlich ab. Gerade noch hatten

die Menschen so schön getanzt, als sich in das fröhliche Chaos

plötzlich eine wirkliche Unruhe mischte.

„Ein Kind ist verloren!“ hallte es bald durch den gesamten

Raum. „Eine Mutter vermisst ihr Kind!“

Es stellte sich bald heraus, dass ein paar kleinere Kinder den

Tanzsaal verlassen hatten und draußen auf der Regenrinne

balanciert waren. Dabei hatten sie nicht gut aufgepasst und so

war eins bis zur äußersten Ecke des Dachs gelaufen, wo es in

dem Loch verschwunden war, welches nach unten führte.

„Oh, wie schrecklich!“ tönte es bald durch den gesamten Saal.

„Hoffentlich ist die Regenrinne nicht verstopft! Wie sollen wir

den armen Jungen da sonst wieder herausbekommen?“

Ein paar Männer gingen zum Unglücksort, sie riefen laut in das

Loch hinein, aber sie bekamen keine Antwort.

„Er wird wohl unten im Haus sein!“ hörte man sie bald durch

den Tanzsaal rufen. „Einige müssen heruntergehen und ihn

suchen!“

„Unten im Haus?“ fragte Sabrina. „Aber führt die Regenrinne

nicht in eine Regentonne, draußen im Garten?“

Page 63: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

„Nein“, erklärte Neli. „Die Menschen, die hier früher gewohnt

haben, haben das Regenwasser vom Dach in eine Regentonne

im Haus geleitet. Damals gab es nämlich noch nicht in allen

Häusern Wasserleitungen.“

Am liebsten hätte jeder im Saal beim Suchen geholfen, doch

viele Menschen wurden zurückgehalten, damit sie unten kein

Chaos veranstalten. Die Kapelle fing wieder an zu spielen, aber

diesmal sangen sie ruhigere Lieder, solche, wie Neli sie gerne

vor sich hin summte.

Neli und Sabrina aber gehörten zu denjenigen, die es

rechtzeitig geschafft hatten, die Treppe herunterzuklettern.

Man sagte ihnen, dass der Junge rote Haare hatte und gelbe

Kleidung anhatte, dann konnte die Suche losgehen.

„Bei gelben Klamotten ist es nicht so schwer“, flüsterte Neli.

„Denn gelb ist eine Farbe, die von uns Dachbewohnern fast

niemand trägt. Rote Haare kommen bei uns hingegen ziemlich

oft vor.“

Unten im dritten Stock führte auch tatsächlich eine Regenrinne

direkt in eine alte Wohnung hinein. Aber der Junge war längst

nicht mehr zu sehen. Also liefen die Menschen kreuz und quer

umher und suchten an den unmöglichsten Ecken. Sie kletterten

nicht nur in den wenigen, völlig verstaubten Möbeln, die es

noch gab, herum, nein, es ging auch in alte Abflussrohre

hinein, man kroch in die Ritzen von Trümmerbergen, riss die

Tapeten herunter, kletterte alle Treppen hinauf, öffnete die

Fenster, um auf Fensterbänken oder im Efeu der Hauswände zu

suchen. Als man in diesem Stockwerk niemanden fand, gingen

einige auch eine Etage tiefer. Neli und Sabrina folgten ihnen

hinterher. Sie hatten sich wieder ein Wachsstreichholz

angezündet, damit sie besser sehen konnten. Doch als sie

gerade in diesem Stockwerk ankamen, hörten sie plötzlich ein

entferntes Piepen, welches von noch weiter unten zu ihnen

hinauf klang. Neli und Sabrina schauten sich einmal kurz an,

dann entschieden sie sich innerhalb von einer Sekunde, dort

Page 64: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

unten nachzuschauen.

Das war vielleicht ein bisschen leichtsinnig, zu gehen, ohne

vorher einem Erwachsenen Bescheid zu sagen. Aber da sie das

Gefühl hatten, dringend einem Menschen das Leben retten zu

können, setzte sogar bei Neli die Vernunft ein. Für eine Weile

hörte das Piepen auf, aber nach einigen Sekunden fing es

immer wieder an. Es wurde mit der Weile immer lauter, aber

auch in der nächsten Etage waren sie nicht am Ziel. Und so

führte ihr Weg schließlich bis in den dunklen, feuchten Keller

hinunter, wo ihnen das Piepen ganz nahe war.

„Nomo?“ rief Neli, aber sie bekam keine Antwort. Da fasste

sie Sabrina ganz fest am arm.

„Oh, das ist so dunkel und unheimlich hier“, sagte sie.

„Glaubst du, es war richtig, dass wir ganz allein

hierhergekommen sind? Wollen wir nicht wieder umkehren?“

Aber genau in dem Augenblick hörten sie einen Laut, der ganz

eindeutig menschlich war. Das leise, aber fröhliche Lachen

eines Kindes, um genau zu sein.

„Nomo?“ rief Neli noch einmal, diesmal etwas

hoffnungsvoller.

Und sofort ertönte das Lachen wieder, das bald aber von einem

erneuten Piepen übertönt wurde. Neli und Sabrina irrten im

Raum umher, immer in Richtung der Geräusche. Sie mussten

dabei aufpassen, dass sie nicht auf dem feuchten Boden

ausrutschten oder über den Schutt stolperten, der überall

herumlag. Schließlich aber führte sie der Weg zur Wand. Und

genau an diesem Abschnitt der Wand befand sich ein kleines

Loch.

„Ein Mauseloch“, sagte Sabrina. „Ich glaube, wir haben ein

Mauseloch entdeckt.“

Und tatsächlich, aus diesem Loch kam das Piepen und das

Lachen.

„Nomo?“ riefen sie mit vereinten Kräften noch einmal. Und

diesmal schien er sie gehört zu haben. Es dauerte nicht lange,

Page 65: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

da kam eine Maus aus dem Loch hervorgekrabbelt, und

hinterdrein ein Kind, das noch nicht einmal so groß war wie

Fenno. Wie sich bald herausstellte, konnte er noch nicht einmal

richtig sprechen. Mit der Maus aber schien er sich prächtig zu

verstehen. Er streichelte sich an ihrem kleinen Schnäuzchen,

und dann fing sie an zu piepen, dass sich Neli und Sabrina vor

Schreck die Ohren zuhalten mussten. Ihm aber gefiel es und er

lachte. Dann kitzelte die Maus ihm mit ihrem Schwanz durchs

Gesicht und da musste er noch viel mehr lachen.

„Da sitzt der hier und lacht, während sich oben hunderte von

Leuten über ihn Sorgen machen!“ stöhnte Neli. Dann nahm sie

den kleinen Jungen an die Hand und führte davon. Er schien

sehr traurig zu sein, dass er die Maus verlassen musste. Aber

wenigstens wurde er nicht quengelig und kam artig mit ihnen

mit.

Als sie an der Kellertreppe angekommen waren, schrien Neli

und Sabrina um Hilfe. Sie wollten das die Erwachsenen kamen

und ihnen Nomo abnahmen.

„Das wird eine schwere Arbeit werden, ihn bis nach oben zu

schleppen!“ stöhnte Neli. Aber das brauchten sie gar nicht.

Nomo schien kleiner zu sein als Fenno, aber er konnte viel

flinker klettern als er. Es dauerte nicht lange, da waren sie im

Erdgeschoss angekommen.

Trotzdem fiel beiden Mädchen ein Stein vom Herzen, als sie

dort Muron auf sich warten sahen.

„Ach hier seid ihr beiden“, sagte er und guckte sie mit seinen

treuen Augen an. „Joppo und ich haben euch schon überall

gesucht.“

„Warum habt ihr Drachen euch eigentlich nicht bei der Suche

nach Nomo beteiligt?“ fragte Sabrina da.

„Weil es keinen Zweck gehabt hätte. Ein Drache kann einen

Menschen nur mit der Nase erschnuppern, wenn er ihn

wenigstens einmal gerochen hat. Diesen Jungen aber kannte

noch keiner.“

Page 66: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

„Aber ist er nicht selber mit einem Drachen hergekommen?“

„Doch, schon. Aber die Mutter ist zusammen mit einem

Nachbarn geflogen. Aber ihr Drache ist nicht hiergeblieben. Er

hat die beiden nur abgesetzt und hat dann mit dem Nachbarn

eine viel längere Reise angetreten.“

Nun aber hatte der kleine Nomo endlich die Möglichkeit, einen

zweiten Drachen kennenzulernen. Am Anfang glotzte er ihn

mit skeptischen Augen an, aber dann schien er ihn genauso

gern zu mögen wie die Maus.

Noch viel mehr mochte ihn aber seine Mutter. Wäre er nicht

ein großer Drache gewesen, dann hätte sie ihn vor Dankbarkeit

sicher tot gedrückt, weil er ihr ihren geliebten Sohn

zurückbrachte. Aber Muron war ein sehr bescheidener Drache

und wies mit seinen Flügeln nur auf Sabrina und Neli.

„Bei den jungen Damen musst du dich bedanken!“ sagte er,

denn die Drachen und Dachbewohner sagen immer Du

zueinander.

Als die anderen Konzertbesucher von Sabrinas und Nelis

Heldentat hörten, wollten sie, dass die Kapelle ihnen zu Ehren

eine Dankeshymne anstimmte. Aber da lehnte Neli dankend

ab.

„Nein, nein, wir sind doch keine Stars oder so etwas. Ich

glaube, es ist jetzt das Beste, wenn wir die arme Mama und

ihren Sohn nach Hause bringen.“

Und so kletterte Neli vorne, Sabrina hinten und die Mutter und

Nomo in die Mitte von Murons Rücken.

„Oha, wir haben ja zu viert kaum noch Platz“, sagte Sabrina.

„Wie sollen wir Joppo denn jetzt auch noch mitbekommen?“

„Ach, Joppo kann ruhig warten, bis wir wieder zurück sind“,

sagte Neli. „Oder er soll mit jemand anders mitfliegen.“

„Aber ich glaube, er mag mit gar keinem anderen Drachen

fliegen als mit Muron“, sagte Sabrina und kicherte ein

bisschen. „Ich glaube, wenn er kein Drachen sondern ein

Mädchen wer, hätte er ihn längst geheiratet.“

Page 67: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

„Aber Joppo fliegt mehr mit Muron herum als der Rest der

Familie zusammen“, entgegnete Neli. „Da kann er uns jetzt

auch einmal den Spaß gönnen.

Nomo und seine Mutter wohnten in einem der Fachwerkhäuser

der Innenstadt.

„Die Dachböden in den uralten Häusern sehen bestimmt noch

viel interessanter und spannender aus“, sagte Sabrina.

Aber als sie das Haus sah, auf das sie los flogen, konnte sie nur

noch erschrocken die Hand vor den Mund legen. Denn es war

das Haus ihrer Klassenlehrerin. Und in ihrer Wohnung brannte

noch Licht. So vergaß Sabrina ganz und gar, sich auf dem

Dachboden umzugucken. Sie wollte unbedingt, dass Muron

ganz dicht an ihr Fenster flog, um zu sehen, was sie dort

machte.

Es war das Küchenfenster und sie sah, wie die Lehrerin am

Tisch sah und Aufsätze korrigierte.

„So spät noch“, staunte Sabrina. Doch dann sah sie die

Küchenuhr und sofort fiel ihr auf, dass sie eher „So früh!“

hätte sagen müssen. Es war bereits viertel vor sechs.

„Oh nein!“ sagte sie. „In zwei Stunden fängt die Schule an. Es

ist wohl an der Zeit, dass wir endlich nach Hause kommen!“

Dann aber blieben sie doch noch etwas an Ort und Stelle

stehen, denn Sabrina sah, dass die Lehrerin gerade ihr Heft

genommen hatte und korrigierte. Als sie am Ende eine Zensur

darunter schrieb, hätte sich Sabrina beinahe die Augen

ausgeglotzt, aber sie konnte sie einfach nicht erkennen.

Doch schon drei Stunden später, als sie mit ihren

Klassenkameraden auf der Schulbank saß, bekam sie ja die

Antwort. In der ersten Stunde hatten sie übrigens

Musikunterricht gehabt. Musik wurde nicht von der

Klassenlehrerin unterrichtet, sondern Frau Hitzemann. Das war

immer lustig, weil sie in ihrem Unterricht viel Musik selber

machten. Auch in dieser Stunde hatten sie mit ihren

Page 68: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Glockenspielen, Xylophonen, Blockflöten, Trommeln und

Klangstäben dagestanden und ein Musikstück geprobt, das sie

in der letzten Musikstunde bereits einstudiert hatten. Sabrina

hatte die Klangstäbe bekommen. Eigentlich mochte sie

Klangstäbe nicht, weil es das langweiligste Instrument von

allen war. Aber in dieser Stunde war es anders gewesen, denn

die Kinder mit den Klangstäben waren die einzigen, die auch

zur Musik tanzen konnten. Und wie Sabrina getanzt hat!

Genauso wie in der Nacht zuvor auf dem Konzert der

Dachbodenbewohner. Was hat die ganze Klasse nur über sie

gelacht, auch Frau Hitzemann. Nur Frau Johannis, die im

Klassenzimmer unter ihnen Mathematik unterricht hat, die hat

gar nicht gelacht. Mit wütend rotem Kopf ist sie

hinaufgekommen und hat sich über den Krach beschwert.

Doch Sabrina hat da nur drüber gegrinst, auch als sie gefragt

wurde, ob sie ein Trampeltier sei.

In der nächsten Stunde, als die Klassenlehrerin Frau Ruprecht

mit den Aufsatzheften hereinkam, verging ihr das Lachen aber

schnell. Und sie hatte auch allen Grund dazu. Denn diesmal

hatte sie eine vier bekommen, die erste in ihrem Leben.

„Das war wohl diesmal nichts“, sagte Frau Ruprecht, als sie ihr

das Heft in die Hand drückte. „Was war denn nur los mit dir?“

„Ich schreibe eben nicht gerne einen Aufsatz darüber, wie man

Brötchen backt“, maulte Sabrina. „Können Sie sich das nächste

Mal nicht ein lustiges Thema überlegen? Eins, wo man mehr

Phantasie für braucht?“

„Ich werde es mir überlegen“, sagte die Lehrerin und lächelte

schwach.

Der nächste Aufsatz wurde einen Monat später geschrieben.

Und als Sabrina das Thema las, konnte sie ihr Glück kaum

fassen.

„Als ich einmal träumte!“ hieß es. Und geträumt hatte sie im

letzten Monat ja mehr als genug. Fast jeden Abend vor dem

Zu-Bett-Gehen hatte sie ein Traumblumen-Plätzchen gegessen

Page 69: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

und war zu ihren neuen Freunden heraufgeklettert. Fast jede

Nacht hatte sie im Körper einer Puppenprinzessin die

großartigsten Abenteuer erlebt, während ihr eigener Körper im

kuscheligen Bett lag und voller Seeligkeit schlief. Das einzige,

was ihr bei diesem Aufsatz Schwierigkeiten machte, war, zu

entscheiden, welchen Traum sie auswählen sollte.

Erst nach fünf Minuten fasste sie Endlich einen Entschluss, als

die anderen Kinder schon längst mit dem Schreiben

angefangen hatten. Es war der Traum, den sie in der achten

Nacht erlebt hatte. Neli, Joppo und sie waren mit Muron in die

Kirche geflogen. Das große Eichentor war zwar verschlossen

gewesen, aber in einem der Kirchenfenster gab es weit oben

ein Loch, durch das hindurchpassten, ohne sich an einer

Glaskante zu schneiden. Und sie hatten tatsächlich auf der

Orgel gespielt. Neli und Sabrina oben, wo man mit den Fingern

die Tasten drückt, Joppo unten auf den Fußtasten, während

Muron empor geflogen ist, um zu sehen, ob oben ein Gespenst

erschien. Wenn drei Menschlein versuchen zusammen Orgel zu

spielen, obwohl keiner von ihnen etwas von diesem Instrument

versteht, dann kommt da nichts weiter als ein dröhnender,

scheußlicher Lärm bei heraus.

„Wenn der liebe Gott weiß, was wir in seiner Kirche machen“,

rief Neli. „Hoffentlich wird er uns nicht sehr böse sein.“

„Aber genauso muss sich eine richtige Gespenstermusik

anhören!“ erwiderte Sabrina. Umso mehr wunderte sie sich

darüber, dass nicht einmal ein Hauch von Gespenst erschien.

„Pah! Das wird wohl wieder nur irgend so ein schüchternes

Gespenstchen sein, wie das, was bei Joppo immer die Kerzen

ausmacht“, sagte sie irgendwann, als sie keine Lust mehr hatte

und wieder von der Orgel herunterkletterte.

Dafür entdeckten sie aber etwas anderes Aufregendes. Sie

flogen mit Muron ganz dicht unter den vielen Bildern, die auf

der Decke aufgemalt waren, hinweg. Und was entdeckte

Sabrina da? Ganz oben, an einer Stelle, wo ein Mensch

Page 70: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

niemals ohne Leiter hinkam, fand Sabrina eine Schrift. Sie war

direkt in das Gesicht einer Person gekritzelt, sodass es keine

Beschriftung des Bildes sein konnte.

„Das gibt es doch nicht“, flüsterte sie leise. Ihre Mutter hatte

ihr gesagt, dass die Kirche ein heiliger Ort sei. Nicht so ein Ort

wie ihr alter Wohnblock, wo die frechen Kinder einfach die

Wände bekritzelten. Aber sie musste zugeben, dass der

Schmierfink eine ziemlich ordentliche Schrift hatte. Lesen

konnte sie es trotzdem nicht, weil es in einer anderen Sprache

war.

„Das sieht aus wie Latein“, stellte Joppo fest. „Ich wollte

schon immer mal gern Latein lernen, aber ich bin noch nicht

dazu gekommen, weil ich lieber die Sprache der Drachen

gelernt habe.“

Sabrina war ein bisschen enttäuscht, doch dann fiel ihr etwas

ein. Und zwar die Legende von Adrian, dem Jungen, der

damals die Stadt gerettet hatte. War er nicht auf eine

Lateinschule gegangen? Und war es nicht auch diese Schule

gewesen, wo er dem Feind die große Falle gestellt hatte?

Sie lasen die Worte immer wieder, und als sie glaubten, sich

alles eingeprägt zu haben, waren sie schnell zu Adrian in den

Stadtpark geflogen, damit er ihnen alles übersetzte. Das

Dumme war nur, dass an diesem Tag nicht er, sondern sein

Zwillingsbruder auf dem Baum saß. Doch der war nicht zur

Latein-, nein er war zu gar keiner Schule gegangen, weil die

Eltern dafür nicht genug Geld gehabt hatten. Und so mussten

sie hinunter zum Denkmal fliegen, wo Adrian starr und steif

dastand. Der stellte sich zunächst taub, aber am Ende bewegte

er sich doch. In der Nacht sieht das ja eh kein Mensch, meinte

er.

Doch da hatte er sich geirrt. Gerade als er sich zu Sabrina

herunterbeugte, um ihr das Geheimnis ins Ohr zu flüstern, kam

ein Besoffener den Weg entlang, der dachte, seinen Augen

nicht mehr trauen zu können. Im Nu fiel er zu Boden und sie

Page 71: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

mussten sich wirklich große Mühe machen, um ihn zu

beruhigen, damit er wieder auf die Beine kam. Als das erledigt

war, aber konnte die Schatzsuche endlich beginnen, die erste in

Sabrinas Leben. Ein Traum ging für sie in Erfüllung!

Der Weg führte sie zunächst auf einen alten Platz. Ein Glück

war es nicht der Marktplatz, denn da waren selbst bei Nacht oft

noch Menschen. Nein es war ein anderer, aber dennoch alter

Platz. Hier mussten sie sich stark anstrengen, um den 112.

Pflasterstein von links, bzw. den 39. von oben aus dem Platz zu

reißen. Auf der Rückseite des Steins war eine weitere

Botschaft eingeritzt, glücklicherweise auf Deutsch. Sie zeigte

ihnen den Weg, wie man in ein Labyrinth unter der Stadt kam.

Niemand von ihnen hatte zuvor gewusst, dass es unter der

Stadt ein Labyrinth gab, nicht einmal Joppo. Und auch im

Buch „Die Geheimnisse unserer Stadt“ hatten sie nichts davon

gelesen. Aber es war tatsächlich da, und man konnte den

Eingang nur finden, wenn man auf der Rückwand der alten

Stadtmauer ein Losungswort aufzeichnete. Danach öffnete sich

im Boden sogleich eine Geheimtür und sie konnten

hineinmarschieren. Sicherlich hätten sie sich darin verlaufen,

wäre der Weg auf dem Stein nicht so gut beschrieben worden.

Am Ende des Labyrinths fanden sie aber nicht den Schatz,

nein, es waren nur die Pilze, mit denen sie den Wetterhahn auf

der großen Kirche füttern sollte. Diese Pilze waren das einzige,

was er fraß. Und deshalb waren sie auch das einzige Mittel, mit

dem man ihn für kurze Zeit zum Leben erwecken konnte.

„Kann man den Wetterhahn, auf der Friedhofskapelle auch mit

diesen Pilzen füttern?“ fragte Sabrina, als er genüsslich fraß.

Aber da antwortete er, dass jeder Wetterhahn ein eigenes

Leibgericht habe. Was der Wetterhahn auf der Friedhofskapelle

fräße, wisse er aber nicht. Zehn Minuten später, nachdem er

aufgefressen hatte, stand er wieder da, und kam seiner Pflicht

nach, als wäre er niemals lebendig gewesen. Aber wenigsten

verriet er ihnen vorher noch das Geheimnis, wie man den

Page 72: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

goldenen Fisch im Brunnen des alten Burghofs anlocken

konnte. Mit einer seiner eigenen Federn. Denn er und der Fisch

waren in früherer Zeit einmal gut befreundet gewesen. Er

erlaubte es ihnen sogar, ihm eine zu rupfen, wenn sie dem

Fisch schöne Grüße von ihm ausrichteten. Das wollten sie

gerne tun. Die Burg lag auf einem Hügel ganz in der Nähe der

Stadt. Eigentlich war sie in der Nacht für Besucher

geschlossen, aber Muron konnte ja einfach über die Mauern

und Zäune hinweg fliegen. Sabrina staunte nicht schlecht, als

sie sah, dass es in diesem Brunnen tatsächlich einen goldenen

Fisch gab. Und zwar einen richtig goldenen, nicht so einen wie

die gewöhnlichen Goldfische, die in Wirklichkeit rot waren.

Der Brunnen war tief, ziemlich tief. Und es dauerte lange, bis

der Fisch nach unten und wieder hoch geschwommen war.

Aber er brachte ihnen den goldenen Schlüssel mit, den sie dazu

brauchten, um an den Schatz zu gelangen.

Ihr fragt euch jetzt sicher alle, was sie damit öffnen sollten,

eine Tür vielleicht, oder eine Truhe, oder ein Geheimfach. Aber

ihr könnt ruhig mit dem Raten aufhören, da ihr ja doch nicht

darauf kommen würdet. Das Schloss zu diesem Schlüssel

steckte, ob ihr es nun glaubt oder nicht, in einem Baum. In

einem Baum, der in einem Wald nur wenige hundert Meter von

der Burg entfernt stand. Muron war erst viele Minuten damit

beschäftigt, um die Rinde abzuknabbern, damit sie es

überhaupt erst entdeckten. Aber er fraß ja so gerne Holz, dass

es ihm nichts ausmachte.

„Was wird wohl passieren, wenn wir aufschließen?“ fragte

Sabrina vorher, aber nicht einmal Joppo hatte eine Ahnung.

Als sie den Schlüssel herumgedreht hatten, fing die

Baumkrone plötzlich an zu rauschen, als wäre ein Sturm

aufgezogen. Aber es war nicht der Wind, der den Baum

rüttelte. Nein, der Baum schüttelte sich selber. Es war so

ähnlich wie im Märchen von Frau Holle Aschenputtel, der

Baum schüttelte irgend etwas auf sie herab. Schon bald war der

Page 73: Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

Boden um sie herum mit lauter Körnern bedeckt, die in den

verschiedenste Farben schimmerte. Goldene und Silberne

waren auch dabei. Es war für sie nicht möglich, sie alle auf

einmal aufzusammeln und so mussten sie an diesem Tag noch

mehrere Male mit großen Beuteln hin- und herfliegen.

Ja, diesen Aufsatz schrieb Sabrina, als sie einen Aufsatz über

Träume schreiben sollte. Sie schrieb so tüchtig wie nie zuvor

im Leben und trotzdem blieb ihr kaum die Zeit, um alles bis

zum Ende aufzuschreiben. Eine eins bekam sie drei Tage später

aber trotzdem dafür. Denn die Lehrerin fand, es sei einer der

besten Aufsätze, den sie jemals gelesen hatte. Oh, wenn sie nur

gewusst hätte, dass das alles wirklich passiert war!

Diese Schatzsuche brachte Sabrina Jahre später aber noch viel

mehr Glück ein. Die kleinen Körner entpuppten sich nämlich

ebenfalls als Samenkörner, aber sie traute sich nicht, sie im

eigenen Zimmer anzupflanzen. Ihre Mama hatte ja schon etwas

gegen die Traumblume. Als sie aber erwachsen war, eröffnete

sie ihre eigene Gärtnerei und pflanzte Blumen und Büsche an,

wie sie noch nie zuvor ein Mensch gesehen hatte. Pflanzen, an

denen echte Gold- und Silberperlen heranwuchsen. Pflanzen,

die so stark waren, dass man mit ihnen innerhalb von wenigen

Tagen ganze Häuser abreißen konnte, wenn man sie die

Mauern heraufwuchern ließ. Aber auch Pflanzen, die nichts

anderes taten, als unheimlich leckere Früchte hervorzubringen.

Ja, Sabrina wurde, als sie erwachsen war, zur erfolgreichsten

Gärtnerin der gesamten Welt, und ihre Mutter war sehr stolz

auf sie. Bevor es aber dazu kam, hatte sie zusammen mit den

Hossenheim-Kindern noch hunderte von anderen Abenteuern

erlebt.