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30 archithese 1.2008 Bétrix & Consolascio, Frei & Ehrensperger: Stadion Letzigrund, Zürich Nach einem wahren Planungsmarathon hat das Letzigrundstadion gerade noch rechtzeitig die Hürde für die Europameisterschaften 2008 genommen. Die Eile, in der es entstanden ist, merkt man dem archaisch anmutenden Bau nicht an. DIE LEICHTIGKEIT DES DACHS derte, schien der Zustand des 1925 realisierten und mehrfach umgebauten Stadions zu unbefriedigend. Als Lösung wurden zwei unterschiedlich nutzbare Stadien favorisiert. Das Letzi- grundstadion sollte in erster Linie Austragungsort für das Leichtathletikmeeting sein und nur sporadisch für Open-Air- Konzerte und Fussballspiele zur Verfügung stehen. Das Sta- dion im Hardturm dagegen sollte multifunktional ausgeführt werden und neben Fussball auch Leichtathletik und Gross- events beherbergen können – und darüber hinaus als neues Wahrzeichen der Stadt Zürich fungieren. Während sich die Stadt dem Letzigrundstadion zuwendete, kürten die privaten Investoren des Hardturmstadions das Projekt «Pentagon» von Marcel Meili und Markus Peter zum Sieger des ausgeschrie- benen Wettbewerbs. Die Freude war gross, als die UEFA die Stadt Zürich als Austragungsort der EM 2008 ausgewählt hatte. Doch Anwohner und Verbände kämpften vehement ge- gen die mit dem neuen Hardturmstadion verbundenen Nach- teile wie Schattenwurf und erhöhtes Verkehrsaufkommen. Planung und Realisierung Währenddessen wurden die Planungen für das Letzigrund- stadion immer konkreter. Den Studienauftrag für den Neubau gewannen die Architekten Bétrix & Consolascio und Frei & Ehrensperger gemeinsam mit den Ingenieuren Walt + Galma- rini. Als die EM 2008 an den Rekursen gegen das neue Hard- turmstadion zu scheitern drohte, schlug die Stadt vor, das Letzigrundstadion schon früher zu realisieren und vorüber- gehend als Fussballstadion umzubauen. So soll das Fas- Text: Katja Hasche Die erste Besonderheit, die am neuen Stadion Letzigrund auf- fällt, ist seine Lage. Im Gegensatz zu den meisten in jüngster Vergangenheit fertiggestellten Stadien liegt es nicht ausser- halb der Stadt auf der grünen Wiese – sondern mitten im urbanen Kontext. Das hat Vor- und Nachteile. Einerseits ist das Stadion Teil der Stadt und belebt diese, andererseits bleibt der Transport von bis zu 30 000 Zuschauern zum Sta- dion eine logistische Herausforderung. Das umliegende Quartier, von der Stadt Zürich als Entwicklungsgebiet Letzi deklariert, zeichnet sich ohnehin durch hohes Verkehrsauf- kommen und eine unwirtliche Atmosphäre aus. Dazu trägt auch die heterogene Mischbebauung bei – neben Industrie- bauten prägen neue Gewerbeflächen und Blockrandbebau- ungen des 19. Jahrhunderts das Gebiet. Das neue Letzi- grundstadion ruht wie eine Insel mitten im Geschehen und entzieht sich durch seine abgesenkte Kraterform der Alltags- hektik. Zwei Stadien in Konkurrenz Dass das Stadion noch rechtzeitig zur EM 2008 realisiert wurde, ist dem Scheitern eines anderen Projektes zu verdan- ken – dem Neubau des Hardturmstadions. Nachdem bereits seit den Neunzigerjahren Pläne für eine Modernisierung des Letzigrundstadions existierten, standen zunächst verschie- dene Alternativen zur Debatte. Eine reine Instandsetzung schnitt dabei schlecht ab. Für die komplexe technische Infra- struktur, die der Einzug der Medienwelt in die Stadien erfor- 1 Situation 2 Blick von der Siedlung Heiligfeld auf das Stadion (Fotos: Guido Baselgia) 3 Arena mit Blick zu den Hardtürmen 1

DIE LEICHTIGKEIT DES DACHS - nextroom · 0m 10m 20m5m 407.91 Herdernstrasse Basle r s tra ss e Hardgutstrasse Badenerstrasse +22.06 = 423.06 +17.84 = 418.84 +14.46 = 415.46 (2.OG)

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30 archithese 1.2008

Bétrix & Consolascio, Frei & Ehrensperger: Stadion Letzigrund, Zürich Nach einem wahren Planungsmarathon

hat das Letzigrundstadion gerade noch rechtzeitig die Hürde für die Europameisterschaften 2008 genommen. Die Eile,

in der es entstanden ist, merkt man dem archaisch anmutenden Bau nicht an.

DIE LEICHTIGKEIT DES DACHS

derte, schien der Zustand des 1925 realisierten und mehrfach

umgebauten Stadions zu unbefriedigend. Als Lösung wurden

zwei unterschiedlich nutzbare Stadien favorisiert. Das Letzi-

grundstadion sollte in erster Linie Austragungsort für das

Leichtathletikmeeting sein und nur sporadisch für Open-Air-

Konzerte und Fussballspiele zur Verfügung stehen. Das Sta-

dion im Hardturm dagegen sollte multifunktional ausgeführt

werden und neben Fussball auch Leichtathletik und Gross-

events beherbergen können – und darüber hinaus als neues

Wahrzeichen der Stadt Zürich fungieren. Während sich die

Stadt dem Letzigrundstadion zuwendete, kürten die privaten

Investoren des Hardturmstadions das Projekt «Pentagon» von

Marcel Meili und Markus Peter zum Sieger des ausgeschrie-

benen Wettbewerbs. Die Freude war gross, als die UEFA die

Stadt Zürich als Austragungsort der EM 2008 ausgewählt

hatte. Doch Anwohner und Verbände kämpften vehement ge-

gen die mit dem neuen Hardturmstadion verbundenen Nach-

teile wie Schattenwurf und erhöhtes Verkehrsaufkommen.

Planung und Realisierung

Währenddessen wurden die Planungen für das Letzigrund-

stadion immer konkreter. Den Studienauftrag für den Neubau

gewannen die Architekten Bétrix & Consolascio und Frei &

Ehrensperger gemeinsam mit den Ingenieuren Walt + Galma-

rini. Als die EM 2008 an den Rekursen gegen das neue Hard-

turmstadion zu scheitern drohte, schlug die Stadt vor, das

Letzigrundstadion schon früher zu realisieren und vorüber-

gehend als Fussballstadion umzubauen. So soll das Fas-

Text: Katja Hasche

Die erste Besonderheit, die am neuen Stadion Letzigrund auf-

fällt, ist seine Lage. Im Gegensatz zu den meisten in jüngster

Vergangenheit fertiggestellten Stadien liegt es nicht ausser-

halb der Stadt auf der grünen Wiese – sondern mitten im

urbanen Kontext. Das hat Vor- und Nachteile. Einerseits ist

das Stadion Teil der Stadt und belebt diese, andererseits

bleibt der Transport von bis zu 30 000 Zuschauern zum Sta-

dion eine logistische Herausforderung. Das umliegende

Quartier, von der Stadt Zürich als Entwicklungsgebiet Letzi

deklariert, zeichnet sich ohnehin durch hohes Verkehrsauf-

kommen und eine unwirtliche Atmosphäre aus. Dazu trägt

auch die heterogene Mischbebauung bei – neben Industrie-

bauten prägen neue Gewerbeflächen und Blockrandbebau-

ungen des 19. Jahrhunderts das Gebiet. Das neue Letzi-

grundstadion ruht wie eine Insel mitten im Geschehen und

entzieht sich durch seine abgesenkte Kraterform der Alltags-

hektik.

Zwei Stadien in Konkurrenz

Dass das Stadion noch rechtzeitig zur EM 2008 realisiert

wurde, ist dem Scheitern eines anderen Projektes zu verdan-

ken – dem Neubau des Hardturmstadions. Nachdem bereits

seit den Neunzigerjahren Pläne für eine Modernisierung des

Letzigrundstadions existierten, standen zunächst verschie-

dene Alternativen zur Debatte. Eine reine Instandsetzung

schnitt dabei schlecht ab. Für die komplexe technische Infra-

struktur, die der Einzug der Medienwelt in die Stadien erfor-

1 Situation

2 Blick von derSiedlung Heiligfeldauf das Stadion(Fotos: GuidoBaselgia)

3 Arena mit Blickzu den Hardtürmen

1

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B15

100.

00

4 Detail Tribüne

5 QuerschnittTribünenbau

6+7 Grundrisse UGund EG

8 Überlagerung der Grundrisse vomalten und neuenStadion

5

4

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sungsvermögen des Stadions während der EM 2008 von

25 000 Zuschauern auf 30 000 Zuschauer erweitert werden.

Um eventuelle Rekurse zu umgehen, suchte die Stadt schon

früh das intensive Gespräch mit den Quartieranwohnern. Mit

Erfolg: Im Sommer 2005 stimmten die Stadtzürcher Stimm-

berechtigten dem Baukredit von 110 Millionen Franken mit

einer Mehrheit von über 70 Prozent zu. Auch die benötigten

rund 11 Millionen für temporäre Massnahmen für die EM

wurden bewilligt.

Eine bemerkenswert stringente Zeitplanung machte es

möglich, dass das Leichtathletikmeeting Weltklasse Zürich

bereits 2006 und auch ein Jahr später im alten beziehungs-

weise neuen Letzigrundstadion stattfinden konnte. Um dies

zu erreichen, erstellten die Architekten den Neubau in zwei

Etappen. Die erste Etappe umfasste das mehrgeschossige

Tribünengebäude, das ausserhalb des bestehenden Stadions

auf den bisherigen Trainingsplätzen realisiert wurde. Als

zweite Etappe wurde das eigentliche Stadion erstellt. So er-

möglichten die Architekten eine minimale Unterbrechung

des Spielbetriebs. Die Abbrucharbeiten des alten Stadions

wurden als emotionaler Event inszeniert. Quartieranwohner,

Fans und Schaulustige durften von «ihrem» Stadion Ab-

schied nehmen und als Souvenirs Tribünenstühle und ausge-

schnittene Stücke Rasen oder Laufbahn mitnehmen. An-

schliessend begann der Aushub von 300 000 Kubikmetern

Kies, der notwendig war, um das neue Spielfeld 8 Meter tief

abzusenken. Angesichts der Massen an Abbruch- und Aus-

hubmaterial war das Recyclingkonzept der Baustelle vorbild-

lich. Insgesamt konnten über 90 Prozent des vorhandenen

Materials wiederverwendet werden, der Kies wurde an Ort

und Stelle für neues Baumaterial umgewandelt.

Antike Arena

Architektonisch unterscheidet sich das neue Stadion schon

von Weitem von den meisten modernen, grosskalibrig insze-

nierten und hermetisch geschlossenen Stadien. Statt sich am

schnelllebigen Hightech zu orientieren, erinnert das Stadion

eher an eine altgriechische Sportstätte. Die Materialien sug-

gerieren Nähe zur Erde. Neben eingefärbtem Kratzbeton do-

minieren unbehandelter Stahl, Holz und warme Farbtöne. Mit

dem Verzicht auf eine kommerzielle Mantelnutzung respek-

tierten die Architekten den urbanen Massstab der Umgebung

und bildeten das Stadion als einen Teil des Quartiers aus. Das

vermitteln auch die geschosshohen, um die Anlage laufenden

Flachstahlgeländer. Wie schon bei dem Expo-Projekt «Werft»

in Murten arbeiten Bétrix & Consolascio hier mit unbehan-

delten Stahlelementen, deren Setzung sich im Spannungs-

feld von Architektur und Szenografie bewegt. Je nach Blick-

winkel vermitteln die Staketen einen geschlossenen bis

transparenten Eindruck. Der enge Bezug zwischen Quartier

und Stadion ist von verschiedenen Standorten aus erlebbar.

Nähert man sich der Anlage von einem der vier in den Ecken

liegenden Eingänge, so blickt man direkt in den Sportkrater

hinunter. Andererseits erscheint das umliegende Quartier

mit seinen charakteristischen Bauten wie den Türmen der

Siedlung Hardau von der Tribüne aus zum Greifen nahe.

Neubau Stadion LetzigrundGrundriss E00

N

35m0 105

N

Neubau Stadion LetzigrundGrundriss U02

35m0 105

Nord

0m 10m 20m5m

407.91

Herdernstrasse

Baslerstrasse

Hardgutstrasse

Badenerstrasse

+11

.72

= 4

12.7

2 (1

.OG

)

+17

.84

= 4

18.8

4

+22

.06

= 4

23.0

6

+14

.46

= 4

15.4

6 (2

.OG

)

+8.

60 =

409

.60

(EG

)

-0.3

1 =

400

.69

(2.U

G)

+5.

05 =

406

.05

(TP

)

+2.

37 =

403

.37

(ZG

)

8

7

6

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Quartierbezogenheit suggerieren auch die grossen Ein-

gangstore, die ausserhalb der Spielzeit offen stehen und den

Anwohnern freien Zugang zum Rasen ermöglichen.

Trotz seiner grossen Dimensionen ist das Stadion leicht

überschaubar. Die Anlage ist in drei Teile gegliedert – Sport-

feld, Tribünen und Tribünengebäude. Rings um das Stadion

schlingt sich eine Rampe, welche an eine zweite Laufbahn er-

innert und die bestehenden Niveauunterschiede der Strassen

ausgleicht. Der höchste Punkt der Rampe verläuft entlang

der Haupttribüne, von wo aus man den besten Blick auf die

100-Meter-Laufbahn hat. Unterhalb der Sitzreihen liegt das

mehrgeschossige Tribünengebäude mit flexibel nutzbaren

Raumeinheiten. An sportlichen Einrichtungen befindet sich

hier neben einer Turnhalle ein Laufkeller mit Sprintbahn.

Schwebendes Dach

Das charakteristischste Element der gesamten Stadionanlage

ist das Dach, das wie selbstverständlich über den Tribünen

zu schweben scheint. Hinter der surrealen Leichtigkeit steckt

jedoch eine ingenieurtechnische Meisterleistung. Ähnlich

wie bei ihrer Messehalle in St. Gallen gelang es Bétrix & Con-

solascio hier, trotz aussergewöhnlicher Spannweiten mit ei-

ner filigranen Stahlkonstruktion auszukommen. Die Form des

im Grundriss unregelmässig ovalen Dachs ergibt sich aus der

variierenden Bautiefe. Während das Dach zur Herdernstrasse

hin rund 30 Meter misst, ist es auf der Seite Hardgutstrasse

48 Meter breit. Die Höhenunterschiede der abgetreppten Tri-

bünen werden aufgenommen, indem das Dach leicht aus der

Achse kippt. Um die Tribünen möglichst stützenfrei zu hal-

ten, sind die tragenden Elemente auf das Wesentlichste re-

duziert. So wird das auskragende Dach durch 31 Stützen-

paare getragen, die jeweils so weit wie möglich nach hinten

verschoben wurden. Welche Herausforderung die Montage

der weit auskragenden Träger war, zeigt die Tatsache, dass

der erste in drei Tagen und der letzte in 20 Minuten montiert

wurde. Als Anerkennung wurde der Konstruktion des Sta-

dions der Prix Acier als bester Stahlbau 2007 verliehen. Doch

nicht nur die Konstruktion des Daches überzeugt – auch die

Tatsache, dass dieses neben diversen technischen Installa-

tionen eine Kleinflora sowie 2500 Quadratmeter Solarpaneele

aufnimmt. Als «fünfter Fassade» kommt der Gestaltung des

Dachs von den umliegenden Häusern sowie dem Uetliberg

aus grosse Bedeutung zu. Auch bei der EM 2008 wird das

Dach mit seinen expressiven Beleuchtungsmasten aus der

Fernsehperspektive sehr präsent sein.

Autorin: Katja Hasche arbeitet als Architektin undArchitekturkritikerin in Zürich

Planende und ausführende Architekten: Bétrix &Consolascio Architekten, Eric Maier, ErwinGruber, Erlenbach; Planergemeinschaft: Bétrix &Consolascio Architekten, Erlenbach; Frei &Ehrensperger Architekten, Zürich; Walt + Galma-rini AG, Zürich; Bauingenieure Stahlbau: Walt +Galmarini, Zürich; Bauingenieure Betonbau:BlessHess AG, Luzern; TotalunternehmungImplenia Generalunternehmung AG, Dietlikon;Bauherrschaft: Stadt Zürich, Immobilien-Bewirt-schaftung, vertreten durch: Stadt Zürich, Amt für Hochbauten; Nutzer: Stadt Zürich, Sportamt

9 Obere Umgangs-ebene

10 Blick vonWesten

11 Blick auf dasSpielfeld