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Sommerakademie St. Bonifaz 2012 „Die katholische Kirche und der Nationalsozialismus“ Die katholische Kirche und der Nationalsozialismus: die Dramatik einer Kontroverse Von Prof. Dr. Karl-Joseph Hummel Nach Ansicht des englischen Gelehrten Samuel Butler unterscheiden sich Gott und ein Histo- riker dadurch, dass Gott die Vergangenheit nicht mehr ändern kann. Es spricht Gott sei Dank aber auch nichts dafür, dass ausgerechnet die Historiker diese Kompetenz hätten. Es ist schon schwierig genug, unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Einsichten ein bereits vertrautes Geschichtsbild einer Vergangenheit noch zu korrigieren, von der Vergangenheit selbst ganz zu schweigen. Das bekannteste Lehrbeispiel der kirchlichen Zeitgeschichte für ei- nen jahrzehntelangen Kampf um die Deutung ist Papst Pius XII.; den einen gilt er als Heili- ger, andere halten den „Papst, der geschwiegen hat“, für einen „satanischen Feigling(Hoch- huth). Am Anfang der Erinnerungsbildung steht immer der Zeitzeuge, der „natürliche Feind des Historikers“, wie Hans Günter Hockerts formuliert hat, nicht die wissenschaftliche Erkennt- nis. Die subjektive Wahrnehmung der Erlebnisgeneration ist konstitutiv für eine erste Fassung eines Geschichtsbildes, die gewöhnlich empirisch abgesicherter und farbiger ausfällt als die Erinnerung der Nachgeborenen, die diese Zeit nicht mehr aus eigener Erfahrung kennen. Die wissenschaftliche Zeitgeschichtsforschung in der zeitlichen Reihenfolge nach den Zeitzeu- gen und den Nachgeborenen die Dritte im Bunde strebt eine umfassendere, objektivere Er- kenntnisqualität an, als sie die individuelle Geschichtserfahrung der Zeitzeugen bieten kann, muss sich dafür aber gedulden, bis die notwendigen Quellen zur Verfügung stehen. In Fragen, die für eine breitere Öffentlichkeit interessant sind, wird über die Deutungshoheit zwischen zeitgenössischem Erinnern und wissenschaftlicher Erkenntnis in öffentlichem Diskurs ent- schieden. In dieser Diskussion bleiben die Wissenschaftler also nicht unter sich, sondern kon- kurrieren zum Beispiel mit Historiker-Journalisten, die mit ihrem massenmedialen Instrumen-

Die katholische Kirche und der Nationalsozialismus: die ......Die Dramatik einer Kontroverse 5 zialismus“ (Lortz, 1933) durchaus vorstellen konnten. Die – mit kirchlicher Druckerlaubnis

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Sommerakademie St. Bonifaz 2012

„Die katholische Kirche und der Nationalsozialismus“

Die katholische Kirche und der Nationalsozialismus:

die Dramatik einer Kontroverse

Von Prof. Dr. Karl-Joseph Hummel

Nach Ansicht des englischen Gelehrten Samuel Butler unterscheiden sich Gott und ein Histo-

riker dadurch, dass Gott die Vergangenheit nicht mehr ändern kann. Es spricht – Gott sei

Dank – aber auch nichts dafür, dass ausgerechnet die Historiker diese Kompetenz hätten. Es

ist schon schwierig genug, unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Einsichten ein bereits

vertrautes Geschichtsbild einer Vergangenheit noch zu korrigieren, von der Vergangenheit

selbst ganz zu schweigen. Das bekannteste Lehrbeispiel der kirchlichen Zeitgeschichte für ei-

nen jahrzehntelangen Kampf um die Deutung ist Papst Pius XII.; den einen gilt er als Heili-

ger, andere halten den „Papst, der geschwiegen hat“, für einen „satanischen Feigling“ (Hoch-

huth).

Am Anfang der Erinnerungsbildung steht immer der Zeitzeuge, der „natürliche Feind des

Historikers“, wie Hans Günter Hockerts formuliert hat, nicht die wissenschaftliche Erkennt-

nis. Die subjektive Wahrnehmung der Erlebnisgeneration ist konstitutiv für eine erste Fassung

eines Geschichtsbildes, die gewöhnlich empirisch abgesicherter und farbiger ausfällt als die

Erinnerung der Nachgeborenen, die diese Zeit nicht mehr aus eigener Erfahrung kennen. Die

wissenschaftliche Zeitgeschichtsforschung – in der zeitlichen Reihenfolge nach den Zeitzeu-

gen und den Nachgeborenen die Dritte im Bunde – strebt eine umfassendere, objektivere Er-

kenntnisqualität an, als sie die individuelle Geschichtserfahrung der Zeitzeugen bieten kann,

muss sich dafür aber gedulden, bis die notwendigen Quellen zur Verfügung stehen. In Fragen,

die für eine breitere Öffentlichkeit interessant sind, wird über die Deutungshoheit zwischen

zeitgenössischem Erinnern und wissenschaftlicher Erkenntnis in öffentlichem Diskurs ent-

schieden. In dieser Diskussion bleiben die Wissenschaftler also nicht unter sich, sondern kon-

kurrieren zum Beispiel mit Historiker-Journalisten, die mit ihrem massenmedialen Instrumen-

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Karl-Joseph Hummel

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tarium selbst dann eine sehr viel größere Wirkung erzielen, wenn dafür die Konturen so stark

betont werden müssen, dass jede Nuancierung nicht als Beitrag zur Gerechtigkeit im Urteil

begrüßt, sondern als unnötig störendes Beiwerk verworfen wird. Hand aufs Herz: Wer von

Ihnen könnte nach der jüngsten Fernsehsendung über Sr. Pasqualina noch einen Dritten über-

zeugen, dass der Anteil der bayerischen Klosterschwester an der Lenkung der Kirche geringer

oder anders gewesen sein könnte, als Christine Neubauer es uns glauben gemacht hat?

Die nicht ohne weiteres aufzulösende Spannung zwischen Geschichte, Geschichtswissen-

schaft und Geschichtspolitik prägt seit bald 70 Jahren auch das international, interdisziplinär

und teilweise auch interkonfessionell geführte Streitgespräch über die Rolle der katholischen

Kirche im „Dritten Reich“. Diese Debatte bezieht ihre Antriebsdynamik häufig aus dem Ver-

zicht auf eine trennscharfe Definition der Begriffe und einem dadurch erleichterten ständigen

Wechsel der Maßstäbe und Beurteilungskriterien, der methodischen Verfahren, der Fragestel-

lungen und Argumentationsebenen. Bisweilen bleibt auch für den aufmerksamen Zuhörer un-

klar, wovon eigentlich die Rede ist. Sprechen wir – wenn wir von der katholischen Kirche

sprechen – über die internationale katholische Kirche oder über die deutschen Katholiken,

sprechen wir über den Papst, die Bischöfe oder die Laien, diskutieren wir pastorale Fragen,

kirchenpolitische Konzepte oder die weltanschauliche Auseinandersetzung von Christen mit

einem totalitären Alternativanspruch? Ist von Kirche in den „Friedensjahren“ des Dritten Rei-

ches die Rede oder von „Kirche im Krieg“?

Es wäre reizvoll gewesen, die Dramatik der Kontroverse einmal am Beispiel des Natio-

nalsozialismus als politischer Religion darzustellen, als einer Bewegung, die selbst Kirche

werden wollte, und auf dem Weg dazu bei der katholischen Kirche mehr entlehnt hat als die

Liturgie der Reichsparteitage oder die Gestaltung eines Gruppenabends in der Hitlerjugend.

Die unmittelbare Konkurrenz zeigt sich auch in der Wahrnehmung der Gegenseite, wenn ein

Pfarrer am Christkönigstag über das Thema predigt: „Unser Führer ist Christus.“ Oder wenn

in einem NS-Schulungsgedicht der direkte Vergleich gezogen wird: „Wir sind die fröhliche

Hitlerjugend, wir brauchen keine christliche Tugend. Denn Adolf Hitler ist unser Mittler und

Erlöser. Kein Pfaff, kein böser kann uns verhindern, uns zu fühlen als Hitlers Kinder. Nicht

Christus folgen wir, sondern Horst Wessel. Fort mit Weihrauch und Weihwasser-Kessel. Wir

folgen singend Hitlers Fahnen, nur dann sind würdig unserer Ahnen. Ich bin kein Christ und

kein Katholik, ich geh mit SA durch dünn und dick. Die Kirche kann mir gestohlen werden,

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das Hakenkreuz macht mich glücklich auf Erden. Ihm will ich folgen auf Schritt und Tritt,

Baldur von Schirach nimm mich mit!“.

Entgegen aller Versprechensrhetorik – zum Beispiel in der Regierungserklärung Adolf

Hitlers im März 1933 – lief die Auseinandersetzung von Anfang an auf die Frage hinaus, ob

das Christentum in Europa künftig noch geduldet sein würde oder nicht. Die im Reichssicher-

heitshauptamt vorgedachte „Endlösung für das Christentum“ wurde lediglich aus taktischen

Gründen auf die Zeit nach dem „Endsieg“ verschoben. Edith Stein hat auf diesen Aspekt be-

reits 1933 in ihrem Brief an Papst Pius XI. aufmerksam gemacht.

Ich habe mich dann aber für den repräsentativeren Weg entschieden, Ihnen in sechs

Punkten einen Überblick über die Forschungsgeschichte zur Katholischen Kirche im Dritten

Reich seit 1945 zu geben, und mute Ihnen zu, das dramatische Gesamtbild aus den vielen

Konfliktbeispielen selbst zusammenzusetzen, die über 12 Jahre den Kampf zweier Weltan-

schauungen illustrieren, die beide – mit unterschiedlicher Begründung – Anspruch auf den

ganzen Menschen erhoben haben.

I. Die Selbstinterpretation der Erlebnisgeneration 1945

Walter Benjamins „Engel der Geschichte“ gibt die Ausgangslage unserer Überlegungen ein-

drucksvoll wieder. Mit dem Rücken zur Zukunft und mit dem Gesicht zur Vergangenheit –

betrachtet er entsetzt apokalyptische Zustände. „Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund

steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er

hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet.“

Nachdenklichen Zeitgenossen wie Werner Bergengruen, Reinhold Schneider oder Roma-

no Guardini ist es zu danken, dass unmittelbar 1945 und in den ersten Nachkriegsjahren ein

erstaunlicher Vergangenheitsdiskurs der deutschen Katholiken stattgefunden hat. Sie hatten

das persönliche Format und die geistigen Voraussetzungen, der Vergangenheit ins Auge zu

sehen. Für sie ging es um die Klärung existentieller Grundfragen, um die Einsicht in die län-

gerfristigen Ursachen der beispiellosen menschlichen Katastrophe. „All das Furchtbare ist

doch nicht vom Himmel gefallen – sagen wir richtiger, aus der Hölle heraufgestiegen! […]

Ungeheuerlichkeiten von solcher Bewusstheit […] kommen aus Verstörungen und Vergiftun-

gen, die seit langem am Werk sind.“ Andere fühlten sich wie „Der Mensch vor dem Gericht

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der Geschichte“ (Reinhold Schneider, 1946) oder „Draußen vor der Tür“ (Wolfgang Borchert,

1947). Für sie war der „dies irae“ (Werner Bergengruen. 1946), das „Ende der Neuzeit“ (Ro-

mano Guardini, 1950) gekommen.

Nach den bitteren Erfahrungen des „Dritten Reiches“ musste man neue Wege gehen und

konnte nicht einfach an die Zeit vor 1933 anknüpfen. In zahlreichen katholischen Publikatio-

nen – FRANKFURTER HEFTE, HERDER KORRESPONDENZ, HOCHLAND, DIE NEUE ORDNUNG,

STIMMEN DER ZEIT – wurde eine intensive Diskussion um die Neuordnung von Staat und Ge-

sellschaft geführt, an der sich geradlinige Kritiker wie Konrad Adenauer ebenso beteiligten

wie die „Vielseitigen“, die darin auch das Problem ihrer individuellen Vergangenheit zu lösen

oder zu verdrängen hatten. Walter Dirks zum Beispiel hatte im Juli 1933 das Reichskonkordat

als logische Konsequenz aus der begrüßten Auflösung des Zentrums bezeichnet. „Am meisten

aber gewinnen wir deutsche Katholiken, wir katholische Deutsche, die wir nicht zwischen

Staat und Kirche stehen, sondern mitten in beiden. […] Dies Konkordat vollendet das, was

mit der Liquidierung der katholischen Parteien begonnen hat.“ Dirks forderte in den Tagen

der Zeitenwende 1933 auch „Mut zum Ende und Mut zum Anfang“ und warnte davor, jetzt,

nachdem die Hemmungen von Weimar gefallen sind und der Weg frei ist, in der staatstragen-

den NSDAP für das kommende Reich zu arbeiten, sich den nüchternen Blick auf die Sozial-

welt zu versperren und abseits zu stehen. 1945 trat Dirks als Wortführer einer kritischen

Gruppe auf, die den deutschen Bischöfen im August 1945 eine 26seitige „Anregung für eine

Kundgebung“ zuleitete, um den Episkopat zu einem „Mitschuldbekenntnis am Nationalsozia-

lismus“ zu bewegen.

Nach dem 30. Januar 1933 handelte es sich aber nicht mehr nur um die Positionierung der

Katholiken gegenüber einer mit dem Zentrum konkurrierenden Partei, sondern um die Frage,

ob und in welcher Weise Katholiken sich in dem neuen Staat engagieren sollen oder dürfen,

dessen Repräsentanten eindeutig zu den weltanschaulichen Gegnern zu rechnen waren. Auf

der anderen Seite wollte man sich als Minderheit nicht erneut im gesellschaftlichen Abseits

wiederfinden, zumal das politische Bauchgefühl eine „Zeitenwende“ signalisierte, im positi-

ven wie im negativen Verständnis.

Beteiligt an der Verwirrung der Geister waren damals aber nicht nur die deutschen Bi-

schöfe, sondern auch prominente Theologen wie Michael Schmaus, Joseph Lortz und Karl

Adam, die sich „Begegnungen zwischen katholischem Christentum und nationalsozialisti-

scher Weltanschauung“ (Schmaus, 1933) oder einen „Katholischen Zugang zum Nationalso-

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zialismus“ (Lortz, 1933) durchaus vorstellen konnten. Die – mit kirchlicher Druckerlaubnis –

im Verlag Aschendorff, Münster neu eingerichtete Schriftenreihe „Reich und Kirche“ sollte

dem Aufbau des Dritten Reiches „aus den geeinten Kräften des nationalsozialistischen Staates

und des katholischen Christentums“ dienen, zwischen denen kein grundsätzlicher Wider-

spruch bestehe. Tatsächlich sind in dieser Reihe aber nur insgesamt 5 Schriften (Lortz, von

Papen, Taeschner, Schmaus, Pieper) erschienen.

Kardinalstaatssekretär Pacelli schrieb 1934 in einer Denkschrift an den deutschen Vati-

kanbotschafter Diego von Bergen: „Im staatspolitischen Bereich werden die gläubigen Katho-

liken jeder berechtigten Beanspruchung ihrer Treue und Opferbereitschaft nachkommen.

Wenn sie ihre Unterstützung solchen Strömungen verweigern, die unter staatspolitischer Tar-

nung weltanschaulich-irreligiöse Ziele verfolgen, dann tun sie dies nicht deshalb, weil sie dem

Staate nicht geben wollen, was des Staates ist, sondern weil sie den heiligen Imperativ des

Schriftwortes vor sich sehen: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“

Nach dem Erscheinen der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ (1937) teilte Pacelli von

Bergen offen mit, nur wegen seines Antibolschewismus könne man nicht die Augen davor

verschließen, dass der Nationalsozialismus einen Vernichtungskampf gegen das Christentum

führe. Der Vatikan habe bis in die jüngsten Tage keine Gelegenheit ausgelassen, „die geistige

Abwehrfront der Gläubigen gegen den atheistischen Bolschewismus zu festigen und auszu-

bauen. Der Würde und pflichtmäßigen Unparteilichkeit seines obersten Hirtenamtes ist der

Heilige Vater es jedoch schuldig, über der Verurteilung des bolschewistischen Wahn- und

Umsturzsystems das Auge nicht zu verschließen vor solchen Irrtümern, die sich in anderen

politischen und weltanschaulichen Richtungen einzunisten und nach der Herrschaft zu drän-

gen anheben. […] Nichts ist abwegiger als unter den geistigen Mächten der Welt dem Chris-

tentum und den ihm eigenen Wahrheits- und Lebenswerten ihre Wirkungsmöglichkeiten zu

verengen und die Kirche daran zu hindern, die in ihr ruhenden und einsatzbereiten Kräfte zur

geistigen Überwindung der im Bolschewismus enthaltenen Irrtümer und Irrwege zum Segen

der Völker voll zu verwirklichen. Gerade diesem Irrtum und der aus ihm erwachsenden Fehl-

haltung sind führende Kreise des gegenwärtigen Deutschland in einem besorgniserregenden

Umfang verfallen.“

Das Spektrum der Selbstwahrnehmung der deutschen Katholiken reichte von der Ein-

schätzung des KZ-Gefangenen und späteren Münchner Weihbischofs Neuhäusler in Bezug

auf den weltanschaulichen Widerstand bis hin zu den Selbstvorwürfen, wie sie der Gefangene

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in Moabit, Albrecht Haushofer, in einem Sonett formuliert hat. Neuhäusler kommt zu dem

Ergebnis: „Der Widerstand war kräftig und zäh, bei hoch und nieder, bei Papst und Bischö-

fen, bei Klerus und Volk, bei Einzelpersonen und ganzen Organisationen.“

In Albrecht Haushofers Gewissenserforschung heißt es:

Ich trage leicht an dem, was das Gericht

Mir Schuld benennen wird: an Plan und Sorgen.

Verbrecher wär ich, hätt ich für das Morgen

Des Volkes nicht geplant aus eigner Pflicht.

Doch schuldig bin ich, anders als ihr denkt!

Ich musste früher meine Pflicht erkennen,

Ich musste schärfer Unheil Unheil nennen.

Mein Urteil hab ich viel zu lang gelenkt…

Ich klage mich in meinem Herzen an:

Ich habe mein Gewissen lang betrogen.

Ich hab mich selbst und andere belogen –

Ich kannte früh des Jammers ganze Bahn.

Ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar!

Und heute weiß ich, was ich schuldig war.

Ein vergleichbar breites Spektrum von dankbarer Bilanz bis zu scharfer Kritik lässt sich auch

im Blick auf die deutschen Bischöfe herausarbeiten. In der Öffentlichkeit galten sie 1945 als

glaubwürdige Repräsentanten einer moralischen Gegenöffentlichkeit, als Opfer des National-

sozialismus, und wurden deshalb auch von den Alliierten als bevorzugtes Gegenüber behan-

delt. Die Ernennung von drei deutschen Bischöfen zu Kardinälen an Weihnachten 1945 war

der symbolische Dank des Vatikans, ein Beitrag zu der laufenden Kollektivschulddiskussion

und ein unmissverständliches Zeichen an die Weltöffentlichkeit, dass es auch ein „anderes“

Deutschland gegeben hat.

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Otto B. Roegele kam dagegen zu dem Urteil: „Die Kirche des Frühjahrs 1945 war somit

durchaus nicht mehr die Kirche des Jahres 1932 – eine Tatsache, deren Geringachtung sich

bitter rächen wird. Sie hatte zwar einerseits fast alles eingebüßt, was über die Ausübung des

Kults und über die religiöse Substanz in der Familie und in der klein gewordenen Gemeinde

hinausging; sie hatte zwar ihre Außenwerke, ihre Organisationen, verloren; es kann ihr der

Vorwurf nicht erspart bleiben, daß sie als Instanz der geistigen Führung der Nation auf weiten

Strecken der jüngsten Geschichte versagt und damit Schuld auf sich geladen hatte. Aber dafür

war sie vom Blut ihrer Märtyrer verjüngt.“

Bei der ersten Nachkriegskonferenz der Bischöfe im August 1945 in Fulda wurde nach

dem Tod von Kardinal Bertram auf die erwartete Auseinandersetzung über den Kurs der letz-

ten 12 Jahre verzichtet. Die Bischöfe verabschiedeten stattdessen ein Hirtenwort mit einer

Schulderklärung, die in der Öffentlichkeit bis zum heutigen Tag nur selten wahrgenommen

wurde: „Wir beklagen es zutiefst: Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von

den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen, sind bei den Verbrechen gegen

menschliche Freiheit und menschliche Würde gleichgültig geblieben; viele leisteten durch ih-

re Haltung den Verbrechen Vorschub, viele sind selber Verbrecher geworden.“ – Die ver-

schobene Debatte unter den Bischöfen selbst wurde nicht nachgeholt.

II. Um 1960: das Gespräch der Zeitzeugen mit der Wissenschaft

und die Institutionalisierung der zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung

Nach einigen gesellschaftstherapeutisch notwendigen Jahren des „kollektiven Beschweigens“

(Hermann Lübbe) begann die Zeitzeugengeneration Ende der 1950er Jahre einen Diskurs mit

der Zeitgeschichtsforschung über das Ende der Weimarer Republik und die „Machtergrei-

fung“ 1933 – zu einem Zeitpunkt, zu dem auch die nachgewachsene Generation der damals

etwa 30jährigen sich aufgerufen fühlte, nach der Verantwortung der Väter für das Dritte

Reich zu fragen und das Nachkriegs-Establishment in seiner Dominanz zurückzudrängen. Die

Leitfrage hieß: Wie konnte es dazu kommen?

An die Stelle der Schriftsteller und Intellektuellen der zweiten Hälfte der 1940er Jahre

waren 15 Jahre später neue Wortführer getreten, der Jurist Ernst Wolfgang Böckenförde (geb.

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1930), die beiden katholischen Schriftsteller Carl Amery (1922–2005) und Heinrich Böll

(1917–1985) und der junge Protestant Rolf Hochhuth (geb. 1931).

Böckenförde verstärkte 1960/61 durch einen aufsehenerregenden Aufsatz im HOCHLAND,

der die Anfangsjahre des „Dritten Reiches“, den folgenreichen Meinungsumschwung der

deutschen Bischöfe vom 28. März 1933, das Reichskonkordat und den Untergang des politi-

schen Katholizismus in den Mittelpunkt rückte, die Diskussion über das Ende der Zentrums-

partei, über die Rudolf Morsey wenige Monate zuvor seine bahnbrechende Untersuchung

vorgelegt hatte.

Böckenförde hielt zunächst an der verbreiteten Überzeugung fest: „Die deutschen Katho-

liken hatten, von ihren Bischöfen und dem Klerus geführt und bestärkt, […] im Ganzen gese-

hen, tapfer widerstanden und sich dabei als überzeugungsfeste Gegner des Nationalsozialis-

mus erwiesen“, fuhr dann aber fort: Diese Selbsteinschätzung „war erklärlicherweise nicht

dazu angetan, die Frage zu stellen und zu erörtern, ob und wieweit die Katholiken und ihre

geistlichen Führer nicht selbst die NS-Herrschaft in deren Anfängen mitbefestigt und ihr die

eigene Mitarbeit angetragen hatten. […] Die deutschen Katholiken haben für ihr politisches

Verhalten von ihren Bischöfen mit hirtenamtlicher Autorität Ratschläge und Anweisungen

empfangen, die sie besser nicht befolgt hätten. Das wäre staatspolitisch richtig gewesen.“

Böckenfördes Thesen von der religiös-weltanschaulichen Geschlossenheit des Katholi-

zismus unter der politischen Führung des Episkopats und des Klerus einerseits und seiner in-

neren Distanz zu Staat und Gesellschaft der Moderne andererseits, die Feststellung eines tief

verwurzelten Antiliberalismus und einer damit korrespondierenden Anfälligkeit gegenüber

autoritären Konzepten, sowie die Diagnose eines auf den Kulturbereich reduzierten Politik-

verständnisses nahmen eine Analyse auf, die Walter Dirks bereits 1931 vorgenommen hatte

und dann 1963 in den FRANKFURTER HEFTEN wieder veröffentlichte. Dirks zweifelte in „Ka-

tholizismus und Nationalsozialismus“ (1931) nicht an, dass der Katholizismus auf der weltan-

schaulichen und kirchenpolitischen Ebene in einem „erklärten Abwehrkrieg gegen den Natio-

nalsozialismus“ stehe: „Die Ideologie der Nationalsozialisten ist der Kirche fremd.“ Aber:

„Die soziale Situation, in der sie mächtig geworden sind, ist den Katholiken nahe genug.“

Bei Böckenförde heißt es weiter: „Wie konnte es dazu kommen, daß die maßgebenden

geistlichen und geistigen Führer des deutschen Katholizismus im Jahre 1933 in Hitler und

dem NS-Staat Wegbereiter einer umfassenden Erneuerung sahen und ausdrücklich zur positi-

ven Mitarbeit und zur Unterstützung des NS-Regimes aufriefen?“.

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Wer sich in Geschichtspolitik einmischt, muss sich entsprechend vorbereiten, wer aus-

teilt, muss damit rechnen, angegriffen zu werden. Die strategischen Vordenker eines ge-

schichtspolitischen katholischen Frühwarnsystems um 1960 wussten sehr genau um diese Zu-

sammenhänge: Heinrich Krone (1895–1989), Johannes Schauff (1902–1990) und Karl Forster

(1928–1981). Der politikerfahrene Prälat Georg Schreiber (1882–1963), Wissenschaftler und

Zentrumspolitiker, stellte damals seinem jungen Mitarbeiter Rudolf Morsey (geb. 1927) die

Frage, ob er tatsächlich als noch nicht habilitierter Wissenschaftler das Risiko eingehen wolle,

sich zu „opfern“ und sich in diesen emotional und politisch aufgeladenen Auseinandersetzun-

gen zu engagieren.

Der Gründungsdirektor der Katholischen Akademie in Bayern, Karl Forster, hatte sich

die Vorbereitung einer Zeitzeugentagung, die er für 1961 plante, leichter vorgestellt. Rasch

zeigte sich, dass es manchen in jedem Fall noch zu früh war, anderen menschlich zu gefähr-

lich, wieder andere trugen Bedenken wegen einer möglicherweise schädigenden Auswirkung

auf den laufenden Bundestagswahlkampf. Christine Teusch (1888–1968) plädierte noch vier-

zehn Tage vor der Tagung für Verschiebung, weil sie nicht bei allen ohnehin handverlesenen

Teilnehmern die persönliche Zuverlässigkeit einschätzen könne. Die Einladung enthielt trotz

der strengen Vertraulichkeit eine ausführliche, offene Begründung für das innovative Unter-

nehmen: „Anlaß zur Planung dieser Tagung sind verschiedene Veröffentlichungen, die sich in

letzter Zeit mit der politischen Rolle des deutschen Katholizismus am Ende der Weimarer

Republik befasst haben. Historische Arbeiten widersprechen sich teilweise in der Darstellung

wichtiger Vorgänge. Kommunistische Äußerungen benützen bestimmte Aktenstücke als

Grundlage für eine hemmungslose Propaganda. Linkskatholische Thesen zur politischen Ver-

antwortung des katholischen Christen berufen sich auf Vorgänge, die durch ihre isolierte Her-

vorhebung zu Fehlurteilen führen. Die jüngere Generation im deutschen Katholizismus ist an

der Klärung mehrerer Sachverhalte in der Geschichte des deutschen Katholizismus am Ende

der Weimarer Republik stark interessiert. Der wichtigste Grund für das Vorhaben der Aka-

demie ist aber das Bestreben, das politische Wirken des deutschen Katholizismus in den Jah-

ren wichtiger Entscheidungen in das Licht der vollen geschichtlichen Wahrheit zu rücken. Zu

späterer Zeit soll diese Arbeit durch weitere Arbeitstagungen über den katholischen Wider-

stand gegen das nationalsozialistische Regime weitergeführt und ergänzt werden. Da die Ak-

tenlage mit der Annäherung an die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft immer lücken-

hafter und damit unzuverlässiger wird, kommt dem Erfahrungsaustausch zwischen katholi-

schen Historikern und den damals politisch tätigen Persönlichkeiten eine besondere Bedeu-

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tung zu. Wir dürfen Sie daher ergebenst um Ihre Mitwirkung bitten. Bei der ersten Fühlung-

nahme mit beteiligten und interessierten Persönlichkeiten konnte die Akademie eine erfreuli-

che Zustimmung zu dem Plan verzeichnen. Freilich wurden auch Bedenken laut, die in erster

Linie in der möglichen politischen Ausweitung einzelner Ergebnisse durch Unberufene oder

Böswillige begründet waren. Die Akademie will daher auf den strengen Klausurcharakter der

Tagung bedacht sein und nur Persönlichkeiten einladen, die zur Frage wirklich etwas beizu-

tragen haben. Sie bittet, auch diese Einladung als streng vertraulich zu behandeln. Diesem ers-

ten Einladungsschreiben liegt eine Liste der Persönlichkeiten bei, an die dieses Schreiben ver-

sandt wurde. Für ergänzende Hinweise ist die Akademie besonders dankbar. Wir bitten je-

doch, bei Nominierungen den geschlossenen Charakter der Arbeitstagung im Auge zu behal-

ten.“ Schließlich diskutierten 32 ausgewählte Personen zwei Tage lang über die deutschen

Katholiken und das Schicksal der Weimarer Republik.

Carl Amery schrieb seinen 1963 mit einem Nachwort von Heinrich Böll erschienenen

Bestseller: „Die Kapitulation – oder deutscher Katholizismus heute“ – auf Wunsch des

Schriftstellers Horst Eberhard Richter, der „Gruppe 47“ einmal das Wesen des deutschen Ka-

tholizismus zu erklären. In der Analyse der weiter fortschreitenden Säkularisierung der mo-

dernen Konsumgesellschaft unterschied sich Amery kaum von den deutschen Bischöfen. Mit

seiner Milieutheorie bot er freilich eine alternative Begründung: Das vorherrschende klein-

bürgerlich-bäuerliche Milieu des deutschen Katholizismus habe mit seinen Sekundärtugenden

aus dem letzten Jahrhundert (Arbeitsamkeit, Sauberkeit, Pünktlichkeit) die wahre Botschaft

des Christentums so überlagert, dass die Katholiken im Dritten Reich versagt hätten und zu

Mittätern geworden seien. Statt Widerstand zu leisten, als Menschenwürde und Menschen-

rechte verletzt wurden, hätten sie sich in reinem Milieuegoismus nur gewehrt, wenn kirchli-

che Machtpositionen in Gefahr gerieten. „Sentire cum ecclesia“ könne in der gegenwärtigen

Situation deshalb auch bedeuten, den Bruch mit dem existierenden Katholizismus zu verlan-

gen, in dem sich seither nichts grundsätzlich verändert habe. Amery war überzeugt: Unabhän-

gig vom Verhalten der Bischöfe, des Vatikans und des Zentrums 1933: „Das Milieu hätte

trotzdem kapituliert. Es hätte [...] entschieden, dass der Vatikan, das Zentrum, die Bischöfe im

Unrecht seien, und dass ihm kein Mensch zumuten könne, seine soziale Haut zu Markte zu

tragen. [...] Aber die Demokratie? Aber die Juden? Aber die Parteien und Männer der Linken?

Sie hätte das Milieu niemals verteidigt.“

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Die Dramatik einer Kontroverse

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Carl Amery begründete das für ihn zweifelsfreie Versagen des deutschen Katholizismus

1933 mit der „Kapitulation“ des deutschen Katholizismus vor dem „juste milieu“, den Werten

und Tugendvorstellungen seines Mehrheitsmilieus. „Sie bestimmen seinen Kurs, nicht die auf

die konkrete Lage angewendeten Forderungen der Botschaft.“

In seinem Nachwort zu Amerys Essay sah Heinrich Böll den deutschen Katholizismus

bezüglich der Vergangenheit „in einer geschickten Lage: wird er nach seiner Loyalität ge-

fragt, zeigt er das Konkordat vor […]; wird er um seiner Loyalität willen angegriffen, zeigt er

die katholischen Widerstandskämpfer vor.“ Böll ging es damals aber weniger um eine Ver-

gangenheitsdebatte als vielmehr um die aktuellen politischen Konsequenzen aus der ge-

schichtlichen Analyse. „Es ist die Hauptfrage in Carl Amerys Versuch“, so Böll, „ob ein jun-

ger Deutscher, der katholisch ist und entschlossen, keinen Wehrdienst zu leisten, […] des

Schutzes seiner Oberhirten gewiss sein darf.“ Die Vorlage zu dieser zunächst überraschenden

Schwerpunktsetzung hatte Amery mit einem Schuldbekenntnis geliefert: „Es ist üblich ge-

worden, nach dem Anteil unserer Schuld am Nazi-Regime zu fragen. […] Ich habe mich ob-

jektiv schuldig gemacht wie alle anderen, die in den Krieg zogen, und ich war subjektiv viel-

leicht einige Grade schuldiger, weil ich von der Unrechtmäßigkeit der ganzen Sache über-

zeugt war..“ Heinrich Böll hat sich damals geweigert, der Aufforderung zu einem persönli-

chen Schuldbekenntnis nachzukommen. Kürzlich aufgetauchte und von Götz Aly ausgewerte-

te Briefe Bölls legen es nahe, dass ihn daran vor allem seine ungewöhnlich offensiv getarnte

Doppelmoral gehindert haben könnte.

Die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der 1960er Jahre und die Diskussion um

die notwendigen Konsequenzen aus den unübersehbaren Auflösungserscheinungen des Mili-

eus wurden oft nicht direkt, sondern als Auseinandersetzung um die Vergangenheit ausgetra-

gen. Sie betrafen nämlich genau die Stützpfeiler des Milieus, die man im Kirchenkampf ge-

gen den Nationalsozialismus verteidigt hatte – den geschlossenen religiös-kirchlichen Kos-

mos, Fragen der Hierarchie, die Stellung der Laien, katholische Schulen, Presse, Jugendarbeit,

den politischen Katholizismus.

Jetzt erschienen auch die ersten Überblicksdarstellungen, beide aus amerikanischer Feder.

Der Pazifist Gordon Zahn veröffentlichte 1962/1965: „Die deutschen Katholiken und Hitlers

Kriege“, Günter Lewy publizierte 1964/1965 – begleitet von einer parallelen Spiegelserie

„Mit festem Tritt: Ins neue Reich“ – „Die deutschen Katholiken und das Dritte Reich“. Die

Intensität und Breite der zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung ließ dabei seit der Mitte

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der 1960er Jahre kaum einen Wunsch offen. Im Konflikt über die „Kardinalfehler“ vom Früh-

jahr 1933 einigte man sich nach harten persönlichen, wissenschaftlichen und politischen bzw.

kirchenpolitischen Diskussionen schließlich auf eine dreifache Unterscheidung: „Bis zum

März 1933 kennzeichneten ein Nebeneinander von innerer politischer Unsicherheit, äußerer

Geschlossenheit und weltanschaulicher Gegnerschaft die Reaktionen der Kirche und des Ka-

tholizismus auf die nationalsozialistische Machtergreifung.“

Der politische Aufstieg des Nationalsozialismus erfolgte ohne wesentliche Unterstützung

des katholischen Bevölkerungsdrittels, die konfessionelle Minderheit von ca. 21 Millionen hat

den Erfolg aber ebenso wenig verhindern können wie das Zentrum die Ernennung Hitlers zum

Reichskanzler am 30. Januar 1933. Die weitgehende Resistenz der Katholiken gegen die

Weltanschauung der Nationalsozialisten und ihren Totalitätsanspruch wurde in verschiedenen

Veröffentlichungen nachgewiesen und durch Martin Broszats Bewertung, die „Resistenz“ der

Katholiken sei die bedeutendste Konfliktlinie zwischen NS-Herrschaft und deutscher Gesell-

schaft gewesen, auch aus sozialgeschichtlicher Perspektive gestützt. Der weltanschauliche

Gegensatz zwischen Nationalsozialismus und katholischer Kirche war unüberbrückbar und

wurde – trotz einiger Versuche zum Brückenbau und zu kirchenpolitischen Experimenten –

von beiden Seiten auch als Entweder-Oder eingeschätzt. Das verteidigte Werte- und Normen-

system war eine der zentralen Voraussetzungen für den Aufbau der demokratischen Nach-

kriegsordnung in der Bundesrepublik Deutschland.

Die linkskatholische Selbstkritik an der Vergangenheit verband sich mit Forderungen

nach einer grundlegenden Gesinnungsreform für eine Welt der Nächstenliebe, ohne Kapita-

lismus, ohne Waffen und erreichte, weil sie weitgehend auf konfessionell abgrenzende Positi-

onsbeschreibungen verzichtete, damit auch Zustimmung aus nicht-katholischen Kreisen.

Der wissenschaftliche Diskurs über die Vergangenheit und der moralische Diskurs über

die Zukunft verbanden sich, verstärkten sich gegenseitig und wurden zum Bestandteil damals

aktueller politischer Auseinandersetzungen. Geschichte wurde zum Argument der deutschen

Tagespolitik.

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Die Dramatik einer Kontroverse

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III. Ab 1963: moralisches Theater und die „Moralisierung“ der Wissenschaft

Nach dem HOCHLAND-Aufsatz von Ernst Wolfgang Böckenförde 1960/1961 „Der deutsche

Katholizismus 1933“, nach der Tagung der Katholischen Akademie in Bayern am 8./9. Mai

1961 in Würzburg „Die deutschen Katholiken und das Schicksal der Weimarer Republik“ und

nach der Uraufführung des Dramas von Rolf Hochhuth „Der Stellvertreter“ am 20. Februar

1963 hatte die Welt sich dann aber unwiderruflich verändert und die Lage der deutschen Ka-

tholiken mit ihr.

Das Trauerspiel von Rolf Hochhuth – der Erstling eines jungen, bis dahin wenig erfolg-

reichen Schriftstellers hob – 5 Jahre nach dem Tod des 1958 hoch geehrt verstorbenen Papstes

Pius XII. – das Thema „Katholische Kirche und Drittes Reich“ auf die Weltbühne des Thea-

ters. Allen handwerklichen und historischen Fehlern zum Trotz formulierte dieses Stück of-

fenbar ein moralisches Problem, das die Öffentlichkeit bewegte wie keine andere Frage zur

NS-Herrschaft: Der Papst, der geschwiegen hat.

Die einmalige Wirkungsgeschichte des „Stellvertreters“ kennen wir einigermaßen in ih-

rem Verlauf, wir rätseln aber nach wie vor über ihre Wirkmechanismen. Es gibt kein anderes

Beispiel, in dem es so nachhaltig gelungen wäre, ein bereits vorhandenes, stabil scheinendes

Geschichtsbild durch dramatische Mittel in sein komplettes Gegenteil zu verändern und eine

theatralische Wahrheit an die Stelle der Wirklichkeit zu setzen wie in diesem Fall. Mit einer

Verbindung von Dokumentation und Fiktion erreichte die erfundene Wirklichkeit des Thea-

ters teilweise sogar einen höheren Glaubwürdigkeitsgrad als die Realität. Hochhuths Heraus-

forderung bewirkte nachhaltig eine folgenreiche Schwerpunktverlagerung der Forschung von

der deutschen Kirche zur Weltkirche und von einem methodisch vielfältigen Zugang zu einem

Ping-Pong zutreffender und weniger zutreffender Argumente im Streit um die Person Papst

Pius XII. Die kirchliche Zeitgeschichte geriet dadurch bis heute in einen erkennbaren Rück-

stand gegenüber Forschungsansätzen der allgemeinen Zeitgeschichtsforschung. 1964 began-

nen auf Betreiben Papst Pauls VI. die Recherchen für die Edition der „Actes et documents du

Saint Siège relatifs à la Seconde Guerre mondiale“.

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IV. Medienskandale und Events

Muss ein Moralist, der an einer zeitgeschichtlichen Sachdebatte ausdrücklich nicht interessiert

ist, sich an den wissenschaftlichen Standards der Historiker orientieren? Einige flott geschrie-

bene und durch aufwendiges Marketing zu „Events“ hochgelobte „Wiederaufbereitungen“ –

von John Cornwell (Pius XII. Der Papst, der geschwiegen hat, 1999), Daniel Goldhagen (Die

katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne, 2002) oder

Peter Godman (Der Vatikan und Hitler. Die geheimen Archive, 2004) zum Beispiel – beant-

worten die Frage mit Nein. In einem anderen Fall hat der Fragenkatalog einer katholisch-

jüdischen Expertenkommission beispielhaft gezeigt, dass selbst hochrangige Kommissionen

mit einem bescheidenen wissenschaftlichen Anspruch an die Öffentlichkeit treten können.

Wer in den letzten 20 Jahren mit neuen Erkenntnissen aufwartete und Ergebnisse vortragen

konnte, die die Kirche entlasteten, handelte sich schnell den Vorwurf der Apologetik ein. Kir-

chennahe Zeithistoriker sahen sich schon als „Schönschreiber“, „Verharmloser“ und „Legen-

denerzähler“ bezeichnet, wenn sie die These anzweifelten, die „Gehorsame Kirche“ (Alexan-

der Groß) habe den gebotenen Widerstand zunächst allein den ungehorsamen Christen über-

lassen, diese dann aber später vereinnahmt; oder auch nur, weil sie wenigstens Quellenbelege

für so weitreichende Behauptungen forderten, die Pius-Päpste seien selbst Antisemiten gewe-

sen und hätten deshalb zu dem beispiellosen Völkermord geschwiegen statt ihn zu verhindern.

Im Einzelfall musste dann auch schon einmal eine verfälschende Übersetzung „belegen“,

wofür sich keine Quelle finden ließ. Für Pius XII. war dies der berühmt gewordene Nuntia-

turbericht aus München vom 18. April 1919. Diese Quelle zitiert Goldhagen aber nicht aus

dem Original, sondern aus einer alle wesentlichen Stellen verfälschenden Übersetzung ins

Englische, die der Journalist John Cornwell 1999 veröffentlicht hatte. Die Verfälschungen

Cornwells pflanzen sich auf diese Weise fort, ohne dass der Leser noch die Möglichkeit der

Überprüfung hätte.

Die kirchliche Zeitgeschichtsforschung der 1970er und 80er Jahre wird thematisch von

„Antisemitismus“ und „Widerstand“ beherrscht. Diese Fokussierung veränderte jetzt auch die

Kriterien für die Urteilsbildung. Die Tätigkeit bischöflicher Hilfseinrichtungen für katholische

Nichtarier – zum Beispiel von Gertrud Luckner, Margarete Sommer und Gräfin Magnis –

wurde moralisch herabgestuft, weil es sich dabei hauptsächlich „nur“ um katholisch getaufte

Juden gehandelt habe, der Einsatz des Bischofs von Münster in der Euthanasie-Frage sah sich

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unter den Verdacht von „Milieuegoismus“ gestellt, weil von Galen nicht ähnlich energisch

auf die Pogromnacht reagiert habe. Edith Stein durfte kein Beispiel mehr dafür sein, dass

kirchlicher Protest die Verhältnisse der Juden hätte verschlimmern können, weil sie zum Zeit-

punkt ihrer Verhaftung keine Jüdin mehr gewesen sei. Pius XI. soll eine Antirassismus-

Enzyklika „unterschlagen“ und „Hitler’s Pope“ soll geschwiegen haben.

V. 1970/1980er Jahre: Konzentrierte Forschung und erhöhte Aufmerksamkeit

In der Widerstandsforschung definierten Klaus Gotto, Hans Günter Hockerts und Konrad

Repgen ein vierfach abgestuftes Begriffsfeld von Widerstand – mit zwei defensiven Varian-

ten: punktueller Unzufriedenheit bzw. Resistenz und Nicht-Anpassung und zwei offensiven

Formen: Protest und aktiver politischer Widerstand, in dem der Anteil von Katholiken viel

größer war als lange angenommen wurde. Insgesamt blieb der aktive politische Widerstand

gegen den Nationalsozialismus, der eine individuelle Glaubens- und Gewissensentscheidung

erforderte, freilich die Sache einer Minderheit. Die Öffnung vor allem der vatikanischen Ar-

chive bis 1939 ermöglichte neue Schwerpunktsetzungen und erlaubte in einer ganzen Reihe

von Fragen lang erwartete Antworten – zum Beispiel in der Scholder-Repgen-Kontroverse

oder in der Einschätzung des römischen Zentralismus, der Verteilung der Verantwortlichkei-

ten auf Fulda oder Rom. Die bis dahin dominierenden Forschungen zu Weltanschauungskon-

flikten und Kirchenpolitik konnten jetzt durch Untersuchungen der internen Entscheidungs-

prozesse in den Nuntiaturen und im Vatikan ergänzt werden. Der Rektor von Santa Maria

dell’ Anima in Rom, Alois Hudal, zum Beispiel hatte Papst Pius XI. in einer Audienz bereits

im Oktober 1934 vorgeschlagen, drei große Zeitirrtümer, die sich im deutschen Volk verei-

nigten, in Form einer Enzyklika oder eines neuen Syllabus öffentlich zu verurteilen: den tota-

litären Staatsbegriff, der den Persönlichkeitswert des Einzelnen unterdrücke, den radikalen

Rassenbegriff, der die Einheit des Menschengeschlechts auflöse, und den radikalen Nationa-

lismus, der infolge der ausschließlichen Geltung des positiven Rechtes das Naturrecht preis-

gebe. Die Irrlehren seien voller Widersprüche zur christlichen Religion und würden die

Grundlagen der christlichen Religion umstürzen, wenn man sie nicht energisch bekämpfe.

Die öffentliche Debatte wurde jetzt aber nicht mehr durch die professionellen Historiker,

sondern durch die Medien mit dem Instrument der Skandalisierung gelenkt.

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Von ihren medialen Misserfolgen unbeeindruckt begannen die Zeithistoriker nach den

Anfängen des „Dritten Reiches“ und den Friedensjahren ab Mitte der 90er Jahre auch die

Weltkriegszeit zu untersuchen und sich um die Berührungspunkte von Staat und Kirche, die

„Gemengelage“, zu kümmern. Neben Standfestigkeit, Resistenz und Widerstand, neben Kir-

chenkampf und Konfrontation gab es zumindest anfangs auch die „Brückenbauer“, später die

Masse der Mitläufer und Opportunisten, es gab einige wenige „braune Priester“, es gab katho-

lische Denunzianten und „Überläufer“ wie Joseph Roth im Reichskirchenministerium und

Albert Hartl im Reichssicherheitshauptamt.

Im medial vermittelten Geschichtsbild wird die nach jahrzehntelanger, breit angelegter

wissenschaftlicher Forschung mögliche Sicht auf das Ganze oft wieder eindimensional ver-

kürzt. Mit wachsendem Abstand zum Geschehen ist dadurch in der allgemeinen, mit großem

emotionalem und moralischem Engagement geführten Vergangenheitsdebatte der Anteil der

kirchlichen Schuld stetig gewachsen. Als Ergebnis verschiedener, miteinander verschränkter

Diskurse – innerkirchlicher, wissenschaftlicher und geschichtspolitischer Debatten – wandelte

sich das Bild von einer Kirche, die sich 1945 noch selbst als „Opfer satanischer Verfolgung“

gesehen hatte, über Zwischenstufen der Kooperation aus antibolschewistischem Einverständ-

nis und egoistischer Selbstbewahrung zunächst zur Kollaborateurin, und dann begünstigt

durch theologisch fundierten Antijudaismus zur Täterin, deren Akteure sich für die Erinne-

rung als leuchtendes Vorbild nicht mehr so richtig zu eignen schienen. Die Erinnerung an die

Glaubenszeugen, deren politisch-gesellschaftliche Leistungen die Zeitgeschichtsforschung

eindrucksvoll herausgearbeitet hatte, wurde zuerst im katholischen Binnendiskurs selbstkri-

tisch erschwert und später auch in der Außenwirkung und in der öffentlichen Wahrnehmung

marginalisiert. Die wirklichen Helden der Zeit, die Märtyrer der 1970er und 1980er Jahre, wa-

ren nicht mehr die christlichen Glaubenszeugen, um die man sich bisher gekümmert hatte.

Fritz Gerlich, Clemens August Graf von Galen oder Bernhard Letterhaus und andere machten

im öffentlichen Bewusstsein Platz für neue Märtyrer wie die Kriegsdienstverweigerer Franz

Jägerstätter (1907–1943) und Franz Reinisch (1903–1942), für Oscar Romero (ermordet

1980) und Che Guevara (1928–1967), den „Heiligen ohne Gott“. Die inflationäre Verwen-

dung des Ehrennamens „Märtyrer“ reichte damals von Heinrich Böll über Benno Ohnesorg

(1967) bis zu DKP-Mitgliedern, die vom Extremistenerlass betroffen waren, und erstreckte

sich schließlich sogar auf die auf dem Fahndungsplakat abgebildeten RAF-Terroristen.

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VI. Kooperativer Antagonismus und Zweiter Weltkrieg

Seit der Monitor-Sendung vom 20. Juli 2000 steht die „Kirche im Krieg“ endgültig im Zent-

rum der Forschung, am aufwändigsten die Zwangsarbeiterforschung, aber auch Themen wie

der Klostersturm, Milieuegoismus oder der Einsatz für Menschenrechte, Krieg und Kriegs-

theologie, Kriegsdienstverweigerung.

Die überwiegende Zahl der 776 katholischen Einrichtungen, in denen Zwangsarbeiter be-

schäftigt wurden, waren keine kriegswichtigen Produktionsstätten. Dagegen bestand in dem

kriegsrelevanten Schlüsselsektor des Gesundheitswesens ein rapide wachsender Bedarf des

Regimes an Lazaretten, Hilfs- und Ausweichkrankenhäusern, an Versorgungsleistungen und

geschultem Pflegepersonal. 1943 waren mehr als 3.400 kirchliche und klösterliche Einrich-

tungen kriegsbedingt in Anspruch genommen, zwei Drittel aller Ordensfrauen erfüllten

„kriegswichtige“ Aufgaben, zumal in der Krankenpflege.

Um die Einrichtungsinteressen zu wahren, schien es deshalb gerade in den Kriegsjahren

oft keine realistische Alternative zu Kompromissen mit den Verantwortlichen in Staat und

NSDAP zu geben. Dabei flossen patriotische Motive in das kirchliche Verhalten ebenso ein

wie Ängste vor gewaltsamen Beschlagnahmen durch Polizei und SS. Diese Gemengelage auf

dem Gebiet der „res mixtae“ führte zu Ambivalenzen, Spannungen und Anpassungen, in ein-

zelnen Fällen auch zu verhängnisvollen Fehlleistungen.

Wie konnte unter den Bedingungen der Kriegsjahre die Existenz katholischer Einrichtun-

gen am besten bewahrt werden? Fragen wie diese führten auf ein zentrales, bislang kaum un-

tersuchtes Feld kirchlicher Unternehmensgeschichte.

Ein Beispiel aus einer kürzlich vorgelegten Untersuchung von Simone Höller kann das

Gemeinte verdeutlichen: Zahlreiche Klöster schlossen vorbeugend Mietverträge mit der

Wehrmacht. Bei diesen Vereinbarungen über sogenannte „Unternehmerlazarette“ übernah-

men die kirchlichen Träger die alleinige betriebliche Verantwortung für das Personal, die

technische Ausstattung und die Bewirtschaftung. Die Leistungen wurden vertraglich festge-

legt und von der Wehrmacht zuverlässig bezahlt. Im Falle von mehr als 50 Missionsordens-

häusern übernahm die Missions-Verwaltungs-Gesellschaft (MVG) im Rahmen der sogenann-

ten „Lazaretthilfe“ die Beschaffung und Ausstattung mit Sanitäts- und Medizintechnik aus

Spendenmitteln. Diese stammten aus dem wegen strenger nationalsozialistischer Devisenbe-

wirtschaftung entstandenen Spendenüberhang des Päpstlichen Missionswerkes für die Glau-

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bensverbreitung. Die Gelder wurden auf diese Weise in materiellen Werten „geparkt“, zu-

gleich die für Lazarettzwecke nicht ausgestatteten Häuser in die Lage versetzt, den zusätzli-

chen medizinischen Anforderungen von Wehrmachtslazaretten gerecht zu werden. Der

Wehrmacht wiederum kam eine solche „Komplettlösung“ für die Bewirtschaftung von Laza-

retten mit Einrichtungen und kirchlichem Personal entgegen. Die kirchlichen Einrichtungsträ-

ger behielten die „Hoheit“ über den Einsatz der Ordensleute und die entsprechende Einrich-

tung war vor möglichen geheimpolizeilichen Übergriffen relativ sicher.

Es ist nicht überzeugend, solche Kooperationen mit der moralischen Sicherheit des

Nachgeborenen als katholischen „Milieuegoismus“, dazu noch im Gewande materieller

Kriegsunterstützung, zu kritisieren, wenn man nicht gleichzeitig darauf verweisen kann, wel-

che ernsthaften Alternativen es angesichts einer besonders gegen die katholische Kirche ge-

richteten, aggressiven nationalsozialistischen Religionspolitik gegeben hätte. Entgegen man-

cher Hoffnungen unter den Bischöfen und trotz patriotischer kirchlicher Einsatzbereitschaft

zielte Hitlers Religions- und Kirchenpolitik auch in den Kriegsjahren weder in Deutschland

noch in Europa auf einen „Burgfrieden“ mit den christlichen Kirchen. In Österreich, wo der

Schutz des Reichskonkordats nicht galt, und mehr noch im eingegliederten polnischen

„Warthegau“ offenbarte sich, dass am Ende des kirchlichen Existenzkampfes die „Zerschla-

gung des gesamten Christentums“ stehen würde.

Himmler ließ zwischen 1940 und 1942 reichsweit mehr als 300 Klöster und katholische

Einrichtungen entschädigungslos enteignen. Weit über 10.000 Ordensleute wurden aus ihren

Häusern ausgewiesen („Klostersturm“). Gestapo und SS internierten im eigens errichteten

Priesterblock des KZ Dachau (Dezember 1940) bis zum Kriegsende insgesamt 2.720 Geistli-

che, von denen 1.780 aus Polen und 447 (411 katholische, 36 evangelische) aus Deutschland

stammten; mehr als 40% (1.034) von ihnen überlebten Terror und Gewalt der KZ-Haft nicht.

Mit den geläufigen Begriffen lässt sich dieses Kapitel der kirchlichen Vergangenheit

nicht präzise beschreiben. „Kollaboration“ reicht ebenso wenig aus wie „Widerstand“, um das

Verhalten der katholischen Kirche in der Kriegsgesellschaft angemessen zu beurteilen. Die

kirchlichen Einrichtungen, Klerus, Ordensangehörige und Katholiken positionierten sich nicht

nur eindeutig gegen die totalitäre Diktatur und Ideologie des Nationalsozialismus, sondern sie

waren auch Teil einer sich radikalisierenden Gesellschaft im Krieg.

Wenn man die begrenzte Perspektive auf die Zwangsarbeiter verlässt und die ganze Brei-

te eines europaweiten Forschungsfeldes eröffnet, wird die Antwort auf die Frage nach der his-

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torischen Bewertung noch komplexer. Im Zuge einer solchen Perspektiverweiterung kommen

Aspekte wie die Rolle des Klerus in der Heimat und an der Front, die Militärseelsorge, die

Auswirkungen von Migration, Umsiedlung, Kinderlandverschickung, Flucht und Vertreibung

in den Blick. Der Forschungsgegenstand „Kirche“ tritt uns dann in ganz unterschiedlichen

Dimensionen entgegen: natürlich als institutionalisierte Religionsgestalt mit ihren Amtsträ-

gern, Einrichtungen, Organisationen, aber auch als kollektives Deutungssystem religiöser

Normen, Lehren und Traditionen – ein Gesichtspunkt, der gerade für die Loyalität der Kirche

im Krieg bedeutsam war. Gesellschaftsgeschichtlich wiederum wird „Kirche“ greifbar in Ge-

meinden, Verbänden, konfessionell abgegrenzten Milieus und Teilmilieus, für den einzelnen

schließlich als Ort subjektiver Frömmigkeit und Religiosität.

Formulierungen, die Gegensätzliches verbinden, führen viel näher an die Realität insbe-

sondere der Kriegsjahre heran, als der semantische Wortschatz der Friedensjahre, der das Ri-

siko birgt, lediglich oberflächlich Ähnliches vorschnell zu harmonisieren oder punktuelle in-

dividuelle Resistenz zu einer dauerhaften institutionellen Haltung zu überdehnen. Es war in

den Kriegsjahren nicht die Aufgabe der katholischen Kirche als Institution, Widerstand zu

leisten, noch kollaborierte sie mit dem Regime aus antibolschewistischem Einverständnis.

Kirche und Katholiken waren mit der nationalsozialistischen Kriegsgesellschaft in vielfacher

Weise verschränkt und hielten doch christlich verwurzelten Abstand zu den rassistischen

Verbrechen der totalitären Weltanschauungsdiktatur. Beiden Seiten – dem nationalsozialisti-

schen Regime und der katholischen Kirche – war dabei klar, dass es auf lange Sicht nur ein

Entweder-Oder geben konnte. Sowohl die NS-Ideologie als auch das Christentum bean-

spruchten den ganzen Menschen und konnten sich mit Teilloyalitäten nicht zufrieden geben.

Roland Freisler hat diesen Punkt im Prozess gegen Graf von Moltke offen angesprochen.

Die katholische Kirche entwickelte eine dreifach differenzierte Überlebensstrategie. Ers-

tens: Weltanschaulich hielten die Katholiken klar Distanz, lehnten vor allem den Rassismus

überzeugend ab. Zweitens: Kirchenpolitisch standen sie in einer permanenten Kampfsituation,

um zumindest die seelsorgerlichen Möglichkeiten eines nicht öffentlichen Sakristeichristen-

tums zu retten. Drittens: Die alltägliche Einbindung in die gesellschaftliche Wirklichkeit der

Kriegsjahre wurde durch die weltanschauliche Distanz und die Auswirkungen der kirchenpo-

litischen Konflikte in ihrer Reichweite wirksam begrenzt. Die katholische Kirche führte nicht

gemeinsam mit dem NS-Regime Krieg gegen den atheistischen Bolschewismus, sondern das

NS-Regime kämpfte gegen die Sowjetunion und verpflichtete dafür auch katholische Solda-

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ten. In ihrem Selbstverständnis befand sich die Kirche in einem gleichzeitigen Abwehrkampf

gegen den atheistischen Bolschewismus und gegen den diffus „gottgläubigen“ Nationalsozia-

lismus, das Kreuz kämpfte gegen das Hakenkreuz und gegen den Sowjetstern.

Oberflächlich betrachtet konnte dennoch der Eindruck einer wenigstens partiellen, gegen-

seitigen Unterstützung von Nationalsozialismus und katholischer Kirche entstehen, weil auf

der Seite des Regimes die geplante und beschlossene Vernichtungsoffensive aus taktischen

Gründen während der Kriegsjahre nicht begonnen wurde. Adolf Hitler entschied sich in ver-

schiedenen Krisensituationen jeweils dafür, die Abrechnung mit der katholischen Kirche auf

die Zeit nach dem „Endsieg“ zu verschieben, und überließ bis dahin das Vorfeld den religi-

onspolitisch radikalen Akteuren Himmler, Bormann oder Goebbels.

Der kooperative Eindruck konnte aber auch entstehen, weil von kirchlicher Seite ver-

säumt wurde, die grundsätzlichen Differenzen zum Beispiel in der Semantik von Treue und

Ehre, Nation, Vaterland oder Antibolschewismus auch institutionell durch einen so deutlichen

Abstand zu betonen, wie er weltanschaulich und kirchenpolitisch gewahrt blieb. Die Unter-

stützung des Regimes durch die Hirtenbrief-Aufforderungen zu Vaterlandsliebe, Treue und

Opferbereitschaft festigte zum Beispiel Verpflichtungen, die traditionell gegenüber einer legi-

timen staatlichen Autorität galten, auch einem Staat gegenüber, der durch einen rassistischen

Vernichtungskrieg den Anspruch darauf völlig eingebüsst hatte.

Die grundsätzliche Differenz bestand nicht nur in den Mitteln, sie erstreckte sich auch auf

die Ziele. Das Ziel der katholischen Kirche bestand nicht in der Unterstützung des Krieges, so

sehr man diesen aus nationalen Gründen zu gewinnen hoffte, sondern in der Selbstbewahrung

bis zur Entscheidung des Entweder-Oder. Die mit dem weltanschaulichen Gegner vorüberge-

hend praktizierten Gemeinsamkeiten waren nicht Selbstzweck, schon gar nicht das Ziel, son-

dern ein Mittel, um institutionell die für die Seelsorge notwendigsten Bedingungen zu retten

und die deutschen Katholiken vor der Alternative zu bewahren, zwischen Staat und Kirche

wählen zu müssen. Die Bezeichnung dieser Strategie als „kooperativer Antagonismus“ be-

nennt und gewichtet die Anteile des Gemeinsamen und des Gegensätzlichen besser als die

bisher vorgeschlagenen Alternativen und steht deshalb als zusammenfassende Kernaussage

über diesem Kapitel.

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VII. Zusammenfassung: Stand der Debatte 2012

Im „Kampf um die Deutung“ der Rolle der katholischen Kirche 1933–1945 dominierte im

zeitlichen Ablauf ab dem „furchtbaren Gnadenjahr“ (Reinhold Schneider) zunächst – unter

weitgehendem Verzicht auf wissenschaftlichen Ehrgeiz – die Selbstinterpretation der Erleb-

nisgeneration des „Dritten Reiches“, die nach den gemachten Erfahrungen vor allem daran in-

teressiert war, „sich in der Gegenwart so einzurichten, dass, wenn auch diese Gegenwart

schließlich Vergangenheit geworden ist, sie dem zustimmungsfähigen Teil der Vergangenheit

zuzurechnen sein wird.“ Der auf den ersten Blick unter hierarchischer Führung homogen auf-

tretende deutsche Katholizismus wies bei näherem Zusehen bereits 1945 ein überraschend

breites Spektrum auf. Neben der Meistererzählung vom weltanschaulichen Widerstand gab es

eine ganze Reihe von Nebengeschichten, die zunächst zwar abbrachen, teilweise aber später

wieder aufgenommen wurden.

Anfang der 1960er Jahre änderte sich eine ganze Reihe von leitenden Gesichtspunkten.

Die Erlebnisgeneration suchte ab jetzt das Gespräch mit der Zeitgeschichtsforschung und

kontrastierte die persönlichen Erfahrungen und weltanschaulichen Deutungen mit den Ergeb-

nissen wissenschaftlicher Kritik. Die Generation der – in den 1930er Jahren – „Nachgebore-

nen“ fragte nicht mehr nur nach dem Verhalten Einzelner in der Vergangenheit, sondern er-

weiterte das Spektrum um kritische Anfragen an die Institution Kirche. Fast zeitgleich mit den

Anfängen der Bemühungen um Gerechtigkeit im wissenschaftlichen Urteil setzte das dramati-

sche Theaterstück „Der Stellvertreter“ einen moralischen Kontrapunkt. Die katholische Kir-

che, von den Alliierten wenige Jahre zuvor selbst als moralischer Gegenentwurf zum „Dritten

Reich“ noch hochgeschätzt, wurde zum Sündenbock einer „vaterlosen Gesellschaft“.

Der intensive, nicht selten auch persönlich erbittert geführte öffentliche Streit um Papst

Pius XII. und die katholische Kirche, der den individuellen und den institutionellen Zugang

gleichermaßen zuließ, nährte sich in den 1970er Jahren durch die zunehmende Deutungskon-

kurrenz der Wissenschaften, zum Beispiel der Geschichte und der Theologie, die schließlich

beide in der öffentlichen Wirkung gegenüber den Hütern der Moral zurückblieben. Die weit

ausdifferenzierte zeithistorische Forschung und die Beschäftigung der Theologie mit zeitge-

schichtlichen Themen hätten es jetzt zwar erlaubt, das herkömmliche Schwarz-Weiß-Bild

durch viele bunte Bilder zu ersetzen. Die tatsächliche Entwicklung verlief aber nicht so, weil

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die Deutungsmuster der Gegenwart die Erinnerung an Vergangenes schließlich stärker präg-

ten als umgekehrt.

Martin Walser hat mehrfach auf diese umgekehrte Perspektive aufmerksam gemacht und

danach gefragt, inwiefern die ursprünglich bunte Vielfalt von persönlichen Erfahrungs- und

Erinnerungsgeschichten der Zeitzeugen des „Dritten Reiches“ in der Abfolge verschiedener

Generationen von Nachgeborenen langsam verlorengehe. Die Grenze, an der Gegenwart in

Vergangenheit übergeht, verläuft für jede Generation anders. Im Ergebnis existieren dadurch

gleichzeitig immer verschiedene, miteinander konkurrierende Vergangenheiten. „In Wirklich-

keit wird der Umgang mit der Vergangenheit von Jahrzehnt zu Jahrzehnt strenger normiert. Je

normierter der Umgang, um so mehr ist, was als Vergangenheit gezeigt wird, Produkt der Ge-

genwart“ (Martin Walser), und damit abhängig von gesellschaftlichen Umbrüchen, kirchli-

chen Zäsuren und den rasch wechselnden Fragestellungen öffentlicher Debatten.

Die intensive Erforschung der NS-Diktatur durch die katholische Zeitgeschichtsfor-

schung blieb durch die aufgezwungene Verteidigungsperspektive bestimmt und mündete des-

halb lange nicht in eine mit der allgemeinen Zeitgeschichtsforschung vergleichbare sachge-

rechte Multiperspektive ein. Umgekehrt wurden die Katholiken in den allgemeinen Forschun-

gen zur Gesellschaftsgeschichte des „Dritten Reiches“ lange vernachlässigt.

Der Aufstieg der moralischen Perspektive zur Leitkategorie führte von der Frage: „Wie

konnte es dazu kommen?“ schrittweise zu der Frage nach der Fortwirkung des „Dritten Rei-

ches“, zum Problem der Haftung der Nachgeborenen für eine Vergangenheit, an der sie per-

sönlich keine Schuld tragen. Die persönliche Betroffenheit durch die fortwirkende Vergan-

genheit instrumentalisierte schließlich die Vergangenheit für die Gestaltung der Zukunft:

„Was können wir daraus lernen, damit es nie mehr dazu kommt?“.

In den 1990er Jahren erweiterte sich die traditionell eher politikwissenschaftlich fragende

Katholizismusforschung und integrierte sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellun-

gen, schließlich auch die Kulturgeschichte. Gleichzeitig wurden die bisher vernachlässigten

Kriegsjahre als Untersuchungszeitraum neu entdeckt. Der Gesichtspunkt der weltanschauli-

chen Gegnerschaft des Katholizismus zum Nationalsozialismus wurde durch die neuen For-

schungen gestärkt und gleichzeitig in seiner Bedeutung als nur noch ein Mosaikstein im Ge-

samtbild weniger wichtig. In der öffentlichen Rezeption entsprach das zentrale Interesse an

dem „Papst, der geschwiegen hat“ der tendenziellen Verengung der Diskussion auf den Prob-

lemkreis Antisemitismus und Holocaust. Durch die Betrachtung der Katholiken in ihrer Rolle

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als Staatsbürger und als Teil der Gesellschaft wurde die „Siegerin in Trümmern“ auch mitver-

antwortlich gemacht für die alltäglichen großen und kleinen Kompromisse. Das Schuldkonto

wuchs dadurch stetig an.

Die mit der Öffnung neuer Archivbestände verbundene Möglichkeit, lange umstrittene

Fragen einer Klärung zuzuführen, hat paradoxerweise zunächst nicht dazu geführt, diese

Möglichkeit verstärkt zu nutzen, sondern z. T. den Abstand zwischen den möglichen und tat-

sächlichen Kenntnissen nur noch vergrößert. Neue wissenschaftliche Ergebnisse nötigen näm-

lich zum Abschied von manchem liebgewordenen Vorurteil. Die kurz bevorstehende Öffnung

der vatikanischen Archive bis 1945 und in die ersten Nachkriegsjahre wird von manchem Kri-

tiker jetzt nicht mehr so drängend gefordert. In der Tat wird manche kühne, bisher mangels

Nachweis aber noch mögliche Behauptung ihr Verfallsdatum überschreiten.

Die katholische Kirche hat in den zwölf Jahren konfliktiver Auseinandersetzung mit dem

Nationalsozialismus zahlreiche Gläubige und wichtige Stützpfeiler des katholischen Milieus

verloren, ihre Organisationsstruktur und die Möglichkeiten für die Verkündigung im wesent-

lichen aber gerettet. Die insgesamt wenigen „Brückenbauer“ unter den Katholiken, die in den

Anfangsjahren des Dritten Reiches eine Verständigung mit den Nationalsozialisten gesucht

hatten, konnten sich mit ihrer Position innerhalb der Kirche nicht durchsetzen. Die meisten

wurden später eines Besseren belehrt. Das katholische Milieu bröckelte an den Rändern und

sah sich scharfen Angriffen ausgesetzt, konnte als Ganzes aber nie von den Nationalsozialis-

ten gewonnen werden. Der vielfach konstatierte „Milieu-Egoismus“ resultierte im Grunde da-

raus, dass die katholischen Bischöfe die oberste Priorität ihres Handelns auf die Sicherung der

Seelsorge legten. Dieser Schwerpunktsetzung war es teilweise auch geschuldet, dass bischöf-

liche Proteste gegen die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht so massiv ausgefallen sind,

wie es im Rückblick wünschenswert wäre. Diese Zurückhaltung mit einer grundsätzlich auto-

ritätshörigen, demokratie-feindlichen oder gar antisemitischen Haltung der Bischöfe zu erklä-

ren, würde aber weder den ausschlaggebenden Beweggründen für das Handeln der Bischöfe

noch den tatsächlichen Verhältnissen gerecht. Die Größe ebenso wie die Grenzen der katholi-

schen Kirche lagen in der Verteidigung der Volkskirche als sozialer Realität in Deutschland –

nicht in der Präsentation der Kirche als moralischer oder politischer Institution. In Anlehnung

an die römische Vorgabe: „Der Heilige Stuhl kann seine oberstkirchlichen Erwägungen und

Urteile nicht von irgendwelchen parteipolitischen Rücksichten beeinflussen lassen. Seine

Mission ist das Heil der unsterblichen Seelen.“ konzentrierten die Bischöfe sich vor allem auf

Page 24: Die katholische Kirche und der Nationalsozialismus: die ......Die Dramatik einer Kontroverse 5 zialismus“ (Lortz, 1933) durchaus vorstellen konnten. Die – mit kirchlicher Druckerlaubnis

Karl-Joseph Hummel

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die Bewahrung der Möglichkeiten zur Seelsorge. Nach 1945 steht die „Siegerin in Trüm-

mern“ dann aber fast wie ein tragischer Held da. Die von vielen sehnsüchtig erwartete „Stun-

de des Christentums“ hat tatsächlich dann nur einige Minuten gedauert.

Bemerkung

Das Manuskript gibt den Wortlaut des Vortrages wider, der am 26. Juni 2012 im Rahmen der zweiten

Sommerakademie der Abtei St. Bonifaz in München gehalten wurde; er wurde für die Präsentation im

Netz nicht eigens überarbeitet; die Angabe von Belegen und Literatur lag im Ermessen der Referenten,

ebenso die Verwendung von alter oder neuer Rechtschreibung. Das Manuskript ist nur für den persön-

lichen Gebrauch bestimmt.