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Die Entwicklung der Verfahrenstechnik zur wissenschaftlichen Disziplin K. Krug Einleitung Der nachfolgende Beitrag soll die historische Entwicklung der Verfahrenstechnik zu einem Wissenschaftsgebiet der Technikwissenschaften anhand der Hauptentwick- lungsnchtungen und -etappen nachzeichnen. Ausgangspunkt soll die folgende De- finition des Verfahrensingenieunvesens (Chemieingenieunvesens) sein, die bei den Verfahrenstechnikern der DDR Akzeptanz gefunden hatte: Die Iferfahrenstechnik ist ein technologisch orientiertes Gebiet der Technikivissen- schuften. Ihr Objektbereich ist die srofiandelnde Industrie. Die den industriellen Stoffiandlungen innewohnenden Gesetzma$igkeiten gelten als der Gegenstand der Verfahrenstechnik. Die Änderungen des Zustandes und der inneren Struktur der Stoffe sind dabei bedezctungsvoller als die Änderungen ihrer geometrischen Formen 111. Die Quellen der Verfahrenstechnik Während die Formierung des Objektbereiches der Verfahrenstechnik, die praktische Nutzung verfahrenstechnischer Vorgänge in die Frühzivilisationen der Menschheit führt, sind die literarischen Wurzeln ihrer konzeptionellen Darstellung jüngeren Da- tums und im ausgehenden Mittelalter angesiedelt.

Die Entwicklung der Verfahrenstechnik zur ...von Mystik und Bombastik paracelsischer Prägung. Das Paradigma von Libavius lautete: "Eine einzige Operation braucht nur auf eine einzige

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Die Entwicklung der Verfahrenstechnik zur wissenschaftlichen Disziplin

K. Krug

Einleitung

Der nachfolgende Beitrag soll die historische Entwicklung der Verfahrenstechnik zu einem Wissenschaftsgebiet der Technikwissenschaften anhand der Hauptentwick-

lungsnchtungen und -etappen nachzeichnen. Ausgangspunkt soll die folgende De-

finition des Verfahrensingenieunvesens (Chemieingenieunvesens) sein, die bei den

Verfahrenstechnikern der DDR Akzeptanz gefunden hatte:

Die Iferfahrenstechnik ist ein technologisch orientiertes Gebiet der Technikivissen-

schuften. Ihr Objektbereich ist die srofiandelnde Industrie. Die den industriellen

Stoffiandlungen innewohnenden Gesetzma$igkeiten gelten als der Gegenstand der

Verfahrenstechnik. Die Änderungen des Zustandes und der inneren Struktur der

Stoffe sind dabei bedezctungsvoller als die Änderungen ihrer geometrischen Formen

111.

Die Quellen der Verfahrenstechnik

Während die Formierung des Objektbereiches der Verfahrenstechnik, die praktische

Nutzung verfahrenstechnischer Vorgänge in die Frühzivilisationen der Menschheit

führt, sind die literarischen Wurzeln ihrer konzeptionellen Darstellung jüngeren Da-

tums und im ausgehenden Mittelalter angesiedelt.

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K. Krug

Die natunvisi_enschaftlich-methodische Quelle des Chemieingenieunvesens ent-

sprang der geistigen Strömung des Renaissance-Humanismus. Im Jahre 1597 er-

schien mit der "Alchemia" 121 von A. Libavius (ca. 1550- 161 6) das "erste systema-

tische Lehrbuch für Chemie überhaupt" [3]. Es ist in die Abschnitte Encheria und

Chymia, d.h. in freier Übersetzung in eine Prozeß- und eine Rezeptlehre gegliedert.

Erstgenannte, der nach Libavius die "Apparate- und Feuerkiinde dienlich" sind,

wird in der chemiehistorischen Literatur kaum für erwähnenswert gehalten, obwohl

Libavius mehr als 60 Operationen, wie Extrahieren, Filtrieren, Destillieren usw. in

klarer Sprache definiert und in ein dichotomes System gebracht sowie alle zugehö-

rigen Apparate und mehr als 50 Ofentypen aus verstreuten Einzelquellen systema-

tisch zusammengestellt hat.

Mit der Einheit von Prozeß, Apparat und Prozeßenergie wurde von Libavius die

Leitidee der Prozeßverfal~renstechnik geprägt und das Konzept der Grundoperatio-

nen mehr als drei Jahrhunderte vorweggenommen.

Dieses Werk des Spätenzyklopäden Libavius war seiner Zeit weit voraus. Es ist ein

vortreffliches Werk der Vernunft, klar, prägnant und mit sensiblem Stil, entkleidet

von Mystik und Bombastik paracelsischer Prägung.

Das Paradigma von Libavius lautete:

"Eine einzige Operation braucht nur auf eine einzige Art und an einer einzigen

Stelle dargelegt zu werden, mag das Werk auch tausend verschiedenartigen Zwek-

ken dienen" [2-XIV].

Dieser Leitgedanke weist dem chemisch-technologischen Prozeß eine eigenständige

und weitgehend stoffunabhängige Funktion zu. Der relativ geringe Wissensstand

~ ind die zünftigen Wirtschaftsstnikturen waren Hauptursache dafür, daß dieses Kon-

zept nicht weiter verfolgt werden konnte. Eine historische Kontinuität dieser Auf-

fassungen ist in der Literatur bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nachweisbar.

In der Folgezeit - insbesondere nach den verheerenden Folgen des 30-jährigen Krie-

ges, der die Bevölkerung Deutschlands von ca. 17 auf ca. 1 1 Millionen dezimierte - setzten aufklärerische Bestrebungen ein, die damiederliegenden Gewerbe zu för-

dern, einheimische Rohstoffe zu veredeln und für die Ausbildung von Chemie-

technologen zu sorgen. Die Werke der friihen Chemietechnologen um J. B. Glauber

(1604-1668). J. Kunckel (1630-1 703) und J. J. Becher (1 635-1 682) prägten diese

Entwicklung nachhaltig. Hauptergebnisse ihres Wirkens waren produktive Aspekte

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Die Entwicklung der Verfahrenstechnik zur Wissenschaft 15 I I

der Nutzung ihrer auf eigene experimentelle Arbeiten gegründeten Resultate zur

Fabrikation von Salzen, Mineralsäuren, Glas usw. Im Mittelpunkt dieser Arbeiten

standen - aus heutiger Sicht - einfache chemische Verfahren in großer Zahl mit ih-

ren an das jeweilige Verfahren gebundenen Apparaten.

Diese Vorgehensweise, die Libavius als den "unmethodischen Weg" bezeichnet

hatte, setzt sich dann - freilich auf höherem Kenntnisstand und vor dem Hintergrund

der sich rasch entwickelnden chemischen Industrie - ab Mitte des 19. Jahrhunderts

durch (s.u.). I

Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts, dem Vorabend der Industriellen Revolution, ver- 1

stärkte sich zunehmend die Hinwendung zu den Gewerben. Die Zunftstrukturen der I

Wirtschaft enviesen sich mehr und mehr als I-Iemmnis wirtschaftlicher Entwick-

lung. Der Ruf nach Wirtschaftsliberalismus, nach Handel und Wandel, dem Laisser-

fair, Laissez-passer wurde unüberhörbar. In Frankreich erschienen zwischen 175 1

und 1781 die 35 Bände der "Encyclopedie" der Sensualisten um Diderot und

D'Alembert. In Deutschland avancierte der Kameralismus, jene deutsche Abart des

englischen Merkantilismus, zu einer Heimstatt technischen Gedankengutes und

wurde zur gegenständlich-technologischen Quelle des Chemieingenieunvesens.

Im Jahre 1777 erschien die "Anleitung zur Technologie ..." [4] des Göttinger Ordi-

narius für Philosophie und Ökonomie Johann Beckmann (1739-151 1). Er gilt als

der Begründer der Technologie als Wissenscl~aft und suchte sie in die Kameralwis-

senschaften einzuordnen. So systematisierte er 324 Gewerbe in 5 1 Klassen nach den

in ihnen ablaufenden Vorgängen und Handgriffen von den einfachen zu den zu-

sammengesetzten. Inhaltlich nahm er bei Diderot Anleihen auf, methodisch war

Linn6 sein Vorbild. Es ist ganz sicher nicht zufällig, daß die späteren Wirtschaftsre-

former Freiherr vom Stein und Hardenberg in jener Zeit an der damals progressiv-

sten deutschen Universität in Göttingen ihr Studium absolvierten.

Wenn auch Beckmanns "Anleitung zur Technologie ..." die Enge deutscher Klein-

staaterei atmet. besteht das Verdienst Beckrnanns unzweifelhaft in der neuzeitlichen

Definition der Technologie und in der Schaffung des Zugangs dieser Lehre an die

Universität. Diese Lehre bestand in der ganzheitlichen Zusarnn~enschau von Ar-

beitskraft. Arbeitsmitteln und Arbeitsgegenstand und hatte das Ziel. Beamte für den

Feudalstaat heranzubilden. NaturwissenschaftlicI-ie Komponenten waren dagegen

nur schwach vertreten.

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16 K. Krug

Seine Technologiedefinition lautet:

"Die Technolo-ie ist diejenige PVi.ssenscliift. welche die Verarbeitung der Nafura-

lien oder die Kenntnisse der Handwerke lehrt. Anstatt, daß in den kVerkstellen nur

gewiesen wird, wie man zztr Verfertigung der Waren die Vorschriften und Gewohn-

heiten des A4eisters befolgen soll, gibt die Technologie in systematischer Ordnung

grundliche Anleitung, wie man zu eben diesem Endzwecke aus wahren Grundsäfzen

und zuverlässi~~eri Erfahrunpn die Mittel finden und die bei der Verarbeitung vor-

kommenden Erscheinungen erklaren zmd nutzen soll" [4-S. 171.

Für etwa ein halbes Jahrhundert fand die Lehre Beckmanns großen Zuspruch, bevor

sie mehr und mehr als gelehrt ausstaffierte Gewerbelehre in Verruf geriet. Bis 1809

erschienen sechs Auflagen der "Anleitung". Das Konzept war wegen fehlender na-

turwissenschaftlicher und quantifizierender Elemente nicht an die Dynamik des

Objektbereiches anpaßbar. In seinem kontemplativen Charakter mußte es passiv

bleiben. Hinzu kamen nach Beckrnann deutlich sichtbare Verflachungstendenzen.

Es mußte zu Differenzierungen kommen, die in zwei Richtungen führten.

Beckmann selbst hat das wolil erkannt, denn mit seinem 1806 erschienenen "Ent-

wurf einer allgemeinen Technologie" [5] unterzieht er seine Anleitung einer grund-

legenden Kritik und geht von der "zuerst gewählten Methode der Beschreibung auf

die Methode des Vergleiches übcr", d.h. gewerbeübergreifcnd werden die "Absich-

ten und Mittel" nach Ähnlichkeit miteinander verglichen. Diese später von dem Be-

gründer der "mechanischen Technologie" Kar1 Karmarsch als "schöne Idee" der all-

gemeinen Technologie bezeichnet, die gestattet, "eine geistigere Auffassung des

Gegenstandes zu gewinnen" [6], scheiterte an dem geringen Kenntnisstand per De-

tail und erwies sich keinesfalls als eine triviale Aufgabe. Immerhin unterscheidet

man seit dieser Zeit zwischen allgemeiner und spezieller Technologie. Durch die

streng gehüteten Gewerbegeheimnisse, die weitgehend fehlende Kommunikation

zwischen den Gewerben, den katastrophalen Bildungsstand der Gewerbetreibenden,

die immer noch unzutreffende Mystifizierung gerade der chemisch-technologischen

Gewerbe erwies sich die Ausprägung dieses methodisch differenzierenden Konzep-

tes der allgemeinen Technologie immer noch als verfrüht. Beispiele für die Mystifi-

zierung gibt z.B. E. E. Kisch sehr treffend an:

"Unter Dach und Fach geschieht die Höherentwicklung, will sagen die Alkoholisie-

rung. Binnen Tagesfrist wird dort der Pflanzensaft zu geronnenem Most, der klare

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Die Entwicklung der Verfahrenstechnik zur Wissenschaft 17

und geruchlose I-Ionigtrank zum trüben Pulque. Fragt man, welche Hefe diese ra-

send schnelle Metamorphose bewirkt, so bekommt man viele Antworten, aber keine

Antwort. Wer's weiß sagt nichts, wer's nicht weiß behauptet, I-Iundedreck vollzielie

das Wunder.

Wir kennen solche Märchen von überallher; in Frankreich zum Beispiel wird gerne

erzählt, es sei Urin, der dem Cognac den goldenen Glanz verleihe, und Alphonse

Daudet schreibt in seinem Brief aus seiner Mühle, der weltberühmte Chartreuse-Li-

queur habe seine Blume nur bewahrt, solange der alte Abt die getragenen Socken in

den Destillationsbottich warf' [7].

Es bedurfte eines grundsätzlichen wirtschaftlichen Stniktunvandels von1 Gewerbe

zur Industrie, von der Handarbeit zur Maschinenproduktion, die ein solches analyti-

sches Konzept von der Wissenschaft erheischte.

Das Konzept der "Chemischen Technologie"

Nach alldem Gesagten kann es nicht verwundern, daß sich stattdessen die zweite

Differenziemngsrichtung des Beckmannschen Konzeptes, die nach industriellen

Branchen gegliederte Technologie, ab etwa der Jahrhundertmitte des 19. Jahrhun-

derts duchsetzte. Als Hauptrichtungen dieses Konzeptes der speziellen Technologie

haben sich die mechanische und die chemische Technologie herausgebildet. Die

Wissenschaftsst~ktur brachte sich in Übereinstimmung mit dem sich rasch entwik-

kelnden Objektbereich.

im Jahre 1847 erschien das zweibändige "Lehrbuch der chemischen Technologie"

[8] des Liebig-Schülers Friedrich Knapp ( 1 8 14- 1904). Das Ausbildungsziel bestand

nicht mehr wie bei Beckniann darin, technologisch gebildete Venvaltiingsbearnte,

sondern technische Chemiker auszubilden.

Im Mittelpunkt dieses Konzeptes der "Chemischen Technologie" steht die Verfah-

rensbeschreibung vom Rohstoff bis zum Endprodukt. Sie folgt als stofforientierte

Verfahrenskunde fabrikatorischen Gesichtspunkten, löst sich einerseits gegenüber

dem Beckmannschen Konzept aus dem Verband der ökonomischen Wissenschaften,

folgt konzeptionell aber auch nicht der inneren Logik der "reinen Chemie". Tm letz-

ten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden an fast allen Universitäten Deutschlands

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Extraordinariate oder Privatdozenturen fur "Chen~ische Technologie" eingerichtet.

Für die Chemikerausbildung hat es z.T. bis in die Gegenwart u.a. auch als "techni-

sche Chemie" Bestand, während es 2.B. in den USA schon in den 1930er Jahren

kaum mehr eine Rolle spielte und durch das "chemical engineering" abgelöst cvor-

den ist. Wesentliche Ursache dafiir war das Verharren auf der verbaldeskriptiven

Methode der Beschreibung.

Seinen Höhepunkt erlebte das Konzept der "Chemischen Technologie" um die Jahr-

hundertwende mit den Arbeiten von Lunge in Zürich und von Davis in Manchester.

Aus Gründen der Lehrbarkeit des Konzeptes mit den vielen Wiederholungen analo-

ger Prozesse und Apparate in den Verfahren hatten beide erkannt, daß eine Auflö-

sung in Prozesse und Apparate die bessere Methode sei. Lunge schreibt 1893:

"Die Technik des Zermahlens, Verdampfens, Filtrierens, Destillierens und anderer

Verfahren, die fortwährend in chemischen Fabriken ausgeführt werden, sind so

gründlich entwickelt worden, daß sie fast zu einer Spezialwissenschaft geworden

sind" [9].

Lunge versucht damit vom Standpunkt des Chemikers, die "Chemische Technolo-

gie" mit dem Apparatebau zu verknüpfen und ist damit auf höherem Erkenntnis-

stand konzeptionell bei Libavius angekommen, ohne dieses Konzept auszuführen.

Zur Entwicklung der chemischen Industrie und des Apparatebaues

Besonders in England sind mit der Industriellen Revolution im Rahmen des bürger-

lichen Nationalstaates alle Voraussetzungen für eine anorganisch-chemische Groß-

industrie geschaffen, die sich nach 1830 zügig entwickelt. In Deutschland bewegte

sich die Entwicklung bis in die 1860er Jahre vielfach noch auf dem Niveau der

"schmutzigen Industrie der Hinterhöfe" [10] auf der Basis der Erzeugung von Sal- ,

Zen, Säuren, Naturfarbstoffen und pharmazeutischen Präparaten. Erst ab den 1860er

11 870er Jahren begann sich mit der Produktion synthetischer Farbstoffe und um die

Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert mit der Erzeugung von Pharmazeutika die

chemische Industrie in breitem Maße zu entwickeln.

Bedeutsame Rahmenbedingungen für die Entwicklung in Deutschland waren:

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P Rohstoffarmut recente; keine Kolonialmärkte

P politische Zerissenheit bis 1871

Reformen nach der Reichseinigung, u.a. das einheitliche Patentgesetz

(mit Vorpnifung und "Verfahrenspatent")

P wenig Bankkapital; damit wenig Risikobereitschaft für größere Anlagen

P ein miserabler Maschinen- und Apparatebau ("billig und schlecht")

P das bestausgebildetste und größte Chemikerpotential

(z. B. Liebig-Schule).

Deutschlands Zugang zur modernen chemischen Industrie war im Gegensatz zu

England von der organisch-chemischen Industrie, einer zunächst noch kleintonnagi-

gen Vielproduktenindustrie geprägt. Das war für Deutschlands chemische Industrie

die richtige Strategie. Wenn auch die Anfange nach Heinrich Caro als eine "freud-

und gewinnlose Nachahmungsindustrie von in englischen und französischen Paten-

ten niedergelegten Vorschriften" [l 11 charakterisiert wurden, änderte sich ab den

1870er Jahren die Situation rasch. Es kam eine segensreiche Verbindung zwischen

der chemischen Industrie und der universitären Forschung vor allem auf dem Gebiet

der organischen Chemie zustande.

Bis zum 1. Weltkrieg war der Anteil Deutschlands von auf dem Weltmarkt gehan-

delten Chemieprodukten auf 30% angewachsen, bei Farbstoffen belief sich dieser

Anteil auf 89% und lag etwa gleich dem Anteil deutscher Patente auf diesem Ge-

biet.

In den chemischen Großuntemelunen waren zwar technische Abteilungen entstan-

den, aber die Art der Produktion verlangte noch nicht den Verfahrenstechniker. Der

Chemiker avancierte zum "König der Produktion", der Maschinenbauer war sein

unentbehrlicher Gehilfe. Noch 195 1 schrieb Friedrich Jähne:

"Wer sich also mit der Stellung als Zweiter im Betrieb nicht abfinden kann, soll als

Ingenieur dem Chemiebetrieb fernbleiben" [12].

An dieser Stelle ist die Frage zu diskutieren, ob und wenn ja inwieweit der deutsche

Apparatebau in die Formierung des Chemieingenieunvesens involviert war. Gene-

rell gilt das für den Maschinenbau gesagte mit dem Zusatz, daß der Apparate- und

Behälterbau als Stiefkind des Maschinenbaues bezeichnet werden kann. Ab den

Gründerjahren wuchsen jedoch die Anforderungen in starkem Maße an. Nimmt man

als Beispiel die Destillationsindiistrie, kann man verzeichnen, daß in1 Jahre 1873 ca.

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16.000 Brennereien in Deutscliland existierten. Bis zum Jahre 1894 stieg ihre Zahl

auf 71 -503. Wenn man bedenkt, daß diese Etablissements in jener Zeit von der Bla-

sen- auf die Kolonnendestillation umzustellen waren, werden sowohl die quantitati-

ven wie die qualitativen Anforderungen recht deutlich. Aus ehemals Kupferschmie-

den und Schlossereien wurden in vielen Fällen mittlere Unternehmen. Eines dieser

Unternehmen war die Apparatebaufirma Heckrnann mit Niederlassungen in Bres-

lau, Moskau, Hamburg und Havanna. Hauptsitz war Berlin, Hausvogteiplatz 12. In

dieser Firma wirkte von 1878 bis zu seinem Tode 1922 der Apparatebauer Eugen

Hausbrand (1845-1922). Aufgrund seiner Publikationen wird er zu einem Mitbe-

gründer der Verfahrenstechnik. In der amerikanischen Literatur wird er als "the

world first process engineer" bezeichnet.

Bemerkenswert bleibt, daß diese Ergebnisse weder von den Technischen Hochschu-

len noch aus der chemischen Großindustrie mit ihren Werkstätten kamen, die "an

Größe und Vielseitigkeit der Ausrüstungen denen einer Maschinenbaufabrik größ-

ten Formats" [13] nicht nachstand.

Erinnern wir uns an die Zitate von Kisch und setzen dem eine Aussage von Marx

entgegen:

"Es ist charakteristisch, daß bis ins 18. Jhd. hinein die besonderen Gewerbe myste-

ries ... hießen ... Die grol3e Industrie zerriß den Schleier, der den Menschen ihren ei-

genen Produktionsprozeß versteckte und ... zu Rätseln machte. Ihr Prinzip, jeden

Produktionsprozeß ... in seine konstituierenden Elemente aufzulösen, schuf die

ganz moderne Wissenschaft der Technologie ... Die Technologie entdeckte die we-

nigen großen Grundformen der Bewegung ... ganz so wie die größte Komplika-

tion der Maschinerie sich über die beständige Wiederholung der einfachen mecha-

nischen Potenzen nicht täuschen Iäßt. .." [14].

Er bezieht sich dabei zeitgemäß vorwiegend auf die mechanischen Industrien, in

denen - weil einfacher - dieses bereits von Libavius formulierte Konzept einige De-

zennien eher erkennbar war als in der chemischen Industrie.

Um die Jahrhundertwende trat die chemische Industrie in eine neue Phase ein:

> Kontinuierliche Verfahren

> Katalyse und

P Massenproduktion

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Die Entwicklung der Verfahrenstechnik zur Wissenschaft 2 1

waren die Hauptentwicklungslinien, die sich der Wissenschaft systemntisch bedien-

ten lind den Chemieingenieur forderten.

Der einflußreiche Carl Duisberg schätzt die Lage zumindest sehr einseitig ein. In 1

seinem New Yorker Vortrag anläßlich der Centenarfeier zu Liebigs Geburtstag I I

schränkt er die eigentliche chemische Industrie auf einen Bereich ein, "wo nicht 1 oder nur selten die Massenproduktion in Frage kommt, sondern eine unendliche

Kette verschiedenartigster Produkte in kleinen Mengen herzustellen ist, ... wo ein

neues Trom Chemiker gefundenes Verfahren die alten stürzt und vor allem die I

schönsten Ingenieurkünste umwirft und wertlos macht" [ I 51.

Den Amerikanern verleiht er gönnerhaft den "Ehrentitel der Massenproduktion".

Folgerichtig setzt sich das Chemieingenieunvesen in breitem Maße zuerst in den

USA durch, obwohl in Deutschland ebenfalls alle "Zutaten" vorhanden waren.

Die Herausbildung der Verfahrenstechnik

Das Konzept der Grundoperritiotien - die Geburtsztrkzrnde des Chernieingenieur- I

wesens [I G ]

Hausbrand publizierte in den 1890er Jahren Monographien zur Wirkungsweise der

Destillier- und Rektifiziergeräte, zur Trocknung, zum Verdampfen, Kühlen und

Kondensieren [17]. In ihnen sucht er die gesetzmäßige und quantitative Verknüp-

fung von Stoff-, Prozeß- und geometrischen Parametern zu realisieren. Beispiels-

, weise führte Hausbrand auf der Basis der Daten der Dampf/Flüssigkeits-Gleichge-

wichte von acht binären Systemen, der Verdanipfungsenthalpien und der Pictet-

Troutonschen Regel die erste Boden-zu-Roden-Berechnung numerisch vor, womit

er gegenüber den "Gröningschen Zahlen" eine neue wissenschaftliche Qualität er-

reichte.

Hausbrands Publikationen, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden, blieben im

deutschen Bildungssystem nahezu unbeachtet. Freundliche Rezensionen deuten auf

eine breite Anwendung in der Apparatebauindustrie hin. Der Prozeß- und Quantifi-

zierungsgedanke wurde in Deutschland in erster Linie durch die physikalische

Chenlie eingebracht, die mit dem "Weltzentnim" um Wilhelm Ostwald (1 853-1932)

in Leipzig eine einzigartige Bliite erlebte. Es ist ohne weiteres nachweisbar, daß ab

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2 2 K. Krug

der Jalirhundertweiide in der deutschen chemischen Großindustrie der Physiko-

chemiker neben den Organiker trat. Auf diese Weise konnten der Führungsanspruch

des Chemikers gesichert sowie Arbeitsteilung und Kooperation zum Maschinenbau-

er in neuer Qualität verwirklicht werden, ohne das bewährte Konzept ändern zu

müssen. Mit diesem "team werk" war man in der Lage, den Verfahrenstechniker

zeit- und teilweise zu ersetzen. Beweise für den Erfolg sind u.a. die Synthesen von

Ammoniak (l913), Methanol (I 923) und Kohlehydrierung (1927).

0 . Hougen, ein Wegbereiter des Chemical Engineering, bemerkte aus eigener An-

sicht zur Situation in Deutschland treffend: "Die Einführung in die Mathematik, die

Physik und andere Gebiete der Ingenieurwissenschaften war exzellent, aber es gab

keine Integration zwischen der Chemie und den Ingenieurwissenschaften" [I 81.

Diese Integration vollzog sich in den USA. Am MIT hatte man ab 1880 zunächst

versucht, den "chemical engineer" als Maschinenbauer mit speziellen chemischen

Kenntnissen auszubilden, bevor man im ersten Dezennium des 20. Jahrhunderts mit

Einführung der physikalischen Chemie als Pflichtfach und Schaffung einer experi-

mentellen Basis am MIT sowie "work stations" in der chemischen Industrie einen

Chemieingenieur auf der Basis eines chemischen Grundstudiums auszubilden be-

gann [19]. In den USA erfolgte der Zugang zur modernen chemischen Industrie - im

Gegensatz zu Deutschland - über Verfahren größten Maßstabes. Energetisierung

und Motorisierung als gesellschaftliche Bedürfnisse waren wesentliche Triebkräfte.

Diese Entwicklung erkannt und adäquate Lösungen mit Hilfe der amerikanischen

Industrie durchgesetzt zu haben, ist das Verdienst einiger weniger Chemieingenieu-

re und Chemiker. Betrachtet man die personelle Entwicklung am MIT etwas näher

(vgl. Tab. I ) , erkennt man hinsichtlich des Studienfaches und des Promotionsgebie-

tes sehr deutlich die Entwicklung von der organischen Chemie über die physikali-

sche Chemie zum Chemical Engineering. Ebenso interessant sind die Promotionsor-

te. Vor allem Noyes, Walker und Lewis haben es hervorragend verstanden, das

Fundament der (deutschen) physikalischen Chemie für die Verhältnisse in den USA

zu adaptieren und mit dem Konzept des Chemical Engineering die Integration von

physikalischer Chemie und Apparatebau zu einem Wissensprofil zu vollziehen.

Konzeptioneller Höhepunkt war im Jahre 191 5 die Definition des Chemical Engi-

neering durch Arthur D. Little (1863-1935) als die Übertragung eines chemischen

Venvandlungsprozesses in den Großbetrieb durch Anwendung einer erforderlichen

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Die Entwicklung der Verfahrenstechnik nir Wissenschaft 2 3

Anzahl einzelner mechanischer Operationen, den sogenannten "unit operations"

Pol .

Tabelle 1 : Ausbildungsgang wesentlicher Mitbegründer des Chemical Engineering (MIT)

Name

L. M. Norton (1855-1 893)

F. H. Thorp (1 864-1 932)

A. A. Noyes (1 866-1 936)

W. H. Walker (1 869-1 934)

W. K. Lewis (1882-1975)

W. H. McAdams (1 892- 1975)

T. K. Sherwood (1 903-1 976)

E. R. Gilliland (1 909-1 973)

Studienfach

Chemie

Chemie

Chemie

Chemie

Chemical Engineering

Chemie

Chemical Engineering

Chemical Engineering

Gebiet

org. Chemie

org. Chemie

phys. Chemie

phys. Chemie

phys. Chemie

Chemical Engineering

Chemical Engineering

Chemical Engineering

Promotion Ort bzw. Einrich-

tung und Jahr

Göttingen 1879

Heidelberg 1893

Leipzig 1890

Göttingen 1892

Breslau 1908

MIT 1917

MIT 1929

MIT 1933

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I-Iauptlinien der Tlieorienbildung während der Herausbildungs- periode des Chemieingenieunvesens

Als wissenschaftlicher Gegenstand standen in der Herausbildungsperiode des Che-

mieingenieunvesens thermische Prozesse von strömenden Mehrphasen- und Mehr-

komponentensystemen im Vordergnind [20, 211. Ihnen folgten Versuche zur Be-

schreibung reaktionstechnischer Sachverhalte. Die mechanischen Prozesse der

Stoffwandlung waren zumeist noch in den Montanwissenschaften verankert.

Fast 30 Jahre (!) nach den Hausbrandschen Arbeiten zur Destillation versuchte Le-

wis die umständliche Methode von Hausbrand zu ersetzen und berechnete die Bo-

denzahl unter der Annahme einer stetigen Funktion durch Integration [23]. Diese

Annahme führte aber zu einem um so größeren Fehler, je größer die Konzentra-

tionsänderung auf einem Boden war. Diesen Mangel umgingen im Jahre 1925 W. L.

McCabe und E. W. Thiele [24], indem sie das klassische graphische Verfahren ein-

führten. Die Konstruktion der Arbeitsgeraden stellte den typisch technikwissen-

schaftlichen Sachverhalt dar, der über die physikalisch-chemische Behandlung des

Phasengleichgewichts hinausreichte. Dieser Übergang von zumeist umständlich zu

handhabenden numerischen Methoden zu graphischen Lösungen war in den 20er

Jahren für verschiedene verfahrenstechnische Problemstellungen typisch. Auf diese

Weise entstanden fiir das behandelte Beispiel erste Modelle zur Berechnung von

Destillationskolonnen.

Für chemische Vorgänge, die zunächst ausgeklammert waren, formulierte G. Dam-

köhler im Jahre 1936 die Bilanzgleichungen für chemische Reaktionen in strömen-

den Systemen und leitete daraus die vier später nach ihm benannten Dainköhler-

Zahlen ab [25] . Seine Arbeiten stellten eine Erweiterung der klassischen Reak-

tionskinetik um die Vorgänge der Konvektion und Diffusion dar und dienten als

Grundlage für die Reaktormodellierung. Seit jener Zeit gehört die Reaktionstechnik

in den Bestand der klassischen Verfahrenstechnik, die sich nun nicht mehr auf die

Beschreibung der physikalischen Grundoperationen beschränkte.

Damit waren um 1940 die wissenschaftlichen Grundlagen der klassischen Verfah-

renstechnik formuliert. Die um 1920 noch verstreuten Einzelerkenntnisse hatten

Systemcharakter erhalten.

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Die Entwicklung der Verfahrenstechnik zur Wissenschaft 25

In der Arbeit von K.-P. Meinicke wird der Theorienbildung in der Herausbil-

diingsperiode des Chemieingenieunvesens detailliert und im Zusammenhang für die

Gebiete Ähnlichkeitstheorie, Stoffübertragungstheorien und Theorien zur Reaktor-

modellierung nachgegangen [22].

Zur Institutionalisierung des Cl-iemieingenieurwesens

Zu Beginn des 20. Jh. waren für die Hochschulen aller entwickelten Länder Lehr-

stühle für chemische Technologie bzw. technische Chemie typisch. Deutschland

war noch immer die "höchste Instanz in der organischen Chemie und verfügte über

die meisten Experten der Chemischen Technologie, so daß deutsche Sprachkennt-

nisse erforderlich waren", beschreibt Hougen die Situation [I 81. Die folgende Über-

sicht enthält einige ausgewählte Daten der Institutionalisierung [27].

Gründung des "Arnerican Institute of Chemical Engineers" (AICHE) Lehrstuhl für "Prozesse und Apparate der chemischen Technologie" am Petersburger Technologischen Institut (A. K. Krupski) Selbständige Disziplin fiir "Prozesse und Apparate der chemischen Techno- logie" an der Moskauer höheren technischen Lehranstalt (I. A. Tiscenko) Gründung des Mendeleev-Instituts für Chemische Technologie (erster Rektor: I. A. Tiscenko)

Lehrstühle für "Chemical Engineering" an 14 Hochschulen der USA Gründung der "Institution of Chemical Engineers" in London Erster Lehrstuhl für "Chemical Engineering" an der kaiserlichen Universität Kyoto Erstes Lehrbuch "Principles of Chemical Engineering" Gründung der "Deutschen Gesellschaft für Chemisches Apparatewesen" DECHEMA (M. Ruchner)

Aus den Daten geht eindeutig hervor, daß trotz fundamentaler Arbeiten in Europa

die Institutionalisierung einschließlich aller reproduktiven Elemente in den USA

zuerst erfolgt. Die Ursachen für die Verspätung Deutschlands können wie folgt zu-

sainmengefaßt werden:

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1 . Bis iim die Jahrhundertwende genügte das Konzept der "Chemischen Techno-

logie".

2. Die Erfolge der deutschen chemischen Industrie gaben keinerlei Veranlassung

zur Konzeptänderung. Die Konzerne pflegten die Zusammenarbeit zwischen

Chemiker und Ingenieur und hielten die Hochschulen zur verstärkten Grundla-

genausbildung an.

3. Der chemische Apparatebau jener Zeit war ein Stiefkind des Maschinenbaus, so

daß 2.B. die Ergebnisse von Hausbrand auch fiir den wissenschaftlichen Ma-

schinenbau weitgehend unbeachtet blieben. In den chemischen Werken ent-

stand ein eigener Maschinenbau. Darüber hinaus wurden die verfahrenstechni-

schen Erkenntnisse vielfach geheimgehalten, und für die Hochschulen mit ihren

bescheidenen Mitteln fehlte jegliche Anregung, das Gebiet zu etablieren.

4. Die Blüte der physikalischen Chemie in Deutschland mit dem "Weltzentrum"

um Ostwald in Leipzig schuf wesentliche Grundlagen der Verfahrenstechnik

und kam hinsichtlich der Ausbildung der chemischen Großindustrie entgegen

(C. Bosch, Mittasch, Pier, Bergius u.a. entstammen dieser Schule). Dadurch

wurde das Konzept der Grundoperationen ersetzt.

5. Die in Deutschland verbreitete neuhumanistische Auffassung von der (nicht

praktizierten) zweckfreien Wissenschaft Humboldtscher Prägung verhinderte

nicht nur der1 Zugang technischer Disziplinen zu den Universitäten, sondern

ließ auch das Wissenschaftsprofil des "Chemieingenieurs" als "unrein" erschei-

nen. Diese Meinung begann sich erst Anfang der 30er Jahre zu ändern, als die

kommerziellen Erfolge der amerikanischen chemischen Industrie unübersehbar

waren.

Trotz der vorhandenen verfahrenstechnischen Erkenntnisse und trotz der Einsichten

blieben manche Vorhaben bis nach dem zweiten Weltkrieg nur Pläne. Allerdings

glichen sich die Inhalte der Konzepte des Chernical Engineering und der Verfah-

renstechnik ab den 1950er Jahren an.

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Die Ent\vicklung der Verfahrenstechnik zur Wissenschaft 2 7

1. Ich hoffe es ist verdeutlicht worden, daß die Einordnung des Chemieingenieur-

wesens in die Wissenschafts- und Geistesgeschichte stets einen technologischen

I-Tintergnind hatte.

2. Es hat sich gezeigt, wie Traditionen auch einen hemmenden Einfliiß ausüben

können und dadurch geographische Muster der Entwicklung bzw. Verlagerun-

gen von Zentren entstehen.

3. Der betrachtete Zeitraum endet mit der gesamtdeutschen Entwicklung bis zum

2. Weltkrieg. Nunmehr ist wieder eine gemeinsame Entwicklung in Deutschland

möglich geworden. Man darf auf die Sichtweisen und Bilanzen, die sich aus der

getrennten Entwicklung ergeben haben und daraus auf mögliche Ansätze für die

Zukunft sehr gespannt sein!

Literatur

[I ] Krug, K.: Die Ent\~icklungsgeschichte der Verfahrenstechnik von den Quellen bis zur ihrer Emaiizipation, Dissertation B. T U Dresden 1983, S. 5.

[ 2 ] Libavius, A.: Die Alchemie des Andreas Libavius. Ein Lehrbuch der Chemie aus dem Jahre 1597, Verlag Chemie GmbH, WeinheimfBergstraße 1964, S. XIV.

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