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Die Hypostase des Politischen und das Prinzip des Faschismus: Zur Kritik des Politischen nach Michel Henry «Die Hypostase des Politischen und das Prinzip des Faschismus: Zur Kritik des Politischen nach Michel Henry» by Michael Staudigl Source: Studia Phaenomenologica (Studia Phaenomenologica), issue: IX / 2009, pages: 379401, on www.ceeol.com .

Die Hypostase des Politischen und das Prinzip des

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Page 1: Die Hypostase des Politischen und das Prinzip des

 

Die Hypostase des Politischen und das Prinzip des Faschismus: Zur Kritikdes Politischen nach Michel Henry

«Die Hypostase des Politischen und das Prinzip des Faschismus: Zur Kritik desPolitischen nach Michel Henry»

by Michael Staudigl

Source:Studia Phaenomenologica (Studia Phaenomenologica), issue: IX / 2009, pages: 379­401, onwww.ceeol.com.

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STUDIA PHÆNOMENOLOGICA IX (2009), 379–401

DIE HYPOSTASE DES POLITISCHEN UND DAS PRINZIP DES FASCHISMUS: ZUR KRITIK DES

POLITISCHEN NACH MICHEL HENRY1

Michael STAUDIGL (Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Wien)

Abstract: In this article I discuss Michel Henry’s concept of the political. I fi rstly show how it is derived within his radical phenomenology, secondly give an outline of his respective critique of totalitarianism, and fi nally question whether his approach is appropriate for adequately thinking the relationship between the social body and its symbolization, which is of paramount impor-tance for any theoretical consideration of the political. Keywords: Michel Henry, phenomenology of the political, fascism, body im-age, unifi cation, purifi cation

Was die Aporie bildet, ist das Problem der Re-präsentation im allgemeinen und durch die besondere Identifi kations weise mit diesem dasjenige der Re-präsentation des Lebens.2

Die folgenden Überlegungen gehen der Frage nach, welchen Ort das „Politi-sche“ im Denken Michel Henrys einnimmt. Seine radikal phänomenologische Konzeption fragt, wie hier eingangs nur in aller Kürze erinnert werden muss, nach den konkreten Vollzugsweisen des leiblich-lebendigen Selbstgegebenseins von Subjektivität. Dass lebendige Subjektivität sich aff ektiv selbst über-geben sei impliziert dabei negativ, dass sie sich in der Distanz transzendenter Welteröff nung

1 Der vorliegende Text wurde im Rahmen des vom österreichischen Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung geförderten Forschungsprojektes „Th e Many Faces of Violence“ (P 20300) realisiert.

2 M. Henry, „Die phänomenologische Methode“, in: ders., Radikale Lebensphänomenologie, Freiburg/München: Alber, 1992, S. 63–186, hier S. 172.

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und intentionaler Sinngenese zugunsten irreeller Sinnkorrelate selbst vergisst, wie Henry formuliert.3 Man kann die leitende Frage demzufolge auch anders — nämlich direkter — stellen: Kann uns diese „materiale Phänomenologie“, die der „selbständigen Gabe“ lebendiger Subjektivität diesseits erkennender Selbst-transzendenz und aller daraus resultierenden noematischen Sinnsubstitutionen nachfragt, einen adäquaten Zugang zum Politischen als solchem eröff nen?

Kann dem Politischen lebensphänomenologisch betrachtet also überhaupt ein eigener, selbständiger ontologischer Status zukommen? Fragt man so, gilt es in eins nachzufragen, worin dieser Status bestehen könnte. Henrys Ant-wort fi ndet sich im Verweis auf die „lebendige Praxis“ der Individuen. Denn lebensphänomenologisch betrachtet resultiert die Annahme eines eigenen ontologischen Status des Politischen, der dieser Praxis nicht deckungsgleich wäre, schlicht aus einer Hypostasierung des Realitätscharakters des Politi-schen. Henry versteht diese Hypostasierung als eines Spielart des „ontologi-schen Monismus“4 des abendländischen Denkens. Dieser Monismus verführt bekanntlich dazu, dass wir jegliche Phänomenalität als Objekt-werden für die Wahrnehmung, In-tentionalität, Vor-stellung, Re-präsentation oder theoria im Allgemeinen denken, nicht aber aus der „Urintelligibilität“ leiblich-lebendiger Selbstgegebenheit begreifen. Diese Kritik ist mächtig, aber auch angreifbar. Ihr gegenüber lässt sich fragen, ob sich das Politische im Gegenteil nicht gera-de erst durch eine Art Repräsentation der lebendigen Individuen defi niert, d.h. vermittels der „symbolischen Stiftung“ (Merleau-Ponty, Lefort) eines idealen Raumes gemeinsamen Handelns und weiterhin öff entlicher Deliberation, in dem (wie auch immer faktisch eingesetzte) Vertreter für die Mitglieder einer Gemeinschaft sprechen. Phänomenologisch entscheidend daran ist, dass diese dies im Namen einer symbolisch appräsentierten, jedoch keineswegs bloß fi k-tiven oder imaginären Realität tun, nämlich im Namen der „gemeinsamen Sa-che“, res publica. Worauf aber, wenn nicht auf diese „gemeinsame Sache“, lässt sich das Politische gründen? Henry zufolge auf das immanente Politisch-sein des Lebens als der einzig wirklich gemeinsamen „Sache“, niemals jedoch auf die Weltlichkeit oder genauer Öff entlichkeit der Welt, in der kontingente Ge-meinsamkeiten von Sachen verhandelt werden, wie sich mit Hannah Arendt argumentieren lässt. Wenn Arendts Ansatz zwar mit dem traditionellen Vor-urteil aufräumt, dass die politische Welt etwas „Uneigentliches“ sei, dem „‚kontrafaktisch‘ eine gerade durch die Öff entlichkeit verstellte Eigentlichkeit entgegenzustellen [sei], die von der utopischen Politeia über die Civitas Dei bis zur idealen Kommunikationsgemeinschaft reicht“5, so verfällt sie Henry

3 Zur Frage des sich selbst vergessenden Lebens im Verhältnis u. a. zur Selbstvergessenheit der transzendentalen Subjektivität bei Husserl vgl. A. J. Steinbock, „Th e Problem of Forgetful-ness in Michel Henry“, in: Continental Philosophy Review 32 (1999/3), S. 271–302.

4 Vgl. M. Henry, L’essence de la manifestation, Paris: PUF, 1990.5 K. Held, „Eigentliche Existenz und politische Welt“, in: K. Held / J. Hennigfeld (Hg.),

Kategorien der Existenz. Festschrift für Wolfgang Janke, Würzburg: Königshausen & Neumann

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zufolge letztlich doch dem „ontologischen Monismus“: Dies ist der Fall, weil sie unterstellt, dass das Politische sich in der Welt zeige, ohne in Rechnung zu stellen, dass es alleine in den lebendigen und folglich unsichtbaren Moda-litäten des Lebens besteht, die aller innerweltlichen Gegebenheit zugrunde liegen, weil sie diese ermöglichen.

Wir müssen uns, um Klarheit über dieses grundsätzliche Problem zu erlan-gen, den folgenden Fragen stellen: Was ist die „politische Intentionalität“, was ist ihr Korrelat oder „das Politische“, und wie verhält es sich zur „subjektiven Praxis“ der lebendigen — und d.h. in eins primordial vergemeinschafteten — Individuen? Entsprechend werden wir in einem ersten Schritt zeigen, dass das Politische laut Henry keine autonome Seinsdimension besitzt und auch nicht zu bilden imstande ist (I). Daraus lässt sich folgern, dass jede Setzung — bzw. genauer Subreption — einer solchen Autonomie tendenziell die Negation sei-ner Bedingung heraufbeschwört, d.h. die Reduktion der lebendigen Indivi-duen auf empirische Faktizitäten. In der Folge erfüllt sich deren Bestimmung in der sinnfälligen Entfaltung einer allgemeinen Rationalität politischer Ord-nung, nicht mehr aber im Horizont ihrer individuellen Praxis und originären Gemeinschaftlichkeit. Vor diesem Hintergrund wird in einem weiteren Schritt gezeigt (II), wie Henrys Ansatz uns damit nicht nur ein Erklärungsmodell für den Totalitarismus an die Hand gibt, sondern uns darüber hinaus auch eine grundsätzlich kritische Sicht des „demokratischen Prinzips“ eröff net. Seiner Auff assung zufolge eröff net uns die Einsicht in die „Hypostase“ einer sich autonom setzenden und fürderhin instrumentalisierbaren politischen Sphäre nämlich nicht nur Einblicke in die Funktionslogik der faschistischen Regime des 20. Jahrhunderts. Sie lässt uns vielmehr auch die faschistoiden Potentiale des spät- bzw. postmodernen globalen Kapitalismus erkennen, die gegenwärtig beschleunigt um sich greifen.6 Zu fragen bleibt vor diesem Hintergrund zu-letzt (III), ob bzw. inwiefern Henrys Ansatz — unangesehen seiner kritischen Sprengkraft gegenüber den verschiedenen „Ideologien der Barbarei“ — einen adäquaten Begriff des Politischen entwickelt, der für kritisch-praktische Ana-lysen politischer Realitäten genutzt werden kann. Wie mir scheint, triff t dies nicht zu — ist aber unter Voraussetzung gewisser Korrekturen möglich. So fokussiert seine Refl exion zwar zielsicher auf jene pseudo-konstitutive Bestim-mung des Politischen, die traditionell ihr Funktionieren — um nicht zu sagen ihre Lebendigkeit — sicherstellen sollte, d.h. auf das Sinnsubstitut des politi-

1993, S. 395-412, hier S. 396.6 Sofern M. Henry auch in der dem Kapitalismus im Horizont der Technik eigenen Finalität

ein und denselben Prozess der Faschisierung nachzuweisen sucht (vgl. bes. Du communisme au capitalisme. Th éorie d’une catastrophe, Lausanne: L’Age d’Homme, 2008 (Orig. 1990; Übers. hier u. im Folgenden v. Verf.) a.a.O., S. 203 ff .), nimmt er M. Horkheimers Gebot ernst: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ (M. Horkheimer, „Die Juden und Europa“, in: Zeitschrift für Sozialforschung (1939), S. 115) Zur Kapitalismuskritik in ihrem Verhältnis zur Faschismusanalyse, die wir hier nicht umfassend führen können, vgl. die Analyse bei R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte, Freiburg/München: Alber, 2008.

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schen Körpers und die damit assoziierte organische Einheit, in die das Wesen von Gemeinschaft projiziert wird. Wogegen Henry diese — historisch übri-gens keineswegs überkommene — Figur des „politischen Körpers“ bzw. ihre Avatare7 zurecht als Substitutionen entlarvt, bleibt sein Ansatz zuletzt jedoch hinter seinen eigensten Möglichkeiten zurück, da er die Repräsentation selbst nicht gemäß der in ihr — wie in jedem Akt der Subjektivität — wirksamen „Spaltung des Erscheinens“ in zwei „Biotope“8 denkt, sondern ausschließlich als irrealisierende Substitution der lebendigen Praxis der Individuen. Dass Repräsentation qua Praxis der Symbolisierung jedoch notwendig ist, um die Nichtobjektivierbarkeit subjektiven Lebens als die irreduzible Bedingung des Politischen auch diskursiv zu bewahren, bleibt zu zeigen.

1. Der phänomenologische Status des Politischen

Henrys Beschreibung des Politischen ist ein Lehrstück der phänomenolo-gischen Beschreibung der intersubjektiven Welt.9 Sie gipfelt darin, dass Inter-subjektivität hier nicht von — und sei es passiven — „Intentionalitäten der Vergemeinschaftung“ oder auch der generativen „Vorgegebenheit der Lebens-welt“ her thematisiert wird, sondern im Rückgriff auf die urpassive „Näch-tigkeit des Daseins“10. Nichts anderes als die „Gabe des Lebens“ — keine äußerliche Referenz also — hält alle Lebendigen in ihrem unaufl öslichen Griff und vermag es insofern, deren Freiheit wie Gleichheit je sicherzustellen.11 So-fern damit eine radikale phänomenologische Heterogenität von urpassivem Lebensvollzug und diskursiver Sinngenese angesprochen ist, fi ndet sich am Anfang dieser Beschreibungen eine Reduktion, die von der Gegebenheit po-

7 In Du communisme au capitalisme diskutiert Henry v. a. die Begriff e „Klasse“ und „Ge-sellschaft“ als „ontologische Mystifi kationen“, die die marxistische Geschichtsauff assung am Leben erhalten (ebd., bes. S. 45 ff .), um dann seine Analyse auf den Begriff des „Volkes“ und dessen „ontologische Leere“ (ebd., S. 197 ff .) auszuweiten.

8 Ich greife mit der Redeweise von zwei „Bio-topen“ einen Vorschlag von J.-M. Longneaux auf, die Duplizität der Erscheinensweisen zu denken („D’une philosophie de la transcendance à une philosophie de l’immanence“, in: Revue philosophique de la France et de l’Étranger 3 (2001), S. 305–319).

9 Zu Henrys Neufassung des Kardinalproblems der Intersubjektivität vgl. F. Khosrokhavar, „La scansion de l’intersubjectivité: Michel Henry et la problématique d’autrui“, in: Rue Des-cartes 35 (2002).

10 Die Rede von der „abgründigen Nacht der Subjektivität“ durchzieht das Werk Henrys, so-dass man mit H.-B. Gerl-Falkovitz („Säkularisierung und Religion in anthropologischer Perspek-tive“, in: W. Schweidler (Hg.), Postsäkulare Gesellschaft. Perspektiven interdisziplinärer Forschung, Freiburg/München: Alber, 2007, S. 201–220) die radikale Lebensphänomenologie durchaus als den Versuch einer „Freilegung der ‚Nächtigkeit‘ des Daseins“ (ebd., S. 215 ff .) verstehen kann.

11 Vgl. dazu M. Henrys Analysen in „Diffi cile démocratie“, in: ders., Phénoménologie de la vie. Tome III: De l’art et du politique, Paris: PUF, 2004, S. 167–182, bes. S. 178 ff .

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litischer Institutionen in deren transzendentale Sinngenese zurückfragt, um deren grundsätzliche Unselbständigkeit zu entlarven. Die folgende Passage macht dieses Ansinnen klar:

Die Einrichtung einer Versammlung, eines beliebigen politischen Organismus, die politischen Institutionen in ihrer Gesamtheit sind die Folge des vorheri-gen Auftretens einer Absicht oder eines Meinens, worin sich das Politische als solches, die allgemeine Angelegenheit als die Angelegenheit aller konstituiert. Was auch immer sein historischer Ursprung sein mag, sein empirischer Gehalt und seine Veränderungen, der Staat als organische Gesamtheit dieser Institutio-nen verweist auf eine transzendentale Entstehung, die der gründende Urakt des Politischen in dem besonderen Meinen ist, wodurch das Politische als solches gebildet wird. Es gibt ein politisches Wesen, nämlich jenes, das von dieser tran-szendentalen Entstehung abhängt. Die politischen Institutionen, der Staat, sind immer nur eine Folge davon, die verschiedene Form annehmen kann.12

Henry spricht hier einen „proto-politischen Akt“ an. Dieser Akt geht aus einer Verdoppelung der sozialen Praxis hervor. Genauer gesagt resultiert er aus einer praktisch motivierten Refl exion der Individuen auf ihre gemeinsame Pra-xis, die dann einsetzt, wenn deren Vollzug auf Probleme stößt.13 Henry zufolge ist die individuelle „subjektive Praxis“ an die „große Dichotomie der Subjekti-vität“ gebunden, an die tonale Rhythmik von Sich-Erleiden und Sich-Erfreuen, die ebenso der aff ektiv-lebendigen Selbstbindung des Individuums entspringt, wie das „Verlangen nach Steigerung“ seiner Potentialitäten.14 Arbeit bedeutet in diesem Kontext ebenso die Steigerung und Verfeinerung dieser Potentialitäten wie Kultur im weitesten Sinne, die ihrerseits aus dem Überschuss der zur Sub-sistenzdeckung notwendigen Arbeit hervortreibt.15 Nichts anderes als die sub-jektive Praxis der Individuen macht demzufolge die konstitutive Referenz des Politischen aus, seine irreduzible Beziehung zu dem, was in sich nicht politisch ist, an seinem aber Anfang ebenso steht, wie es dasjenige ist, um dessentwillen ein politisches Projekt überhaupt erst entworfen wird. Das subjektive Leben ist folglich das „Alpha und Omega der allgemeinen Angelegenheit“16.

Henry zieht aus dem Gesagten den Schluss, dass dem „politischen Wesen“ keine Autonomie zukommt. Das Politische als die „gemeinsame Angelegen-heit“, die im Lichte der Öff entlichkeit verhandelt wird, lebt nicht aus sich selbst. Es ist nie nur politisch, sondern immer auch eine konstitutive „innere Bezugnahme darauf, was es nicht ist“, nämlich das Leben eines jeden einzel-

12 M. Henry, „Das Leben und die Republik“, in: ders., Radikale Lebensphänomenologie, a.a.O., S. 293–326, hier S. 298. (Dieser Text überschneidet sich mit dem Kapitel 8 von Du communisme au capitalisme (a.a.O., S. 177–202)

13 Vgl. „Diffi cile démocratie“, a.a.O., S. 167 f. 14 M. Henry, „Das Leben und die Republik“, a.a.O., S. 294.15 Vgl. Du communisme au capitalisme, a.a.O., S. 152.16 M. Henry, „Das Leben und die Republik“, a.a.O., S. 301.

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nen. Die Frage kann nicht ausbleiben, ob durch eine solche „Rückführung der Substanz des Politischen auf die Substanz der lebendigen Individuen […] nicht das Politische in seiner Besonderheit außer Spiel gesetzt [wird], und zwar als die unumgängliche Dimension einer jeden menschlichen Organisati-on und einer jeden gemeinschaftlichen Existenz“17. Ist aber die Bezugnahme auf die Idee einer allgemeinen Angelegenheit nicht ebenso konstitutiv? Henry zufolge ist dies nicht der Fall. Denn der „proto-politische Akt“ führt nicht die unsichtbare Realität des individuellen Lebens in die öff entlich-sichtbare Ordnung des Politischen ein, sondern lediglich die „äußere Beziehung“18 des Individuums zu anderen. Es ist also nicht das nächtliche Pathos der Subjekti-vität, das sich nun, vermöge einer Art Transsubstantiation, im Raum des Po-litischen als solches präsentieren würde. Es sind vielmehr Re-präsentationen des Lebens und seiner subjektiven Praxis, die die politische Intentionalität in der Konstitution der allgemeinen Angelegenheit vermeint:

Das Politische nimmt die zahlreichen Tätigkeiten der einzelnen Individuen in seine Schau, um sie als eine allgemeine Angelegenheit zu betrachten. Aber die-se Betrachtung, die darin besteht, etwas „politisch“ zu meinen, hebt sich von der vorausliegenden Schau der Welt ab, in die sich jede mögliche Betrachtung einschreibt. Diese besteht im allgemeinen darin, etwas als etwas zu betrachten und zunächst das Seiende, welches auch immer, als seiend. Im politischen Meinen werden die Seienden so betrachtet, als bildeten sie eine allgemeine Angelegenheit.19

Im Horizont der Welt, der „Struktur des ‚Als‘ als solche“, stellen sich die Verhaltungen der Individuen objektiv dar, werden die Seienden als in der Welt seiend erfahren, d.h. als „empirische Individuen und Handlungen […], deren Verknüpfungen jene Praxis bilden, die Gesellschaft genannt wird und auf diese Weise wie ein objektiver Prozess erscheint.“ Aufgrund dieser Ob-jektivierung können sie weiterhin unter einem bestimmten Gesichtspunkt — „als Angelegenheit der Gemeinde, der Region, der Nation“ — betrachtet werden. Das Politische setzt also, wie Henry unterstreicht, eine Objektivie-rung des Lebens voraus. Es hat also nicht nur keine ontologische Autonomie (weil die Referenz auf die subjektive Praxis konstitutiv für es ist), sondern auch keine phänomenologische Autonomie, weil es nichts anderes ist als „eine Schau der Dinge“, eine bestimmte Art und Weise, sie im Licht der Welt zu betrachten.20 Das Wesen dieser Betrachtungsweise besteht darin, sie in ihrer Allgemeinheit zu erhellen, sie der Nacht ihrer Subjektivität zu entreißen, um sie jener Rationalität konform zu machen, in deren Licht die Möglichkeit ihrer Verwirklichung gedacht wird.

17 Ebd.18 Ebd., S. 302.19 Ebd., S. 30420 Ebd., S. 304 f.

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Das Politische ist demzufolge als eine Vermittlung zu denken. Die Indi-viduen existieren vor ihr, doch gewissermaßen nur als abstrakte Realität. Als solche müssen sie am politischen Meinen teilhaben, um ihre individuellen Aktivitäten im Lichte einer „allgemeinen Angelegenheit“ sinnvoll werden zu lassen. Damit aber ist diese politische Vermittlung in eins eine phänomenolo-gische Vermittlung, sofern sie das Gegebene zunächst im Horizont der Welt versammeln muss, um es zu einer „stimmigen und wirkungsvollen Gesamt-heit“ zu organisieren. Denn es ist die „Wahrheit der Welt“, die „jedes Ding sehen [läßt], indem sie es außerhalb von sich versetzt, so daß es die Außenheit oder Exteriorität des ‚Außer-sich‘ ist, die sehen läßt.“21 Diese Einsicht Henrys macht deutlich, dass die Vermittlung der individuellen Aktivitäten mit der „allgemeinen Angelegenheit“ kein neutraler Vorgang ist. Vielmehr motiviert sie eine „phänomenologische Teilung“ der Realität lebendig-individueller Pra-xis, insofern diese sich selbst im Lichte der „allgemeinen Angelegenheit“ und des ihr korrelierenden Interesses wahrnimmt, bewertet und organisiert. Die Beziehung von Individuum und Politischem unterliegt damit einer hierar-chischen Strukturierung, sofern nun „das Politische an Wichtigkeit das von ihm Organisierte übertriff t, um es wirkungsvoll und möglich zu machen“22. Die daraus hervortreibende Konsequenz ist grundsätzlicher Art: Nicht nur beherrscht demzufolge das allgemeine Interesse das Individuum in axiologi-scher Hinsicht, sondern vielmehr ist es diesem nur dadurch möglich, sich zu verwirklichen, wenn es sich ihm ontologisch unterwirft.

Das politische Denken, das auf dieser Hierarchie von Individuum und Gesellschaft beruht, perpetuiert jedoch diese ursprüngliche phänomenologi-sche Spaltung nicht einfach. Vielmehr führt die Verkennung des „Werks des Lebens“ es dazu, dieses Leben einem egoistischen, instinktiven Tun bzw. einer „blinden Faktizität“ gleichzusetzen. Dem so zum naturhaften Grund degra-dierten Leben wird entsprechend das politische Meinen gegenübergestellt, das das Primat des Allgemeinen realisiert. Genau im „Bewusstsein des Allgemei-nen“ erkannten wir jedoch nichts anderes als das Medium der Sichtbarkeit, in dem sich jene „totalisierende Möglichkeit“ einer Zusammenfassung der Indi-viduen als Allgemeines abzeichnet, dessen Licht fürderhin als Korrektiv indi-viduellen Verhaltens und gesellschaftlicher Selbstverwirklichung fungiert.

Historisch betrachtet ist die polis (cité) der Ort, an dem sich diese Iden-tität von Bewusstsein und Allgemeinem in paradigmatischer Weise realisiert. Sie ist der Inbegriff der Phänomenalität der Welt im Sinne jenes lichthaften Raumes, in dem die Individuen in dem Maße zusammenstimmen können, wie sie von ihm erhellt werden.23 Die polis als Ort der Sichtbarkeit lässt uns so die wahre Natur der „allgemeinen Angelegenheit“ erkennen: ihre Öff ent-

21 M. Henry, „Ich bin die Wahrheit.“ Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/Mün-chen: Alber, 1997, S. 40.

22 „Das Leben und die Republik“, a.a.O., S. 307.23 Vgl. ebd., S. 310 f.

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lichkeit. Die „allgemeine Angelegenheit“ stellt sich als Angelegenheit heraus, die alle sehen können, worauf sich alle in einer Intentionalität beziehen kön-nen, deren Aktualisierung diesen Raum performativ off en hält. Sie ist also nur möglich, sofern sie sich als „öff entliche Angelegenheit“ realisiert. Die Öff ent-lichkeit ist dabei keineswegs als ein Prinzip aufzufassen, das den Individuen und ihren Aktivitäten a posteriori zukommt. Vielmehr sind alle Aktivitäten der Individuen öff entlich, da sich nicht nur die „allgemeine Angelegenheit“ im Licht der Welt zeigt, sondern selbst das Subjekt-relative — das Begehren und die Anstrengung der Individuen — sich nur in Beziehung zur Totalität aller Aktivitäten verwirklichen kann, da es eben nur von dieser „vereinheit-lichenden Synthese“ her ihr Sein erlangt. Arbeit muss entsprechend ebenso gesellschaftliche — d.h. gesellschaftlich anerkannte — Arbeit werden, wie das Bedürfen sich nur dank solcher Arbeit stillen kann. Sein wird damit zum Kor-relat dieser „vereinheitlichenden Synthese“, zum Korrelat seiner Sichtbarkeit für alle, die sich im Lichte seiner Öff entlichkeit realisiert. Henrys Defi nition des Politischen liegt damit klar auf der Hand: Es ist die „Einheit des Allgemei-nen und des Öff entlichen auf dem Boden des letzteren“24.

Dass die „allgemeine Angelegenheit“ als „öff entliche Angelegenheit“ be-stimmt wird, hat eine bedeutende Konsequenz. Es bereitet den Grund für das, was Henry die Hypostasierung des Politischen nennt. Unter Hypostase versteht er dessen illusorische Erhebung zu einem „realen und konkreten Sein, das an sich und durch sich Bestand hat“25. Eine derartige Unbezweifelbarkeit des Seins des Politischen beruht nun auf nichts anderem als seiner unterstellten Sichtbarkeit für alle — jener Sichtbarkeit, die in eins als Prinzip ihrer Verwirk-lichung gilt, sofern es eben die abstrakte Existenz der natürlichen Individuen mit der Intelligibilität des Allgemeinen vermittelt. Wenn nun jedoch die Akti-vitäten der Individuen nur unter dem supponierten Blick aller ihr wahres Sein erlangen, d.h. nur durch ihre Mit-Präsenz in der Öff entlichkeit und als Teil der vereinheitlichenden Synthese des Allgemeinen, so geht damit eine wesen-hafte Abwertung der Individuen einher. Sofern es nämlich das Welterscheinen ist, in dem sich das immanent-pathische Sein der Individuen zeigt, erscheinen diese nunmehr als empirisch wahrnehmbare Individuen, „deren Verknüpfun-gen jene Praxis bilden, die gesellschaftlich genannt wird und auf diese Weise wie ein objektiver Prozeß erscheint“26. Das immanente Sein der Individuen, das immer ein „Gemeinsam-sein mit dem Leben und mit dem anderen“27 ist, wird dadurch vom Politischen usurpiert. Denn für dieses sind die Menschen nur dort wahrhaft zusammen, wo sie sich im Übersteigen ihrer selbst verbin-den, d.h. in der öff entlichen Konstitution der „allgemeinen Angelegenheit“.

24 Ebd., S. 312.25 Ebd.26 Ebd., S. 303.27 Ebd., S. 314.

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Wohingegen das vor-politische Gemeinsam-Sein die irreduzible Referenz und den Grund aller Projekte, und also insbesondere auch des politischen Meinens bildet, kehrt das politische Denken diese ontologische Ordnung aus phänomenologischen Gründen um: Da das Begehren und die subjektive Pra-xis der Individuen als in sich „blind“, als unfähig, sich selbst zu verwirklichen, vorgestellt werden, müssen ihre Aktivitäten ins Licht der politischen bzw. öko-nomischen Welt eintreten, um sich zur Aussprache des ihnen eigenen Sinnes bringen zu können. Das politische Denken bezieht sich folglich nicht mehr auf die Individuen als solche und deren subjektive Praxis, sondern auf deren irreelle Repräsentationen (wie die „gesellschaftliche Arbeit“), da nur diese der „allgemeinen Angelegenheit“ im Sinne der „öff entlichen Angelegenheit “ ho-mogen sind. Diese Tilgung der ursprünglichen Referenz des Politischen hat jedoch verheerende Folgen:

Das Individuum ist nichts anderes mehr als der Inhaber eines Platzes, der von der Gesamtheit der Prozesse ausgegrenzt wird, welche die Substanz der Gesell-schaft bilden und deren Berücksichtigung als solche, als Angelegenheit der civi-tas, das Politische defi niert. Das Politische ist alles, das Individuum ist nichts.28

2. Die Hypostase des Politischen und das Prinzip des Faschismus

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der „Totalitarismus“ keine spezifi sche Regierungsform unter anderen ist. Er stellt vielmehr eine allge-meine Bedrohung dar, die ihren Lauf nimmt, sobald das Politische „als das Wesentliche gilt“ und das Recht geltend machen kann, die „öff entliche An-gelegenheit“ gegen den Einzelnen durchzusetzen und ihn in letzter Instanz zu vernichten, sofern letzterer ja „nur in ihr, für sie und durch sie existiert“29. Diese Herrschaft des Politischen ist jedoch nicht unumschränkt. Sie muss sich vielmehr der unterdrückten Subjektivität versichern, sofern diese — wie wir zeigten — ihre Substanz bildet. Solche vorgetäuschte Anerkennung er-eignet sich im Banngriff zentraler Konzepte der Politik: Volk, Nation, Klasse und Rasse sind jene Signifi kanten einer sich vorgeblich geschichtlich realisie-renden Einheit, der das Individuum bedarf, um sich selbst zu verwirklichen. Gibt ein derartiger Begriff wie „Volk“ jedoch vor, „in sich die Realität zu umfassen und zu defi nieren, muß diese den Individuen entrissen und einer abstrakten Entität übertragen werden“. Eine derartige Substitution bedeutet jedoch nicht nur eine Veräußerlichung der Individuen, sondern — wie Henry formuliert — einen ontologischen Mord: „Das Allgemeine ist die Verneinung des Partikulären.“30 Dass eine derartige Verneinung vielfach nur symbolisch be-

28 Ebd., S. 318. 29 Ebd.30 Ebd., S. 320.

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gangen wird, schließt keineswegs aus, dass sich das „politische Wesen“ seiner unterstellten Realität nicht in der Tat zu versichern sucht. Die Verneinung des Partikulären wird dann zu einer Realität, die sich „im Namen“ — des Volkes, seiner Einheit, Reinheit, geschichtlichen Sendung etc. — selbst legitimiert. Die Realität wird dann politisch, was noch weiterreichende Folgen hat:

Wenn das Volk seine Realität im Individuum hat, dann ist dessen Verneinung in Wirklichkeit eine Selbstverneinung. Die Zeit des Politischen ist die Zeit der Verzweifl ung; der Augenblick, wo das Leben, wo das Individuum, da sie auf-hören, an sich selbst zu glauben, sich selbst entfl iehen wollen. Sie werfen sich außerhalb ihrer selbst in alles hinein, was diese Flucht ermöglichen kann, und insbesondere in die politische Existenz, in eine Existenz, die der öff entlichen Sache, der Geschichte, der Gesellschaft und ihren Problemen gewidmet ist — all dem, was es dem Individuum erlaubt, nicht mehr aus seinem eigenen Leben heraus zu leben und sich selbst zu vergessen.31

Diese Bewegung der Selbstfl ucht des ontologisch negierten Lebens32 ist von zentraler Bedeutung für unser Verständnis der Totalitarismen des 20. Jahr-hunderts wie deren genozidale Vernichtungspolitiken. Rekurrieren wir dar-auf, wird nämlich deutlich, inwiefern diese weder nur als die antimoderne Folgeerscheinung eines entfesselten Zweckrationalismus, noch als unmittel-bares Ergebnis einer in ihrem Kern irrational-mythifi zierenden Ideologie (wie des Antisemitismus im Nazismus, oder der wissenschaftlichen Schaff ung des „neuen Menschen“ im Kommunismus) zu denken sind. Henrys Analyse zeigt vielmehr, dass die Abwertung des Individuums, das sich nur im Licht des Allgemeinen seiner selbst gewiss sein kann, diese beiden Erklärungsstränge in verhängnisvoller Weise aneinander bindet. Denn sowohl der bürokratische Massenmord, der das Böse zur Banalität werden ließ, als auch die Histori-sierung der „manichäischen Versuchung“33, die den ideologischen Kern der „Endlösung“ ausmacht, koppelt das Versprechen der Überwindung der Ne-gation des Individuums an die Eliminierung dessen, was sein Aufgehen im Allgemeinen verhindert und insofern bedroht: an die Andersheit von Indi-vidualität selbst, die als „Zusammenbruch der Formen“34 droht und insofern

31 Ebd., S. 320 f.32 Der „Verzicht auf das Denken“, den C. Lefort im Anschluss an Hannah Arendts Ele-

mente und Ursprünge totaler Herrschaft und Etienne de la Boéties Diskurs über die freiwillige Knechtschaft als „eine der Vorbedingungen für die Errichtung des Totalitarismus“ im Vergleich zu Tyrannis und Despotismus (C. Lefort, „Die Weigerung, den Totalitarismus zu denken“, in: Debatte. Politik und Moderne IV, Bremen: Heinrich Böll Stiftung, o. J., S. 23–36) ausmacht, ist in diesem Sinne als eine Facette solcher Selbstfl ucht zu verstehen.

33 Vgl. B. Liebsch, Zerbrechliche Lebensformen. Widerstreit ׀ Diff erenz ׀ Gewalt, Berlin: Aka-demie, 2001, S. 259 ff .

34 Vgl. zur Drohung eines solchen „Zusammenbruchs der Formen“, die sich vielfach an einen Diskurs über das Leben und seine Reinheit knüpft, umfassend A. David, Racisme et antisémitisme, Paris: Ellipses, 2002.

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— sowohl in Gestalt des existenziell anderen, des Feindes, als auch in Gestalt der eigenen Selbstentfremdung — zu inkorporieren, auszutreiben oder eben zu vernichten ist.

Dem Ausgeführten zufolge kann das faschistische Prinzip in der Abwertung des Individuums ausgemacht werden. Henry defi niert es folgendermaßen:

Als Faschismus bezeichne ich jede Doktrin, die, sei es deklariertermaßen oder auch nicht, eine Abwertung des Individuums vornimmt, und zwar dergestalt, dass dessen Beseitigung jederzeit als legitim erscheint, weil es nichts ist, oder etwas Unbedeutendes bzw. Schlechtes. Dadurch unterhält jeder Faschismus eine wesenhafte Verbindung mit dem Tod.35

Dieser Defi nition zufolge fi ndet der Faschismus sein Prinzip nicht im Fak-tum irgendeiner — exzessiven oder auch spezifi sch organisierten — empiri-schen Gewalt, sondern in der Weise, wie er die metaphysische Grundlage des Lebens angreift. Das Leben aber, die einzige Realität laut Henry, existiert nie anders denn in Form verschiedener Individuen. Jeder Versuch, den Faschis-mus als eine Art „Lebensphilosophie“ auszugeben, als eine „Glorifi zierung“ oder ein „Kult der Kraft“36, erweist sich damit als widersinnig. Denn sofern sich jegliche Kraft in der Immanenz ihrer Selbstgegebenheit als ein „Ich kann“ ergreift, d.h. aus dem Leben geboren wird, ist sie — wie jede Eigenschaft des Lebens — „gut“ und kann somit niemals Ursprung seiner Missachtung, Ver-letzung oder Tötung sein:

Weit davon entfernt, dass die Erhöhung des Lebens das Prinzip solcher [sc. Tod bringender] Akte sein könnte, ist es im Gegenteil allein die Missachtung des Lebens, die diese hervorzurufen vermag. Die Gräueltaten der Nazis auf irgendeine „Lebensphilosophie“ zu beziehen ist nicht nur eine einfache Ab-surdität, es handelt sich dabei vielmehr noch um eine extrem verdächtige Ein-stellung […]. Halten wir hier einfach fest, dass das Leben als solches niemals der Ursprung eines Verbrechens sein kann, d.h. eines gegen es gerichteten Ak-tes, ausgenommen, dass es sich in jenen monströsen Prozess der Selbstnegation des Selbst verwickelt, der der dominierende Charakterzug des modernen Nihilismus und insbesondere des Faschismus ist.37

Der hier angesprochene Zusammenhang von Kraft und Leben verweist auf die metaphysische Bedingung des Individuums.38 Refl ektieren wir auf eine kon-krete Kraft — und anders existiert sie nicht —, so zeigt sich, dass diese nicht imstande wäre, sich zu vollziehen, wenn sich nicht bereits im Besitz ihrer selbst

35 M. Henry, Du communisme au capitalisme, a.a.O., S. 87. 36 Ebd., S. 88. 37 Vgl. ebd., S. 89.38 Zu dieser „metaphysischen Bedingung“ des Individuums im Sinne seiner immemorialen

Individuierung vgl. R. Kühn, Individuationsprinzip als Sein und Leben. Studien zur originären Phänomenalisierung, Stuttgart: Kolhammer, 2006.

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wäre. Sich als lebendige Kraft gegeben zu sein, über sich verfügen zu können, dies bezeichnet die „größte Kraft“, die Kraft der Kraft“. Diese „Kraft“, die jedem unserer Vermögen innewohnt, ist das Leben selbst, dessen „Fähigkeit, sich selbst unmittelbar zu erproben, in jener pathischen Umschlingung, die es mit sich ko-inzidieren lässt, die jedem seiner Vermögen erlaubt, über sich zu verfügen und zu handeln“39. Daraus folgt, dass die Kraft in diesem Sinne nicht irgendeinen Charakterzug des Lebens ausmacht, sondern eben dessen Wesen. Diese „abso-lute“ Kraft, dank derer jede faktische Kraft mit sich zusammenfällt, gleichwie mächtig sie auch immer ist, besteht darin, dass das Leben an sich gekettet — ja man kann sagen: „an sich gekreuzigt“40 — ist, sich in seiner Ohnmacht gegen-über jener „Übermacht“ als Individuum erfährt.

Die damit skizzierte „transzendentale Geburt“41 des wirklichen, d.h. hier transzendentalen Individuums im absoluten Leben macht das aus, was Henry die „metaphysische Bedingung des Individuums“ nennt. Diese Bedingung ist in der alltäglichen, aber ebenso in der natur- wie humanwissenschaftlichen Rede von „Individuen“ im Sinne „empirischer Realitäten“ vergessen. Genau sie ist es jedoch, die im Faschismus in letzter Instanz auf dem Spiel steht:

Der Faschismus impliziert immer die Abwertung des Individuums und es gibt in ihm, am Grunde jenes Willens zu seiner Abwertung, den Willen es zu negieren. Diese Negation des Individuums lässt von Anbeginn an den Fa-schismus als eine Kraft des Todes erscheinen — doch um welches Individuum handelt es sich? Unter welchem Aspekt, in welchem Teil seines Seins muss die-ses angezielt, angegriff en und genauer noch negiert werden, sodass man von Faschismus sprechen kann? In dem, was aus ihm einen Lebendigen macht. […] Dort, wo das Individuum ein Individuum ist, dort, wo es dieses singuläre Individuum ist, in seinem Leben, schlägt der Faschismus zu. Dadurch ist er […] wirklich eine Kraft des Todes.42

Eine Analyse der Folter, als einer bevorzugten Herrschaftspraxis in totali-tären Systemen, verdeutlicht dies. Die Folter besteht keineswegs nur in einer extremen Methode der Informationsbeschaff ung. Unzweifelhaft ist auch, dass in ihr das Mittel — dem Opfer Schmerz zuzufügen — allzu leicht zum Selbst-zweck wird. Der Wesenskern der Folter aber besteht darin, dass sie die Unaus-weichlichkeit, die dem Schmerz zu eigen ist, erfahren lässt. Das Erleiden des Schmerzes jedoch ist kein beliebiger Gehalt des Lebens. Henry sieht in ihm im Gegenteil eine Grundtatsache des Lebens: Sich zu erleiden bezeichnet das absolute Faktum, dass jede Kraft in der Passivität ihres Sich-Gegebenseins mit

39 M. Henry, Du communisme au capitalisme, a.a.O., 91.40 Vgl. J. Hatem, „Bewahrheitung und Sich-Erleiden“, in: S. Nowotny und M. Staudigl

(Hg.), Perspektiven des Lebensbegriff s. Randgänge der Phänomenologie, Hildesheim et al.: Olms, 2005, S. 253–261.

41 Vgl. dazu genauer M. Henry, „Ich bin die Wahrheit“, a.a.O., S. 79 ff . 42 M. Henry, Du communisme au capitalisme, a.a.O., S. 94.

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sich selbst, mit ihrem aff ektiven Fleisch beladen ist und dies immerfort bleibt, selbst wenn sie sich in der Erfüllung ihres Bedürfens übersteigt.43 Daraus folgt, dass die Folter „also das Leben an seinen eigensten Ort [führt], dorthin, wo die Erfahrung, die es von sich macht, eine paroxystische Form annimmt, eine tatsächlich unerträgliche Intensität.“44

Das sich selbst gegebene Leben wird also durch die Folter an den Ex-trempunkt seines Sich-Erleidens geführt; dorthin, „wo es von seinem eige-nen Feuer brennt“, wo es gegen sich, gegen seinen Grund gedrängt ist, ohne Möglichkeit eines Rückzugs oder der Ausfl ucht, was Levinas für das physische Leiden treff end beschrieben hat:

[…] ist das physische Leiden in allen seinen Stufen eine Unmöglichkeit, sich vom Moment der Existenz freizumachen. Es ist die Unerlaßbarkeit des Seins als solche. Der Inhalt des Leidens verbindet sich mit der Unmöglichkeit, sich vom Leiden freizumachen. […] Es gibt im Leiden eine Abwesenheit jeder Zufl ucht. Sie ist der Sachverhalt, direkt dem Sein ausgesetzt zu sein. Sie ist gebildet aus der Unmöglichkeit zu entfl iehen und auszuweichen. Die ganze Schärfe des Leidens liegt in dieser Unmöglichkeit des Ausweichens. Sie ist die Tatsache, in das Leben und in das Sein in die Enge getrieben zu sein.45

Gegen sich gedrängt zu sein ist nicht nur für den Schmerz konstitutiv. Es geschieht vielmehr in jeder menschlichen Grunderfahrung, so auch in der Liebe oder der Verzweifl ung. Wenn der Faschismus nun jedoch das Leben auf sein eigenstes Wesen zurückführt, so tut er dies gerade nicht, um das Leben sich selbst in seiner Fülle erfahren zu lassen — ganz im Gegenteil:

Wodurch unterscheidet sich der Faschismus von jenen anderen Grenzerfah-rungen, in denen das Leben seinen Grund berührt? Dadurch, dass er in dieser höchsten Emotion nur ein Mittel sieht, jenes dahin zu bringen, sich selbst zu verleugnen, das monströse Werk der Negation des Selbst zu vollbringen, jener Negation, die ihm selbst entstammt und seine eigene Sache ist — die Negati-on des Lebens als seine Selbstnegation.46

Die Folter überführt also nicht nur das Individuum, das ihr nachgibt und „Verrat“ an sich, seinen Überzeugungen und anderen begeht, seiner Nichtig-keit angesichts einer ihm äußerlichen Kraft. Vielmehr noch triff t sie das Leben als solches, das dort, wo es nichts als leben ist, d.h. in seinem Schmerz, sich in seiner Nichtigkeit erfasst. All die verschiedenen Formen des Faschismus

43 Vgl. M. Henry, L’essence de la manifestation, a.a.O., S. 591 ff ., zum Selbst als „Über-schreitung des Selbst als mit sich selbst Identischem“; vgl. auch Du communisme au capitalisme, a.a.O., S. 152 f.

44 M. Henry, Du communisme au capitalisme, a.a.O., S. 95.45 E. Lévinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg: Meiner, 1984, S. 42 (unsere Hvh.); vgl. dazu

auch J.-L. Marion, De surcroît. Études sur les phénomènes saturés, Paris: PUF, 2001, S. 110 ff . 46 M. Henry, Du communisme au capitalisme, a.a.O., S. 96.

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haben demzufolge das gemeinsame Ziel, das Individuum „dazu zu zwingen, seine Niedertracht und seine Unwürdigkeit zu bekunden“ und „seine Nich-tigkeit selbst zu affi rmieren“47. Sich selbst zu negieren impliziert, sich — und weiterhin andere — gemäß allgemeiner Kriterien als anders, abweichend, ge-ringer und letztlich nichtswürdig zu erfahren.

Seine Nichtigkeit selbst zu affi rmieren — sei es unter dem Druck der Folter, unter den entmenschlichenden Bedingungen des Konzentrationslagers, als Folge von Spitzelei und Verrat im Überwachungsstaat oder aber im Banngriff sozialer Identifi kationsfi guren in den Klassen- und „Rasse“diskursen —, dies ist die äußerste Intention des Faschismus; auf ihrer Realisierung begründet sich seine ganze Macht über den Menschen: Denn gerade sofern sich das In-dividuum unter dem Druck sowohl realer wie symbolischer Gewalt als tran-szendentales Individuum aufgibt, stirbt mit ihm auch das „Fundament aller Gemeinschaftlichkeit“. An die Stelle des ursprünglichen (nämlich triebhaf-ten, vor-politischen und vor-sozialen) „Gemeinsamseins“ (être-en-commun) setzt der Faschismus dagegen eine Matrix rein funktioneller Bezüge zu einer „allgemeinen Angelegenheit“, die nicht mehr performativ ausgehandelt wird, sondern mit der geschichtlichen Realität des „Volkes“ oder der „klassenlo-sen Gesellschaft“ schlichtweg als Konvergenzpunkt allen Selbst-, Welt- und Fremdverständnisses vorgegeben ist: In ihrem Licht freilich sieht jeder im An-deren nur die zu negierende potentielle „Nacht der Welt“ (Hegel) — d. h. hier der ideologisch entworfenen Welt —, nicht mehr aber das selbe Leben, das sich in jedem Lebendigen in je anderer Weise selbst erprobt.

Sich den objektiven Zwängen zu fügen und gleich im Hinblick auf ideale Bestimmungen — wie etwa „soziale Eigenschaften“ — zu existieren, besagt nun, nicht als Individuum zu existieren. Denn als Individuum ist jede/r an-ders — und zwar im Hinblick auf jene „eine wesenhafte Identität, auf dem Grund des Lebens in ihnen, insofern sie Lebendige sind“48. Man kann sich dieser Defi nition zufolge fragen — und Henry tut dies —, ob nicht bereits jede Allgemeinheit intendierende Denkbestimmung, die dem lebendigen Individu-um seine ideale Bestimmung im Licht einer übergreifenden politischen Totali-tät substituiert, dessen ontologischen „Mord“49 exekutiert. Freilich, es handelt sich hierbei zunächst und zumeist um einen bloß „symbolischen Mord“, doch das politische Wesen „verspürt mitunter“, wie Henry schreibt, „die Notwen-digkeit, den Beweis seiner usurpierten Realität zu führen“50. Auch wenn man sich fragen müsste, welche Aff ektivität hier angesprochen ist, entscheidend er-scheint, dass der Übergang von der theoretischen Verneinung des Partikulären zur praktischen Negation des Individuums, das gewissen „allgemeinen Cha-

47 Ebd., S. 97. 48 Ebd., S. 101.49 Ebd., S. 102.50 „Das Leben und die Republik“, a.a.O., S. 320; ident in Du communisme au capitalisme,

a.a.O., S. 197.

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rakteren“ nicht entspricht, kein Zufall ist. Er ist im Gegenteil — wie Henry in Bezug auf den „‚wissenschaftlichen‘ Sozialismus“ ausführlich zeigt — die „Konsequenz der Th eorie“51, d.h. in diesem Fall das geschichtsphilosophisch legitimierte Resultat des Klassenkampfes. Dass selbiges auch für den Nazismus gilt, wird in Bezug auf den von ihm gehuldigten „Kult der Kraft“ und die daraus „lebensphilosophisch“ abgeleiteten Praxen der „Reinigung des Volks-körpers“ ebenso deutlich, wie im Blick auf den damit in Zusammenhang ste-henden Antisemitismus, sofern dieser ebenso „allgemeine Bestimmungen“ zu verhandeln vorgibt, wo es nichts als die lebendige Praxis der Individuen gibt — wie Henry im Blick auf den Rassismus im Allgemeinen ausführt:

Es gilt zu verstehen, dass der Rassismus nichts mit der wirklichen oder vermu-teten Existenz derartiger Typen, ethischer Gruppen oder „Rassen“ […] zu tun hat. Daher geht auch jede Diskussion über den Rassismus von Anbeginn an fehl, sobald sie versucht, die Bedeutung oder die bloße Existenz der im Üb-rigen verschiedenartigen Eigenschaften zu evaluieren, vermittels welcher man versucht, einen partikulären ethnischen Typ zu umgrenzen. Dass es unter den für einen solchen ethnischen Typ konstitutiven oder nicht-konstitutiven Ei-genschaften im eigentlichen Sinne biologische gibt, dass diese für den in Frage stehenden Typ eine Bedeutung haben oder nicht, ist nicht von Bedeutung. Es gibt Rassismus, sobald man eine natürliche — und allgemeiner noch eine objektive — Eigenschaft als konstitutiv für die Realität eines Individuums ausgibt — wohingegen diese Realität rein metaphysisch ist […].52

Henry weist in diesem Zusammenhang eine intrinsische Verbindung von Faschismus und Rationalität auf. Daraus folgert er, dass letztere keineswegs als Allheilmittel gegen den Faschismus gelten kann.53 Unterstellte man dies näm-lich, tendierte man hingegen dazu, Faschismus mit Irrationalismus gleichzu-setzen. Damit wiederum unterschriebe man einen Lebensbegriff , der dieses als „Synonym obskurer Kräfte“54 vorstellt. Nur vor diesem Hintergrund erscheint das Licht des rationalen Denkens als das einzig mögliche Heilmittel, sofern es dem Individuum nämlich — in letzter Instanz — seinen angemessenen Platz im intelligiblen Ganzen wissenschaftlich explizierter Objektivität verspricht. Die Folgen dieses Versprechens freilich zeigen sich im Anspruch, es geschicht-

51 M. Henry, Du communisme au capitalisme, a.a.O., S. 82.52 Ebd., S. 103 f.53 Eine in gewisser Hinsicht vergleichbare Analyse der Hybris abendländischer Rationalität

fi ndet sich in J. Patočkas „Die Überzivilisation und ihr innerer Konfl ikt“ (erscheint in ders., Europa und Nach-Europa. Schriften zur Phänomenologie einer Idee, hg. v. L. Hagedorn, Würz-burg: Königshausen & Neumann, 2010). Eine systematische Studie, die Patočka und Henry in Bezug bringt, steht bislang aus. Ansatzpunkte dazu fänden sich in Patočkas Werk allemal, v. a. in seiner Refl exion über die „Kraft“, die „Werte des Tages“ und das „Hineingehaltensein des Lebens in die Nacht“ (vgl. J. Patočka, Ketzerische Essais zur Philosophie der Geschichte und ergänzende Schriften, München: Klett, 1988, bes. S. 146 ff .)

54 M. Henry, Du communisme au capitalisme, a.a.O., S. 102.

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lich zu verwirklichen. Sie zeigen sich jedoch nicht nur an der marxistischen Abwertung des Individuums, sofern dessen Selbstverwirklichung eben — den Intentionen Marxens zuwider! — als einer universalen Rationalität kompa-tibel vorgestellt wird, die sich im Geschichtsprozess vollzieht und wissen-schaftlich nicht nur auf den Begriff gebracht, sondern politisch administriert werden kann. Eine analoge theoretische Negierung des Individuums fi ndet sich vielmehr auch in den liberalen kapitalistischen Regimen: In ihnen ist es die Techno-Ökonomie, die der lebendigen Praxis der Individuen und d.h. der „Teleologie des Lebens“55 die selbst-referentiellen Mechanismen endloser Wertsteigerung substituiert. Diese Substitution ist jedoch kein unschuldiger Prozess, da die von ihr eingeführte „neue Finalität“ eines grenzenlosen Pro-duktionsprozesses weder der Praxis die Mittel zu ihrer Verfeinerung noch der Konsumtion jene zu ihrer eigentlichen Befriedigung zu bieten vermag, son-dern allerorts nur die Simulacren gesteigerter Produktivität und globaler Ver-fügbarkeit als Korrelate eines allgemeinsamen „Vermögens“56. Das lebendige Individuum gerinnt durch diese „Inversion der ursprünglich vitalen Finalität“, für die — verkürzt gesagt — der „Prozess des Lebens nur ein Mittel zur Geld-produktion ist“57, unter der Hand erneut zum bloßen „Menschenmaterial“. Entscheidend ist, dass es dabei letztlich nicht mehr wie im klassischen Kapita-lismus bloß um dessen „Ausbeutung“ geht, sondern in dessen Allianz mit der modernen Technik letztlich um seine Elimination im Produktionsprozess.58 Dass dies gerade auch die Folge eines Politikverständnisses ist, das technologi-sche Machbarkeit zum Vorbild nimmt, wie auch die aktuellen Biopolitikana-lysen klar zeigen, braucht hier nicht weiter analysiert zu werden.59 Was jedoch unterstrichen werden sollte ist die abgründige Tatsache, dass die Selbstbewe-gung des Lebens — seine Tendenz, sich als Kraft unaufhörlich selbst zu über-steigen —, wenn sie leerläuft und „ungenutzt“ bleibt, wenn sie völlig auf „na-

55 Ebd., S. 152.56 Es liegt nahe, dieses Vermögen im Anschluss an Jünger als „totale Mobilmachung“ zu

denken, und zwar in der Interpretation, die Heidegger ihr gibt, wenngleich seine Deutung ihrer seinsgeschichtlichen Überdetermination zu entkleiden bliebe: „Im Zeitalter der ausschließli-chen Macht der Macht, d.h. des unbedingten Andranges des Seienden zum Verbrauch in der Vernutzung, ist die Welt zur Unwelt geworden […] Überall ist Wirkung und nirgends ein Wel-ten der Welt und gleichwohl noch, obzwar vergessen, das Sein. Jenseits von Krieg und Frieden ist die bloße Irrnis der Vernutzung der Seienden in die Selbstsicherung des Ordnens aus der Leere der Seinsverlassenheit.“ (M. Heidegger, „Überwindung der Metaphysik“, in: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart: Klett, 1997, S. 88.)

57 M. Henry, Du communisme au capitalisme, a.a.O., S. 142.58 Vgl. ebd., S. 168 u. ff .59 Vgl. Henrys Analysen zum „techno-kapitalistischen System“, in dem die Negation des

Individuums zuletzt einer grenzenlosen Entwicklung der Wissenschaftstechnik in die Hände spielt (ebd., S. 151–176); zur Biopolitik vgl. S. Nowotny, „Der lebendige Körper der Macht und die Stimmen des Lebens. Lebensphänomenologie und Biopolitikanalyse“, in: ders. und M. Staudigl (Hg.), Perspektiven des Lebensbegriff s, a.a.O., S. 319–344.

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türliche Bedürfnisse“ reduziert wird, sich letztlich gegen sich selbst und gegen andere — qua Projektionen der Selbstverwerfung des entfremdeten Eigenen — wendet.60 Denn eine solcherart entleerte und „leere Subjektivität“ ist, wie Henry festhält, eine „gierige Subjektivität“, da freilich auch das ideologisch bzw. wissenschaftlich reduzierte Leben nicht aufhört zu leben. Als leere aber entfl ieht die Subjektivität sich nicht nur begierig in immer neue — insbe-sondere medial vermittelte — Repräsentationen des Lebens und ebenso viele Vorstellungen ihrer „Selbst als ein Anderer“. Vielmehr noch verstrickt sie sich in dieser Selbstfl ucht in eins auch immer tiefer in die „Angst“, nichts zu sein — eine Angst, der scheinbar nur durch die Projektion seiner selbst auf eben diese Repräsentationen eines abwesenden Lebens — jene „unausgetrunkenen Möglichkeiten“, von denen Nietzsche sprach61 — beizukommen ist.

3. Das Problem des Politischen: Repräsentation oder Symbolisierung?

Nicht nur die „Hypostasierungen des Politischen“ im real existierenden Sozialismus bzw. in den vom Techno-Kapitalismus usurpierten Demokra-tien und die damit je verbundenen menschenverachtenden bzw. in der Tat todbringenden Folgen verweisen Henry zufolge jedoch auf eine wesenhafte Abgründigkeit des Politischen. Zweifellos sind es die totalitären Ideologien, die die Angst vor solcher Bodenlosigkeit gemeinschaftlichen Mit-seins zu in-strumentalisieren verstehen und folglich unsere ungebrochene Aufmerksam-keit verdienen. Ihr Zusammenbruch sollte Henry zufolge jedoch nicht davon ablenken, dass auch die Demokratie als solche eine verhängnisvolle Aporie in sich trägt, die nur allzu leicht ihr praktisches Versagen und damit staatlich legitimierte Gewalt gegen den Einzelnen zur Folge haben kann.62

Henry zufolge gründet sich das Versagen der Demokratie letztlich nicht auf kontingente, obzwar fraglos bedenkliche Ereignisse. Dies gilt auch für die scheinbar zwangsläufi g sich einstellende „Willkür“ der sich etablierenden Eli-

60 Henry greift hier (Du communisme au capitalisme, a.a.O., S. 162) also auf seine frühere Th ese, dass die „Barbarei“ auf die „ungenutzte Energie“ des Lebens zurückzuführen ist (Die Barbarei, a.a.O., S. 284), zurück.

61 F. Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“, in: Kritische Gesamtausgabe Bd. VI.2., hg. v. G. Colli u. N. Montinari, Berlin 1968, S. 63. Vgl. M. Heidegger („Die Überwindung der Metaphysik“, a.a.O., S. 91): „Die Vernutzung aller Stof-fe, eingerechnet den Rohstoff ‚Mensch‘, zur technischen Herstellung der unbedingten Mög-lichkeiten eines Herstellens von allem, wird im Verborgenen bestimmt durch die völlige Leere, in der das Seiende, die Stoff e des Wirklichen, hängen. Diese Leere muss ausgefüllt werden.“ Zum Zusammenhang von Angst und Projektion vgl. M. Henry, Du communisme au capitalis-me, a.a.O., S. 222 u. 162.

62 Vgl. zu diesem Problemkreis auch J. Mensch, „Political Violence“, in: L. Hagedorn und M. Staudigl (Hg.), Über Zivilisation und Diff erenz. Beiträge zu einer Phänomenologie des Politi-schen, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008, S. 285–304.

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ten oder die „Inkompetenz“ der politischen Vertreter63, welche in einer „Legi-timation durch Verfahren“ als hinreichende Beweggründe für ein defi nitives Versagen letztlich ausscheiden dürften. Für Henry betriff t die entscheidende Frage vielmehr die fehlende Begründung des Demokratischen selbst. Das, was er in Frage stellt, sind also die Fundamente der Demokratie, d.h. Freiheit und Gleichheit der Individuen, wie sie durch die „Menschenrechte“ bestimmt erscheinen. Wie er völlig zurecht ausführt, stellen die Menschenrechte kein formales Prinzip dar. Im Gegenteil machen sie den Kern dessen aus, was man unter „materieller Demokratie“ versteht. Dies bedeutet genauerhin, dass sie nicht als prozedural zugestandene Attribute verstanden werden dürfen, da unter dieser Prämisse prinzipiell auch ihre mögliche Negation demokratisch legitimiert werden könnte.64 Aus dieser Überlegung folgt wiederum, dass die Demokratie ihr Prinzip — Lévinas spricht hinsichtlich der Menschenrech-te analog von einem „extra-territorialen Anspruch“ — letztlich nicht in sich selbst fi nden kann: Denn „[w]ie kann das, was jeder Entscheidung voraus ist, aus einer solchen hervorgehen, auf einer solchen beruhen?“65 Dieser Widerspruch stellt sich Henry zufolge jedoch keineswegs zufällig ein, sondern resultiert, wie er festhält, aus dem Konzept der politischen Repräsentation:

Um sich zu verwirklichen hat das demokratische Prinzip die politische Reprä-sentation eingeführt, aber die politische Repräsentation [qua Substitution der Individuen durch Repräsentanten und Substitution der Allgemeinheit aller durch die „allgemeine Angelegenheit“; MS] ist die Negation des demokrati-schen Prinzips.66

Diese Kritik ist von enormer Tragweite, denn sie impliziert die grundsätz-liche Frage, ob und falls ja wie — politisch, ethisch oder religiös? — sich die Grundwerte der Demokratie legitimieren lassen. Vergegenwärtigt man sich dies, wird deutlich, dass wir hier im Gegenzug vor der entscheidenden Frage stehen, die sich Henrys Kritik des Politischen — und damit des politischen Denkens — gefallen lassen muss: Ist mit dieser gänzlich negativen Auff assung

63 Vgl. M. Henry, „Das Leben und die Republik“, a.a.O., S. 322 ff .64 M. Henry, „Diffi cile démocratie“, a.a.O., S. 172 f.65 Ebd., S. 181; vgl. Du communisme au capitalisme, a.a.O., S. 180. Die politische Th eorie

kennt diese Th ese als das sog. „Böckenförde-Paradoxons“: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ (Ernst W. Böckenförde, „Die Entstehung de Staates als Vorgang der Säkularisation“ (1967), in: ders., Staat, Gesellschaft, Frei-heit, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1976, S. 60) Lévinas hierzu: „Die Menschenrechte, derer es also nicht bedarf, verliehen zu werden, wären demnach unwiderrufl ich und unveräußerlich. Rechte, die, aufgrund ihrer Unabhängigkeit gegen alle Verleihung, die Andersheit oder das Absolute ei-nes jeden Menschen, die Aussetzung aller Referenz ausdrücken: Abschied von der bestimmenden Ordnung der Natur und des sozialen Körpers, in die, im übrigen und off ensichtlich, jeder ver-wickelt ist […]“ (E. Lévinas, „Die Menschenrechte und die Rechte des jeweils anderen“, in: ders., Verletzlichkeit und Frieden, Berlin: Dia phanes, 2007, S. 97–108, hier S. 98, vgl. S. 105 f.).

66 M. Henry, „Diffi cile démocratie“, a.a.O., S. 172.

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der Repräsentation als Vehikel der „Selbstorganisation der Gemeinschaft“67 wirklich der tiefe Sinn getroff en, den dieses Konzept im Zuge der „demokra-tischen Revolution“ (C. Lefort) annimmt? Unsere Antwort lässt sich in die Form einer knappen Th ese bringen: Die Kritik an der Politik, die von Henry in Form einer Kritik an ihrem — bzw. dem in ihrem Namen vorgetragenen — Autonomieanspruch und der daraus nur allzu leicht resultierenden Hypo-stasierung vorträgt, bleibt in einer gewissen Hinsicht oberfl ächlich. Sie bleibt es, da sie nicht den genuinen Sinn politischen Handelns als Handeln im Raum des — sich eben dadurch eröff nenden — Politischen erschließt, der die Demo-kratie ausmacht.68 Anders formuliert bleibt Henry die Einsicht in das Eigen-wesen des Politischen verschlossen, weil er die Symbolisierung — die es uns ermöglicht, uns gerade auf das zu beziehen, was undarstellbar bleibt, nämlich das Abwesen eines substantiellen Wesens von Gemeinschaft69 — als Form der Re-präsentation denkt und mithin als irrealisierenden Akt missversteht. Da-gegen gälte es, die Symbolisierung als inter-subjektive Praxis der Appräsentati-on zu denken, die das Individuum zu einem neuen, nämlich gemeinschaftlichen Ausdruck ihrer selbst und so zur Steigerung seiner Potentiale zu bringen vermag, ohne die appräsentierte Referenz in irgendeiner Weise zu hypostasieren.70

67 Ebd., S. 179.68 Zu dieser Auff assung des Gemeinschaft stiftenden Potentials gemeinsamen Handelns,

das den Raum seiner Realisierung performativ hervorbringt, aber nicht in einer bestimmten Form voraussetzt, vgl. H. Arendt, Vita activa, München: Pieper, 1967. In den bewundernswer-ten Seiten, die der Konstitution des „Bezugsgewebes menschlicher Angelegenheiten“ gewidmet sind, zeigt sie, dass das „Zwischen“, das den „objektiven Zwischenraum in allem Miteinander […] überwuchert“, „nicht aus Dinghaftem besteht“ (ebd., S. 225). Seine Off enbarungsmäch-tigkeit ist nicht die eines lumen naturale, nicht die des Hegelschen „Staatslichts“, aber auch nicht die Lichtung der Schau bei Husserl oder der Ekstase bei Heidegger, nicht also das „Licht der Welt“ als alleiniges Individuationsprinzip.

69 T. Bonacker bringt diesen Kerngedanken der neueren politischen Philosophie auf den Be-griff : „Keine Symbolisierung der Gemeinschaft […] kann mit der Gemeinschaft selbst zusam-menfallen – im Gegenteil: Nur weil diese Identität der Gemeinschaft mit ihrer Symbolisierung unmöglich ist, muß eine Gemeinschaft überhaupt symbolisiert werden. Eine Symbolisierung stiftet folglich eine Gemeinschaft erst – wenn auch unvollkommen.“ (T. Bonacker, „Gewalt in der Gemeinschaft. Möglichkeiten und Grenzen symbolischer Integration“, in: K. Scherpe und T. Weitin (Hg.), Eskalationen. Die Gewalt von Kultur, Recht und Politik, Tübingen et al.: Francke, 2003, S. 135–149, hier S. 136)

70 Dies meint die Rede von der Leerstelle der Macht, deren Ausübung nicht mehr durch den Bezug auf irgendeine Transzendenz legitimiert werden kann, aber auch nicht durch die Insti-tuierung einer allgemeinen Form der Öff entlichkeit (!), was gerade auch Habermas’ rationaler Metadiskurs tut. Die mit der Rede von der Leerstelle angezeigte „Entkörperlichung der Macht“ (Lefort) impliziert vielmehr, dass „die Transzendenz oder Andersheit, die mit der Idee des Ge-setzes und eines höchsten Gerichts [d.h. mit der ‚demokratischen Revolution‘, MS] verbunden ist, der Identität der Gemeinschaft immanent“ [bleibt] (J.-F. Lyotard, Postmoderne Moralitäten, Wien: Passagen, 1998, 75) – und d.h. in der Gesellschaft selbst andere Räume (exemplarisch die Zivilgesellschaft) bildet, an denen sich der Dissens nicht nur zu artikulieren vermag, son-dern auch als Moment des Politischen vernommen wird.

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Diese Verfehlung des Symbolischen scheint nun auch für Henrys Verken-nung der eigenwesentlichen Phänomenalität des Politischen verantwortlich zu sein. Dabei resultiert diese Verkennung daraus, dass Henry die Konsti-tutionslogik des Politischen — zwar zumeist nur zwischen den Zeilen, aber zurecht, wie mir scheint — am Leitfaden der Metapher des „politischen Kör-pers“ abliest, ohne jedoch zu erkennen, dass deren Integrationskraft unter den Bedingungen der „demokratischen Revolution“ wenn auch keineswegs gegenstandslos, so aber doch brüchig geworden ist. Und in der Tat ist diese Tradition des politischen Denkens, die das Politische in Analogie zu organi-schen Körperbildern und davon abgeleiteten Ganzheitsvorstellungen denkt, vorherrschend. Das sie leitende „organizistisch-politische Schema“71 ist bei-leibe nicht nur in der politischen Th eologie des Mittelalters (Kantorowicz), sodann in der mit Hobbes anhebenden Tradition der Vertragstheorie und schließlich — in äußerster Wirkmächtigkeit — in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts je verschiedentlich von grundlegender Bedeutung gewesen. Es bleibt vielmehr auch, wie gerade neuere Forschungen zeigen, für die liber-tär-repräsentativen Demokratien der Gegenwart leitend. Auch diese können nämlich der Integrationskraft von Körperbildern nicht abschwören, ohne das politische Vakuum, das die Austreibung des „mystischen Körpers des Königs“ freisetzt, einer anderweitigen Formung der unabsehbaren Aff ektregungen der Massen zu überlassen72, wie die vielerorts zu beobachtende gewaltsame Wie-derkehr von Nationalismen bzw. Tribalismen bezeugt.

Dass derartige Hypostasierungen einer inkorporierten Gemeinschaft eine bleibende Versuchung darstellen, wie Henry in Du communisme au capitalis-me — über Nazismus wie Kommunismus hinaus denkend — zeigt, ist unbe-stritten. Was sich historisch ändert, sind jedoch die grundlegenden Referen-zen, denen das Paradigma der Inkorporation der Gemeinschaft je unterstellt wird. Denn anstatt die Souveränität im Körper des Monarchen zu verankern, wurde sie nach den Revolutionen auf die organische Einheit der Nation bezo-gen und durchläuft sie nun unter den Vorzeichnen der Postmoderne zweifel-los eine Krise, sofern die identitätsstiftende „Selbstemblematisierung sozialer Gruppen“73 die funktionale Integrationskraft übergeordneter, insbesondere

71 J. Rogozinski, „‚Wie die Worte eines berauschten Menschen…‘ Geschichtsleib und poli-tischer Körper“, in: H. Nagl-Docekal (Hg.), Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten, Frankfurt/M.: Fischer, 1996, S. 333–372, hier S. 336.

72 Zur Unsterblichkeit des mystischen Körpers des Königs vgl. E. Kantorowicz, (Die zwei Körper des Königs, München: DTV, 1990, S. 218 ff .); zum Nachleben der Th eorien des „po-litischen Körpers“ in der Demokratie vgl. sodann P. Manow, Im Schatten des Königs. Die po-litische Anatomie demokratischer Repräsentation, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008; zur wesent-lich aff ektiven Morphologie der sozialen Masse vgl. schließlich E. Canetti, Masse und Macht, Frankfurt/M.: Fischer, 1980, bes. S. 14 ff .

73 H.-G. Soeff ner, Auslegung des Alltags — Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1989, S. 160.

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staatlicher Einheiten und Institutionen zusehends aushebelt74, wie die Kri-sen innergesellschaftlicher Solidarität etwa deutlich zeigen. Wie dem auch sei, entscheidend bleibt, dass die gesuchte Einheit bzw. Ganzheit nur „symbo-lisch appräsentiert“ werden kann, nie aber anschaulich zu vergegenwärtigen ist. Damit aber bleibt die uralte, weil aus der Verletzlichkeit des individuellen Leibes geborene Angst vor der Desintegration eines Körpers, der des Anderen bedarf, um sich als Ganzes wahrzunehmen, prinzipiell virulent.75 Dass diese Angst als „Drohung einer panischen Zerstückelung, eines Zerstörens der so-zialen Bande“76 erfahren wird, die vom Anderen ausgeht, sollte uns in diesem Zusammenhang nicht wundern: Diese Zuschreibung erklärt sich daraus, dass der Andere — mit Husserl gesprochen — der „erste Mensch“ ist und somit unmittelbar als phantasmatische Projektionsfl äche jener un austreibbaren in-neren Nicht-Identität des leiblichen Subjekts dient, deren Negierung Selbsti-dentifi kation allererst möglich machen soll.77

Versteht man gesellschaftliche Organisation als „praktisch gewordene Me-taphorik“ und betrachtet man vor diesem Hintergrund die historische Ausdif-ferenzierung und Transformation der Körper-Metapher, so lässt sich die Vor-herrschaft eines politisch-ökonomischen Körperdiskurses, der die fi ktive Rea-lität des Staates ontologisch zu verdichten auftritt, kaum leugnen.78 Zu fragen bleibt jedoch, ob mit der „demokratischen Revolution“ letztlich nicht doch auch „neue, der Leibwahrheit nähere [sc. politische; MS] Konfi gurationen“79 aufbrechen, die gegen die Hypostasierung des Politischen wenn schon nicht immun, so doch mindestens allergisch sind. Solche Konfi gurationen lassen sich in der Tat, so meine Th ese, im Rückgriff auf eine Phänomenologie des Leibes aufweisen. Denn diese handelt ja gerade davon, dass der lebendige Leib, der als Urbild des sozialen Körpers herhält, sich seinerseits weder je

74 Vgl. dazu S. Lüdemann, „Vom politischen Symbol zum Totemismus der kleinen Grup-pen. Probleme der Identitätsrepräsentation in der Postmoderne“, in: M. Müller, T. Raufer und D. Zifonun (Hg.), Der Sinn der Politik. Kulturwissenschaftliche Politikanalysen, Konstanz: UVK, 2002, S. 67–76.

75 Das zeigt bereits Husserls Konstitutionstheorie des alter ego, psychoanalytisch wäre an Lacans Spiegelstadium zu denken, ohne dass damit irgendeiner Analogie dieser Th eorien das Wort geredet sei.

76 J. Rogozinski, „‚Wie die Worte eines berauschten Menschen …‘“, a.a.O., S. 337.77 E. Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Den Haag: Nijhoff , 1950,

S. 153. Zur Entstellung dieser Logik dieser Übertragung mit beispielhaftem Blick auf den „faschistischen Mann“ vgl. S. Kaltenecker, „Weil aber die vergessenste Fremde unser Körper ist. Über Männer-Körper-Repräsentationen und Faschismus“, in: M.-L. Angerer (Hg.), Th e Body of Gender. Körper / Geschlecht / Identität, Wien: Passagen, 1995, S. 91–109, hier S. 105.

78 Vgl. nochmals P. Manow, Im Schatten des Königs, a.a.O.; zu den entsprechenden „Lo-giken der Verkörperung“ und ihren historischen Transformationen dann A. Koschorke et al., Der fi ktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt/M.: Fischer, 2007, S. 55 ff .

79 J. Rogozinski, „‚Wie die Worte eines berauschten Menschen …‘“, a.a.O., S. 368.

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vollständig inkorporiert noch in objektiven Begriff en ausgesagt werden kann, seine folglich bloß unterstellte Einheit bzw. Ganzheit also keineswegs als Pro-totyp eines konstitutierenden Prinzips der Vereinheitlichung gelten darf.80 Darauf verweist bereits die grundlegende Einsicht Husserls, der den Leib — an der bekannten Stelle im zweiten Band der Ideen — ein „merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding“ nennt; darauf weist weiterhin Merleau-Pontys Einsicht in seine grundsätzliche chiasmatische Verfassung, die seine Inkorporation als unabschließbares Projekt entlarvt; und darauf insistiert nicht zuletzt Henrys Nachweis, dass die Selbstgegebenheit des leiblichen „Ich kann“ einen „unsichtbaren Leib“ und dessen „transzendentale Geburt“ im „absoluten Leben“ voraussetzt. Dass sich der Leib folglich nie vollständig als Körper zu ergreifen vermag, sondern immerfort von dieser „transzendenta-len Diff erenz“81 gezeichnet bleibt, ist von grundlegender Bedeutung für eine Phänomenologie des Politischen, die uns an die Quellen politischer Gewalt führen könnte. Denn vergegenwärtigt man sich den irreduziblen Charakter dieser Diff erenz, so wird deutlich, dass der Prozess der Inkorporierung — d.h. die Synthese von Leib und Körper — in konstitutiver Weise von Krisen ge-zeichnet ist, d.h. immer wieder in eine Entleiblichung umschlägt.82 Die damit angesprochene Stockung der Synthese aber ist kein folgenloses Ereignis. Der Rückschlag, den sie für die Inkorporierung des subjektiven Leibes bedeutet, kehrt auf der Ebene ihrer symbolischen Transposition auf einen einheitlichen Gesamtkörper wieder — und zwar in verschärfter Form, da die Hypostase dieses einheitlichen und ganzen Körpers hier ein weiteres Mal hypostasiert wird. Dieser Hypostase setzt sich dabei — gewissermaßen als „ursprüngliches Supplement“ — das Phantasma eines in seiner Verletzlichkeit bzw. Korrup-tion monströsen Körpers zur Seite, der sich des Fremden im Selbst zu entle-digen bzw. seiner Infragestellung von außen aggressiv zu erwehren sucht, um seine integrierende Funktion erfüllen zu können — ja um sich so im Grunde allererst selbst hervorzubringen. Eine zentrale Aufgabe der Phänomenologie des Politischen muss folglich darin bestehen, die Schemata dieser Transposi-tion zu isolieren, das Spektrum ihrer Transformationen bloßzulegen und den Schein ihrer Notwendigkeit zu destruieren, in dem sich der Totalitarismus erhebt. Es gilt also, anders gesagt, die Genese der Phantasmen Ganzheit und Einheit auf die „transzendentale Diff erenz“ des Leibes zurückzubeziehen. Nur

80 Die Analogie ist also als eine „symbolische Hypotypose“ im Sinne Kants zu verstehen, d.h. als „Übertragung der Refl exion über einen Begriff der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff , dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann“ (I. Kant, Kritik der Urteilskraft, B 257; dort exemplifi ziert am monarchischen Staat).

81 J. Rogozinski, „‚Wie die Worte eines berauschten Menschen …‘“, a.a.O., S. 342.82 Diese komplexe Bewegung, in der die Verleiblichung sowohl auf subjektiver wie auf

intersubjektiver Ebene durch eine Entkörperung beansprucht wird und darauf mit der Bildung „transzendentaler Phantasmen“ reagiert, zeichnet J. Rogozinski im bereits mehrfach zitierten Text minutiös nach (ebd., bes. S. 343 ff .).

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so nämlich lässt sich verhindern, dass die Unmöglichkeit dieser vollständigen Konstitution in die De-Konstitution ihrer vorgeblich unselbständigen Teile umschlägt, d.h. in die Abwertung der Individuen, also in deren Tod im Na-men von Einheit und Ganzheit oder schlicht Totalität:

Alle Versuche, „den Körper wiederherzustellen“, die Gemeinschaften, die von der unaufhaltsamen Bewegung der Desinkorporierung mitgerissen werden, wieder zu inkorporieren, münden immer nur in instabilen Konfi gurationen. Sie führen zu phantasmatischen Quasi-Körpern, denen ständig die Aufl ösung droht und die wieder von der alten Furcht der Zerstückelung, dem alten Haß gegen den Fremden übermannt werden. Das ist der Nährboden für den To-talitarismus als Versuch, durch ein Band des Todes die prekäre Einheit eines in Aufl ösung begriff enen Körpers wiederherzustellen.83

Diese Beschreibung ist zutreff end, aber noch unzureichend. Denn der To-talitarismus ist nicht allein dadurch ausgezeichnet, dass er es versteht, den „Reiz des Ganzen“ an die „Angst vor der Zerstückelung“ zu binden.84 Seine Diabolik besteht vielmehr darin, dass er dieses „Band des Todes“ im Indivi-duum selbst sich weben lässt. Dies kann ihm nur gelingen, sofern er es dazu bringt, sich in seiner metaphysischen Bedingung selbst zu negieren. Diese Bewe-gung in aller Klarheit nachgezeichnet zu haben, darin sehe ich den unverzicht-baren Beitrag von Henrys Analyse des Totalitarismus. Zu ergänzen bleibt sie, wie ich zu zeigen versuchte, durch den Nachweis, wie diese Selbstnegation die Ausbeutung dessen voraussetzt, was wir die „Leibdiff erenz“ des Individuums genannt haben, wie sie verschiedentlich daran arbeitet, diese still zu stellen.

83 Ebd., S. 366 (unsere Hvh.).84 Vgl. C. Lefort, „L’image du corps et le totalitarisme“, in: ders., L’invention démocratique.

Les limites de la domination totalitaire, Paris: Fayard, 1981, S. 165–175.