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Unfallchirurgie UrUa, Vogel 1995 Informationen zur Gesundheits-, Wissenschafts- und Berufspolitik A. Pannike Zentrum der Chirurgie, Klinik far Unfallchirurgie (Leiter: Univ.-Prof. Dr. A. Pannike), Johann-Wolfgang-Goethe-Universitfit Frankfurt a. M. Die Entwicklung der Unfallchirurgie an den deutschen Universitfiten G estatten Sie mir, meine Aufgabe anzugehen nach Art des Petrarca, jenes frtihhumanistischen Kriti- kers der )krzte und der Medizin, der von sich behaup- tete, er schaue zugleich riickw~irts und vorw~irts [2]. Ich beginne mit einem Zitat aus den ,,Constitutiones", der Medizinalverordnung Friedrichs II. von Hohen- staufen aus dem Jahre 1231. ,,Da die medizinischen Wissenschaften niemals gelernt werden k/Snnen, wenn nicht vorher Kenntnisse der Logik erworben sind, bestimmen wir, daB keiner Medizin studieren soll, wenn er nicht vorher minde- stens drei Jahre Logik studiert hat. Nach diesen drei Jahren steht es ihm frei, in der Weise im Studium vor- anzuschreiten, dab er ftinf Jahre studiere und die Chir- urgie, die ein Teil der Medizin ist, innerhalb der ange- gebenen Zeit mit erlerne" [2]. Ungeachtet der durch diese kaiserliche Medizinalver- ordnung verbrieften staatlichen Sanktionierung, mit der die Medizin zum Lehrfach an den Universit~iten erho- ben wurde, hielten die Gegner der an den UniversitY- ten Bologna, Padua und Montpellier geiibten schola- stisch-dialektischen Lehrmethode lest an dem bis dahin gtiltigen Kanon der Ktinste, der zwischen den ,,artes liberales" und den ,artes mechanicae" unterschied. Bis zum Ende des 12. Jahrhunderts und dariiber hinaus hatte die Heilkunde keine Aufnahme unter die sieben Nach einem Vortrag zum Symposium 25 Jahre Unfallchirurgie, Freiburg/Breisg., 26. 11. 1994. Eingang des Manuskripts: 31.8. 1995. Annahme des Manuskripts: 4. 9. 1995. ,,artes liberales" gefunden. Auch jetzt wurde sie den handwerklichen Tfitigkeiten zugeordnet und teilte sich mit der ,,theatrica" den letzten Platz der ,,artes mecha- nicae" in der ,,Artistenfakult~it" [2, 3, 6, 36]. Folgerichtig standen nunmehr die an den Universitfi- ,,Arzte in ten ausgebildeten und staatlich geprtiften "" " Konkurrenz zu den normalen Wundfirzten, das heiBt den rein handwerklich geschulten ,,Chirurgen", die ihnen nicht selten vorgezogen wurden. Dies erkl~irt auch die aus der unterschiedlichen Aus- bildung abgeleitete SchluBfolgerung, nach der der ,,Chirurg" zustfindig war ftir die Krankheiten, die auBen am K0rper sichtbar oder durch Funktionsaus- fall bzw. Schmerzen lokalisierbar sind, w~ihrend die Behandlung yon Erkrankungen innerhalb der K6rper- h6hlen - abgesehen von Steinleiden und Hydrops - den ,,A.rzten" zustand. Schon damals zeigte sich, wie bei Henri de Mondeville nachzulesen ist, dab sich weder ,,Chirurgen" noch ,,)krzte" mit den vorgezeichneten Grenzen zufrieden- gaben, sondern im Gegenteil alle Mediziner ohne Unterschied bemtiht waren, einzelne Behandlungsar- ten aus dem jeweils anderen Bereich an sich zu reiBen. Lassen Sie uns nach Deutschland zurttckkehren. - Eine beispielgebende deutsche Universit~it war und ist die Eberhard-Karls-Universit~it, die Alma Mater Tubingensis, in deren Archiven sich seit ihrer Griin- dung im Jahre 1477 manch Lesenswertes angesammelt hat tiber die Entwicklung der Universit~itschirurgie in Deutschland [17]. Unfallchirurgie 21 (1995), 303-311 (Nr. 6) 303

Die entwicklung der Unfallchirurgie an den deutschen Universitäten

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U n f a l l c h i r u r g i e �9 UrUa, Vogel 1995

Informationen zur Gesundheits-, Wissenschafts- und Berufspolitik

A. Pannike

Zentrum der Chirurgie, Klinik far Unfallchirurgie (Leiter: Univ.-Prof. Dr. A. Pannike), Johann-Wolfgang-Goethe-Universitfit Frankfurt a. M.

Die Entwicklung der Unfallchirurgie an den deutschen Universitfiten

G estatten Sie mir, meine Aufgabe anzugehen nach Art des Petrarca, jenes frtihhumanistischen Kriti-

kers der )krzte und der Medizin, der von sich behaup- tete, er schaue zugleich riickw~irts und vorw~irts [2].

Ich beginne mit einem Zitat aus den ,,Constitutiones", der Medizinalverordnung Friedrichs II. von Hohen- staufen aus dem Jahre 1231.

,,Da die medizinischen Wissenschaften niemals gelernt werden k/Snnen, wenn nicht vorher Kenntnisse der Logik erworben sind, best immen wir, daB keiner Medizin studieren soll, wenn er nicht vorher minde- stens drei Jahre Logik studiert hat. Nach diesen drei Jahren steht es ihm frei, in der Weise im Studium vor- anzuschreiten, dab er ftinf Jahre studiere und die Chir- urgie, die ein Teil der Medizin ist, innerhalb der ange- gebenen Zeit mit erlerne" [2].

Ungeachtet der durch diese kaiserliche Medizinalver- ordnung verbrieften staatlichen Sanktionierung, mit der die Medizin zum Lehrfach an den Universit~iten erho- ben wurde, hielten die Gegner der an den UniversitY- ten Bologna, Padua und Montpellier geiibten schola- stisch-dialektischen Lehrmethode lest an dem bis dahin gtiltigen Kanon der Ktinste, der zwischen den ,,artes liberales" und den ,artes mechanicae" unterschied.

Bis zum Ende des 12. Jahrhunderts und dariiber hinaus hatte die Heilkunde keine Aufnahme unter die sieben

Nach einem Vortrag zum Symposium 25 Jahre Unfallchirurgie, Freiburg/Breisg., 26. 11. 1994.

Eingang des Manuskripts: 31.8. 1995. Annahme des Manuskripts: 4. 9. 1995.

,,artes liberales" gefunden. Auch jetzt wurde sie den handwerklichen Tfitigkeiten zugeordnet und teilte sich mit der ,,theatrica" den letzten Platz der ,,artes mecha- nicae" in der ,,Artistenfakult~it" [2, 3, 6, 36].

Folgerichtig standen nunmehr die an den Universitfi- ,,Arzte in ten ausgebildeten und staatlich geprtiften "" "

Konkurrenz zu den normalen Wundfirzten, das heiBt den rein handwerklich geschulten ,,Chirurgen", die ihnen nicht selten vorgezogen wurden.

Dies erkl~irt auch die aus der unterschiedlichen Aus- bildung abgeleitete SchluBfolgerung, nach der der ,,Chirurg" zustfindig war ftir die Krankheiten, die auBen am K0rper sichtbar oder durch Funktionsaus- fall bzw. Schmerzen lokalisierbar sind, w~ihrend die Behandlung yon Erkrankungen innerhalb der K6rper- h6hlen - abgesehen von Steinleiden und Hydrops - den ,,A.rzten" zustand.

Schon damals zeigte sich, wie bei Henri de Mondeville nachzulesen ist, dab sich weder ,,Chirurgen" noch ,,)krzte" mit den vorgezeichneten Grenzen zufrieden- gaben, sondern im Gegenteil alle Mediziner ohne Unterschied bemtiht waren, einzelne Behandlungsar- ten aus dem jeweils anderen Bereich an sich zu reiBen.

Lassen Sie uns nach Deutschland zurttckkehren. -

Eine beispielgebende deutsche Universit~it war und ist die Eberhard-Karls-Universit~it, die Alma Mater Tubingensis, in deren Archiven sich seit ihrer Griin- dung im Jahre 1477 manch Lesenswertes angesammelt hat tiber die Entwicklung der Universit~itschirurgie in

Deutschland [17].

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Bis ins 19. Jahrhundert hinein war das deutsche Medi- zinalwesen in der Regel nach Art eines Zwei-Kam- mer-Systems gegliedert. Im Oberhaus thronten, aka- demisch geschult, die Internisten; im Unterhaus saBen, handwerklich ausgebildet, die Praktiker. Sorgf~iltig getrennt v o n d e r hochl6blichen Akademikerschar fan- den sich zusammen die Steinschneider und Knochen- brecher, auch die ,,Chirurgen", die nach Beendigung ihrer Lehr-, Gesellen- und Wanderzeit (,,welche sich bis auf sechs Jahre erstrecken sollte") vor der Kongre- gation der Stuttgarter Hof- und Leibmediziner ihr Examen abzulegen hatten.

Der wissenschaftlich gebildete, an einer Universitfit fachgerecht in Theorie und Praxis unterwiesene Chir- urg ist eine Gestalt des 19. Jahrhunderts. Zwar wurde das Fach Chirurgie auch schon zuvor an der Alma Mater gelehrt - aber eben nur in der Theorie. Das Messer ftihren konnte der Ordinarius nicht, das taten die Handwerksmeister im Lande. Noch der grol3e Alb- recht von Haller, Ordinarius ffir Anatomie, Physiolo- gie und Chirurgie der Georgia Augusta in G6ttingen, hat nach eigenem Gestfindnis niemals gewagt, einen lebenden Menschen zu operieren.

Eingang in die Universit~it fand die Chirurgie als Erg~in- zungsstudium des Internisten. Im Zuge dieser Entwick- lung war der Chirurg des 19. Jahrhunderts an der Wiege der Organchirurgie der Internist mit dem Messer [2, 17].

Der Unfallchirurg, von dem hier vor allem die Rede sein soll, war demgem~il3 zun~ichst weiterhin der Hand- werksmeister, Feldscher oder Milit~irchirurg.

Obwohl der Beginn einer wissenschaftlich begrfindeten Chirurgie in Deutschland in der Regel mit dem Leben und Wirken von Lorenz Heister in Verbindung ge- bracht wird, ist der an einer Universitfit wissenschaft- rich und praktisch ausgebildete Chirurg in der Tat eine Erscheinung der zunehmend naturwissenschaftlich be- grfindeten Medizin des vorigen Jahrhunderts.

In der zweiten H~ilfte des 19. Jahrhunderts treffen wir auf Bernhard von Langenbeck und die operative Ver- sorgung der Schenkelhalsfraktur.

Theodor Billroth bezeugte seinen hohen Respekt vor der Behandlung einer offenen Fraktur.

An der Schwelle unseres Jahrhunderts begegnen wir Fritz K6nig, der die ,,Berechtigung frtihzeitiger bluti- ger Eingriffe bei subkutanen Knochenbrtichen" gegen

den erbitterten Widerstand seiner Kollegen zu be- grfinden versuchte.

Aus unserem Jahrhundert werde ich nur die beiden kreativsten und ingeni6sesten Unfallchirurgen deut- scher Zunge nennen, denen, einem wie dem anderen, kein reibungsfreies Verhfiltnis mit der Universitfit ver- g6nnt war, Lorenz B6hler und Gerhard Kfintscher.

Dem einen, Lorenz BOhler, weit fiber den deutschen Sprachraum hinaus bekannt als Begrt~nder und Lehr- meister der systematisierten unblutigen Knochen- bruchbehandlung, der aber die notwendigenfalls offene Einrichtung und blutige Stabilisierung eines Knochen- bruchs nicht ausschlog, blieb der Zugang zu einer selbst~indigen Universit~itsposition zeitlebens versagt.

B6hler hat schon frtihzeitig, erstmals 1916, die Ein- richtung selbstfindiger Lehrkanzeln far Unfallchirur- gie empfohlen und gefordert.

Ich zitiere aus einer Arbei t von 1961: ,,Die Unfallchir- urgie kann sich erst dann voll entwickeln, wenn an jeder medizinischen Fakult~it der ganzen Welt eine eigene selbstfindige Lehrkanzel far Unfallchirurgie und Begutachtung geschaffen wird, an der ein Lehrer wirkt, der sich dauernd und begeistert mit der Behandlung von Unfallverletzten befaBt und der Mit- arbeiter mit Aussicht auf eine erfolgreiche Zukunft hat" [5].

Gerhard Kfintscher, als Begrfinder der intrame- dull~iren Stabilisierung langer R6hrenknochen, der ,,Marknagelung", ebenso weltweit bekannt, fand gleichfalls keine unbefristete, selbst~indige Aufgabe an der Universit~it.

Im Rt~ckblick auf die seitherige Entwicklung der Chir- urgie und Unfallchirurgie ist man nicht selten versucht zu fragen: Mutant verba - manent res?

Unter Hinweis auf die Tatsache, dab sich das Trauma und die Bewfiltigung seiner Folgen nicht auf ein einzel- nes Organsystem eingrenzen lassen, wurde immer wie- der - vor allem im Bereich der Universit~it - der Ver- such unternommen, den Unfallchirurgen die Anerken- nung einer eigenst~indigen Identit~it zu verweigern.

Nachbarliche Begehrlichkeiten und das nach dem ffir uns bisher letzten Kriege fortbestehende oder neu ent- wickelte Selbstverst~ndnis eines Teils der Chirurgen, insbesondere der Universitfitschirurgen, erinnerte wie-

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derholt oder auch kontinuierlich an das traditionelle Zwei-Kammer-System vergangener Zeiten, von dem eingangs die Rede war.

Seit ihrer Grtindung im Jahre 1922 hat sich die Deut- sche Gesellschaft fttr Unfallheilkunde der Integration aller Kr~ifte und Disziplinen verschrieben, die sich wis- senschaftlich und klinisch um das Trauma, seine Ursa- chen, seine Pathophysiologie, Diagnostik und Behand- lung sowie um die Rehabilitation der Unfallverletzten bemtihen [25].

hang auger Zweifel, dab eine qualifizierte unfallchir- urgische Tatigkeit nur auf der Grundlage einer abge- schlossenen Aus- und Weiterbildung im Gebiet Chir- urgie begrCmdbar ist [27].

Ungeachtet dessen mug es eine besondere Bewandtnis haben mit der Unfallchirurgie, wenn nicht nur deren eigene Fachgesellschaft, sondern auch die Bundesfirz- tekammer - wie 1990 geschehen - eine Initiative zur F6rderung der Aus-, Weiter- und Fortbildung in der Unfallchirurgie fiir sinnvoll und erforderlich h~ilt.

1990, in einer Zeit, in der die medizinische Welt allent- halben bemtiht war, von der Heiltechnik zur Heil- kunde zurtickzufinden, ging die in der Universit~it Leipzig gegriindete Gesellschaft fi, tr Unfallheilkunde scheinbar einen umgekehrten Weg [25, 35].

Mit anderen habe auch ich im Blick auf die aufgaben- bedingt angestrebte unfallmedizinische Interdiszipli- naritfit lange Zeit an der umfassenderen Begrifflich- keit der Heilkunde festgehalten. Nun hatte die Entwicklung der letzten 30 Jahre jedoch deutlich wer- den lassen, dab die vonder Deutschen Gesellschaft fiir Unfallheilkunde angestrebte Interdisziplinarit~it und ihr erkl~irter Wille zur Kooperation im Interesse des Unfallverletzten die Ausformung eines eindeutigen Berufsbilds eher verhindert als gef/3rdert haben [25].

Im rauher gewordenen berufspolitischen und wissen- schaftspolitischen Klima konnte schlieglich kein Zwei- fel daran bestehen, dab der Unfallchirurg ohne ein klares Berufsbild, ohne eine unverwechselbare Iden- tit~t, die gepr~igt ist von seiner besonderen Kompe- tenz, aber auch yon seiner bewuBt angenommenen Verantwortungsbereitschaft und seiner best~ndigen Hinwendung zum Unfallverletzten, seinen genuinen Platz in der Chirurgie verlieren wtirde.

Die pathophysiologische Komplexit~it des Traumas und seiner vielgestaltig lebensbedrohlichen und funk- tionell defizitfiren Folgezustfinde machen dabei das Zusammenwirken verwandter und weniger verwand- ter Disziplinen unverzichtbar. Ungeachtet des zum Teil sehr differenten Fachwissens und unterschiedli- cher Verfahrensweisen, erzwingt das gemeinsame Ziel, die Bewfiltigung des Traumas und seiner Folgen, den Austausch spezieller Erfahrungen und ein gemeinsa- mes praktisches Vorgehen.

Der Begriff Unfallchirurgie beschreibt heute einen Aufgabenbereich der Chirurgie, in dem das beste Behandlungsergebnis nicht selten nut durch die Mit- wirkung erfahrener Spezialisten aus anderen Berei- chen und Gebieten, aber auch nicht durch diese allein, erreichbar ist.

Der Wunsch nach interdisziplin~irer Zusammenarbeit und deren Notwendigkeit wird yon den Soziologen nicht grunds~itzlich in Frage gestellt, wohl aber ihre sinnvolle Verwirklichung. Erfahrungsgem~ig, so die Soziologen, ist die interdisziplinfire Zusammenarbeit dann am effolgreichsten, wenn eine Disziplin die jeweils andere als technische Hilfswissenschaft nutzen kann [34].

Eine solche Identitfit ist allerdings nicht einfach dadurch zu erlangen, dab man sich absichtsvoll und hochgemut mit einem hoffntmgmachenden Namen schmtickt. Kompetent ist nicht schon derjenige, der sich dafiJr hglt. ,,Es gentigt nicht", wie es bei Kundera [20] heigt, ,,dab wir uns identifizieren, wir mtissen uns bewugt und leidenschaftlich identifizieren" [10, 28, 31].

Im Zuge der dem 95. Deutschen Arztetag vorange- henden Meinungsbildung haben die deutschen Unfall- chirurgen unmigverst~indlich deutlich gemacht, dab ihre disziplin~ire Matrix diejenige der Chirurgie ist. Ftir die Unfallchirurgen steht in diesem Zusammen-

Ftir mich ist Zusammenarbeit nicht denkbar ohne wechselseitige Respektierung, ohne die Bereitschaft zur Kommunikation und integrativen Kooperation. Interdisziplin~res Zusammenwirken kann und darf sich nicht darauf beschrfinken, dag Fachkundige (als Person oder Gruppe) bei Austibung ihrer angestamm- ten T~itigkeit in tiberwiegend situationsbestimmter Gleichzeitigkeit an einem Patienten oder ftir einen Patienten t~itig werden [23].

Grundsfitzlich sollte die Formel: ,,Wer kann, der daft, und wer darf, mug gewissenhaft entscheiden, ob es notwendig und verh~iltnism~igig ist, den beizuziehen,

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der es besser kann" weiterhin Gt~ltigkeit behalten [4]. Unzweifelhaft hilft dem Unfallverletzten die Selbst- iiberschfitzung des Generalisten ebensowenig wie die Selbstttbersch~itzung des Spezialisten [27].

Die Frage, wie qualifiziert sich ein Arzt zum Chirur- gen und Unfallchirurgen, und warm ist er ein erfahre- ner Chirurg und Unfallchirurg, ist auf der Grundlage einer ausschliel31ich an ,,Mindestvoraussetzungen" ori- entierten Weiterbildungsordnung nur unzulfinglich oder gar nicht zu beantworten.

Ist schon derjenige kompetent und erfahren, der sich (formal) qualifiziert hat? Es bleibt zu fragen, wie sichergestellt werden kann, dab der (formal) Qualifi- zierte auch kann, was er darf [24, 26].

Es bleibt ein schwieriges und zwiesp~ltiges Unterfan- gen, die Qualit~it der Qualifizierung auf der Grundlage einer nicht vorrangig auf die Vermittlung und den Nachweis des h6chstm6glichen Standards ausgerichte- ten Weiterbildungsordnung zu definieren, sondern auf der Basis von Mindestvoraussetzungen, selbst wenn diese yon allen Beteiligten verbindlich gebilligt wur- den [26].

Zur Analyse der Erfahrungsbildung in der ,,Trauma- chirurgie" durchgeftihrte Umfragen haben in den USA (vergleichbare Daten aus Deutschland liegen nicht vor) ergeben, dab 18% der Chirurgen wfihrend ihrer gesamten Weiterbildungszeit (als Residents) mit weniger als zehn Schwerverletzten eigenverantwort- lich befaBt waren. Die amerikanische Chirurgengesell- schaft (ACS) geht demgegeniiber davon aus, dal3 fiir eine qualit~itssichernde Erfahrungsbildung wfihrend der Weiterbildung die eigenverantwortliche Behand- lung von mindestens 30 (besser 100) Schwerverletzten erforderlich ist [13, 39-41].

Operative Eingriffe, wie die selektive oder die - wo- mOglich - elektive Versorgung von Verletzungen und Verletzungsfolgen oder die konsiliarische Versorgung spezieller Verletzungen, k/Snnen nicht synonym stehen for den Organisations- und Strukturbereich ,,Unfall- chirurgie", nur weil bestimmte bei Unfallverletzten bew~ihrte Behandlungstechniken auch selektiv oder elektiv eingesetzt werden k6nnen.

Wenn Nicht-Unfallchirurgen von ,,Unfallchirurgie" sprechen, denken sie in der Regel an die sch6nen ope- rativen Eingriffe der Unfallchirurgen, die, soweit rich- tig indiziert und technisch einwandfrei durchgeffihrt,

sichtbar erfolgreich sein k6nnen, l~lbersehen wird aus diesem Blickwinkel allerdings, dab mehr als die Hfilfte unserer unfallchirurgischen Tfitigkeit im nichtoperati- ven Bereich angesiedelt ist. Dieser Bereich verlangt aber kontinuierlich gesammelte, mit ausdauernder Sorgfalt und Aufmerksamkeit erweiterte und erneu- erte Erfahrung, die kein ad hoc beigezogener Konsi- liar aufzubringen und einzusch~itzen vermag [16, 27, 38].

Wie vor ihm Trunkey und Blaisdell entlarvte Donald S. Gann, 1988 Pr~isident der American Association for the Surgery of Trauma, einige nicht nur unter Chirur- gen traditionelle Mythen, als er sagte: ,,Die Annahme, wir alle seien gleich gut, ist nicht nur offenkundig falsch, sie ist ebenso offenkundig auch Ausdruck einer Fehlreaktion des individuellen Selbstverst~ndnisses. Fehlreaktion, da das Selbstverst~ndnis dem Indivi- duum offenbar nicht erlaubt, sich selbst und anderen einzugestehen, dab ein anderer - Institution oder Kol- lege - eine Sache besser macht als das Individuum selbst. Im Gegenteil ist jedermann iiberzeugt, besser zu sein als irgendjemand sonst" [3, 11].

Kann ein Chirurg angesichts der stetig fortschreiten- den Entwicklung annehmen, dab er in allen Bereichen seines Gebiets qualifiziert ist und qualifiziert bleibt? Ich zitiere zwei Pr~isidenten der Deutschen Gesell- schaft fiir Chirurgie, Otto Goetze und Rudolf Zenker, die sich um eine Anwort auf diese Frage bemiiht haben.

AnlN31ich der 63. Tagung der Deutschen Gesellschaft ffir Chirurgie sagte Goetze im Jahre 1939: ,,Vergessen wir zun~ichst nicht, dab fast aller Fortschritt in jegli- cher Wissenschaft ganz allgemein durch die inbrtin- stige Besch~iftigung mit Einzelfragen, also durch Spezialisierung, erzielt wurde. Das grenzenlose An- wachsen des Umfangs aller Wissenschaft, und so auch der Chirurgie, und das begrenzte FassungsvermOgen auch des besten Chirurgengehirns bringen es zwangs- l~iufig mit sich, dab heute kein Chirurg mehr vollende- ter Meister auf alien chirurgischen Teilgebieten sein kann. Die im Spezialistentum sichtbare Zerlegung des grztlichen Wissens und KOnnens ist auch in Zukunft weder aufzuhalten noch generell als schfidlich zu bezeichnen. Der Universalarzt der alten Zeiten gehOrt endgaltig der Vergangenheit an; er kann nur in g~nz- lich neuer Form wiederkehren" [12].

In seiner Pr~isidentenrede zur 85. Tagung der Deut- schen Gesellschaft ft~r Chirurgie vermittelte Rudolf

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Zenker 1968 seine Sicht des Problems: ,,So wird die Spezialisierung in der Chirurgie fortschreiten, weil kein Chirurg mehr das gesamte Fach wissensmfil3ig und technisch nut annfihernd beherrschen kann und nur durch intensive Beschfiftigung auf einem umschriebenen Gebiet wissenschaftlicher Fortschritt und nicht zuletzt der gr6f3te Nutzen ffir die Kranken erw~ichst. Die Abgrenzung der Spezialf~icher gegen- einander und gegeniiber der allgemeinen Chirurgie daft aber nicht starr sein, und vor allem darf es keinem in der Praxis tfitigen Allgemeinchirurgen verwehrt werden, spezielle Eingriffe und Behandlungsverfahren durchzufiJhren, ft~r die er Interesse hat und die er beherrscht. Auch werden sich die Grenzen der Spezi- algebiete gelegentlich flberschneiden oder im Laufe der Zeit findern. Die Sorge um eine Zersplitterung der Chirurgie und dartiber hinaus der Medizin - ein Kas- sandraruf, der immer wieder ert6nt - braucht uns nicht zu beschleichen, wenn sich die Spezialisten, schon im Interesse der weiteren Entwicklung ihres Fachs, der gesamten Medizin und Chirurgie verbun- den fiihlen. Erleichtert wird ein Zusammenarbeiten, wenn die Spezialfficher mit der allgemeinen Chirurgie und den ihnen nahestehenden Disziplinen der Medizin sinnvoll unter einem Dach vereint sind" [41].

Den sich hier auftuenden Fallgruben der arbeitsteili- gen Fragmentierung und Diversifizierung ihrer Aufga- ben werden die Unfallchirurgen l~ingerfristig nur dann entgehen kOnnen, wenn berufspolitisch und gesund- heitspolitisch kein Zweifel daran gelassen wird, dab Unfallchirurgie keine Aufgabe ft~r teilzeitbeschfiftigte oder konsiliarisch beigezogene ,,Spezialisten" sein kann [27].

Das Trauma und die BewNtigung seiner Folgen ist eine interdisziplinfire Aufgabe. Diese Tatsache darf jedoch nicht dazu fiihren, dab der Unfallverletzte zum natiirlichen Kind mehrerer V~ter wird, for das sich niemand recht eigentlich verantwortlich fiihlt und bei dem niemand bereit ist, ihm seine ungeteilte Zuwen- dung zu schenken.

zu sein, sollte nicht dazu ft'lhren, nach dem ,,121berva- ter" zu suchen.

Die Kriterien, nach denen die hier ins Bild gesetzte medizinische Aufgabe zuzuordnen und anzugehen ist, sind nicht Kriterien einer einzelnen Fachdisziplin, son- dern ausschliel31ich Kriterien der Qualitfit.

Erforderlich ist ein ausdauernd motivierter, verant- wortungs- und einsatzbereiter Chirurg. Insbesondere im universit~iren Bereich sollte der Koordinator ein Chirurg sein, der in klinischer Praxis wie in Forschung und Lehre (Aus-, Weiter- und Fortbildung) vorrangig bis ausschlief31ich, vor allem aber kontinuierlich, mit dem Trauma und dem Unfallverletzten befal3t ist [10, 13, 15, 29, 31, 39-41].

Das Ziel, als Unfallchirurg unverwechselbare Identit~it zu gewinnen, kann nur derjenige Chirurg erreichen, der bereit ist, den Unfallverletzten ~irztlich zu begleiten vom Unfallort bis zum Abschluf3 der Rehabilitation, der bereit ist, ihm zu helfen, wo er ihm helfen kann, und sein Fiirsprecher ist, wenn anderweitig Hilfe gesucht werden mug. Aufgabe des Unfallchirurgen mug es sein, den Verletzten durch diese F~ihrnisse und bedrohlichen Untiefen des Traumas zu geleiten. Mit diesem Bild gewinnt das ,,Sailing uncharted seas" seine besondere imperative Sinngebung fttr den Lotsen. Gerade in diesem Zusammenhang mug erkannt und akzeptiert werden, dab alle, die ein schweres Trauma erleiden und dieses in eigener personaler Existenz auf- arbeiten mtissen, einen legitimen Anspruch haben auf die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres Lotsen [6, 27].

Gerade im Hinblick auf diese Aufgabe und dieses Ziel daft nicht iibersehen werden, dal3 Unfallmedizin und Unfallchirurgie nur dann auf engagierten und qualifi- zierten Nachwuchs hoffen k6nnen, wenn - insbesondere an den Universit~iten - Strukturen und Aufgabenberei- che geschaffen werden oder erhalten bleiben, die ein uneingeschr~inktes und kontinuierliches Engagement sinnvoll erscheinen lassen [10, 13, 15, 25, 26, 29, 31].

Sinnbildlich wird deutlich, daf3 ausreichende Erfah- rungsbildung nut dann m6glich ist, wenn die Besch~if- tigung mit der Unfallchirurgie und dem Unfallverletz- ten nicht lfinger als delegierbare und delegierte Nebenbeichirurgie betrieben wird [25].

Die menschliche Erfahrung, dab es nicht immer ein Vorzug des Schicksals sein mug, das Kind mehrerer liebender - nicht immer sicher verffigbarer - ,,Vfiter"

Einige kurze Anmerkungen noch zur strukturellen und prozessualen Qualit~t der Voraussetzungen far eine qualifizierte Unfallchirurgie - nicht ohne einen gesonderten Blick auf die Universit~t. Eine dem heuti- gen Stand der Medizin angemessen qualifizierte Behandlung Schwerverletzter ist nur zu verwirklichen im Rahmen einer aufgabenbezogen strukturierten Organisation; weitere Voraussetzung ist aufgabenbe- zogen qualifiziertes Personal in angemessener Zahl

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sowie eine der Aufgabe angemessene technische Aus- stattung [18, 19].

Zu den unerl~iglichen Voraussetzungen far die qualifi- zierte Versorgung Schwerverletzter z~ihlen weiterhin

1. ein System zur Notfallalarmierung, 2. eine qualifizierte Notfallversorgung am Unfallort, 3. der qualifizierte rettungsdienstliche Transport des

Unfallverletzten in ein geeignetes Krankenhaus und

4. die Sicherstellung lebensret tender Sofortmagnah- men.

In diesem Zusammenhang darf, auch im Hinblick auf die bevorstehenden wirtschaftlichen Ver~inderungen, nicht auger Acht gelassen werden, dab der Anteil d e r universitaren Betten an der Gesamtzahl der Kranken- hausbetten mit weniger als 10% zu beziffern ist, ihr Anteil an der Maximalversorgung jedoch - je nach Bundesland - zwischen 50% und 100% liegt. Dies macht deutlich, dab eine qualifizierte Schwerverletz- tenbehandlung an den Universit~itskliniken und Schwerpunktkrankenh~iusern ohne angemessene finanzielle Abstiitzung und aufwandbezogene Vergti- tung der allgemein und individuell erbrachten Kran- kenhausleistung lfingerfristig nicht zu gewfihrleisten ist [18].

Die aktuelle gesundheitspolitische Entwicklung gibt Anlag zu der Befttrchtung, dab insbesondere die Uni- versit~its- und Schwerpunktkliniken ihren angestamm- ten Aufgaben, das heigt den Aufgaben, die sie bisher wahrgenommen haben, bereits in naher Zukunft nicht mehr gewachsen sein werden.

ten, die in den durch eine betriebswirtschaftlich inter- essante Medizin gedeihlich ausgelasteten Kranken- h~iusern keinen Platz gefunden haben, l~ingerfristig nicht bewfiltigen kOnnen, ohne ihre eigene wirtschaft- liche Existenz grundlegend zu gef~ihrden [25]. Die in diesem Zusammenhang abgegebenen Empfehlungen der Krankenhaus/Skonomen, insbesondere der von ihnen empfohlene ,,Ausstieg" aus der Facharztweiter- bildung (Tabellen 1 und 2), ftthren uns noch einmal zuriick zu den universit~iren Problemen der Aus-, Wei- ter- und Fortbildung in der Chirurgie und Unfallchir- urgie [1, 4, 15, 21, 25, 37].

Der Ruf nach Universitatsreformen und Ausbildungs- reformen ist nahezu so alt wie die Universitfit selbst. A m vorlfiufigen Ende der wahrhaft unendlichen Geschichte unserer firztlichen Approba t i onso rdnung - die n~ichste Novellierung kommt bestimmt - kam der Wissenschaftsrat zu dem Schlug, dag ,,die medizinische Ausbildung nicht mehr in der Lage ist, den Wandel der wissenschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Verh~iltnisse sowie der vielf~iltigen Erwartungen an den Arzt ad~iquat in das Studium zu integrieren".

Reaktionen der Krankenhfiuser 1933 bis 1996

- Kurzfristige Kostensenkungsmaf3nahmen (Sachkosten) - StellensperrungenlPersonalabbau - ,,Ausstieg" aus der Facharztweiterbildung - Patientenselektion ,,nach oben" und Kapazit~itsbeschr~inkung in

teuren Bereichen (Intensiv) - Abbau yon ,,Verlustbringern" augerhalb des ,,Kerngeschfifts"

(Ambulanzen, Personalwohnheime, Kita) - Zunehmender Riickzug der /3ffentlichen Krankenhaustr~iger

(VerseIbst~ndigung/neue Rechtsformen)

Tabelle 1. Empfehlungen der Krankenhausberater Ernst & Young.

Reaktionen der Krankenh~iuser (mittelfristig) Einer der Grtinde hierfiir ist darin zu suchen, dab es den Universit~its- und Schwerpunktkliniken nicht gelingen kann, das von ihnen zu vertretende ,,Lei- stungsgeschehen" in Richtung der politisch verordne- ten Sonderentgelt- und Fallpauschalenmedizin oder in Richtung einer risikoarmen Elektivmeclizin umzu- strukturieren.

Wie lange wird es dauern, bis die Btirger in unserem Lande erkennen, dab sie ktinftig sehr viel hfiufiger als bisher Gefahr laufen werden, nach einem Unfall keinen Platz in einem geeigneten Krankenhaus zu finden [25].

Unter den Bedingungen des jetzt verordneten Vergti- tungssystems werden die Universit~its- und Schwer- punktkliniken den zunehmenden Andrang der Patien-

- Spezialisierung der Ktiniken auf der ,,unteren" und .mittleren" Versorgungsstufe

- St~irkere Kapazit~itsbegrenzung bei nicht kostendeckenden Be- handlungsverfahren

- Kooperation und Abstimmung zwischen Krankenh~iusern (Grogger~ite, Notfallversorgung)

- Kooperation mit ambulanten Einrichtungen und erg~inzenden Leistungsanbietern (diagnostische Zentren, Pflegeheime, Reha- angebote)

- Verkleinerung der stationfiren Bettenbereiche/alternative Nut- zung

- Konzentration von Facharztwekerbildungsaufgaben (Kl~rung der Finanzierung?)

- Auslagerung yon Teilbereichen bei hohem Fixkostenanteil patientenfernen Leistungen

Tabelle 2. Empfehlungen der Krankenhausberater Ernst & Young.

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Inzwischen ist es Mode geworden, unter diesem Aspekt das ,Gestaltungsrecht und (die) Gestaltungs- pflicht der Universit~t als Voraussetzung zur Reform der medizinischen Ausbildung" anzumahnen - gewil3 kein Stimulus fttr die Motivation des Hochschulleh- rers, der 30 Jahre nahezu ausgeschlossen blieb aus der Verantwortung for die inhaltliche Gestaltung des Cur- riculums und zum Erftillungsgehilfen for das staatlich bestimmte Prtifungswesen reduziert wurde. Dennoch mtissen wir die Bemiihungen um die formale und inhaltliche Neugestaltung der Ausbildung zum Arzt grunds~itzlich begrttgen. Allerdings sollten wir uns in diesem Zusammenhang dariJber klar sein, dab die angestrebte ,,Konzentration und schwerpunktmfil3ige Gewichtung der Lehrinhalte" wieder einmal mil31in- gen mug, wenn diese Neuordnung nicht yon den ver- antwortlichen Hochschullehrern, in Abstimmung mit ihren wissenschaftlichen Fachgesellschaften, sondern wieder einmal von der wissenschaftspolitischen Biiro- kratie gestaltet wird.

Aus Sicht der Unfallchirurgie scheint die intensivere Einbeziehung der Notfallmedizin in den klinischen Unterricht ein erster Schritt in die richtige Richtung zu sein. Daraber hinaus sollten Lehre und Unterricht in der Chirurgie mehr als bisher im Sinne der ,,pro- gressive education" auf die Vermittlung problemori- entierter (aufgabenbezogener) Inhalte abgestellt wer- den (Fallsimulationen, computergestiitzte Selbstlern- programme, verantwortliche Betreuung von Patienten usw.) [7, 8, 22, 30, 32, 33].

Trotz der wiederholten Initiativen, mit denen die Deutsche Gesellschaft far Unfallchirurgie wie auch die Bundes~irztekammer die F6rderung des strukturel- len Ausbaus der Unfallchirurgie angemahnt haben, hat sich, das zeigt die seitherige Entwicklung, insbe- sondere im universit~iren Bereich wenig bewegt. Den- noch scheint es mir wenig hilfreich und wenig zukunft- weisend, wenn wir uns weiterhin damit begnttgen, die M~ingel der perpetuierten Novellierung der ~irztlichen Approbationsordnung und der auch ktinftig in Teilen interpretationsbedCtrftigen Weiterbildungsordnung auf- zulisten und diese vorrangig festmachen an den Koor- dinaten des Erreichten und Nichterreichten (Beispiel: Zahl der unfallchirurgischen Lehrstiihle und Univer- sit/itseinrichtungen [Abbildung 1]).

Mehr denn je miissen sich alle Chirurgen - nur ftir diese spreche ich hier - u m professionelle Kompetenz bemtthen, um der ihnen iJbertragenen und von ihnen angenommenen Aufgabe auch unter zunehmend

widrigen Bedingungen gerecht werden zu k/3nnen, nicht nur, um politisch oder anderweitig motiviertem und begrttndetem ,,Handlungsbedarf" den Boden zu entziehen [26]. Das heil3t, dal3 wir, ebenso wie in der medizinischen Studienordnung, auch in der Weiterbil- dung zum Facharzt eindeutig festlege n miissen, mit welchem Standard ftir welche firztlichen Aufgaben weitergebildet werden soll [4, 14, 24, 25].

Lassen Sie mich zum Abschlul3 meiner Ausftihrungen noch einen kurzen Blick in die Zukunft richten.

Auf der Basis der von der Bundes~irztekammer, den wissenschaftlichen Fachgesellschaften und den fach- firztlichen Berufsverbfinden erarbeiteten Beschlul3vor- lagen hat der Deutsche Arztetag 1992 entschieden, dab das Gebiet Chirurgie mit der Weiterbildung zum Facharzt ftir Chirurgie beibehalten und der Schwer- punkt ,,Unfallchirurgie" neu definiert wird (Tabelle 3). Der Fortbestand eines einheitlichen Gebiets ,,Chirur- g - ~ le ist zu einem nicht geringen Anteil der Tatsache zu

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Abbildung 1. Standorte der unfallchirurgischen Lehrsttihle und selbst~indigen Universitfitseinrichtungen. Selbst/indige unfallchirur- gische Einrichtungen fehlen an den Hochschulen: Aachen, Berlin- Charit6, Erlangen, Greifswald, Heidelberg, Ltibeck, Magdeburg, Miinchen-Grol3hadern, Miinchen-rechts der Isar.

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7.C.3. Schwerpunkt Unfallchirurgie Definition: Die Unfallchirurgie umfafSt die Pr~ivention, Er- kennung, die operative und nichtoperative Behandlung yon Verletzungen und deren Folgezustfinden einschliel31ich der Nachsorge und Rehabilitation.

Tabelle 3. (Muster-)Weiterbildungsordnung 1992: Gebiet Chirur- gie - Schwerpunkt Unfallchirurgie.

danken, dab die Unfallchirurgen allen Widerstfinden und Einreden zum Trotz an der Chirurgie als ihrer dis- ziplinfiren Matrix festgehalten haben.

Die mit der Novellierung der Weiterbildung er6ffne- ten M6glichkeiten einer fortschrittsorientierten und aufgabenbezogenen Neustrukturierung der Chirurgie werden jedoch nur dann dauerhaft realisiert werden kOnnen, wenn diese selbst von allen Chirurgen often und kollegialer angenommen und auch die Realisation der Inhalte und Ziele in gemeinsamer Verantwortung angenommen und getragen wird.

Das bisherige, im Stadium der Paraphierung befindli- che Ergebnis der zwischen der Deutschen Gesellschaft ffir Chirurgie und der Deutschen Gesellschaft f~ir Unfallchirurgie geft~hrten Weiterbildungsgesprfiche lgf3t hoffen, dab eine aufgabenbezogene Strukturie- rung der Chirurgie als Grundlage einer gemeinsam getragenen chirurgischen und interdisziplinfiren Ver- antwortung ffir den Unfallverletzten im Bereich des M6glichen liegt (Tabelle 4).

Die Tabellen 5a und 5b zeigen - aus meiner Sicht - , wie ein universit~res Zent rum der Chirurgie ktinftig aufgabenbezogen strukturiert werden k6nnte. In Erg~inzung der dargestellten Hauptabtei lungen ver- vollstfindigen die tibrigen Schwerpunkte der Chirurgie die Struktur des Zentrums.

Die Chirurgie wird eine Chirurgie sein, oder sie wird nicht mehr sein.

Diese Modifikation des bekannten Naunyn-Zitats scheint bereits jetzt - auch und vielleicht insbesondere f/ir die Universitfitschirurgie - nicht mehr ohne Ein-

In gegliederten Kliniken organisiert und leitet der Unfallchirurg die Behandlung des Schwervertetzten (Polytraumatisierten).

Die fachliche und rechtliche Verantwortung des konsiliarisch herbeigezogenen Vertreters eines anderen Schwerpunkts oder eines anderen Gebiets bleibt davon unbertihrt.

Tabelle 4. Konsensusdiskussion zwischen Deutscher Gesellschaft for Chirurgie und Deutscher Gesellschaft f~ir Unfallchirurgie.

Chirurgie I

1. Allgemeine Chirurgie und chirurgische Intensivmedizin 2. Viszeralchirurgie 2.1 GrofSe Abdominal- und Organchirurgie 2.2 Spezielle endokrinologische und gastroenterologische Chirurgie 3. Onkologische Chirurgie 4. Tansplantationschirurgie

Tabelle 5a. Aufgabenbezogenes Strukturmodell eines chirurgischen Universit~itszentrums.

Chirurgie II

1. Allgemeine Chirurgie und chirurgische Intensivmedizin 2. Unfallchirurgie 3. Handchirurgie 4. Plastisch-wiederherstellende Chirurgie 5. Physikalische Therapie

Tabelle 5b. Aufgabenbezogenes StrukturmodeI1 eines chirurgischen Universit~tszentrums.

schr~inkung begrandbar . Dennoch scheint das modifi- zierte Zitat geeignet, eine Gefahr deutlich zu machen, die durchaus noch nicht dauerhaft bew~iltigt und aus- gerfiumt ist.

Soziologen gelangten zu der Ansicht, dab auch wissen- schaftlich-klinische Fachgebiete wie die Chirurgie ihre wesentlichen Hemmnisse und Gef~ihrdungen in sich selbst und aus sich selbst entwickeln. Interdisziplin~ire Uneinigkeit und innerdisziplin~ires Kompetenz- und Verteilungsgerangel wecken den internen Spaltpilz wie den Zuwachs nachbarlicher Begehrlichkeiten.

Das Haus der Chirurgie wird auch ktinftig - und das in zunehmendem Mage - v o n innen und augen bedroht sein, wenn nicht die Chirurgen selbst die ihnen durch die novellierte M W B O erOffneten M~glichkeiten bewugt annehmen und nachweislich bestrebt sein wer- den, diese MOglichkeiten miteinander und nicht anein- ander vorbei oder letztlich gegeneinander zu verwirk- lichen.

Innerdisziplin~ire Uneinigkeit und innerdisziplinfires Verteilungsgerangel verleiten nicht selten - sicherlich zumeist unbewul3t - zur Inszenierung des (An-) Scheins yon Kompetenz und Qualitfit. Allein die wechselseitige Respekt ierung aller innerdisziplinfiren Bereiche, ein vertrauensvolles Mit- und Nebeneinan- der, vermag dies dauerhaft zu verhindern.

Unter diesem Aspekt kann Unfallchirurgie - auch und gerade an der Universitfit - nicht definiert, eingestuft

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u n d g e n u t z t w e r d e n als , , h a n d w e r k l i c h - t e c h n i s c h e

H i l f s w i s s e n s c h a f t " . U n f a l l c h i r u r g i e is t a u c h k e i n e

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u n d p r a k t i z i e r t w e r d e n k a n n .

E s so l l t e s o m i t k e i n Z w e i f e l d a r a n b e s t e h e n , d a b d ie

U n f a l l c h i r u r g i e - a u c h u n d g e r a d e im B e r e i c h d e r

U n i v e r s i t ~ i t s c h i r u r g i e - e i n e r e igens t~ ind igen , a u f g a -

b e n - u n d q u a l i t ~ i t s b e z o g e n e n S t r u k t u r i e r u n g u n d

O r g a n i s a t i o n b e d a r f .

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Verfasser: Prof. Dr. A. Pannike, Unfallchirurgische Universitiitsklinik, Theodor-Stern-Kai 7, D-60596 Frankfitrt.

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