30
Einleitung: Die Geburt der europäischen Großstadt Stadtluft macht krank. Stadtkritik und Städtegeschichte 1993 fand im baden-württembergischen Landtag eine Debatte über die gegenwärtige Großstadtentwicklung statt. Die Abgeordneten aller Fraktionen entwarfen dabei ein Schreckensszenario, das in der Öffentlichkeit weitverbreiteten Auffassungen entspricht: Kinder könnten nicht mehr im Freien spielen und würden für radikale Pa- rolen anfällig, weil sie Heimat und Bindung verlören. Mittelschich- ten wanderten in Vorstädte ab, und gestrandete Personen aus dem Umland suchten im Stadtzentrum Zuflucht. Yuppies bewohnten die restaurierten Jugendstilviertel der Metropolen, während eine politisch nicht artikulationsfähige Armenbevölkerung in unattrak- tive Marginalgebiete vertrieben werde. Bald habe man es in Deutschland mit »amerikanischen« Verhältnissen zu tun; Stadtluft mache nicht mehr frei, sondern krank. 1 Solche Vorstellungen sind keineswegs neu. Das Argument, die Großstadt mache krank, fand sich schon vor einhundert Jahren in medizinischen Fachzeitschriften. Auf noch früher geäußerte Befürchtungen verweist die Debatte darüber, ob unterschiedliche Wohnqualitäten in soziale und politische Polarisierungen umschla- gen könnten. Sicherlich unterliegen solche Mythen über die Groß- stadt genauso der Veränderung wie diese selbst, aber die Muster, nach denen die heutige städtische Wirklichkeit wahrgenommen wird, lagen bereits der Stadtkritik vergangener Jahrzehnte zu- grunde. Stereotype und Traditionen sagen etwas darüber aus, wie man die Großstadt charakterisiert sieht, und hierbei gibt es bezeichnende nationale Prägungen, die auf den jeweiligen Verlauf von Urbanisie- rungsprozessen zurückgehen und besondere kulturelle Hinter- 9 Onlinequelle: www.demokratiezentrum.org Printquelle: Zimmermann, Clemens, Zeit der Metropolen, Frankfurt/Main 1996, 9-38.

Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

Einleitung:Die Geburt der europäischen Großstadt

Stadtluft macht krank.Stadtkritik und Städtegeschichte

1993 fand im baden-württembergischen Landtag eine Debatte überdie gegenwärtige Großstadtentwicklung statt. Die Abgeordnetenaller Fraktionen entwarfen dabei ein Schreckensszenario, das in derÖffentlichkeit weitverbreiteten Auffassungen entspricht: Kinderkönnten nicht mehr im Freien spielen und würden für radikale Pa-rolen anfällig, weil sie Heimat und Bindung verlören. Mittelschich-ten wanderten in Vorstädte ab, und gestrandete Personen aus demUmland suchten im Stadtzentrum Zuflucht. Yuppies bewohntendie restaurierten Jugendstilviertel der Metropolen, während einepolitisch nicht artikulationsfähige Armenbevölkerung in unattrak-tive Marginalgebiete vertrieben werde. Bald habe man es inDeutschland mit »amerikanischen« Verhältnissen zu tun; Stadtluftmache nicht mehr frei, sondern krank.1

Solche Vorstellungen sind keineswegs neu. Das Argument, dieGroßstadt mache krank, fand sich schon vor einhundert Jahren in medizinischen Fachzeitschriften. Auf noch früher geäußerteBefürchtungen verweist die Debatte darüber, ob unterschiedlicheWohnqualitäten in soziale und politische Polarisierungen umschla-gen könnten. Sicherlich unterliegen solche Mythen über die Groß-stadt genauso der Veränderung wie diese selbst, aber die Muster,nach denen die heutige städtische Wirklichkeit wahrgenommenwird, lagen bereits der Stadtkritik vergangener Jahrzehnte zu-grunde.

Stereotype und Traditionen sagen etwas darüber aus, wie man dieGroßstadt charakterisiert sieht, und hierbei gibt es bezeichnende nationale Prägungen, die auf den jeweiligen Verlauf von Urbanisie-rungsprozessen zurückgehen und besondere kulturelle Hinter-

9Onlinequelle: www.demokratiezentrum.org

Printquelle: Zimmermann, Clemens, Zeit der Metropolen, Frankfurt/Main 1996, 9-38.

Page 2: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

gründe widerspiegeln. So war fundamentale und antimodernistischeGroßstadtkritik im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahr-hunderts verbreiteter als etwa in Großbritannien. Außerdem ten-dierte die deutsche Diskussion sehr viel mehr als die britische dazu,die Großstadt aus biologischer und bevölkerungspolitischer Sichtanzugreifen.2 Aus zivilisationskritischer Warte wurden die Nerven-zerrüttung und Degeneration des »modernen« Großstädters, seineRastlosigkeit und Entfremdung vorgeführt. In den Großstädtenschien sich die Vernichtung höherwertiger Rassen zu vollziehen.3

Kritik der Moderne am Paradigma der Großstadt gewann als poli-tisch wirksame Ideologie ein ausgeprägtes Eigenleben. Dabei gab esstets auch solche Positionen, denen es um Reform und Weiterent-wicklung der Städte ging. Obwohl der medizinischen Stadt-interpretation des 19. Jahrhunderts negative Stereotypen über dieStadtentwicklung in vielfältiger Weise zugrunde lagen, diente siedoch dazu, ein großangelegtes Programm der »Assanierung«, d. h.der sozialhygienischen Stadtreform in Gang zu setzen, dessen Er-folge um die Jahrhundertwende nicht mehr ignoriert werden konn-ten. Nachdem mit der Senkung der großstädtischen Sterblichkeits-raten einem alten antiurbanistischen Argument der Boden entzogenwar, konnte der Gegensatz von Stadt und Land nicht mehr länger alspathogen einerseits und gesund andererseits beschrieben werden.Dies bedeutete aber nicht, daß damit jede biologisch argumentie-rende Großstadtkritik erledigt gewesen wäre.4

Im die Wahrnehmung der Großstadt widerspiegelnden »Indu-strieroman« wiederum zeigt sich, daß neben harten Attacken stetsauch Stolz auf das Erreichte und den triumphierenden Fortschrittmitschwang.5 Die großen Städte waren im 19. Jahrundert sowohl»Verheißung, Sinnbild von Urbanität, Gegenstand utopischer Ent-würfe« als auch »Symbol für Chaos, für Bedrohung, für die un-menschliche Welt von morgen«.6 Solche ambivalenten Deutungenlassen die Frage entstehen, wie die komplexe Wirklichkeit der Me-tropolen im Urbanisierungszeitalter beschrieben werden kann. Wardie Großstadt ein Ort der Anonymität und Entfremdung, als der sielange in der Literatur- und Stadtsoziologie beschrieben wird, oderein Ort neuer Bindungen und Interaktionen zwischen den Stadt-bewohnern? Waren städtische Lebensformen identisch mit dem

10

Page 3: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

Programm der Moderne, wie ebenfalls immer wieder unterstelltwird? Welche Wechselwirkungen bestanden zwischen den sozialen,ökonomischen und kulturellen Manifestationen der Großstadt?Und auf welche gesellschaftlichen Basisprozesse ging die Groß-stadtentwicklung zurück?

Städtegeschichte und Urbanisierungsforschung

Der städtische Raum strukturierte alle Arten sozialer Interaktionund war nicht nur Rahmen für soziale Beziehungen. Die Bildungvon Vororten oder Einwanderervierteln beeinflußte das soziale Ver-halten ebenso wie die Ansiedlung von Industriebetrieben. Indivi-duen und Klassen in der Stadt nahmen ihren Raum unterschiedlichwahr und nutzten ihn auf verschiedene Weise: besuchten die einenin ihrer Freizeit Kneipen, wandten sich andere den Theatern oderMuseen zu. In den modernen Großstädten entstanden räumlichund sozial getrennte Handlungs- und Sozialisationsräume. Sie zuuntersuchen ist eine der Aufgaben der modernen Städtegeschichte,die in der Regel mikroanalytisch verfährt, während die Urbanisie-rungsgeschichte als zweite historische Teildisziplin, die sich mit denStädten beschäftigt, eher makroanalytisch orientiert ist. ModerneStädte- und Urbanisierungsgeschichte sind somit nicht deckungs-gleich, gehen aber vielfach von denselben erkenntnisleitenden Prä-missen aus.7

»Urbanisierung« hat im wissenschaftlichen Sprachgebrauch einedoppelte Bedeutung. Gemeint ist zunächst der quantitative Begriff,mit dem das schnelle Städtewachstum des 19. und 20. Jahrhunderts,also ein demographisches Phänomen, charakterisiert wird. Diewachsende Bevölkerung Europas konzentrierte sich in Städten, unddieser fundamentale Prozeß wird als »Verstädterung« bezeichnet.Mit »Urbanisierung« als qualitativem Begriff wird demgegenüberversucht, über die Phänomene der Konzentration von Bevölkerun-gen hinaus die Herausbildung und Verbreitung der »urbanen« Le-bensformen zu beschreiben, wie sie sich besonders in den großenStädten des 19. Jahrhunderts entwickelten. Historische Urbanisie-rungsforschung fragt nach den innovativen Elementen der Groß-

11

Page 4: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

stadtkultur, aber auch nach dem Nebeneinander ganz unterschied-licher Lebensweisen in der kulturell und räumlich differenziertenStadt. So wird heute die hohe Komplexität des Großstadtphäno-mens unterstrichen, das Gleichzeitige von Spekulation und Stadt-planung, von Avantgarde und Traditionskunst, von Kunst undKommerz samt allen Brüchen und Querverbindungen bei den so-zialen Auseinandersetzungen um die Gestaltungsqualität der Stadt.Zugleich sind Städte die Forschungsobjekte, an denen allgemeinegesellschaftliche Prozesse hinsichtlich ihrer konkreten Auswirkun-gen auf Gruppen der Stadtbevölkerung verdeutlicht und Aspektegesamtgesellschaftlichen Wandels in einen erklärenden Zusammen-hang gebracht werden können.

Historiker wie Paul M. Hohenberg und Lynn H. Lees, die bis insJahr 1000 zurückgingen, sahen zwischen älterer und modernerStadtgeschichte vor und nach 1800 eine grundlegende Zäsur. Ähn-lich unterschied Jan de Vries 8 drei aufeinanderfolgende Phasen derVerstädterung. Die erste sollte von 1500–1700 reichen. Dieser seieine zweite Phase gefolgt, die vom Wachsen des öffentlichen Sektorsgeprägt worden sei; schließlich habe nach 1750 eine dritte, stärkerindustrialisierungsbestimmte Phase eingesetzt, in der aber immernoch die Hierarchien zwischen Städten mit ihren festgefügten Aus-tauschbeziehungen, also die Städtesysteme der Frühen Neuzeit, ihrestrukturierende Kraft behalten hätten. Während der Frühen Neu-zeit änderte sich wenig an der Verteilung der Bevölkerung auf Stadtund Land, im Gegensatz zur rasanten Verstädterung des 19. Jahr-hunderts. Diese Zäsur in der Stadt- und Verstädterungsgeschichtezeigt sich ebenfalls, wenn man die veränderten Funktionen derStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturellePhänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Diegroßen Städte im 19. Jahrhundert waren nicht mehr zwingenddurch ihre rechtlichen Privilegien definiert, sie wiesen eine neueGrößenordnung auf, und ihr Wachstum war mit »tiefreichendenUmstrukturierungen und Differenzierungen innerhalb des Stadt-gebiets« verbunden.9 Bei der Masse der frühneuzeitlichen Städtehandelte es sich um kleine Marktstädte von 2000 bis 5000 Ein-wohnern, in denen das landwirtschaftliche Element noch eine große Rolle spielte. Erst das 19. Jahrhundert brachte die Industrie-

12

Page 5: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

großstadt als dominanten Typ hervor. Stadtentwicklung sollte zwarweiterhin mit den Transformationen der ländlichen Gesellschaft inBeziehung stehen, aber die städtische Ökonomie war nun nichtmehr abhängig von agrarischen Konjunkturen, vielmehr gewan-nen die großstädtischen Wirtschafts- und Steuerungspotentialemaßgeblichen Einfluß auf die Volkswirtschaften und die zusam-menwachsenden Finanzmärkte.10 Ältere Gewerberegionen wieFlandern verschwanden von der Landkarte, neue urbane Zentrenwuchsen aus den ursprünglich ländlichen Standorten. In den neuenBallungsgebieten wie Lancashire oder Oberschlesien zeichnete sichbereits um 1850 die heutige »Megalopolis« der Dritten Welt ab. Entsprechend änderte sich der Stadtbegriff: Während die ältereStadt eindeutig rechtlich definiert war, sind die Kriterien für die modernen Städte wesentlich komplexer geworden. Aus der Sichtder Geographie etwa, die ebenso wie andere Disziplinen maßgeb-liche Kategorien für die heutige Urbanisierungs- und Städte-geschichte entwickelt hat, sind Städte durch ihre Größe gekenn-zeichnet, durch das Übergewicht von sekundären und mehr nochtertiären Funktionen, durch ein weit gefächertes Berufsspektrumund insbesondere durch ihre Zentralitätsfunktionen für die umlie-genden Regionen. Um Städte miteinander vergleichen und Verstäd-terungsprozesse exakt erfassen zu können, geht die Forschung voneinem quantitativen Stadt- und Verstädterungsbegriff aus. Städtewerden als Orte mit einer bestimmten Mindestgröße definiert, d. h.,man setzt Schwellenwerte an und abstrahiert bewußt von der Frage,ob es sich dabei um Städte im rechtlichen Sinn, also mit offiziellerAnerkennung handelte. Analog wird Verstädterung als wachsenderAnteil der in Städten lebenden Bevölkerung begriffen.11

Die Verstädterung im 19. Jahrhundert

Das 19. Jahrhundert war entscheidend für die Verstädterungsge-schichte Europas. 1700 lebten erst 13 Millionen und 1800 19 Mil-lionen Menschen in Städten, bis 1900 versechsfachte sich diese Zahl

13

Page 6: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

auf 108,3 Millionen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschleunigtesich das Wachstum sprunghaft. Insgesamt verdreifachten sich bis1980 die städtischen Bevölkerungen noch einmal auf 301 Millionen.Innerhalb des gesamten städtischen Wachstums ist die Steigerungder Zahl von Großstädten im 19. Jahrhundert (von 21 auf 147) einebenso auffallendes Phänomen wie in unserem Jahrhundert die Ver-mehrung der Zahl von großstädtischen Riesenagglomerationen mitmehr als einer Million Einwohnern (zwischen 1900 und 1980 vonneun auf 110).12

In den europäischen Ländern verlief der Verstädterungsprozeßwährend des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sehr unterschiedlich.England war im 19. Jahrhundert der Vorreiter in Europa und be-hielt den Vorsprung gegenüber Deutschland bis ins 20. Jahrhundertbei. Unterschiede zeigen sich auch hinsichtlich des Zusammen-hangs von Verstädterung und Industrialisierung, der in Englandund Deutschland besonders eng, in Frankreich und Rußlandzunächst weniger stark ausgeprägt war.

Existierte in England und Wales 1801 außer London mit865000 Einwohnern noch keine weitere Großstadt, gab es 1851schon neun mit zusammen 4,45 Millionen Einwohnern. 1911 lebten15,8 Millionen Einwohner von England und Wales in Großstädten,das waren 34,6% der Gesamtbevölkerung.13 Dabei sind verschie-dene Wachstumsphasen festzustellen, die in engem Zusammenhangmit dem jeweiligen Tempo industrieller Expansion standen. Bis zu den 1820er Jahren nahm die Zahl von Städten bereits stark zu,wobei sich das städtische Wachstum in den Zentren der Textil- undMetallverarbeitung des nördlichen und mittleren Englands konzen-trierte. Industrieregionen wie Lancashire profitierten von der an dieTextilindustrie gebundenen Entwicklung der Maschinenindustrieund vom Ausbau des Kanalnetzes. In der zweiten Urbanisierungs-phase nach 1830 expandierten die englischen und walisischenStädte in raschem Tempo. Ökonomische Standortvorteile und dievielfältige Anwendung technischer Innovationen in der mechani-schen Weberei spielten dabei eine wichtige Rolle, wie im östlichenLancashire beobachtet werden kann, wo im Jahre 1850 64% allerArbeitskräfte in der britischen Baumwollindustrie beschäftigt wur-den. Insgesamt wuchs in England die Bevölkerung in Industriezen-

14

Page 7: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

tren rascher als die sonstige städtische Bevölkerung. Während essich um die Jahrhundertmitte bei der Masse der Städte um Orte mitbis zu 5000 Einwohnern handelte, wies die durchschnittliche Indu-striestadt bereits eine Einwohnerzahl von 20000 bis 50000 aus.Viele dieser industriellen Mittelpunkte übernahmen in der Folgezeitweitere Funktionen, vor allem entstand dort ein dichtes Netz anEinzelhandelsgeschäften. In der zweiten Jahrhunderthälfte ent-wickelten sich die Städte dort am schnellsten, wo die industriellenWachstumsraten am ausgeprägtesten waren. Dieses Wachstum fandauf einer breiten und diversifizierten ökonomischen Grundlagestatt. Die inzwischen als traditionell zu bezeichnende Metall- undBaumwollindustrie verlor an Gewicht. Dagegen expandierten dieBranchen Maschinen- und Gerätebau, Nahrungsmittel, Druck,Papierverarbeitung, Gaswerke und Chemie. Diese Entwicklung warmit regionalen Umschichtungen verbunden. Städte in neuen Pro-duktionsregionen des Südostens expandierten, obwohl es hier kei-nen direkten Zugang zur Kohle gab. Außerdem entwickelte sichnun verstärkt der Dienstleistungssektor. Neue Eisen- und Stahlpro-duktionsstandorte wie Barrow oder Maschinenbauzentren wieAshford und Birkenhead traten in der Städtelandschaft hervor.Auch die Form städtischen Wachstums hatte sich während dieserPhase verändert. Vor dem Ausbau von Nahverkehrssystemen be-wegte man sich in der Stadt hauptsächlich zu Fuß fort, Wohn- undArbeitsplätze waren räumlich nicht getrennt oder lagen nah beiein-ander. Die Einführung der Eisenbahnen brachte zunächst nochkeine tiefgreifenden Veränderungen im innerstädtischen Verkehrmit sich. Erst durch den Ausbau der Nahverkehrsnetze, zunächstder Pferdebahnen, dann der elektrischen Straßenbahnen und der S- und U-Bahnen, begannen die Vororte rapide zu wachsen. So warder Faktor Verkehr maßgeblich für die sternförmige Ausbreitungvon Großstädten entlang der Verkehrslinien und für die Entstehungvon Konurbationen oder Agglomerationen.

In Frankreich lag 1850 der Anteil der städtischen Bevölkerung(Orte über 5000 Einwohner) erst bei 19% (England /Wales: ca.45%), sollte sich dann aber bis 1910 verdoppeln (vgl. Tabelle 1). MitLyon und Marseille gab es 1821 neben Paris erst zwei Großstädte.Das Wachstum der Städte setzte in der zweiten Jahrhunderthälfte

15

Page 8: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

also bei einem niedrigeren Ausgangsniveau an und beschleunigtesich dann außerordentlich. Paris behielt seinen großen Abstand zuanderen größeren Städten bei. Die Bevölkerung der Hauptsadt ver-fünffachte sich von 548000 Einwohnern (1801) auf über 2,5 Millio-nen Einwohner (1896), während die nächstfolgenden elf Städte imselben Zeitraum insgesamt nur einen Zuwachs von 617000 auf1820000 Einwohner verzeichneten. Seit der Jahrhundertmittewuchsen die Städte im Norden und Nordosten schneller als die imSüden des Landes. Wie ungleichmäßig das Wachstum benachbarterStädte verlief, zeigt sich daran, daß sich die Einwohnerzahl in Châ-tellerault mit seiner Waffenindustrie von 8400 Einwohnern (1801)auf 20000 (1896) mehr als verdoppelte, es jedoch im nahegelegenenPoitiers, traditionell ein kirchliches Zentrum, sehr ruhig blieb: »DerStraßenlärm (Châtelleraults) kontrastiert mit der Stille von Poitiers,von dem es weiterhin abhängig ist. Châtellerault ist immer noch sojung, daß es von Tag zu Tag zu wachsen scheint, während Poitierseinem wie der Kadaver einer großen Stadt vorkommt. Die alte Pro-vinzhauptstadt hat kein Leben mehr in sich. Ihre Industrie ist einNichts, ihre Versorgung schwierig, ihre Märkte sind begrenzt.«15

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderte sich das tra-dierte Städtesystem in Frankreich noch nicht grundlegend, so wieauch der Zusammenhang von Industrialisierung und Urbanisierung

16

1800 12 23 12 9 37 18 6

1850 19 45 19 15 39 18 7

1910 41 75 38 49 53 38 14

1950 51 83 48 53 75 55 34

1980 66 79 69 75 82 73 61

Eur

opa

Eng

land

Fran

k-re

ich

Deu

tsch

-la

nd

Ruß

land

/So

wje

t-un

ion

Nie

der-

land

e

Span

ien

Tabelle 1: Die Verstädterung im 19. und 20. Jahrhundert 14

(Anteil der Bevölkerung in Orten über 5000 Einwohnern in %)

Page 9: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

relativ gering ausgeprägt war. Vielfach intensivierten sich, beson-ders im Süden, mehr die kommerziellen als die industriellen Funk-tionen der bestehenden Städte: Nîmes z. B. verlor an Bedeutung alsMittelpunkt der ländlichen Seidenherstellung, gewann aber anWichtigkeit als Weinhandelszentrum. Zur Ausbildung großer indu-strieller Agglomerationen wie in England und Deutschland kam esnur in begrenztem Umfang. Allerdings entstanden isoliert gelegeneSiedlungen wie Montceau-les-Mines, Le Creusot und Decazevilleaus dem Nichts, und beim »französischen Manchester« Saint-Étienne, das 1851 auf 56000 Einwohner angewachsen war, wieder-holte sich das englische Wachstumsmodell.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Verstädte-rung auch in Frankreich stärker industrialisierungsabhängig: Dieszeigt sich an der Konzentration des urbanen Wachstums auf dieBergbauregionen des Nordens und Lothringens sowie in Lyon, dasden Übergang von der Proto- zur Maschinenindustrie erfolgreichvollzog. Zugleich änderte sich nach 1850 die Form urbanen Wachs-tums: bemerkenswert sind besonders die Pariser Vorstadtentwick-lung, die wachsende Schere zwischen beschleunigtem Metropolen-wachstum und verhaltener Entwicklung von Provinzstädten, dieAgglomerationsbildung in den Bergbaugebieten und der Industria-lisierungsschub in Paris am Ende des Jahrhunderts.

Für Preußen 16 kann man nach 1840 von einem Städtewachstumals Folge der Industrialisierung sprechen. In erster Linie expandier-ten Textilstädte, die schon nach 1815 das Wachstum angeführt hat-ten, wie Barmen-Elberfeld sowie neue Schwerindustriestädte anSaar und Ruhr aufgrund ihres Reichtums an natürlichen Boden-schätzen. Das Ruhrgebiet war um 1800 noch ein agrarisches Ge-biet mit kleinen Handelsstädten bis 5000 Einwohner. Schließlichbrachte der Industrialisierungsschub nach 1850 eine Großregionmit einer zwei Millionen umfassenden Bevölkerung hervor, von derdie Hälfte in fünf Großstädten wohnte, die teils aus Industrie-dörfern (Gelsenkirchen), teils aus älteren Kleinstädten (Dortmund)erwachsen waren.

In der Hochindustrialisierung, die man für Deutschland auf dieZeit von 1870 bis 1910 datiert, wurde der Zusammenhang von In-dustrialisierung und Städtewachstum enger. Dies ist ein allgemeines

17

Page 10: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

europäisches Phänomen. Es zeigt sich z. B. in Preußen an der dra-matisch expandierenden Schwer- und Maschinenindustrie. Duis-burg, Dortmund, Essen und Augsburg wuchsen nun um das Drei-einhalb- bis Fünffache, Gelsenkirchen sogar um das Zehnfache. Einberühmtes Beispiel für das Wachsen von Zechengemeinden, denenaufgrund politischer Vorbehalte lange der Status einer »Stadt« ver-weigert wurde, war Hamborn (späterer Ortsteil von Duisburg), dasmit einer jährlichen Wachstumsrate von über 17% im Jahre 1910mit über 100000 Einwohnern das größte »Dorf« Preußens war underst 1911 Stadtrecht erhielt. Besondere Wachstumszentren bildetendurchindustrialisierte Orte wie Wattenscheid, Kattowitz, Saar-brücken oder Leverkusen. Aber auch die älteren Textilstädte wieElberfeld, Barmen und Krefeld waren noch nicht am Ende ihresWachstums angekommen, weil sie vom humanen Kapital einerFacharbeiterschaft profitieren konnten. Dazu kam eine Gruppeunter den größeren deutschen Städten, die von ihrer zunehmendenBedeutung als Verwaltungszentren profitierten: Beispiele sindMünster, Bonn, Frankfurt a. M. und Allenstein.

Ein Beispiel für einen im gesamteuropäischen Vergleich verspäte-ten Verstädterungsprozeß, der sich allerdings seit dem Ende des19. Jahrhunderts stark beschleunigte, ist Rußland. 1910 lebten 14%der Bevölkerung in Städten; 1800 waren es 6%. Der Durchbruchder Urbanisierung fällt erst in die Periode des bolschewistischenModernisierungsregimes. Während die Städte bis zur Jahrhundert-mitte nur wenig wuchsen – am auffälligsten war die ExpansionSt. Petersburgs, Moskaus und des Fernhandelshafens Odessa –,nahm das Städtewachstum danach an Tempo zu. Nach 1870 erlebtedas russische Reich bis zum Ersten Weltkrieg eine Verdreifachungder städtischen Bevölkerungen, wobei die Großstädte besondersausgeprägte Anziehungspunkte waren. Bis zu diesem Zeitraum wa-ren die Beziehungen zwischen Industrialisierung und Verstädterungwenig ausgeprägt. Zum einen engagierte sich der Landadel, z. T. mitleibeigenen Bauern, stark in protoindustriellen und industriellenAktivitäten, während es in den Städten kaum Gruppen gab, die sichzu einer industriellen Unternehmerschaft hätten entwickeln kön-nen. Zum anderen erschwerte nach 1861 die Institution der Dorfge-meinde (obscina) die Abwanderung der bäuerlichen Bevölkerung.

18

Page 11: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

Noch 1897 lebten nur 48% der 4,2 Millionen Industriebeschäftig-ten in Städten. Allein knapp 20% konzentrierten sich in den fünfgroßen Industriezentren St. Petersburg, Moskau, Riga, Lodsch undWarschau, wo die Nachfrage der städtischen Konsumenten die Ent-wicklung der Leichtindustrie förderte und wo über Banken und Bör-sen die Finanzierung industrieller Aktivitäten möglich war. Außer-dem hob sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer stärker dieindustrielle Verdichtungsregion Odessa /Schwarzmeerbecken ab,wo allerdings zahlreichen Industriedörfern durch die zaristischenBehörden der städtische Status verweigert wurde, so daß sie trotz ih-rer erheblichen Einwohnerzahl in der Städtestatistik nicht erfaßtwurden.17

Städtewachstum und Wanderungsbewegungen

Auf demographischer Ebene lagen dem Wachsen der städtischenBevölkerungen zwei Basisprozesse zugrunde: das natürliche Bevöl-kerungswachstum und umfangreiche Wanderungsbewegungen. InPreußen 1875–1910 betrug der Zugewinn durch die Wanderungs-bewegungen ein Drittel des Zuwachses der städtischen Bevölkerun-gen. Über die Hälfte des Anstiegs der städtischen Einwohnerzahlenging auf den Geburtenüberschuß zurück, der Rest auf Eingemein-dungen. Hingegen lag in Frankreich, wo eine »Landflucht« statt-fand, bei der größere Teile der Bevölkerung aus verarmten Depar-tements wie Ariège, Aveyron und den Pyrénées-Orientales in Städteabwanderten, und wo vor dem Zweiten Weltkrieg 25 der 90 Depar-tements weniger Bevölkerung als 1801 hatten, die Bedeutung derWanderungen für die Stadtentwicklung weitaus höher.

In Frankreich vollzog sich die Abwanderung in Städte (am Endedes 19. Jahrhunderts) in mehr als der Hälfte der Fälle innerhalb derjeweiligen Departements, d. h. im Nahbereich. Bei der Entstehungdes Ruhrgebiets und in Teilen Rußlands spielten dagegen Wande-rungsbewegungen über größere Distanzen eine entscheidendeRolle.

Wanderungsbewegungen erfolgten aber nicht nur in die Städteund Industriezentren, sondern auch zurück aufs Land. Die Land-

19

Page 12: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

Stadt-Wanderungen dürfen nicht als Einbahnstraße aufgefaßt wer-den, vielmehr muß man zwischen dem ganz erheblichen Wande-rungsvolumen und dem geringeren Wanderungsgewinn unterschei-den. Bis zu 80% der ländlichen Zuwanderer kehrten wieder aufsLand zurück (etwa zu Erntearbeiten) oder wandten sich anderenGroßstädten zu. Nicht jeder Wanderungsvorgang führte zum ständigen Aufenthalt in den Städten. In nicht wenigen Ländern Europas läßt sich feststellen, daß die Saisonwanderer erst um die Wende des 20. Jahrhunderts seßhaft wurden. Die historischeMobilitätsforschung beschäftigt sich demnach mit dem Phänomendes – schon von Zeitgenossen so genannten – »Nomadentums«:Die Bezugsdauer von städtischen Wohnungen, besonders in Arbei-terquartieren, war kurz, innerstädtische Mobilität erreichte ein erstaunliches Ausmaß, das pro Jahr ein Drittel bis ein Viertel derGroßstadtbewohner erfaßte. Eine Gruppe von Höchstmobilen, vorallem niedrig qualifizierte junge Männer, wechselte als Untermieterund »Schlafgänger« ständig Arbeitsstelle und Wohnung, währendFamilien weniger häufig und meist nur innerhalb einzelner Viertelumzogen. Insgesamt ergibt sich kein einheitliches Bild der Wande-rungsbewegungen. Die verschiedenen Städte waren in unterschied-lichem Ausmaß industrialisiert und wurden deshalb unterschied-lich von der Binnenwanderung tangiert.

Die Migrationsforschung hat sich außerdem mit den Faktorenauseinandergesetzt, die den Wanderungsbewegungen zugrundelagen. Es wird hierbei zwischen »pull«- und »push«-Faktoren un-terschieden: Zu den letztgenannten werden Armut, anstrengendeLandarbeit und dörfliche Sozialkontrolle gezählt, also Umstände,denen die Abwanderungsbereiten entkommen wollten; zu den»pull«-Faktoren gehörte neben dem Arbeitsangebot und der höhe-ren Entlohnung die Verlockung, die vom städtischen Freizeitange-bot und den Individualisierungschancen in den Städten für einen Teilder – meist jüngeren – Zuwanderer vom Land ausging. KonkreteInformationen über den Arbeitsmarkt und die Lebensbedingungenmachten die Wanderung zu einem kalkulierbaren Vorgang, da sichdie Wandernden vorher über die Arbeitsmarktsituation informier-ten und die Neuankömmlinge in den Städten oft auf Bekannte undVerwandte trafen, die ihnen die Integration erleichterten.18

20

Page 13: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

Wechselwirkungen zwischen Industrialisierungund Urbanisierung

Zwischen Industrialisierung und Verstädterung bestanden enge Be-ziehungen. Sie zeigen sich beispielsweise daran, daß traditionellekleinere Gewerbestädte und Verwaltungszentren im 19. Jahrhun-dert ein immer stärkeres industrielles Potential aufnahmen, zugleichihre Funktion als Verkehrsknotenpunkte verstärkten und deswegeneinen bedeutenden Aufschwung erleben konnten. Daran anknüp-fend stellt sich die Frage, welche kausalen Beziehungen zwischenStädtewachstum und Industrialisierung bestanden: Es handelte sichum eine enge, jedoch keineswegs eindimensionale Beziehung, alsoum zwei miteinander verknüpfte, aber jeweils in komplexen Bezie-hungen zu weiteren Faktoren stehende Prozesse.

Das klassische Beispiel für eine enge Korrelation von Industria-lisierung und Verstädterung ist England. Freilich sind Differenzie-rungen nötig. London wuchs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-derts weniger aufgrund industrieller Produktion, es profitierte abervon der Ausweitung des englischen Binnenmarktes und des Gü-terangebots im nationalen Maßstab, die Folge der Industrialisie-rung war. Die Fernhandelsfunktionen Londons, seine Rolle im neuentstehenden Eisenbahnnetz, sind im Kontext des gesamten Indu-strialisierungsprozesses zu sehen. Nicht nur die Ansiedlung vonProduktionsbetrieben, sondern auch die ihr zugrunde liegende Ver-kehrsentwicklung waren für die Beschleunigung des Städtewachs-tums wichtig. Der Aufstieg Birminghams, Liverpools, Glasgows,Manchesters und Londons ging sowohl auf den Ausbau von Pro-duktionskapazitäten als auch auf die Konzentration kommerziel-ler, eng mit den Industrien verbundener Aktivitäten zurück. Dieswar wiederum nur durch den Ausbau des Transportwesens imLande möglich. Bis 1840 sind sowohl Städtewachstum wie inner-städtische Standort- und Strukturveränderungen durch den Aus-bau von Fernstraßen und Kanälen stimuliert worden, danachdurch die Ausbreitung der Eisenbahn. Denn für den Eisenbahnbaubenötigte man Stahlprodukte, zu ihrem Betrieb Kohle, deren Pro-duktion dazu gewaltig gesteigert werden mußte. Seit den 1880erJahren erweiterte das wachsende Angebot an Nahverkehrsnetzen

21

Page 14: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

den Radius des durchschnittlichen Arbeitsweges erheblich. Da-durch erschloß sich für die innerstädtischen Industriegebiete einweitaus größeres Arbeitskräftepotential als bislang üblich, was ihreWachstumschancen erhöhte.

Daß nach 1800 industrielles Wachstum regional unterschiedlicherfolgte und von den Wechselwirkungen dieser regionalspezifi-schen Industrialisierung eine Dynamisierung der gesamten Volks-wirtschaften ausging, gehört zum Standard heutiger wirtschafts-historischer Forschung. Industrieregionen wuchsen auf der Basisvon Bodenschätzen, aufgrund der Möglichkeit, Wasser als Energiezu nutzen sowie durch andere natürliche Produktionsbedingungen,wozu die Nähe zu Seehäfen und die Verfügung über landwirt-schaftliche Ressourcen wie Wolle und Flachs gerechnet werdenkönnen. Da prosperierende Industrieregionen aber vielfach ohnesolche Ressourcen auskamen, muß man danach fragen, welcheweiteren, historisch variablen Faktoren zur Konzentration industri-eller Aktivitäten führten. Die Forschung weist hier besonders auf das Angebot an einheimischen Arbeitskräften, auf das interneVerkehrsnetz, die Verfügbarkeit von in der Region selbst akku-muliertem Kapital und auf die Existenz einer regional gebundenen,innovationsfreudigen Unternehmerschaft hin.19 Die Vielzahl stadt-zentrierter Produktionsregionen wie Chemnitz, Solingen, Münchenund Berlin, in denen sich während der Hochurbanisierung sehr vielIndustrie ansiedelte, zeigt, daß funktionale Beziehungen innerhalbvon Produktionsregionen wichtig waren, speziell die Funktionen,welche Städte darin übernahmen: Das Vorhandensein von Fach-arbeitern, von Maschinenbauern, von neuen Ideen und Märkten,generell urbane Sozial- und Kulturformen gaben der Industriali-sierung spezifische Antriebskräfte.

Städtische Mittelpunkte von Produktionsregionen übernahmeneine äußerst wichtige Funktion im Industrialisierungsprozeß. Bei-spielsweise wurden im östlichen Lancashire 1772 4,2 MillionenPfund Rohbaumwolle verarbeitet, 1841 bereits 452 Millionen. Sid-ney Pollard hat die Faktoren erarbeitet, die dieses außerordentlicheWachstum der führenden Baumwollregion Englands hervorriefen:der gute Zugang zu Kohle, das dichte Kanalnetz und der früheEisenbahnbau, beginnend mit der Linie von Manchester zum See-

22

Page 15: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

hafen Liverpool, die bereits 1830 eröffnet wurde. Auch ein lei-stungsfähiges, innerregionales Straßensystem bzw. Transportwesenentwickelte sich schon früh in der Region. Hinzu kam, daß hiergeschulte, einheimische Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Ent-scheidend für die weitere Entwicklung ist aber, daß Manchester in-nerhalb der umgebenden, sich 1800 über zehn, später über dreißigbis vierzig Meilen erstreckenden Industrieregion die Endverarbei-tungsprozesse des Bleichens, Stärkens, Druckens und Färbens sowiedie lukrative Endvermarktung und weitere Dienstleistungsfunktio-nen übernahm. Wichtige Produktionszweige wanderten daher nach1820 in die Stadt. Ohne die rasche Einrichtung der Eisenbahnver-bindungen etwa mit Orten wie Oldham, Bury, Rochdale oder Hali-fax wäre dieses System intraregionaler Arbeitsteilung nicht möglichgewesen. Am Ende des Jahrhunderts wurde diese Zentralitätsfunk-tion noch einmal unterstrichen, wofür gezielte städtische Aktivitä-ten ausschlaggebend waren. Wichtigste Beispiele hierfür sind diePlanung des Gewerbegebietes Trafford Park im Westen und dieEröffnung des Manchester-Schiffkanals 1894, mit dem Manchester,an Liverpool vorbei, direkten Zugang zum Meer erhielt.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die städtebildendeKraft der Industrialisierung weniger ausgeprägt als später, wobeiman beim Vergleich dieser phasenweise unterschiedlich ausgepräg-ten Beziehung auf europäischer Ebene den unterschiedlichen Be-ginn und das verschiedene Tempo des Industrialisierungsprozessesberücksichtigen muß. Da die frühe Industrialisierung in starkemMaße an Rohstoffe und Wasserkraft gebunden war, mußte sie vorwiegend außerhalb der größeren Städte stattfinden. Aus derExistenz von frühindustriellen Produktionsregionen konnten sich aber auch Wachstumsimpulse für Städte ergeben. Ein Beispielist Zürich, wo durch die ländliche Textilindustrie zunächst diekommerziellen Funktionen der Stadt gestärkt wurden, bevor dortebenfalls ein industriell bedingtes Bevölkerungswachstum ein-setzte. Andererseits ermöglichten der Ausbau der Eisenbahnnetzeund die Verbilligung der Frachtraten in den industriellen Kernlän-dern Europas seit den 1840er Jahren eine Großproduktion auch inden Städten, die von den Rohstoffvorkommen weiter entferntlagen. In Seehäfen etablierten sich rohstoffintensive Weiterverar-

23

Page 16: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

beitungszweige, z. B. Weizenmühlen und Seifenherstellung in St. Pe-tersburg.20 Manche Branchen, wie die Bierbrauereien Münchens,fanden unmittelbar vor der Haustür der Fabriken in der neu ent-stehenden städtischen Konsumentenmasse ihren Absatzmarkt.

Von der Stadt zur Metropole

Stadtentwicklung und Stadtplanungseit dem 19. Jahrhundert

Durch die Eigenarten ihres Wachstums entfernten sich die moder-nen Großstädte von der in den Stadtansichten noch des 18. Jahr-hunderts sichtbaren und ästhetisch so reizvollen Geschlossenheit.Gerade bei großen Städten existierte häufig kein klar erkennbarerStadtrand, und es zeichnete sich schon die Entwicklung ab, die bisheute als Zersiedelung des Umlandes kritisiert wird.

Im wesentlichen gab es zwei Typen bei der Bildung von Kon-urbationen oder Agglomerationen: Der erste war das urbane Wachs-tum ohne Kernstadt, bei dem sich zahlreiche gleichzeitig wachsendeSubzentren zu einer polyzentrischen Konurbation über alle politi-schen Grenzziehungen hinaus entwickelten. Klassische Beispielehierfür sind Oberschlesien und das Ruhrgebiet. Beim zweiten er-folgte das Flächenwachstum von einem Kern aus, der sich sternför-mig erweiterte. Die um die Stadt verteilten Siedlungskerne wurdenvom Wachsen der Kernstadt angeregt, bis schließlich das polyzentri-sche Wachstum zu einer neuen Gestalt der Stadt führte.

Die räumliche Entwicklung der Großstädte fiel keineswegs mitder Geschichte der Stadtplanung als Ensemble abstrakter Leit-vorstellungen zusammen, sondern sie verlief bis weit in das19. Jahrhundert hinein ungeregelt, jedenfalls gemessen an denMaßstäben der späteren Disziplin der Stadtplanung. Zunächstwurden Wachstumshindernisse wie militärische Wallanlagen undMauern beseitigt. Dann wurden – unter rücksichtsloser Vernich-tung älterer Stadtgebiete – in den Stadtzentren Ringstraßen und

24

Page 17: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

Boulevards angelegt. Dies hatte ebenso wie das Vordringen derEisenbahnen erhebliche Auswirkungen auf die morphologischeStruktur der Großstädte.

In Deutschland stand den kommunalen Behörden lange nur dieFestlegung von Straßenfluchten als gestalterisches Planungsinstru-ment zur Verfügung, womit die ungehemmte Verdichtung der städ-tischen Bebauung im Innern nicht verhindert werden konnte. ErsteSteuerungsansätze zu einer Begrenzung der negativen Folgen desindustriekapitalistischen Wachstums ergaben sich im Zuge derhygienischen Stadtreformbewegungen, die in England in den1840er Jahren einsetzten. Es ging dabei um die Beseitigung derübelsten Mißstände im Bau- und Wohnungswesen und um denAusbau spezieller Infrastrukturen (Straßen- und Kanalisations-bau). Auch das zunehmend in seiner Regulierungsbreite ausgewei-tete Instrument der Bauordnungen erwies sich lange Zeit als un-zureichend für die Kontrolle der Stadtentwicklung, zunächst imHinblick auf die hygienischen Standards, später für die ästhetischeDurchgestaltung der Wohnviertel. Andererseits kann man feststel-len, daß in den Großstädten trotz der Planungsdefizite großzügigangelegte Quartiere von hoher städtebaulicher Qualität entstan-den, in einem Wechselspiel zwischen behördlichen Vorgaben undprivater Spekulation, das auf dem Abwägen zwischen »Kunst-streben und Kapitalinteressen« beruhte.21 Ein gutes Beispiel dafürist das Frankfurter Bahnhofsviertel, das ab 1888 entstand.

Um 1900 gewann die nun eigenständige und von Architektendominierte Disziplin der Stadtplanung an Praxisrelevanz. In denGroßstädten wurde zwar weiterhin ständig abgerissen, erneuertund bereits bebautes Gelände neuen Nutzungen zugeführt, aber dieAnlage von Stadterweiterungsgebieten konnte nun teils durch ge-zielte Strategien, teils durch die stärkere Nutzung der vorhandenenrechtlichen Möglichkeiten planmäßiger als zuvor und mit Blick aufdas Ganze durchgeführt werden. Dabei spielte das Interesse eineRolle, Wohn- und störende Gewerbeaktivitäten durch »Zonung«stärker voneinander abzugrenzen und so Beeinträchtigungen desWerts von privaten Wohngrundstücken zu vermeiden. WachsendesInteresse an der urbanen Form zeigte sich um die Jahrhundert-wende in der europäischen Gartenstadtbewegung. Man schuf mehr

25

Page 18: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

Parkanlagen und bemühte sich um eine die Proportionen wahrendeStraßengestaltung. Die Modellfunktion der Gartenstadt für dieProfilierung dieser Planungsaktivitäten seit dem 20. Jahrhundertwird trotz der ihr zugrunde liegenden antistädtischen Kleinbau-ideologie heute durchweg anerkannt. Die Gartenstadtbewegungmit ihrer Kritik an einer naturfernen Lebensweise führte zu jenenFormen aufgelockerter Überbauung, die man heute in den Städtennicht mehr missen möchte. Andererseits wird sichtbar, daß flächen-fressende Eigenheimgebiete nachträglich verdichtet werden müs-sen, um die Stadtränder nicht noch weiter zu zerfasern.

Als sich die Städte um die Jahrhundertwende weiter nach außenausdehnten, erwies sich der bis dahin erreichte, über Bauordnun-gen festgeschriebene schematisch-geometrisierende Planungsstan-dard als Hindernis einer funktional ausgewogenen und ästhetischanspruchsvolleren Städteplanung.22

Ursachen für städtische Expansion und Planung waren in hohemMaße die Konkurrenz zwischen den Großstädten und das wach-sende stadtbürgerliche Selbstbewußtsein. Letzteres kann man alseine Art Fundamentalopposition gegenüber der »Mittelmäßigkeitstaatlicher Behörden« (B. Ladd) sehen. Tempo und Richtung derExpansion wurden in den Großstädten von den kommunalenSelbstverwaltungsgremien, besonders von den Oberbürgermeisternvorgegeben – im Unterschied zum Ruhrgebiet, wo die Bergwerks-unternehmen als Städtegründer in Erscheinung traten.23

Citybildung und soziale Segregation

Das Wachstum besonders der großen Industriestädte ging mit derEntstehung verschiedener Funktionsbereiche einher, die in der »Ci-tybildung« ihren Ausdruck fand. Die Innenstädte wurden dichterbebaut und reicherten sich mit Geschäften, Banken, Büros und Ver-waltungsstellen an. Gleichzeitig verließ ein Teil der Wohnbevölke-rung die neue City. Diese funktionalen Differenzierungsprozessewaren von unterschiedlichen, sich gegenseitig bedingenden Fakto-ren beeinflußt und hatten in den einzelnen Städten unterschied-liches Gewicht.24 So wie sich im Zuge der großstädtischen Ent-

26

Page 19: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

wicklung die räumliche Verteilung ökonomischer Funktionen än-derte, besondere Geschäftsviertel und Produktionsszenen entstan-den, bildeten sich charakteristische Muster heraus, von wem dieStadtviertel bewohnt wurden. So lassen sich für Hamburg, das einevergleichsweise moderne Stadtstruktur aufwies, für das späte19. Jahrhundert sechs Stadtgebiete unterscheiden: die City, die vor-industrielle Vorstadt als hafen- und innenstadtnahes Arbeiter-wohnviertel, das südlich der Elbe gelegene Industriegebiet, dasOberschichtenviertel westlich und östlich der Außenalster mitanhaltender Vorherrschaft des Einfamilienhauses, der industrielleVorort, wo neue, große Vorstädte bereits zu einem geschlossenenSiedlungsgebiet zusammengewachsen waren, und die »Agglomera-tionsperipherie« mit ihrem zum Teil noch ländlichen Charakter.25

In welchem Grade funktionale Differenzierung von der sozialenEntmischung der Wohnbevölkerungen im Stadtgebiet begleitetwar, ist eine Frage von großer Aktualität. Die Entwicklung der in-ternen städtischen Raumstrukturen des 19. Jahrhunderts lief wenig-stens der Tendenz nach auf soziale Segregation, d. h. auf die Her-ausbildung berufs- und schichtenspezifischer Stadtviertel hinaus. Ineinem Teil der deutschen Großstädte, vor allem in Berlin oder inBreslau, ging soziale Entmischung mit der Ausbreitung der soge-nannten Mietskasernen einher, was die Wohndichte ebenso er-höhte wie die in Städten mit kleineren Haustypen vielfach gepflegtePraxis, vorhandenen Wohnraum aufzuteilen, der von stadtaus-wärts ziehenden Mittel- und Oberschichten verlassen worden war.Zur Ausbildung von Arbeitervierteln kam es außerdem durch Um-wandlung bisher »guter« Stadtviertel entlang von Straßenbahn-und Eisenbahnlinien. Aber Stadtentwicklung verlief nicht auto-matisch in Richtung einer scharfen sozialen Polarisierung. In derprosperierenden Textilstadt Bielefeld behielten tradierte familiäreZusammenhänge und traditionelle Präferenzen der Standortwahllange Geltung. Auch teilten Einheimische den Häuser- und Grund-stücksmarkt unter sich auf und erschwerten Zuzüglern die Ansied-lung. Der Prozeß sozialer Segregation vollzog sich langsam undinnerhalb bestimmter Grenzen. Gesellen und Dienstpersonalwohnten noch lange in den herrschaftlichen Haushalten, und bisauf einige Arbeitersiedlungen in der Nähe von Fabriken kann man

27

Page 20: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

in Bielefeld nicht von der Entstehung sozial homogener Stadtviertelsprechen. Außerdem hatte hier, anders als in anderen Industrie-städten, der Bahnanschluß keine unmittelbaren sozialräumlichenAuswirkungen. Erst spät zogen die Oberschichten in die Vorstadt.Es entstanden zwei Fabrikbezirke, aber es gab nicht wie im Ruhr-gebiet und in Oberschlesien die monopolartige Herrschaft einzel-ner Unternehmen über ganze Stadtregionen. Die Standortvertei-lung der Gewerbezweige blieb für die sozialräumliche Verteilungder Bevölkerung bis zum 20. Jahrhundert bestimmend, d. h., es gabzwar kleinere, exklusive Wohnviertel von Kaufleuten und höherenBeamten und am Stadtrand Arbeiterquartiere, aber die Mehrheitder Bevölkerung lebte immer noch in durchmischten Vierteln, zu-mal es selbst in neuen Stadtteilen noch viele private Hausbesitzergab: »In Klein- und Mittelstädten [. . .], die (begrenzte) [. . .] Anzie-hungskräfte auf Zuwanderer ausübten, und Städten mit nur einemwirtschaftlichen Leitsektor, die sehr konjunkturanfällig und demo-graphisch weniger ausgeglichen waren, ließ sich eine Differenzie-rung der wirtschaftlichen Grundlagen nur mit (großen) [. . .]Schwierigkeiten erreichen. Dann stagnierte das Bevölkerungs-wachstum und blieb die Fluktuation sehr hoch. Große Städtewuchsen [. . .] schneller, erlebten die sozialen Probleme aber auch ingrellerem Licht.«26

Städtisches Wachstum und soziale Segregation waren aufs engstemit der Entstehung von Vororten verbunden. Die »Suburbanisie-rung« trat in den einzelnen Ländern und Städten in sehr unter-schiedlichem Ausmaß und zu verschiedenen Zeiten in Erscheinung.Exemplarische Studien dazu liegen von H. J. Dyos, dem Protago-nisten der englischen Urbanisierungsforschung, und von MichaelWagenaar vor. Am Beispiel des Londoner Vororts Camberwellzeigte Dyos, welche Faktoren bei der Ausbildung der riesigen sub-urbanen Peripherie Londons mitwirkten: Die Ansiedlung von»middle classes« in eleganten Suburbs sieht Dyos als Akt sozialerDistanzierung von den Slums, die sich in der Kernstadt ausbreiteten,und als Folge einer zunehmenden Attraktivität des Landlebens. Diesoziale Entmischung war außerdem eine Reaktion auf die Industrie-ansiedlung im Stadtgebiet, auf Luftverschmutzung und abfallüber-säte Straßen. An London zeigt sich, daß Mittelschichten sowohl

28

Page 21: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

vor steigenden Grundstücks- und Mietpreisen als auch wegen derZuwanderung von ärmeren Schichten in die Vororte entflohen. Weran den Stadtrand zog, mußte zwar einen längeren Arbeitsweg inKauf nehmen, konnte aber auch aufgrund seiner Mobilität bessereArbeitsplätze als die ärmere Bevölkerung erreichen. In Paris hin-gegen zogen Wohlhabende und Mittelschichten in geringeremMaße aus der Innenstadt, was sich bis heute in der Sozialstrukturder inneren Bezirke von Paris bemerkbar macht. Allerdings wurdenHunderttausende der ärmeren Einwohner an die Peripherie ge-drängt, weil unter dem Präfekten und Stadtplaner Haussmann undauf der Grundlage rigoros gehandhabter Enteignungen große Teileder Altstadt saniert, d. h. Boulevards und repräsentative Wohnbau-ten errichtet wurden.27

Ein weiterer Aspekt der sozialräumlichen Differenzierung vor-nehmlich der größeren Städte ist die Entstehung von Slums, dieauch heute noch immer wieder thematisiert wird, zumal man dasBeispiel der Dritte-Welt-Megastädte in den Massenmedien prak-tisch täglich vor Augen hat. In der europäischen Geschichte gingdie Verslumung zum Teil zurück auf die Ansiedlung von Industrie-betrieben im Stadtgebiet mit negativen Folgen für die Umweltver-hältnisse, zum Teil auf den massenhaften Zuzug von Arbeiter- undArmenbevölkerungen in ehedem statushohe Wohngebiete. Nichtnur in privilegierten Vororten, sondern vielleicht noch deutlicher inArbeiterquartieren bildeten sich spezifische sozialkulturelle Milieusmit hoher Interaktionsdichte heraus. In ihrem Rahmen konnte sichdie von Armut geprägte Lebenssituation der Bewohner im ungün-stigen Fall zu einem unentrinnbaren Zusammenhang verfestigen,der von permanenten Nachbarschaftskonflikten begleitet war. Zu-gleich entwickelten sich diese Wohngebiete im günstigen Fall zueinem Lebenszusammenhang, der aufgrund vielfältiger Kontakteund sozialer Netzwerke das alltägliche Überleben erleichterte. Sol-che Viertel stellten einen gemeinsamen Erfahrungsraum für ihreBewohner dar, zumal wenn zum gemeinsamen Wohnen die Koope-ration am Arbeitsplatz hinzukam.

29

Page 22: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

Wachstumsprobleme und kommunalpolitischeBewältigungsansätze

Das rasche und ungleichgewichtige Wachstum der Städte, die Ver-dichtung des Wohnens und die Ansiedlung von Industriebetriebenführten zu gravierenden Beeinträchtigungen der Umwelt und imZusammenhang mit industrieller Pathologie zu einer extrem hohenSterblichkeitsrate: Im Lancashire der 1840er Jahre etwa hatte einmännlicher Textilarbeiter eine Lebenserwartung von nur 24 Jah-ren. Zwar hatten auch die vorindustriellen Städte hygienische undumweltbezogene Probleme gekannt. Wo diese auftraten, versuchteman sie durch punktuelle Zugriffe zu lösen. Mit dem industriellenStädtewachstum jedoch erwiesen sich die bisherigen Ver- und Ent-sorgungssysteme wie Trinkwasserbrunnen und Senkgruben als un-genügend. Genauso waren steigende körperhygienische Ansprücheund das Interesse an Seuchenprophylaxe die Motoren des Ausbausvon zentralen Wasserversorgungssystemen und von Kanalisatio-nen.

Das Problem der großstädtischen Gesundheitsentwicklung stehtmit allgemeinen sozialen Entwicklungen – der Lebensstandardent-wicklung, dem Wandel der Ernährungsgewohnheiten, den Bean-spruchungen an den Arbeitsplätzen – in Zusammenhang. Steigendeurbane Sterblichkeitsziffern zwischen 1800 und 1860 können dem-nach nicht allein aus Verschlechterungen der umwelthygienischenBedingungen erklärt werden. Klar ist, daß die Bevölkerungskonzen-tration in Großstädten eine erhöhte Ansteckungswahrscheinlichkeitmit sich brachte und das Eindringen pathogener Keime in die städtischen Wasserkreisläufe, die so viele Menschen erreichten, dieMöglichkeiten vervielfachte, an einer Infektionskrankheit zu ster-ben. Erst mit dem Aufbau von geschlossenen Ver- und Entsorgungs-systemen, durch die Filtrierung des Trinkwassers und den Aufbauvon Fernwasserversorgungen konnte wieder eine Reduzierung derMortalität durch häufige Infektionskrankheiten wie Typhus undCholera erreicht werden.28

Es stellt sich die Frage, wie die kommunalen Verwaltungen mitdiesen Problemen umgingen. Wann wurden sie in ihrer grundlegen-den Dimension erkannt? Welche Kategorien wurden dabei ange-

30

Page 23: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

wandt? Welche politischen Kräfte setzten sich für die Kontrolle vonumweltbedingten Risiken ein, und welche verhielten sich gegenübereiner interventionistischen Gesundheitspolitik ablehnend?

England war das erste europäische Land, in dem in den 1840erJahren auf kommunaler Ebene eine Bewegung zur systematischenKontrolle von umweltbedingten Gesundheitsrisiken einsetzte. DerAusbau der zentralen Wasserversorgung erfolgte überall in Europabis auf wenige Ausnahmen zuerst in großen Städten, dann auch inKlein- und Mittelstädten, und erreichte bis zum Ende des 19. Jahr-hunderts ein beachtliches Niveau. Die Versorgung der städtischenBevölkerungen mit lückenlosen Kanalisationen verzögerte sichdemgegenüber, nicht zuletzt aus Kostengründen, zum Teil jahr-zehntelang.

Anstöße zur städtischen Umwelt- und Gesundheitspolitik kamennicht nur von Hygiene-Experten und den bürgerlichen Sozial-reformbewegungen, sondern auch aus der entstehenden Arbeiter-bewegung. Streikbewegungen und die wachsende Bedeutung politi-scher Parteien im kommunalen Umfeld sind weitere Ursachen fürden Übergang von der »Ordnungsverwaltung« zur »Leistungsver-waltung«, der in England und Deutschland am frühesten undsystematischsten stattfand. Er ging mit dem flächendeckendenAufbau von Infrastrukturen (Straßenbau, Waser-, Gas- und Elek-trizitätsversorgung) einher: 1908 verfügten von den deutschenGroßstädten 92% über ein Wasserwerk, 80% über eine Gas- undElektrizitätsversorgung und 44% über eine elektrische Straßen-bahn.29

Mit diesen Aktivitäten konnten die Großstädte teils Finanzie-rungsquellen für andere Infrastrukturen erschließen, teils reagier-ten sie damit auf einen immer umfassender definierten Bedarf ansozialpolitischer Regulierung. Die sozialpolitisch profilierten Lei-stungsverwaltungen, von denen man in Deutschland seit den1880er Jahren sprechen kann, spielten beim Übergang zum moder-nen Interventions- und Sozialstaat eine eigenständige Rolle.30 InDeutschland waren es stärker die Oberbürgermeister denn dieSelbstverwaltungsgremien, welche die Kommunalisierung von bis-lang privat betriebenen Versorgungsbetrieben forcierten und sichzur Vision des sogenannten »Munizipalsozialismus« bekannten.

31

Page 24: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

Die aktive Infrastrukturentwicklung der Großstädte von der Ver-kehrserschließung bis zur gezielten Eingemeindungspolitik dienteseit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt der Industrie-ansiedlung. Weitere Kräfte, die hinter der Transformation des kom-munalpolitischen Systems standen, erwuchsen – dies gilt in beson-derem Maße für Deutschland – aus der Identifikation städtischerBürger mit der Tradition der eigenen Stadt und mit der Errungen-schaft kommunaler Autonomie. Politisches Handeln auf kommu-naler wie auf gesamtstaatlicher Ebene trug zu den urbanen Errun-genschaften bei. Insgesamt folgte es einer Dynamik, bei der es umdie Bewältigung des ungeplanten industriewirtschaftlichen Wachs-tums ging. Regionale Unterschiede traten auch hier hervor. Gene-rell hinkten ost- gegenüber westeuropäischen wie ost- gegenüberwestdeutschen Städten dem jeweiligen Leistungsstandard hinterher.In Deutschland wiesen Industriestädte mit niedrigeren Steuerein-nahmen gegenüber alten Verwaltungszentren wie Düsseldorf oderMünchen einen Rückstand auf. Vor allem die schwerindustriellenBallungsgebiete, wo die Versorgung der Bevölkerung mit Dienstlei-stungen und lebenswichtigen Gütern besonders nötig gewesenwäre, zeigten Defizite. Ein Beispiel ist Oberschlesien: FehlendeSelbstverwaltungstraditionen und die Dominanz der Standortent-scheidungen der großen Unternehmen führten zu schweren Ver-säumnissen in der Umwelt- und Gesundheitspolitik sowie in derGrundversorgung der Bevölkerung. Es kam weder zur Professiona-lisierung der Kommunalverwaltungen noch zu einer aktiven kom-munalen Bodenpolitik, der Verstädterungsprozeß hatte defizientenCharakter.31

Großstädtisches Leben: Urbanität

Metropolen und Urbanität im 19. Jahrhundert

1800 gab es in Europa 21 Städte mit mehr als 100000 Einwohnern,in denen zusammen 4,5 Millionen Menschen lebten. Dies entsprach

32

Page 25: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

weniger als 3% der europäischen Gesamtbevölkerung. Ein Jahr-hundert später existierten 147 Großstädte mit mehr als 40 Millio-nen Einwohnern, das waren ca. 10% der gesamten BevölkerungEuropas. Seit dem 19. Jahrhundert dominierten die Metropolen die Richtung, das Tempo und die Formen der gesellschaftlichenEntwicklung. Da sie zu wirtschaftlichen Knotenpunkten mit über-lokaler und überregionaler Bedeutung wurden, wo sich Ressourcenakkumulierten und neue Technologien häufig zuerst angewendetwurden, zeichneten sich hier die ökonomischen Entwicklungen amdeutlichsten und frühesten ab.

Metropolen waren nicht einfach bloß große Städte, auch wennim deutschen Sprachgebrauch »Großstadt« und »Metropole« viel-fach gleichbedeutend gebraucht werden. Sie waren darüber hinausdurch den besonderen Geltungsanspruch charakterisiert, Stättenexemplarischer sozialer Erfahrungen zu sein. Als Spiegelbild »allerhöheren Ambitionen des Gesellschaftssystems« wurden sie zu Or-ten, wo eine Vielfalt von Informationen und Nachrichten verfüg-bar wurden, die für ihr Einflußgebiet Bedeutung gewannen. DieZentralitätsfunktion der Metropolen trat so ausgeprägt hervor,daß die Bewohner des Hinterlandes nicht mehr nur wie in traditio-nellen Städten mit Dienstleistungen versorgt wurden, sondern daßsie dazu tendierten, »als Markt, als Informationszentrum und alsMittelpunkt politischer Organisation die Aktivitäten in ihrer Ein-flußsphäre« zu beherrschen.32

Zu ihnen gehörte eine ganze Reihe von Städten: Welche man da-zurechnet, hängt davon ab, welche Neuerungen und kreativenKräfte sie hervorbrachten und welche historische Periode man be-trachtet. Wenn für Metropolen kennzeichnend ist, daß sie vom»Produzenten von Mythen« zum »Experimentierfeld und Maßstabfür Neues«33 wurden, gilt dies nicht nur für die wenigen, einzig-artigen »Konzentrationen von Menschen, Macht, Wirtschafts- undFinanzkraft« wie London, New York, Paris und Berlin 34, sondernauch für Großstädte vom Range der »Kunststadt« München, fürSt. Petersburg, das als administratives Zentrum und als Industrie-standort die herausragende Primärstadt Rußlands war, für Barce-lona, dessen Beitrag zur Kunst- und Architekturmoderne in euro-päischem Maßstab wichtig ist, oder für Manchester, das erst die

33

Page 26: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

»Coketown«, dann den Typ der multifunktionalen Metropole mitindustriewirtschaftlichem Charakter repräsentiert. Die nordeng-lische Textilstadt beherrschte über Jahrzehnte das wichtigste Seg-ment der britischen Industrieproduktion und ist damit ein Vorläu-fer der heutigen »global cities«, insofern die primäre Antriebskraftihrer Expansion die Verknüpfung mit der Weltwirtschaft war.35 Beidrei der vier in diesem Buch vorgestellten Großstädte – Manche-ster, St. Petersburg, Barcelona – handelte es sich um Seestädte, dieim Begriff waren, zu modernen Logistik-, Dienstleistungs- und In-dustriestandorten zu werden. Die Beispielstädte hatten sowohl hin-sichtlich ihres wirtschaftlichen Potentials als auch ihrer außenwirt-schaftlichen Verflechtung und ihren Zentralitätsfunktionen einestrategische Stellung in den jeweiligen Industrialisierungsprozessenihrer Länder. Ebenso gingen von ihnen wichtige Anstöße für Poli-tik und Kultur im nationalen Maßstab aus. Neben ihrem ökono-mischen Potential ist ihre kulturelle Bedeutung hoch einzuschät-zen: Sie fungierten als Symbole in den Urbanisierungsdebatten undwiesen jene kennzeichnenden Züge der Modernität auf, die sichheute gesamtgesellschaftlich durchgesetzt haben. InstitutionelleKultur und Formierung des Stadtbürgertums standen in engemZusammenhang, gerade in den industriewirtschaftlich fundiertenMetropolen, wo erst einmal die prestigereichen Errungenschaftenälterer Städte mit ihrem Angebot an Schulen, Museen und Biblio-theken aufgebaut werden mußten.

So stehen die Beispielstädte für den heute dominierenden Misch-typ, der im europäischen Urbanisierungsprozeß immer stärker her-vortrat: für die expandierende Großstadt auf industrieller Grund-lage, die gleichzeitig als Standort innovativer Produktionszweige,als Brennpunkt kultureller Erneuerung und durch ihre Dienstlei-stungs- und Zentralitätsfunktionen charakterisiert ist.

Bereits Durkheim beschrieb die kaum mehr reproduzierbaresoziale Dichte des Großstadtlebens im 19. Jahrhundert, die dortvorherrschende funktionale Arbeitsteilung und Beweglichkeit desGeistes, die einzigartigen Kontakt- und Kommunikationschancen,die aus der Verdichtung der Bevölkerung resultierten. Diese schienzugleich eine mentalitätsbildende Qualität aufzuweisen. Um dieJahrhundertwende mehrten sich Beobachtungen über die »wach-

34

Page 27: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

sende Nervosität unserer Zeit«, die der Heidelberger MedizinerWilhelm Erb auf das »raffinierte« und »unruhige« Großstadtlebenzurückführte.38 In seinem bedeutenden Aufsatz »Die Großstädteund das Geistesleben« begriff der Philosoph Georg Simmel 1903die moderne Großstadt als Ort von Geldwirtschaft, Warenpräsen-tation, Arbeitsteilung und Rationalität, an dem sich durch die be-sondere Form sozialer Beziehungen der besondere Habitus des»blasierten« Großstädters entwickelt habe. Einerseits identifizierteSimmel die Großstadt als bedrohlichen Ort, dessen verwirrendeFülle flüchtiger Eindrücke dem Großstadtmenschen eine gewisseOberflächlichkeit auferlege, andererseits schien sie besondere Indi-vidualisierungschancen zu bieten. Hypersensibilität der Groß-städter ist bei Simmel eigentlich ein Schutz gegenüber dem in denStädten herrschenden Tumult, und diese Distanzierung geht einhermit der positiven Möglichkeit einer ästhetisierten, seltsam ambi-valenten Stadterfahrung.39

Unter Rückgriff auf Simmels intuitive Schau des urbanen Milieusbeschäftigte sich der amerikanische Soziologe Louis Wirth in »Ur-

35

1700 1800 1850 1900 1985 Rang Rang1850 1950 37

Barcelona 34 100 220 550 3200 25 13

Manchester 8 84 303 1240 2500 8 6

München 20 40 100 500 2110 34 28

St. Petersburg – 220 524 1440 5110 3 5

Zum Vergleich:

Madrid 140 170 280 540 4710 13 11

London 570 950 2230 6620 10360 1 1

Berlin 60 170 440 2420 3240 4 4

Moskau 130 300 440 1120 8970 9 3

Tabelle 2: Einwohnerzahlen (in 1000) von Barcelona, Man-chester, München und St. Petersburg (incl. Agglomerationen) 36

Page 28: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

banism as a Way of Life« 1938 40 mit den Möglichkeiten, eine so-ziologische Definition der Metropole zu entwickeln. Aufgrund derBevölkerungsdichte der Großstädte und der sozialen Heterogenitätihrer Bewohner seien unter ihnen persönliche Bekanntschaften sel-ten. Generell seien die menschlichen Beziehungen durch ihrenflüchtigen Charakter ausgezeichnet. Die Dichte der städtischenSiedlungsweise bringe die Menschen zwar in engen physischenKontakt, den sie aber durch einen distanzgeprägten Habitus zukompensieren suchten. Es bilde sich eine Segmentierung gesell-schaftlicher Bindungen (»a complex pattern of segregation«) undein Zustand sozialer Unsicherheit heraus. Die Stadtbewohner trä-ten sich in hochdifferenten sozialen Rollen gegenüber. Diese Defi-nition ist für die heutige Auffassung eines urbanen Lebensstils, vonUrbanität als Zivilisation besonderer Art, äußerst einflußreich ge-worden und war auch in der literarischen Stadtwahrnehmung prä-sent. Ernst Dronke stellte in der Mitte des 19. Jahrhunderts überBerlin fest, hier kümmere sich niemand um den einzelnen, »daherdie Ungezwungenheit, die Selbständigkeit des einzelnen«. Jahr-zehnte später äußerte Kurt Tucholsky diese Erfahrung: »Wenn duzur Arbeit gehst am frühen Morgen, wenn du am Bahnhof stehstmit deinen Sorgen: da zeigt die Stadt dir asphaltglatt Millionen Ge-sichter. . .«41 Aber ungeachtet der Pluralität von Lebensstilen undsozialer Heterogenität, die zweifellos die großen Städte charakteri-sierte: Traten sich in ihnen die Bewohner in der Regel wirklich an-onym gegenüber? Wirth jedenfalls argumentierte idealtypisch undtradierte Topoi, die aus der Stadtkritik schon bekannt waren: DieAnonymität der Großstadt stehe in Opposition zur »Gemein-schaft«, die man in der Kleinstadt und im Dorf vermutet. Urbanitätoder die besondere Lebensweise des Metropolenbewohners, wieWirth sie beschreibt, ist eine Abstraktion von der Realität des städ-tischen Lebens, denn sie bezieht sich allein auf die spezifische Öf-fentlichkeit, wie sie in der City existiert, nicht aber auf die ver-schiedenen, ebenfalls existierenden Öffentlichkeitsformen vomTheater bis zur Kneipe. In der Innenstadt konzentrieren sich Ar-beitsplätze, kommerzielle und administrative Funktionen, hier inerster Linie werden Güter und Dienstleistungen ausgetauscht. DasStadtinnere, das abstrakte Individuum, das Kriterium der Dichte,

36

Page 29: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

nicht aber vielfach stabile und identitätsgebende Gruppenbezie-hungen sind die Bezugspunkte von Wirths Analyse, die ignoriert,daß Städte aus mehreren sich überlappenden Systemen sozialer Be-ziehungen bestehen, die sich folglich in verschiedenen Bezugskrei-sen, z. T. auf Stadtteilebene, äußern.42 Treffend ist dazu eine Notizvon Theodor Fontane: »Ist (Berlin) Weltstadt? Ja und nein. Nundas große Leben und das daneben fortexistierende Klein- undSpießbürgerleben [. . .] Es gibt noch Frauen, die in die LandsbergerStraße fahren, um eine Sache für 5 Pfennige billiger zu kaufen.«43

Heute ist klar, daß die Kriterien der funktionalen Spezialisierungoder der Begegnungsdichte nicht ausreichen, um »Urbanität« zuerfassen. Ihr wirtschaftliches und kulturelles Gewicht charakte-risierte die Metropolen, und dieses erst hob sie von den reinenAgglomerationen ab. An dieser Stelle scheinen einige begriffsge-schichtliche Abgrenzungen angebracht: Im Französischen bezeich-net im Unterschied zum Deutschen die »métropole d’équilibre« dieAgglomeration, wie ähnlich im angelsächsischen Sprachgebrauchder Begriff der »metropolitan area« für Ballungsgebiete auftaucht.In der Urbanistik, auch in der deutschsprachigen, wird heute dieBezeichnung »Metropole« für die auswuchernden und ressourcen-verschlingenden Riesenagglomerationen in der Dritten Welt ver-wendet. Diese sollten aber sinnvollerweise als Megalopolis be-zeichnet werden.

Was im 19. Jahrhundert spezifisch städtisch war, stand mit derGeschichte des Bürgertums als Träger städtischer Lebensformenwie mit der Geschichte der Arbeiter und ihrer selbstbestimmtenOrganisationen in Zusammenhang. Die Metropolen waren nichtallein Zentren von Kultur und Wissenschaft, wichtig waren institu-tionelle Neuerungen, die innovative Verhaltensweisen gleichsamarrangierten. Ein Beispiel sind die Warenhäuser, die seit dem Endedes 19. Jahrhunderts bei breiten großstädtischen Konsumenten-schichten zunehmenden Anklang fanden. Warenhäuser waren Ortemoderner Verhaltensformen, an denen die Entgrenzung bisherigerständischer und klassenspezifischer Schranken stattfand. Im Ber-liner »Wertheim« oder »Tietz« zeigte sich die Welt der Waren ingroßzügiger Form präsentiert. Warenhäuser wurden zu Umschlag-plätzen von Waren, Menschen und Meinungen. Warenhäuser sym-

37

Page 30: Die geburt der europäischen GroßstadtStädte im Industrialisierungsprozeß betrachtet und neue kulturelle Phänomene wie bürgerliche und populäre Kultur einbezieht. Die großen

bolisierten Fortschritt und Zeitökonomie. Von den Großstädtenaus drangen sie über kleinere Filialen »bis in die Stadtviertel derKleinbürger und Arbeiter« vor.44

Über dieses Beispiel hinaus zeigt sich, daß »die Nachahmung vonbisher nur in den Großstädten vorhandenen Einrichtungen und dieAdaption großstädtischer Innovationen in den suburbanen Räu-men« im 20. Jahrhundert die Sonderrolle der Großstädte wiederzurücktreten ließ.45 Urbanität, im erweiterten Begriffsverständnisdie Gesamtheit aller typisch (groß-)städtischen Lebens- und Ver-haltensweisen, breitete sich schrittweise in der gesamten Gesell-schaft aus. Der als Kontrast zum »Ländlichen« entwickelte Begriffder Urbanität verlor in einer sich modernisierenden und immerweiter verstädternden Gesellschaft an Trennschärfe. Dazu trug dieAusbreitung des Massenkonsums ebenso bei wie der Ausbau derVerkehrssysteme, die neuen Massenkommunikationsmittel, die da-durch ausgelösten Suburbanisierungsprozesse und die zunehmendegesamtgesellschaftliche Bedeutung des Dienstleistungssektors.46

Die drohende Verwandlung der Großstädte in riesige Agglomera-tionen wird heute als Verlust an urbaner Qualität gesehen. Aus-ufernde, amorphe Reihenhausgebiete, gestaltlose und verwahr-losende Trabantensiedlungen – all dies läuft nach Meinung nichtweniger Kritiker nicht nur auf einen Verlust an Urbanität hinaus,sondern auf die Zerstörung der Vorstellungen über das Urbaneschlechthin.

38