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Die heilenden Klänge der Mantras Dr. med. Mohani Heitel

Die heilenden Klänge der Mantras - · PDF file55 Anwendungsbereiche 55 Selbstheilungskräfte freisetzen 56 Mantras für einen guten Schlaf 61 Hilfe bei Atemstörungen 63 Umgang mit

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Die heilenden Klänge der Mantras

Dr. med. Mohani Heitel

● Si

4 Vorwort von Dr. Robert Lug

6 Einstimmung

9 Leben mit Mantras

9 Kindheit in einem indischenBergdorf

10 Heilerin mit Wasser und Wort

11 Wie ich eigene Mantras empfing

15 Was sind Mantras?

15 Am Anfang war der Klang

16 Herkunft und Beginn der Mantra-Tradition

18 Sanskrit – Sprache der Mantras

21 Die Ursilbe »Om«

Inhalt25 Mantra-Meditation

und Spiritualität

25 Warum Spiritualität?

27 Meditation und spirituelleErfahrung

29 Spiritualität und Lebenseinstellung

33 Mantras und Stimmung

33 Denken und Fühlen

35 Der Teufelskreis negativen Denkens

38 Mantras – positiver Einfluss aufDenken und Fühlen

41 Mit Mantras arbeiten

41 Auswahl eines Mantras

42 Wann werden Mantrasangewendet?

43 Arten der Wiederholung

46 Kontemplatives Anhören

46 Mantras selbst singen

50 Mantra-Anwendung im Alltag

52 Für wen sind Mantras hilfreich?

Eingraviert in Stein in tibetischer Schrift – eine dauerhafte

Erinnerung an ein Mantra.

55 Anwendungsbereiche

55 Selbstheilungskräfte freisetzen

56 Mantras für einen guten Schlaf

61 Hilfe bei Atemstörungen

63 Umgang mit Schmerz

65 Überwindung von Süchten

67 Umgang mit Ängsten

68 Halt in der Krise

70 Mantras als Trost

73 Mantras in der Schwangerschaft

75 Beispiele für Mantras76 Traditionell überlieferte Mantras

80 Beispiele für Mantras, die ichbevorzugt nutze

88 Die Chakras und ihre Keimsilben

89 Neu empfangene Mantras

94 Adresse, CDs und Literatur

95 Register

96 Über dieses Buch

Mohani Heitel mit dem Instrument Tanpura, auf dem sie ihre

Mantra-Gesänge begleitet.

Durch die Mantra-Gesänge erschließen sich neue Welten –

ferne, exotische Länder ebenso wie unerforschte innere Welten.

Mohani Heitel istÄrztin, Psychothera-

peutin und Musikerin.Mit ihren Mantra-

Gesängen schlägt sieeine Brücke zwischen

Ost und West undberührt Menschen auf

der ganzen Welt.

Vorwort

VorwortEs war vor mehr als zehn Jahren, dass ich zum ersten Mal den »Ruf desMantras« hörte. Beim Hessischen Rundfunk, wo ich im Kulturprogrammarbeite, war eine CD eingetroffen: The Mantra Calls You. Mohani Heitelsah mich vom Titelbild an, fast versteckt hinter ihrer Tanpura, diesembauchigen, verzierten indischen Saiteninstrument. War es ihr Blick, dermich neugierig machte? Ich legte die CD sofort in den Player. Mohanis Stimme klang aus demLautsprecher – und zog mich in ihren Bann. Als Musikwissenschaftlermit dem Fachgebiet Mittelalter kenne ich mich mit religiösen Gesängenrecht gut aus, und indische Musik gehört zu meinen Schwerpunkten beimRadio. Aber Mohanis Mantras – das war etwas Eigentümliches. IhreStimme schien unmittelbar zu mir zu sprechen, und die instrumentaleBegleitung schuf einen Raum wie ein friedvolles Sternenzelt.Damals betreute ich die wöchentliche Sendung »Meditative Musik«, undbald bekamen auch deren Hörer Gelegenheit, Mohanis Gesänge kennenzu lernen. An positive Reaktionen war ich zwar gewöhnt, doch diesmalgab es weit mehr Nachfragen als üblich. Die Menschen berichteten vonihren persönlichen Empfindungen beim Hören und waren an mehr inter-essiert: Wo bekomme ich die CD? Wann kann ich Mohani im Konzerterleben?

Brückenbauerin über Kontinente und Jahrhunderte

Im Konzert erlebte ich Mohani wenig später auch selbst. Aus dieser erstenBegegnung entwickelten sich ein herzlicher Kontakt und eine Freund-schaft. Ich begann zu verstehen, welch vielfache Brückenbauerin Moha-ni ist. Sie verbindet medizinisches und psychologisches Wissen zweierKontinente. Sie ist Ärztin, Psychotherapeutin und Musikerin. Ihre Musikwurzelt tief in der indischen Tradition, wirkt aber nie fremd, weil sichMohani auch der westlichen Tonwelt geöffnet hat. Damit entsteht sogareine Brücke über die Jahrhunderte, denn in der westlichen Musik kannteman ebenfalls die Kraft der Mantras – man nannte sie nur nicht so. Ganz abgesehen von den tiefen Wirkungen ihrer Musik hat mich immerwieder beeindruckt, wie Mohani es schafft, ihre langen Stücke in einem

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Vorwort

einzigen Zug zu singen und sich dabei selbst zu begleiten. Die Mantras –wie die Tausend Namen Vishnus – dauern oft mehr als eine Stunde, undsie hält die Spannung, ohne ein einziges Mal »auszusteigen«. Schon daranlässt sich ermessen, zu welcher meditativen Konzentration das Singenvon Mantras führt und welche spirituelle Kraft Mohani dabei entwickelt.Diese Kraft der Ruhe überträgt sich. Ich habe persönliche Erfahrungenmit Mohanis Gesängen gemacht, in Phasen großer Arbeitsbelastung, beischwierigen Entscheidungen und einmal sogar, als das Leben eines jungenMädchens im Operationssaal auf Messers Schneide stand. Auch dieRadiohörer spüren das Ungewöhnliche dieser Kraft. Immer wieder habeich Mohanis Neuerscheinungen in der »Meditativen Musik« vorgestellt,und jedes Mal übertrafen die Echos das Gewohnte bei weitem. Studentenberichteten von positiven Wirkungen beim Examensstress, Hausfrauenvon tiefer Ruhe im täglichen Chaos und Künstler von Inspiration beimMalen. In der Rundfunkabteilung wurde Mohani Heitel sprichwörtlich:Sie war die »meditative Nummer eins«.»Mohani« bedeutet Anziehung oder Attraktion. Nomen est omen – daskann ich in ihrem Fall voll und ganz bestätigen. Um so mehr freue ichmich, dass mit diesem Buch eine noch größere Anzahl von MenschenGelegenheit haben wird, Mohani Heitel kennen zu lernen und sich vomMantra rufen zu lassen.

Dr. Robert Lug, im Mai 2007

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Die Silbe »Om« ist in der östlichen Kultur

allgegenwärtig – wie beispielsweise hier als Lampe

mit eingearbeitetem »Om«-Symbol.

Ich denke heute, dass ohne die Entwick-

lung meiner Mantra-Gesänge – trotz allem,was ich tat und erlebte

– etwas Wesentliches inmeinem Leben gefehlt

hätte, das ich durchnichts anderes hätte

ersetzen können.

Einstimmung

Liebe Leser,Mantras sind mir seit meiner Kindheit vertraut. Sie haben mich durch dieverschiedenen Phasen meines Lebens begleitet – erst in Indien, späterdann in Deutschland. Ihre ganzheitlichen Heilwirkungen nutze ich seitvielen Jahren nicht nur für mich selbst, sondern auch als Ärztin für mei-ne Patienten. Für mich persönlich habe ich besonders im Mantra-Singeneinen idealen Weg gefunden, meine Spiritualität zu leben; seit langemgebe ich auch Konzerte in verschiedenen Städten Europas. Immer wieder wurde ich in diesem Zusammenhang gefragt, ob ich etwasüber Mantras geschrieben hätte. Bisher musste ich das verneinen. Mit die-sem Buch möchte Ihnen nun meine persönlichen Erfahrungen mit Man-tras berichten und Ihnen zugleich eine Anleitung für die Mantra-Anwen-dung geben. Mantras können uns im Leben eine große Hilfe sein. Sie erfahren hier,was Mantras sind, welche Arten es gibt, auf welchem kulturellen Bodendiese Tradition entstanden ist und was Sie als Einzelner mithilfe von Man-tras entsprechend Ihren inneren Bedürfnissen bewirken können. Mantrasbieten seelischen Halt, sind hilfreich bei der Bewältigung von Krankheitund Krise; sie helfen, sich gesund zu halten, sich von negativen Gefühlenund Ängsten zu befreien, Kränkungen zu überwinden, das Selbstvertrau-en zu stärken und Schmerzen zu lindern. Auch die intuitiven Fähigkeitenwerden durch die Arbeit mit Mantras gefördert. In vielen Kulturen werden noch heute Heilverfahren genutzt, die jenseitsder wissenschaftlich orientierten Schulmedizin liegen. Viele dieser Heil-ansätze – aus der indischen Kultur insbesondere ayurvedische Behand-lungsmethoden und Yoga-Übungen, zu denen auch die Mantra-Anwen-dung zählt – werden seit Jahrhunderten praktiziert. Meist haben siereligiös-philosophische Hintergründe und ein Grundverständnis vonKrankheit und Heilung, das sich von den modernen westlichen Ansichtenunterscheidet. Diese Ansätze berücksichtigen neben körperlichen Aspek-ten stets auch die seelisch-geistige Seite einer Krankheit und ihrer Entste-hung. Oft werden dabei Heilsprüche, wohltuende Klänge und Gesängeverwendet, die auf subtile Weise die Selbstheilungskräfte des Menschenanregen sollen. Heute werden diese alternativen Heilmethoden von vie-len Menschen in der westlichen Welt, auch von Therapeuten, geschätztund angewendet.

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Mantras haben,besonders in ihrergesanglichen Anwen-dung viele Facetten. Siesind künstlerischerAusdruck und Gebet,sie sind ein spirituellerWeg, zugleich haben sieHeilwirkung und kön-nen die seelische Ent-wicklung anstoßen.Mantras dienen auchals Meditationshilfe; sie schenken Ruhe und Selbstbesinnung im Alltag.

Einstimmung

Mantras sind Silben oder Worte mit besonderen Klangeigenschaften,deren Schwingungen heilsame Frequenzen enthalten. Ihre Heilwirkungberuht auf dieser Schwingungsenergie, die sich auf Körper, Geist und See-le entspannend und harmonisierend auswirkt. Zugleich sind Mantras andie schöpferische Urkraft gerichtete Gebete. Sie erfassen somit auch diespirituelle Dimension des Lebens und sprechen unser Herz und unsereSeele an. Mantra-Yoga wurde bereits in den alten indischen Schriftenimmer wieder als natürliches Hilfsmittel zur Verfeinerung unserer Sinneund zur Öffnung unseres Bewusstseins beschrieben. Von der Wirkung der Mantras kann jeder profitieren. Dank ihrer ent-spannenden Eigenschaften sind sie aber besonders Menschen in stress-reichen Lebenssituationen und auch schwangeren Frauen zu empfehlen.Ein Schwerpunkt der Mantra-Anwendung liegt allerdings darin, Gesund-heitsstörungen körperlicher wie seelischer Art zu beseitigen und zu lin-dern. Sie haben sich insbesondere bei folgenden Beschwerden als hilf-reich erwiesen:● Schlafstörungen und Albträume● Depressive Verstimmungen● Angststörungen● Sucht und Entzug● Atemstörungen● Störungen von Selbstwert und Urvertrauen ● Konzentrationsmangel● Vegetative Dysregulation, Stress und VerspannungMantra-Anwendungen sind hervorragend geeignet, auf unkomplizierteWeise einen Zugang zur eigenen Spiritualität zu finden, das Bewusstseinzu schulen und ein harmonisches Verhältnis zu sich selbst, seinen Mit-menschen und seiner Umwelt zu finden. Die Heilwirkungen der Mantrassind als Ergänzung der medizinischen Behandlung, als Vorbeugung undzur Unterstützung der Genesung zu verstehen. Die ärztliche Therapieersetzen sie jedoch nicht! Damit Sie Hörerfahrungen mit Mantras machen können, ist diesem Bucheine CD beigefügt. Sie können diese zum Mitsingen nutzen oder sie ein-fach als Hörentspannung anwenden. Wenn Sie die Mantra-Gesängeanhören, tun Sie dies bitte mit ungeteilter Aufmerksamkeit. Ich hoffe, dass dieses Buch Ihnen hilft, Zugang zu Mantras zu finden unddass diese Ihnen Freude und Kraft schenken und Ihr Leben bereichern.

Dr. med. Mohani Heitel

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Alles in der Natur hateinen Namen (Nam)und eine Gestalt(Rupa). Nam hat dieFunktion, die latenteKraft jeden Wesenswach- und herbeizu-rufen und mit derenEnergiefluss geistig inVerbindung zu treten.Dabei spielt dieAnwendung vonMantras eine zentraleRolle. Wenn Heilpflan-zen gesucht und ge-erntet wurden oder einMedikament zubereitetoder eingenommenwurde, durfte einMantra nicht fehlen.

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Leben mit MantrasKindheit in einem indischen Bergdorf

Mantra-Gesänge haben mich begleitet, seit ich denken kann. Schon alsKind hörte ich in dem nordindischen Bergdorf, in dem ich aufwuchs, mei-nen Vater täglich seine Mantra-Gebete singen. Die Menschen, die in die-ser abgelegenen Region lebten – zum Teil noch Naturvölker – fühltensich mit der beseelten und von Göttern belebten Natur eng verbundenund waren auf sie angewiesen. Krankheit wurde als Disharmonie mit derNatur und den in ihr waltenden übernatürlichen Kräften gesehen. Um ihre Krankheiten zu heilen, Schmerzen zu lindern und Wunden zuversorgen, bedienten sie sich überlieferter Kenntnisse über so gut wiealles, was die Natur hergab: Pflanzensäfte, Kräuter, Wurzeln, Baumrin-den und Samen. Für ernsthaftere Probleme psychischer und körperlicherArt gab es die Bergschamanen.

Erste Erfahrungen mit den Heilwirkungen der Mantras

Mein Vater hatte in unserem Dorf die Rolle eines Heilers übernommen,der den Bewohnern mit Rat und Tat half. Er hatte Kenntnisse der Volks-medizin und kannte sich mit Mantra-Anwendungen aus. Er sang bei derArbeit und bei allem, was er tat, Mantras und rief auf diese Weisebestimmte Gottheiten an. Auch zur Heilung benutzte er Mantras. Erglaubte, dass man mit ihrer Hilfe die Krankheit aus dem Leib vertreibenkönne. Oder er weihte Quellwasser mit Mantras und gab den Krankendiesen Trunk als Medizin. Sehr oft hatte er damit Erfolg. Ich verfolgte die-se Handlungen immer aufmerksam. Als mein Vater merkte, dass ichZugang zur spirituellen Welt hatte, gab er mir ein Mantra und weihtemich in die Besonderheiten und Wirkungsweisen der Mantras ein. Ererklärte mir alles, was damit zusammenhängt. So begann ich selbst, Man-tras zur Verehrung der Götter zu singen. Einmal begleitete ich meinen Vater, als er für einen Kranken, der Bauch-schmerzen hatte, ein Mantra sprach und ihm dabei mit der rechten Handdreimal über den Bauch strich, was dessen Schmerzen deutlich linderte.Ich bat ihn, mir dieses Mantra zu verraten, und versprach, es geheim zu

Regelmäßig beiAnbruch der Dunkel-

heit übte ich eine Zere-monie für die Tulsi-Pflanze aus. Dabei

entwickelte ich einerichtige Beziehung zuihr. Ich glaubte, dass

sie mein Gebet geduldiganhörte.

halten und nur im Notfall zu gebrauchen. Daraufhin gab er mir einigegeheime Heil-Mantras. Der Glaube an deren Wirksamkeit war so fest inmir verankert, dass ich sie selbst bei Kranken anwendete. Bald durfte ich,wenn er nicht zu Hause war, stellvertretend für ihn die täglichen mantri-schen Gebete verrichten. Das tat ich sehr gerne, es erfüllte mich mit Stolz.

Begegnung mit einer Heiligen

Mein Vater hatte auch eine Pflanze, Tulsi, eine wilde Basilikumart, dieKrishna besonders gemocht haben soll. Tulsi wird sowohl als Heilpflanzeals auch als heilige Pflanze betrachtet: Was heilt, ist heilig. Diese Pflanzewird verehrt, mit Mantras verleiht man ihr zusätzliche Heilkräfte. IhreBlätter sollen den heilen, der ihre heiligen Kräfte erweckt, sie schätzt undverwendet. Ich hatte die Aufgabe, sie täglich mit einer Butterlampe zuumkreisen und dabei Mantra-Gebete zu singen. Für mich war das vongroßer Bedeutung, und es forderte ein gewisses Maß an Disziplin. Eines Tages lauschte ich einer Kuhhirtin, die auf einem entfernten Berg-hang ein Mantra sang. Ihr Gesang hallte zu uns herüber und ergriff michso, dass ich sie unbedingt kennen lernen wollte. Sie musste etwas voneiner anderen Realität wissen, sonst hätte sie nicht so innig singen kön-nen. Weil es so weit entfernt war, begleitete mich mein Vater später zu derSängerin dieses freudigen und unbekannten Gesangs. Die Begegnung warfür mich sehr wichtig, ich hatte großen Respekt vor dieser geheimnisvol-len Frau. Sie freute sich über unseren Besuch und begann, frisches Gemü-se aus ihrem Garten zu kochen. Beim Essen verriet sie mir, dass sie Gottoft als inneres Licht wahrnehme und dass sie alle Bindungen zur Weltabgelegt habe. Das Singen dieser Lieder zur Verehrung Gottes sei ihr Weg,das Gemüt zu reinigen. Dieser Abend war mir unvergesslich. Ich glaubtefest, einer liebevollen Heiligen begegnet zu sein.

Heilerin mit Wasser und WortIch war die Einzige von meinen Geschwistern, die studieren durfte. Ichmachte einen »Master of Science« in organischer Chemie und begann, imBergdistrikt Pauri Gharwal zu unterrichten. Abends saß ich oft mit Freun-den zusammen und sang die Lieder, die ich damals komponiert und

10 Leben mit Mantras

So begleiteten mich dieheiligen Gesänge vonklein an. Meine spiri-tuelle Sehnsucht wurdedabei immer größer. Alsjunge Frau hatte ichbereits mehr als hun-dert spirituelle Lieder(Bhajans) komponiert,die in einem Buch ver-öffentlicht wurden.Dadurch wurde ichetwas bekannter underhielt viele Einladun-gen, Vorträge überMantra-Yoga und denWeg geistiger Hingabeim Gesang zu halten.

Quelle seelischer Kraft

geschrieben hatte. Im Laufe der Zeit kamen immer mehr Menschen her-bei, um diese Lieder zu hören. Und immer häufiger suchten mich vorallem Frauen auf, die geheilt werden wollten. Sie glaubten, dass meineGesänge heilende Kraft hätten und dass ich Ihnen helfen könne. Also wendete ich das an, was ich bei meinem Vater gelernt hatte. Da ichoft keine Zeit fand, Kräuter zu sammeln, nahm ich stattdessen ein Glasfrisches Quellwasser zu Hilfe. Das Wasserglas in der Hand, sang ich einMantra. Auf diese Weise erhielt das Wasser die Schwingung des Mantrasund wurde zu einem Heilwasser. Dieses gab ich den Hilfesuchenden zutrinken. Wir alle glaubten an seine heilende Kraft. Das sprach sich herum,und man begann, mich Heilerin mit Wasser und Wort zu nennen. In die-ser Zeit wurde mir bewusst, dass ich lieber Medizin hätte studieren sollen.

Zum Medizinstudium nach Europa

Anfang der 1970er Jahre wurde ich nach England eingeladen. Von dortaus hielt ich Vorträge in vielen Städten Europas, so auch in Deutschland,wo ich schließlich blieb, um Medizin zu studieren. Ich war glücklich unddankbar, als ich im Studium den Körper, dieses Wunderwerk der Schöp-fung, kennen lernte. Die vielen aufeinander abgestimmten Prozesse desOrganismus und seine Anatomie brachten mich immer wieder zum Stau-nen. Es war, als öffnete sich mir ein neues Universum. Während dieserZeit starb mein Vater, was mich sehr traurig machte, denn ihm verdankeich meine Spiritualität. Sein Mantra zur Heilung von Bauchschmerzenhabe ich noch gelegentlich bei meiner Mutter angewendet, wenn sieBeschwerden hatte und andere medizinische Hilfen nicht in Anspruchnehmen wollte. Sie glaubte, dass Mantras ihr genauso gut helfen könnten.Oft denke ich daran, wie sehr sich mein Vater über meine heutigen Man-tra-Gesänge gefreut, sie geschätzt und genossen hätte.

Wie ich eigene Mantras empfingWährend meiner Tätigkeit als Ärztin wurde mir immer bewusster, dassman im Alltag unbedingt zu innerer Ruhe und Selbstbesinnung findenmuss – insbesondere, um im helfenden Beruf nicht selbst zum hilflosenHelfer zu werden. Diese Gefahr ist groß; denn wer anderen hilft, wird für

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Auch die Natur ist eine uner-

schöpfliche Quelle der Kraft.

Beim Anblick ihrer vollkom-

menen Schönheit gelangen wir

ganz zu uns selbst.

Leben mit Mantras

seine eigenen Bedürfnisse schnell unempfindlich. Burnout ist in diesenBerufen keine Seltenheit. So suchte ich nach einer Quelle, aus der ich see-lische Kraft schöpfen könnte. Ich begann, mir aus der Tradition bekannte Mantras immer wieder so zusingen, bis sie eine Form annahmen, mit der sich ihre Kraft und Schwin-gung auf das Gemüt übertrug. Ich sang langsam und wiederholte dasMantra immer wieder. Zwischen den einzelnen Sätzen machte ich Pau-sen, um die Kontemplation zu vertiefen. Auf diese Weise wechseln sichMantra-Gesang und Stille ab. Dieser Stil erwies sich für mich im Laufeder Zeit als eine wirkungsvolle Art des Mantra-Singens und wurde auchzur Basis weiterer Gesänge. So gelang es mir, meine Gedanken zu sam-meln, und eine beruhigende und entspannende Wirkung zu erleben.Zudem hatte ich ein großes Bedürfnis danach, in der Natur zu sein. IhreSchönheit inspirierte mich dazu, die Mantra-Gebete so zu singen, dasssich ihre Kraft und die darin enthaltene Stimmung auf mich übertrugen.Ich dachte nur an den Inhalt der Mantras und besann mich dabei aufmich selbst. Das gab mir innere Kraft und Selbstvertrauen. Es war, als obich zu Gesang gewordene Meditation hörte.Später nahm ich diese Gesänge auf, um ihre Art und Melodie festzuhal-ten und sie im Alltag wieder zur Erlangung der Ruhe zu gebrauchen.Zusätzlich begleitete ich sie mit dem Saiteninstrument Tanpura. Mal sangich, mal hörte ich die Aufnahmen zur Meditation an. So bereichertenMantra-Gesänge meinen Alltag.

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Auf der Suche nacheiner Quelle der Kraft

probierte ich einigesaus, besann mich aber

bald auf die Mantra-Lehre zurück. Die

mechanische Wieder-holung der Mantrasallerdings, wie sie in

Indien bei vielen fest-lichen Zeremonien

üblich ist, betrachteteich eher kritisch.

Spirituelle Lieder derHingabe hatte ich jaschon geschrieben.Aber Mantras kannman nicht komponie-ren, es gibt sie schon,bevor sie sich manifes-tieren. Sie sind eingöttliches Geschenk.Allein dafür, dass ichderartige Momente derFreude und Glückselig-keit erleben durfte, hatsich das Leben gelohnt!Oft musste ich vieleJahre warten, bis ichein weiteres Mantraempfing.

Jeden Laut des Mantras verinnerlichen

Klänge aus einer anderen Welt – ein göttliches Geschenk

Wenn ein neuer Gesang in mir entstand, nahm ich ihn auf, um ihn mirimmer wieder vergegenwärtigen zu können. Sobald ich ihn später anhör-te, war es, als käme er aus einer anderen Welt. Er holte mich sofort ausdem hektischen Alltag heraus und geleitete mich in einen meditativenZustand. Das kontemplative Anhören wurde für mich zur Grundlage derMeditation. Meistens konnte ich den Tag damit abschließen und währenddieser Selbstbesinnung einschlafen. Es waren große, bereichernde Momente in meinem Leben, wenn ein neu-es Mantra geboren wurde und Gestalt annahm. Oft kamen die Wortezusammen mit einer Melodie. Als ob es sie im Kosmos bereits fertig gege-ben hätte – nur dass meine Seele sie zum ersten Mal hörte und meineKehle sie zum ersten Mal sang. Diesem Ereignis ging jedes Mal einebesondere Freude und Bewunderung voraus. Die Seele muss frei sein vonweltlichen Sorgen, Plänen und Verhaftungen, die das Gemüt besetzt hal-ten: Erst dann kann die Seele das Mantra singen. Ich war erfüllt vonDankbarkeit, wenn ein neues Mantra durch mich erklang, bereichert vondiesen Sätzen, die nur so und nicht anders hätten lauten können. Die Poe-sie der Mantras erschafft sich selbst und ebenso ihre Melodie, die die See-le erfüllt.

Halt in der Krise – denn auch Ärzte werden krank

Als ich vor einigen Jahren schwer erkrankt war, erwiesen sich die Man-tras als wichtige Stütze für mich. Ich hatte große Schmerzen, konnte nichtmehr laufen und war ans Bett gefesselt. Die ärztliche Hilfe erschöpfte sichdarin, dass ich Medikamente bekam. Glücklicherweise konnte ich zuHause bleiben, da meine Schwester Krankenschwester ist. Wenn sie mirInfusionen gab, hörte ich dabei Mantra-Gesänge und wiederholte inner-lich das Mantra, dem ich gerade lauschte. So fand ich Ruhe und konntebedrohliche Gedanken loslassen. In dieser schweren Zeit erfuhr ich alsÄrztin am eigenen Leib, wie belastend nicht nur die Krankheit selbst, son-dern auch die damit verbundenen Ängste und Unsicherheiten sind. Undwie einsam Krankheit machen kann. Wenn sie andauert, gewöhnen sichMitmenschen und Familie daran – der Patient aber nicht. Er erlebt seineKrankheit täglich neu. Die Mantra-Gesänge gaben mir in dieser gesund-heitlichen Krise seelischen Halt und halfen mir, nicht zu verzweifeln.

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Was sind Mantras?Am Anfang war der Klang

Nach der indischen Kosmologie ist die Schöpfung aus einem Urklang,dem so genannten Nada Brahma, entstanden. Die Urenergie kam inBewegung und manifestierte sich in unendlichen Klangformen. DieseSchwingungen finden sich nun in allem, was ist. Demnach hat jede Gott-heit, jedes Lebewesen, sogar jede Materie auch in ihrer noch so subtilenForm eine eigene Klangschwingung, aus der sie entstanden ist. Auch in der konkreten Welt hat jedes Geschöpf, jedes Ding seine eigenenLaute. Sie sind spezifisch und unverwechselbar, wie beispielsweise dieStimme eines Menschen. Der biblische Satz: »Am Anfang war das Wort,das Wort war mit Gott, in ihm war das Licht und das Licht das Leben desMenschen« deutet auf ein ähnliches Geheimnis hin.

Alles ist Klang

Alle Elemente klingen, selbst Holz, Metall oder Stein unterscheiden sichu. a. in ihrem Klang – dies ist physikalisch bis in den Molekularbereichnachvollziehbar. Klang setzt sich aus feinen Schwingungen zusammen, jenach Beschaffenheit der Materie. Den ältesten indischen Schriften, denVeden, zufolge besteht nicht nur die äußere, sondern auch unsere persön-liche, unsere innere Welt aus diesen Schwingungen, dem kosmischenUrklang. Allerdings nehmen wir diesen Urklang im Alltag normalerweisenicht wahr. Mithilfe von Mantras können wir aber mit diesen Schwingungen inBerührung kommen und ihre Resonanz erfahren. Denn ein Mantra ver-körpert den Klang, der mit dieser göttlichen Schwingung in Resonanzsteht. Nur weil auch wir diesen Schöpfungsklang in uns tragen, kann er inuns anklingen und in unserer Seele widerhallen. Allerdings müssen dafürunser Geist und unsere Seele frei sein von materiellen oder weltlichenVerhaftungen in den Gedanken. Das ist und war seit alten Zeiten das Zielder Yogis und der Weisen: Sie suchten die innere Stille, um dem göttlichenKlang lauschen zu können und um so eine Verbindung zur höherenInstanz aufzunehmen.

»Schläft ein Lied inallen DingenDie da träumen fortund fortUnd die Welt hebt anzu singenTriffst du nur das Zau-berwort.«Joseph v. Eichendorff

Was sind Mantras?

Herkunft und Beginn der Mantra-Tradition

Die Mantra-Tradition stammt aus dem Indien der alten vedischen Zeiten.Sie hat sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt und fortgesetzt.Erleuchtete Weise oder Seher (»Rishis«) widmeten ihr Leben der Selbst-findung und der Erkenntnis des Lebensgeheimnisses. Sie empfingen beiihren spirituellen Übungen intuitiv göttliche Weisheiten und erlebten denKlang der Schöpfung. Diese Erfahrungen drückten sie in Mantras aus.Diese Mantras nutzten sie zu weiteren Übungen in geistiger Disziplin undum ihre Gedanken zu sammeln. So kamen die Weisen zu Erkenntnissen,die sie in der verdichteten Form von Mantras wiedergaben. Mantraswaren somit die innere Erfahrung höherer Sphären und zugleich auch derWeg dorthin. Sie übertragen geistige Energie in Form von Lauten.

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ResonanzResonanz beruht auf Schwingung. Jeder Ton erzeugt Schwingun-gen, die ihrerseits wieder gleichartige Schwingungen oder Wellenim Raum hervorrufen. Auch ein Gegenstand kann einen Wider-hall bei einem anderen Gegenstand auslösen, der die gleicheSchwingung hat. Wenn man auf einem Musikinstrument, etwadem Cello oder der Tanpura, spielt, bringt die Schwingung der Sai-te dessen Resonanzkörper in Schwingung. Dadurch wird der Tonhörbar. Die Resonanzwirkung eines Mantras umfasst aber nichtnur unseren Körper; Gemüt und Seele werden ebenfalls inSchwingung versetzt. Intoniert man das höchste Mantra in einermeditativen Haltung, kann es in unserem Bewusstsein den gött-lichen Klang zum Klingen bringen und in unserem Herzen diegöttliche Kraft erkennen und erwecken. Bis man dahin gelangt,bedarf es allerdings längerer Übung. Aufgrund dieser Resonanzgesetze ist es sehr wichtig, die überlie-ferten Sanskrit-Mantras nicht zu übersetzen. Da sie auf Klangbasieren, verlieren sie sonst ihre Wirkung. Durch die Sanskrit-Intonation wird der Sinn verstärkt und der Inhalt nicht nur mit demäußeren, sondern auch mit dem inneren Ohr wahrgenommen.

Früher wurden Gebetein ihrer ursprünglichen

Sprache mit der ent-sprechenden geistigen

Haltung intoniert. ImLaufe der Jahre haben

viele Gebete ihreAttraktion für die

Menschen verloren,weil sie in Alltagsspra-

chen übersetzt undsomit auf ihre äußereBedeutung reduziert

wurden.

Das Sanskrit-Wort»Mantra« setzt sich auszwei Silben zusammen:»Man« steht für Gemütund »tra« für Befrei-ung. Somit ist ein Man-tra ein Wort oder eineWortkombination mitmystischem Inhalt undeiner Resonanzwirkung,die das Gemüt vonGedanken befreit.

Ausdruck innerer Wahrheit

Wort und Klang

Jeder Buchstabe und jede Silbe hat einen eigenen Klang und eine eigeneResonanz. Besonders deutlich wird das, wenn man sie als Worte intoniertoder singt. Neben den Wörtern, die wir alltäglich verwenden, gibt es sol-che mit einem besonderen Klang, einer besonderen Resonanz, und einermetaphysischen Bedeutung. Im Sanskrit werden sie als Mantras bezeich-net – Worte, die dem Menschen helfen können, seinen Geist zu sammeln.Ein Mantra ist eine verdichtete Weisheit. Seine Formulierung ist nur indiesem speziellen Wortlaut und in dieser bestimmten Wortfolge undnicht anders möglich. Ein Mantra kann aus einer besonderen Silbe oderaus so genannten Keimsilben bestehen; es kann auch der Name einerGottheit sein. Es kann eine kurz gefasste Hymne, eine Lobpreisung, eineBitte oder eine mystische Lehre beschreiben. Mantras können auch einespirituelle Formel, eine Lebensweisheit und den Leitsatz einer Philoso-phie ausdrücken. Entscheidend ist die besondere Klangwirkung, die einMantra neben seiner Aussage besitzt. Ein Mantra ist der seelische Gefühlsausdruck einer intensiv erlebten inne-ren Wahrheit. Gesprochen oder gesungen bringt es seine Umgebung zumVibrieren. Aufgrund der natürlichen Resonanzgesetze verstärkt sich diesezarte Vibration und hallt in uns wider. Ein subtiler Energiestrom kommtin Fluss und stellt eine Verbindung zwischen unserer inneren und deräußeren Welt her.

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Wie sehr Klänge Körper und

Geist berühren und beeinflussen,

kann man auch an Klangschalen

sehen, die in der östlichen Medi-

zin ebenfalls zur Heilung einge-

setzt werden.

Mantras wurden überJahrhunderte hinweg

mündlich an ausgewähl-te Schüler weitergege-

ben. So lebten sie übereine lange Zeit fort,

ohne niedergeschrie-ben zu werden. Diese

»gehörte Wissen-schaft« nannte sichShruti. Dank dieser

Tradition konnten Man-tras auch über die Zei-

ten hinaus ihre Kraftbewahren. Erst später

wurden sie schriftlichfestgehalten.

Vergegenwärtigung des Mantras durch Wiederholung

Um das spirituelle Erlebnis herbeizuführen, sprachen und sangen dieRishis die Mantras wieder und immer wieder. So vergegenwärtigten siesich die empfangene Weisheit und festigten die Erinnerung daran.Wiederholung ist auch Verweilen. Je länger man bei dem Inhalt und derSchwingung des Mantras verweilen kann, desto mehr verstärkt sich auchdessen Wirkung. Dies führte mit der Zeit zu der charakteristischenWiederholung der Mantras. Diese unbeirrte Wiederholung wird auch Japa genannt. Sie geschieht inmeditativer Stimmung – entweder still, also nur in Gedanken, oder indemsie gesprochen, gesungen oder gehört wird. Diese Repetition bewirkt,dass der gedanklich im Alltag verstrickte, wandernde Geist an das Mantragebunden wird. Das Mantra bleibt somit im Bewusstsein gegenwärtigund lässt frei driftenden, assoziativen Gedanken keinen Raum, sich zuentfalten. Auf diese Weise wird eine meditative Wirkung erreicht, denndas Gemüt ist ganz mit der einfachen, wirkungsvollen Aufgabe beschäf-tigt, sich auf nichts anderes als auf die Wiederholung des Mantras zu kon-zentrieren. Ich sehe diese Form der Meditation als einen Akt der Hingabean das Göttliche. Allerdings sind wir im Alltag meist weit davon entfernt. Mantras werden nicht zum täglichen Gedankenaustausch gebraucht, siedienen ausschließlich dem Austausch auf seelischer Ebene. Wer sieanwendet oder anhört, sollte sich ihren metaphysischen Inhalt stets mitkontemplativer Haltung vergegenwärtigen.

Sanskrit – Sprache der Mantras

Die Sprache, in der die meisten traditionellen Mantras überliefert sind, istdas Sanskrit. In dieser Sprache können religiöse und philosophische Textevielfältiger ausgedrückt werden, da sie einen besonders differenziertenWortschatz besitzt. Ihr umfassendes Vokabular ermöglicht eine sehr prä-zise Beschreibung der Dinge – was gut passt, da unsere Wahrnehmung imSpirituellen differenzierter und subtiler ist als in Alltagsdingen. Das Sans-krit ist daher auch ein vortreffliches Medium für Dichtung und abstraktes

18 Was sind Mantras?

Viele Inder, die selbstkein Sanskrit können,empfinden heute nochgroße Hochachtung fürden deutschenSprachwissenschaftlerMax Müller, der im19. Jahrhundert zahlrei-che Sanskrit-Schriftenübersetzt und sie damitder westlichen Weltzugänglich gemachthat. Um Mantras zuerlernen, braucht manaber nicht Sanskritstudiert zu haben.

In der Sprache der Götter

Denken. Durch die besondere Zusammensetzung der Vokale und Konso-nanten entstehen wohlklingende und resonanzreiche Worte. Schon alleindas Anhören von Sanskrittexten ist wohltuend. Sanskrit wird auch alsDeva Bani, als Sprache der Götter bezeichnet. So gibt es in dieser Spracheallein für Gott unzählige Wörter. Im Mahabharata gibt es eine Stelle, ander tausend Namen für Gott und seine Attribute genannt werden, wobeijeder Name eine mantrische Wirkung hat. Manche Ausdrucksformen des Sanskrit sind unübertrefflich. Auch einigeeuropäische Sprachen – die indogermanischen – haben ihre Wurzeln indieser uralten Sprache, die keine Alltagssprache, sondern vor allem derreligiösen Rezitation, für Mantras und Hymnen vorbehalten ist. Sämtli-che philosophische und spirituelle Werke sind in Sanskrit verfasst, auchdie uralten Heiligen Schriften, u. a. die Veden, die Upanishaden, die Bha-gavat Gita, das Mahabharata und Srimad Bhagvatam. Auch alle Mantras, diein diesem Buch erwähnt werden, sind in dieser Sprache – die traditionellüberlieferten ebenso wie meine neu entstandenen Mantra-Gesänge.

Sanskrit wirkt über kulturelle Grenzen hinaus

Die besondere Klang- und Resonanzwirkung, die mantrische Gebete inihrer Originalsprache entfalten, bewirkt, dass der Mensch sich tief in sei-ner Seele und in seinen Gefühlen angesprochen fühlt, insbesondere,wenn sie in gesanglicher Form wiederholt werden. Dies bestätigen auchdie Reaktionen, die ich auf Konzerte oder nach Übertragungen meinerGesänge im Radio erhalte. Obwohl die wenigsten Hörer Sanskrit verste-hen, so sagen viele, dass sie auf irgendeine Weise alles verstanden hätten.Was sie erreicht, ist die Stimmung oder die Schwingung der Mantra-Gesänge, die die Grenzen der Sprache überwindet und den Menschendirekt im Herzen anspricht. Das Sanskrit hat durch seine unübertroffeneAusdruckskraft eine Sonderstellung unter den Sprachen.

Heilige Schriften – Veden, Upanishaden und die »Bhagavat Gita«

Die Upanishaden stellen eine Sammlung philosophischer Schriften dar,die zwischen 700 v. Chr. und 500 v. Chr. entstanden sind. Ihre Sprache istdas Sanskrit. Sie bilden die Grundlage der indischen Philosophie und sind

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Auch für Nicht-Hindusgehört die »Bhagavat

Gita« zu den großenreligionsphilosophi-

schen Dichtungen derWeltliteratur. Der deut-sche Philosoph ArthurSchopenhauer schrieb

darüber: »Es ist dieerhabenste Lektüre,

die auf der Welt möglichist; sie ist der Trost mei-

nes Lebens gewesenund wird der meines

Sterbens sein.«

Was sind Mantras?

sowohl in Prosa als auch in Versform verfasst. Die Upanishaden setzensich mit Fragen der Existenz und mit Fragen nach dem Sinn des Daseinsauseinander. Dazu gehört auch die Beschreibung des Wesens von Brah-man – der unendlichen, unvergänglichen, unsterblichen und reinen Wel-tenseele, die in allen Dingen steckt und keinen Anfang und kein Endekennt. Viele, auch westliche Philosophen und Denker, haben sich mit denUpanishaden beschäftigt. Die Upanishaden sind Bestandteil der Veda – dem »Wissen« – der heiligenSchriften des Hinduismus. Das Wissen, das die Weisen vor vielen Jahr-hunderten als Offenbarungen empfingen, wurde lange Zeit ausschließlichmündlich weitergegeben. Sie wurden vermutlich erst etwa 500 n. Chr.niedergeschrieben. Die Veden haben in Indien eine ähnliche Stellung wie die Bibel im Chris-tentum. Allerdings haben sie für die Menschen auch heute noch lebens-beratenden Charakter, denn in den Veden werden auch philosophisch-spirituelle und ethische Fragen behandelt. Die UNESCO hat dievedischen Gesänge als Meisterwerk des immateriellen Erbes zum Welt-kulturerbe ernannt. Viele Hindus betrachten die Lehren der Bhagavat Gita als Quintessenz derVeden. In dem 18 Kapitel umfassenden Epos werden Suchenden inumfangreicher Weise die verschiedenen Wege zum Ziel sowie verschie-dene Möglichkeiten des Handelns beschrieben. Die Bhagavat Gita hat das

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Sprache und DichtungIm Alltag verwenden wir Sprache als Werkzeug, um Informatio-nen auszutauschen, zur Kommunikation. Ein Dichter nutzt dieSprache auf einer höheren Ebene. Auch er wiederholt Klangähn-lichkeiten im Reim. Oder aber er verwendet, um seinen Sinn zuvermitteln, ein Wort, das wohl das Gleiche bedeutet, aber andersklingt. Er nutzt somit die Klangwirkung der Sprache, ähnlich wiees bei der Mantra-Anwendung der Fall ist. Der Künstler kannfreier mit der Sprache umgehen, als dies im Alltag möglich ist. Erkann Worte, Klänge und mögliche Assoziationen nach Beliebengestalten und so Altbekanntes in neuem Licht erscheinen lassen.Auf diese Weise spricht er mehrere und tiefere Ebenen des Men-schen an und eröffnet ihm und sich selbst einen gefühlsmäßigenZugang zur Welt und zu sich selbst.

»Oh Sohn Kuntis, ichbin der Geschmack imWasser, die Lichtstrah-len von Sonne undMond, der Urklang Om(Pranava) aller Wesen,Klangschwingung imÄther und die schöpfe-rischen Fähigkeiten derMenschen.«»Bhagavat Gita«, Kapitel 7, Vers 8

Erleben des göttlichen Prinzips

indische Geistesleben stark beeinflusst. Bis heute wird kaum ein Text derHinduliteratur so viel gelesen, so oft auswendig gelernt und so häufigzitiert wie diese Verse.

Die Ursilbe »Om«Das bekannteste und erhabenste Mantra ist das »Om«. Den vedischenSchriften zufolge trägt diese einfache Silbe den göttlichen Klang undsomit die Kraft der Schöpfung in sich. Das »Om« wird der einen univer-salen, allgegenwärtigen kosmischen Einheit Gott zugeordnet. Wird esrichtig intoniert und in seiner Wirkung realisiert, so führt dies schließlichzum Erleben des göttlichen Prinzips. Von diesem Mantra wird in sämt-lichen wichtigen altindischen Schriften gesprochen. Das »Om« ist die klangliche Entsprechung der Urschwingung, die auchPranava oder Omkara genannt wird. In alten Zeiten konnten sich dieWeisen durch Sammlung ihrer Gedanken in einen reinen Bewusstseins-zustand versetzen, der sie dazu befähigte, diese Urschwingung zu hören.Zwar erfüllt sie seit Menschengedenken die ganze Schöpfung, den ganzenKosmos, aber nicht jeder war und ist in der Lage, sie wahrzunehmen.Meist sind die Nebengeräusche der Gedanken zu laut und lenken vomreinen Klang ab. Selbst den Weisen ist und war das »Om« nicht immer zugänglich. Durchihre geistigen Übungen, das stetige Wiederholen der Mantras aber schaff-ten sich die Rishis eine Öffnung, über die sie sich diesem Urklang immerwieder nähern können. Diese Öffnung besteht, wenn der meditativeZustand erreicht ist. Die Erfahrung des »Om« als Urklang war eine ein-heitliche Erfahrung der Weisen. Sie erlebten den Urklang als allgegen-wärtig und raumfüllend. So heißt es in der Bhagavat Gita, Vers 10.25:

Unter den großen Sehern bin ich Bhrigu,Unter den Worten bin ich die geheime Silbe »Om«, Unter allen Anbetungsformen bin ich die Wiederholung von Mantras,Unter den Bergmassiven bin ich der Himalaya.

Die Intensität des »Om« ist auch auf körperlicher zu Ebene erklären: DieVibrationen, die durch die Intonation des »Om« entsteht, breiten sich inBrust, Halsbereich und Schädel aus. Dabei rufen sie eine Resonanz her-

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Wie nebenstehendesBeispiel zeigt, gibt es

zu einigen wissen-schaftlichen Erkennt-

nissen erstaunlicheParallelen zu den Aus-

sagen aus alten indi-schen Lehren über das

Bewusstsein.

Was sind Mantras?

vor, die das zentrale Nervensystem und die Drüsen zart zum Vibrierenbringt. Die feinen Schwingungen werden von den Körperzellen aufge-nommen, und diese werden dadurch angeregt. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Folgendes: Der allererste,unwillkürliche Laut, den ein Kind nach seiner Geburt macht, ist das »A«.Das »Om« wird mit O und M geschrieben und gesprochen, doch diese bei-den Buchstaben klingen wie ein zusammengesetzter Laut aus A, U undM. In ihnen liegen Anfang und Ende – Alpha und Omega – im A und Mist beides enthalten.

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Die verschiedenen Zustände des Bewusstseins In einer der alten Schriften, der Mandukya Upanishad, werden diedrei Buchstaben A, U und M, die phonetisch das »Om« ausma-chen, verschiedenen Bewusstseinszuständen zugeordnet. Dem-nach korrespondiert es mit den Zuständen des Wachens, des Träu-mens, des Tiefschlafs und der tiefsten Ruhe:● »A« repräsentiert den Wachzustand (Vaisvanara) unseres

Bewusstseins. ● »U« steht für den Traumzustand (Taijasa).● »M« verkörpert das Bewusstsein im Tiefschlaf (Prajna). In die-

sem sind Wachzustand und Traumzustand enthalten. Darüber hinaus nennen die Schriften eine weitere, vierte Bewusst-seinsstufe, den Zustand tiefster Ruhe (Turiya). Diese Stufe beob-achtet die drei vorangehenden Bewusstseinszustände. Sie ist daswahre Selbst des Menschen – Atman – und mit der Urschwingungvon »Om« identisch.Auch die moderne Neurophysiologie unterscheidet verschiedeneBewusstseinszustände, die von den entsprechenden Hirnwellenim Elektroenzephalogramm (EEG) abgeleitet werden können:Im Wachzustand herrschen Beta-Wellen (38–15 Hz) und Alpha-Wellen (14–8 Hz) vor. Theta-Wellen (7–4 Hz) zeigen sichbesonders im Traumzustand, Delta-Wellen (3–0,5 Hz) herrschenim Tiefschlaf vor. Der vierte Bewusstseinszustand, von dem in derMandukya Upanishad die Rede ist, ist der westlichen Wissenschaftnicht bekannt. Dies ist der Bereich der ursprünglichen »Om«-Schwingung.

Die moderne wissen-schaftliche Bewusst-seinsforschung ist im

Grunde ein indirekterVersuch, in die spiri-tuelle Dimension zu

gelangen.