Upload
walker-hugh
View
221
Download
5
Embed Size (px)
Citation preview
1.
Mit vollen Segeln fuhr die Schwarze Wellenreiterin
nach Süden und erreichte in der Abenddämmerung
Pequa, eine kleine Insel, deren helle Felsen manchmal
an strahlenden Tagen von Candis‘ Hafen aus sichtbar
waren. Außer zwei armseligen Fischerdörfern und
einem Ausguckposten oben auf den Felsen war das
Eiland unbewohnt.
In einer der zahlreichen felsigen Buchten lief das
Schiff ein und warf Anker.
Kapitän Jaggar zweifelte nicht daran, daß seine
Ankunft nicht unbemerkt geblieben war. Aber er war
verhältnismäßig sicher, daß man nicht nach ihm
Ausschau hielt. Der König würde nicht annehmen, daß
sein desertierter Kapitän sich in die Nähe der
Schlangeninsel zurückwagte. Die Chancen standen also
dafür, daß Moraq gar nichts von der ganzen Sache
wußte.
Natürlich kannte Moraq Jaggar und die Schwarze
Wellenreiterin. Sie gehörte zu den Schiffen der
Bruderschaft, die immer in Candis selbst vor Anker
lagen, wenn sie von ihren Beutefahrten zurückkamen.
Die neunköpfige Mannschaft war völlig erschöpft.
Seit Wiquin Wigors Flucht mit Sela und jenem
fürchterlichen Sturm hatten die Männer kein Auge
zugetan. Die stürmische See hatte ihnen alles
abverlangt auf einem Schiff, das nicht voll bemannt
war.
Die drei Männer, die in Phelos an Bord gekommen
waren und bei Wigor angeheuert hatten, um an die
myranische Küste zu gelangen, und nun davon weiter
als zuvor entfernt waren, begnügten sich nicht mehr
mit Murren. Sie verlangten, an Land gesetzt zu
werden. Sie wollten in Fischerbooten nach Candis
segeln, um dort neu anzuheuern.
Aber Jaggar war sicher, daß sie über die
Anwesenheit der Wellenreiterin nicht schweigen
würden, auch wenn sie es jetzt beteuerten. Und das
würde alle seine Pläne vereiteln. Deshalb ließ er die
Männer kurzerhand in den Laderaum sperren und
bewachen, mit der Androhung, sie König Jellis für
seinen Krokodilteich mitzubringen. Das ließ ihr
Gezeter verstummen. Selbst auf Pathos hatte man
bereits von den Riesenkrokodilen des Königs der
Schlangeninsel gehört, und auch, daß Jellis nicht sehr
zimperlich in der Auswahl des Futters für seine
Lieblinge war. Was sie nicht wissen konnten war, daß
Serphat, der Priester der Schlange Mis, die Tiere getötet
hatte, um Mis‘ Macht über die Geschöpfe des Wassers
zu beweisen. Aber selbst wenn sie bereits von der
Mannschaft das eine oder andere Wort vernommen
hatten, so schreckte sie doch die Aussicht, daß sie
Gefangene des Königs sein sollten, genug ab, denn es
war allgemein bekannt, daß Jellis Leben wenig achtete
– mit Ausnahme seines eigenen.
Eines war klar: Die Schwarze Wellenreiterin würde
vorerst nicht mehr auslaufen. Es galt dafür zu sorgen,
daß die Flotte sie nicht fand. Es hing von Moraq ab.
Aber auch mit seiner Hilfe würde es sich nicht
unbegrenzt verheimlichen lassen. Außerdem konnte
die Flotte jederzeit aus Candis auslaufen. Sie ankerte
vermutlich nur noch hier, um einige Nachzügler
aufzunehmen. Jaggar hatte erwartet, daß sie längst
nach Myra unterwegs wäre, aber die Händlerschiffe
zwischen Pathos und den Miklenischen Inseln, die
ihnen begegnet waren, hatten keine größere Flotte
gesichtet, und es war beinahe unmöglich, in diesen
häufig befahrenen Gewässern eine Kriegsflotte von
dreihundert Schiffen zu übersehen. Sie mußte noch vor
Candis ankern!
Es galt, den König und die Bruderschaft von einem
Dämon zu befreien, der jede Gestalt annehmen konnte,
und der Macht über die Gedanken des Königs
besaß – Serphat, der geheimnisvolle Priester der
Schlangengöttin Mis. Ein Schwert oder ein Dolch
konnten ihm nichts anhaben, das hatte Jaggar bereits
erfahren und beinahe mit dem Tod bezahlt. Aber Feuer
vermochte etwas gegen diesen Teufel, so hatte Wigor
berichtet. Es verriet seine wirkliche Gestalt –
schleimiges Gewürm, das über das Deck gekrochen
war und im Wasser verschwand, das es offenbar
geboren hatte. Denn Serphat war aus dem Meer
gekommen, in Gestalt einer riesigen Schlange.
Wer oder was Serphat wirklich war, davor
schreckten Jaggars Gedanken zurück. Er war der
einzige, der die Gefahr zu sehen schien, in der nicht
nur der König und die Bruderschaft, sondern die
gesamte Schlangeninsel schwebte – und bald vielleicht
alle Küsten des großen Meeres. Wenn Myra fiel und
Dragon in die Gewalt dieses Priesters kam, dann
Gnade den freien Völkern des Meeres. Sie würden alle
Sklaven sein. Sklaven eines wieder auferstandenen
Alptraums, der seit tausend Jahren vergessen war und
von dem nur noch eine instinktive Furcht in den
Herzen der Menschen und verfallene, überwucherte
Opferstätten und Tempel im Landesinnern kündeten.
Die Iquani, hieß es, waren Kinder der Schlange.
Ein Einmaster kam in die Bucht, kurz bevor die
Dunkelheit hereinbrach. Jaggar ordnete an, die
Strickleitern auszurollen. Es war der erwartete Besuch
Moraqs.
Jaggar befahl seinen Männern, dafür zu sorgen, daß
die Gefangenen sich nicht bemerkbar machen konnten,
und die Waffen griffbereit zu halten.
Der Patrouillensegler kam längsseits mit
eingerollten Segeln und vier ausgefahrenen Rudern.
An Deck war in der Dunkelheit nur eine einzelne
Gestalt zu erkennen, Moraq, der am Steuer stand. Fünf
oder sechs Mann, schätzte Jaggar, mußten sich auf dem
Schiff befinden. Mit ihnen würden sie im Notfall fertig
werden ...
Moraqs bullige Stimme unterbrach seine düsteren
Gedanken und hallte über die stille, nächtliche Bucht.
»Ha, Jaggar, bist du eine Maus, daß du dich
verkriechst?«
Er kletterte die Strickleiter hoch. Der schwache
Schein der Lampen, die seine drei Begleiter an Bord
brachten, fiel auf sein grinsendes Gesicht.
Eine lange Narbe an der linken Wange gab Moraqs
Zügen etwas gnomenhaft Boshaftes, obwohl seine
Statur alles andere denn klein war. Er war im Gegenteil
ein Hüne, und Bosheit war ihm fremd. Ein Fremder
hätte ihn vielleicht falsch eingeschätzt, nicht Jaggar. Er
wußte aber auch, daß die Friedfertigkeit des Mannes
über einen anderen Umstand leicht hinwegtäuschte:
daß er nämlich eine Klinge zu führen wußte wie nur
wenige in Candis.
Jaggar winkte seinen Männern, die eilig zwei
Schemel brachten und einen Tisch, und Becher und
Rum auftrugen.
»Na«, meinte Moraq jovial, während er mit der
Zunge schmatzte und das Gesicht verzog, »der Rum ist
so grauenhaft wie das, was sie in Peggara brauen. Du
hast schlechte Beute gemacht, Jaggar.«
Jaggar schüttelte den Kopf. »Keine Beute, Moraq.
Der Rum ist hier geladen. Ich komme ohne Beute
zurück, und ich brauche deine Hilfe.«
Moraqs Züge wurden ernst. »Ich bin keiner von der
Bruderschaft«, sagte er bedächtig. »Aber es gibt viel,
das ich für dich tun würde.«
Jaggar nickte. Er warf einen Blick auf Moraqs
Männer, die nicht weit von ihnen an der Reling
standen. »Schick sie weg! Was ich dir sage, ist nur für
deine Ohren.«
Moraq zögerte einen Augenblick. Er war ein
vorsichtiger Mann, der spürte, daß auf diesem Schiff
nicht alles stimmte. Aber er hatte mit Jaggar zusammen
gefochten, bevor er Kommandant von Pequa geworden
war. Und das überwog. Er befahl seinen Männern, auf
ihr Schiff zurückzukehren und abzuwarten. Jaggar sah
ihnen aufatmend nach.
»Heraus damit«, sagte Moraq. »Was ist geschehen?«
»Ist die Flotte ausgelaufen?« entgegnete Jaggar mit
einer Frage.
»Nein. Soviel ich erfahren habe, warten sie noch auf
Meliqs Schiffe, die heute nacht eintreffen werden. Der
König scheint kein Risiko einzugehen. Er kratzt alles
zusammen, was Männer tragen kann. Du warst auf
Kundschaft, nicht wahr? Was hast du erfahren?«
Jaggar zögerte. Es wäre leicht gewesen, nun zu
schwindeln. Moraq schien ahnungslos. Aber etwas riet
ihm, Moraq nicht zu belügen, sondern zu versuchen,
ihn zu überzeugen. Er brauchte einen Gefährten, den
auch die Wahrheit nicht entmutigte, denn früher oder
später würde er sie erfahren. Die Wellenreiterin war
mit der kleinen Besatzung manövrierunfähig. Mit ihr
konnte er bestenfalls zu fliehen versuchen, wenn seine
Pläne fehlschlugen. Aber für seine Pläne brauchte er
ein anderes Schiff – eines von Moraqs Booten.
»Nein, ich war nicht auf Kundschaft. Ich war krank.
Und ich habe beinahe meine ganze Mannschaft
verloren.«
»Krank?« fragte der Kommandant von Pequa
entgeistert.
Jaggar nickte. »Sag mir eines, ist dieser Priester noch
in Candis?«
»Du meinst Serphat? Ja, und man sieht den König
nie ohne ihn. Das berichten die Boten, die täglich zur
Insel kommen. Ich habe ihn noch nie selbst gesehen. Ist
es wahr, daß er sich in eine Schlange zu verwandeln
vermag?«
»Nicht nur das«, erwiderte Jaggar. »Er kann sich in
jeden von uns verwandeln, ohne daß wir den
Unterschied merken ...«
Moraq starrte den Kapitän ungläubig an. »In jeden
von uns?«
»Ja«, knirschte Jaggar. »Und er trachtet mir nach
dem Leben – im Namen des Königs ...«
Unbewußt fuhr die Hand des Kommandanten zum
Schwert. »Was sagst du da?« Er starrte Jaggar
forschend an. »Du bist desertiert, nicht wahr? Darum
verkriechst du dich hier wie eine Maus ...!«
»Ja und nein«, erklärte Jaggar fest, seine Lippen
waren ein schmaler Strich. Nun war der Augenblick,
da er Moraq verlieren oder gewinnen würde. Hart fuhr
er fort: »Der König würde sagen, ich sei desertiert. Er
weiß es nicht besser. Es gibt wenig, das der König
wirklich weiß, seit Serphat bei ihm ist. Auch die
Bruderschaft glaubt, ich wäre desertiert. Sie alle sind
dem Priester hörig. Aber du hast noch einen freien
Willen. Und wenn er dir lieb und teuer ist, dann hörst
du mich an, bevor du dein Schwert ziehst. Der König
ist in Gefahr. Wir alle sind in Gefahr ... Es gibt nur
einen, der die Gefahr
kennt – ich.«
»Ich bin Soldat«, sagte Moraq mit spürbarer Kälte.
»Ich habe kein anderes Wort als Feigheit für Desertion.
Hätten meine Augen nicht oft genug gesehen, daß du
nicht feige bist, Jaggar, so hinge mein Schwert nicht
mehr so ruhig an meiner Seite. Bei Kelim, es muß der
Teufel selbst sein, der dich zur Maus macht ...!«
»Es ist der Teufel selbst«, sagte Jaggar zustimmend.
»In Serphats Gestalt.« Er goß einen Becher des
abscheulichen Rums in sich hinein und stand unruhig
auf. »Vor fünf Tagen kam ich von einer
Erkundungsfahrt von Myras Küsten zurück. Ich warnte
den König, daß ein Angriff auf Myra uns teuer zu
stehen kommen könnte. Er lachte mich wie immer aus,
wenn ich zur Vorsicht gemahnte. Es machte mich auch
wütend wie immer, aber ich wußte, daß er meinen
Bericht überdenken würde, sobald er allein war. Das
hatte er immer getan. Vielleicht hätte er die Idee nicht
fallengelassen, Myra anzugreifen, aber sicher wäre er
umsichtiger ans Werk gegangen und hätte nicht ohne
einen Vertrag mit den Kyriern im Westen die Insel so
vollkommen von Streitkräften entblößt, wie er es eben
tut. Er hätte auf längere Sicht geplant und mehr zu
erfahren versucht über den neuen myranischen König
– Dragon ...«
Moraq brummte zustimmend. Das leuchtete ihm
ein. Während der Dauer dieser Eroberungsfahrt würde
die Schlangeninsel praktisch nackt daliegen, eine
leichte Beute, nach der Kyrien und Balava die Hände
ausstrecken mochten.
»Aber dann kam dieser Schlangenpriester an Land«,
fuhr Jaggar fort, »und ich brachte ihn selbst zum König,
und seitdem hat der König keinen eigenen Gedanken
mehr. Ich habe den Priester reden hören von Myra. Da
dachte ich, er wäre ein Mann mit Haß im Herzen. Bald
darauf sah ich den König mit dem gleichen Haß im
Herzen, und am selben Abend kamen seine Häscher
auf mein Schiff, um mir die Klinge zu geben ...«
»Sie sollten dich töten?« entfuhr es dem
Kommandanten.
»Ja. Ein halbes Dutzend. Sie stießen ihre Klingen in
mein Bett, aber ich habe ein gutes Ohr für nächtliche
Geräusche und hatte es längst verlassen. Ich verbarg
mich auf Deck und wartete auf die Brut ...«
»Die Mannschaft ...«, warf Moraq ein.
»Schlief«, erklärte Jaggar. »Bootsmann Galis, den ich
längst als Spitzel des Königs im Verdacht hatte,
beseitigte die Deckwachen. Das alles nicht genug,
schlich sich ein myranischer Junge an Bord, der seit
Monden hinter mir her war und mir ans Leben wollte,
weil wir vor einem halben Jahr sein Liebchen aus
Deyman mitgenommen hatten und sein Bruder dabei
ums Leben kam.« Jaggar nickte zu sich. »Ein guter
Junge, wie ich ihn mir als Sohn wünschte – zu
unerfahren noch, um alt zu werden mit seiner
Tollkühnheit. Er wollte einen fairen Kampf. Als er die
Meuchelmörder sah, da focht sein Arm für mich. Nur
zwei kehrten heim in dieser Nacht, dem König Kunde
zu bringen. Vier fanden ein nasses Grab, und der Junge
wäre mit ihnen gewesen, hätte mein Dolch ihm nicht
sein junges Leben gerettet ...«
»Was geschah dann?« fragte Moraq atemlos.
»Der junge Wigor begrub seinen Groll gegen mich.
Ich bot ihm Heuer an. Einen wie ihn konnte ich gut
gebrauchen. Er nahm an. Ich hieß ihn, meinen
Bootsmann Galis im Auge zu behalten. Das tat er denn
auch. Einer der Diebesgilde holte Galis in den Palast.
Wigor, der ihm folgte, schwor, ihn dort in den
Gewölben gesehen zu haben ... tot, von einem Schwert
durchbohrt ...«
Der Kommandant ballte die Fäuste. »So ist es nicht
der König, der dir ans Leben wollte. Er hätte nicht
seinen eigenen Mann umgebracht ...«
Jaggar nickte. »Solcherart überlegte ich auch. Da fiel
zum erstenmal mein Verdacht auf den Priester. Ich
dachte erst, er wollte nur einen Zeugen beseitigen, den
wir bereits im Verdacht hatten, aber es kam anders.
Am Abend desselben Tages kam Galis an Bord. Daß
der Junge mich hintergangen hatte, war mein erster
Gedanke. Aber sein Erschrecken war anderer Art, das
konnte ich deutlich genug sehen. Auch daß mit Galis
etwas nicht stimmte, fühlte ich in den Knochen. Wenn
er mich ansah, fiel es mir schwer, einen Finger zu
rühren. Mir war Furcht immer fremd. Aber nicht an
diesem Abend. Keine Stunde später, als ich an Deck
kam, sprang er auf mich los. Ich wollte ihn abwehren.
Er kümmerte sich gar nicht um das Entermesser in
seinem Bauch. Er packte mich mit Händen von solcher
Kälte, daß in mir alles zu Eis wurde.
Ich muß geschrieen haben, bevor er mich packte,
denn plötzlich waren Stimmen um mich. Die Männer
zerrten uns auseinander. Das war das letzte, das ich für
gute zwei Tage sah.«
»Zwei Tage ...?«
»Ja, zwei Tage. Und ich erwachte durch das Schreien
meiner Männer und durch den Klang von Schwertern.
Ein Dreimaster ohne Flaggen versuchte trotz des
schweren Winds längsseits zu gehen. Ein Dutzend
seiner Mannschaft waren wie Teufel über die Gischt
gesprungen und lernten, daß wir eine verdammt teure
Beute waren. Denn keiner verließ unser Schiff mehr
lebend. Aber wir waren selbst nur noch zehn, und der
Sturm trieb uns von den Fischerinseln nordwärts ...«
»Kelims Blut!« entfuhr es Moraq. »Die Fischerinseln,
sagst du?«
»Ja. Wir hatten mächtig Fahrt drauf. So nach und
nach erfuhr ich, was geschehen war. Wigor hatte das
Kommando übernommen, und meine Mannschaft, die
ahnte, daß ich mich in Gefahr befand, wenn sie auch
noch nicht erkannt hatte, in welcher, folgte ihm. Sie
ruderten noch in der Nacht aus dem Hafen und quer
durch die Flotte. Es war ein Meisterstück. Sie kamen
nach Pathos. Dort ging die Hälfte der Mannschaft an
Land, jene, die des Königs Zorn fürchteten. Ein paar
Männer aus Phelos heuerten an, die nach Myra wollten
wie Wigor. Aber ich bezweifle, daß meine Männer
wirklich nach Myra gegangen wären. Sie kamen mit,
um da zu sein, wenn ich erwachte und sie brauchte.
Wir hatten das Inselmeer weit hinter uns, als der Sturm
sich endlich legte. Wigor wollte nach Myra. Ich aber
wollte zurück. Für mich gab es nur eines: Serphat,
diesen Teufel, zu erledigen, bevor alle ihm hörig sind!«
Moraq schüttelte nachdenklich den Kopf. »Was
bringt dich auf den Gedanken, Galis wäre Serphat
gewesen? Nur weil dieser Myraner behauptete, seine
Leiche gesehen zu haben ...«
»Er war wie Eis«, unterbrach ihn Jaggar. »Schlangen
haben kaltes Blut. Er vermochte sich in Schlangen zu
verwandeln, das habe ich mit eigenen Augen gesehen,
und Tausende auf Minos Fest werden es dir bestätigen.
Warum sollte er da nicht auch die Gestalt eines
anderen Menschen annehmen können? Ich hatte keinen
Grund, an Wigors Worten zu zweifeln. Aber ich hätte
sicher auch gezweifelt ohne die einstimmigen Berichte
meiner Männer über das, was an Deck geschehen war,
nachdem sie mich dem vermeintlichen Galis entrissen
hatten. Schwerter vermochten ihm nichts anzuhaben.
Erst als einer ihm mit Feuer zu Leibe rückte – da löste
sich seine Gestalt auf, und schleimiges Gewürm kroch
über die Planken ins Meer ...«
Der Kommandant war bleich geworden bei diesen
Worten.
»Das war nicht Galis, dem wir gegenübergestanden
hatten«, ergänzte Jaggar kopfschüttelnd. »Das war
Serphat, der sich im Palast befunden hatte, als Galis ihn
betrat.«
Moraq leerte den Becher und goß nach. »Das ist eine
verdammte Geschichte, die du da erzählst, und keinem
andern würde ich sie glauben. Sag mir noch eins –
welchen Haß nährt der Priester gegen dich?«
Jaggar zuckte die Achseln. »Ich kann es nur
vermuten. Es muß wohl sein, weil ich den König vor
einem Angriff auf Myra warnte. Der Priester scheint
nur ein Ziel zu kennen: Myra unter seine Faust zu
bekommen, gleich um welchen Preis. Und jede Stimme
dagegen ist wie ein Dorn in seinem Fleisch. Als
Kapitän der Bruderschaft hätten sie meine Warnungen
hören müssen im Ratssaal, ob sie dem König nun
gefielen oder nicht.
Natürlich genügt des Königs Wort für den Angriff,
aber im Zweifelsfall wäre die Bruderschaft stark genug,
sich selbst gegen den König zu stellen. Dieses Risiko,
denke ich, ist es, das Serphat vermeiden wollte. Wie
sehr der Priester aber bereits vorgesorgt hatte, erkannte
ich, als ich versuchte, einigen der Kapitäne meine
Bedenken mitzuteilen. Sie empfingen mich, als wäre
ich ein Verräter, obwohl keiner noch etwas von den
Dingen wissen konnte, die ich mit dem König
besprochen hatte, denn keiner war nach mir beim
König zur Audienz gewesen. Jemand hatte sie
beeinflußt. Und es gab nur einen, der Macht genug
besaß, sie gegen einen aus ihrer Mitte aufzuwiegeln ...!«
Eine Weile schwiegen die beiden Männer.
Schließlich sagte Moraq: »Wo ist dieser junge
Myraner?«
»Er floh in der ersten Nacht, als wir wieder nach
Süden segelten«, erklärte der Kapitän, und ein Anflug
von Trauer überschattete sein Gesicht. »Er war zu
wagemutig, ein Narr, der glaubte, mit einem Boot
Myra zu erreichen.«
»Myra?« entfuhr es Moraq. »Aber das bedeutet, daß
man dort von des Königs Plänen weiß, wenn er die
Küste erreicht hat ...!«
Jaggar schüttelte den Kopf. »Da können wir
unbesorgt sein. Es gab einen Sturm am Morgen, der die
Wellenreiterin beinahe kentern ließ. In dem Boot hatte
er keine Chance.« Und gepreßt fügte er hinzu: »Wenn
ich je einer myranischen Seele nachtrauere, dann
seiner. Ein wenig Zeit und Verstand, und er wäre einer
von unserem Holz geworden. Laß uns einen Becher auf
ihn leeren!«
Er hob seinen Becher, und Moraq stieß an.
»Was willst du tun?« fragte Moraq nach einer Weile.
»Den König warnen?« Er schüttelte den Kopf. »Er wird
dir nicht glauben. Er kann es gar nicht, wenn es
stimmt, was du sagst, daß er nach des Priesters Pfeife
tanzt«
»Ich muß ihn überzeugen ... oder den Priester
vernichten.« Jaggar starrte den Kommandanten
forschend an. »Hilfst du mir?«
Moraq ließ sich Zeit, ehe er antwortete. »Wie?«
Ich brauche eines deiner Boote«, sagte Jaggar rasch.
»Mit der Wellenreiterin kann ich nicht nach Candis,
selbst wenn ich noch genügend Leute hätte. Ich muß
heimlich gehen, sonst komme ich nicht an den König
heran ...«
Der Kommandant nickte. »Der erste, der dich sieht,
würde dich an den Mast knüpfen, und ich frage mich,
warum ich es nicht selbst tue.« Er sah, daß Jaggar
zusammenzuckte, und grinste. »Ein anderer, der so wie
du meine Vernunft strapaziert, würde langst hängen.
Aber ich habe zu oft an deiner Seite gekämpft. Dein
Arm ist mir teuer geworden. Und da ist etwas an
deiner Geschichte, das mich schaudern läßt. Also
glaube ich dir, wie verrückt es auch alles klingt. Aber
sei gewarnt. Wenn alles nur ein Spiel ist, und du meine
Hand mißbrauchst für etwas, das mir Schamrote ins
Gesicht treiben würde, dann hast du einen erbitterten
Feind auf deinen Fersen. Hier, mein Freund!« Er reichte
Jaggar die Hand, die dieser erfreut ergriff.
»Ein Boot und einen Arm!« rief er, griff nach dem
Becher und leerte ihn und setzte sich auf den Schemel.
»Nun ist mir leichter.«
Moraq lachte. »Dir vielleicht. Meine Gefühle sind
eher gegenteilig. Meine Erfahrungen, daß Freunde
selten Gewinn, aber um so mehr Schwierigkeiten
bringen, haben sich über die Jahre immer wieder
bestätigt.«
»Ah, Freund, du siehst zu schwarz. Heute nacht
entführe ich den König. «
»Was hast du vor?« schrie der Kommandant auf.
Jaggar grinste, zum erstenmal, seit der Kommandant
von Pequa an Bord gekommen war, oder wenigstens
zum erstenmal mit leichtem Herzen.
»Ich entführe den König und bringe ihn hierher.
Und hier will ich ihm die Augen öffnen, wenn es nicht
bereits die Abwesenheit des Priesters tut.«
Moraq nickte. Seine Augen glänzten plötzlich in
stummem Beifall. »Das ist ein Meisterstück nach
meinem Geschmack, und was in meiner Macht steht,
werde ich tun, damit es gelingt.«
»Gut. Dann wollen wir keine Zeit mehr verlieren. Sie
werden morgen auslaufen. Was zu geschehen hat, muß
in dieser Nacht geschehen. Ist der König noch im
Palast?«
»Ja.«
»Bist du sicher?«
Moraq nickte. »Seit die Flotte im Hafen liegt, haben
wir eine verstärkte Mannschaft auf der Insel. Ein
Schnellsegler liegt in der Ostbucht in Bereitschaft.
Schiffe, die zu nahe kommen und die Flotte entdecken
könnten, werden hier zum Ankern gezwungen. Da der
König meine Boten persönlich empfängt, wären wir die
ersten, die erfahren würden, auf welches Schiff sich der
König begeben hat. Bis jetzt haben wir darüber noch
keine Nachricht.«
»Hast du Kontrollen, wenn du ein Boot nach Candis
schickst?«
»Ja. Aber keine sehr gründlichen.«
»Niemand durchsucht das Boot?«
»Nein, sie verlangen nur die Losung. Und sie
würden selbst die nicht verlangen, wenn ich fahre.
Jeder kennt mich.«
Jaggar überdachte das einen Augenblick. »Wir
werden also eine Botschaft nach Candis bringen. Was
meinst du? Wie stehen die Chancen, daß wir den Palast
erreichen?«
»Gut genug.«
»Werden deine Männer nicht Verdacht schöpfen?«
»Ich kann sie beruhigen. Sie werden bereitwillig
genug glauben, daß du in geheimer Mission des Königs
hier bist. Und das ist schon die halbe Wahrheit.«
»Vielleicht ist es die ganze, bevor der Morgen
kommt«, erwiderte Jaggar.
2.
Kurz vor Mitternacht verließ Moraqs Boot die Insel, auf
deren Felsen ein helles Leuchtfeuer brannte. Der Mond
gab spärliches Licht. Vier Männer ruderten den
Einmaster langsam durch das nachtschwarze Wasser.
Mehrere Fackeln und Lampen kündeten weithin, daß
das Boot zur Küste unterwegs war und Nachricht für
den König brachte.
Als sie aus den Felsen der Insel auftauchten, füllte
ein leichter Wind das Segel. Moraq ließ die Ruder
einziehen. Sie machten langsame Fahrt auf die Küste
zu. Es war keine Eile.
Moraqs Männer waren von Jaggars geheimer
Mission unterrichtet. Sie wußten auch, daß der Kapitän
jemanden an Bord bringen wurde. Daß dies der König
selbst sein sollte, ahnten sie allerdings nicht.
Nach geraumer Weile sahen sie die ersten dunklen
Schatten der großen Galeeren vor sich.
Moraq ließ das Segel offen. Die Ruderer nahmen
ihre Arbeit wieder auf. Da die Flotte so deutlich
auszumachen war, verzichtete Moraq auf den Gong,
mit dem die Deckwachen ihn normalerweise nachts in
den Hafen lotsten. Ein paarmal kamen halblaute
Anfragen aus der Dunkelheit, auf die Moraq mit dem
Losungswort antwortete.
Jaggar hatte sich unter Deck begeben und starrte
gespannt aus den Ruderluken. Zum Greifen nah glitten
die Bordwände der Galeeren und schnellen Segler an
ihm vorbei, schwarz und drohend. Eine schier nicht
enden wollende Reihe. Er schüttelte verwundert den
Kopf. Mehr denn je wurde ihm nun bewußt, welch
unglaubliches Wagnis Wigor auf sich genommen hatte,
als er die Wellenreiterin bei Nacht unbemerkt durch
dieses Labyrinth von Schiffen steuerte.
Dann erreichten sie den Kai und legten an. Nur die
Seehexe, des Königs Flaggschiff, lag in unmittelbarer
Nähe. Aber auch auf ihr war alles ruhig. Die
Mannschaft schlief. Die Deckwachen sahen wohl zu
der anlegenden Schaluppe herüber, aber wohl nur der
willkommenen Abwechslung wegen.
Zwei Männer blieben im Boot zurück. Die anderen
beiden begleiteten Jaggar und Moraq mit Lampen über
den Marktplatz. Sie schritten ohne Hast aus.
Als sie die ersten Häuser erreichten und in die
dunklen Gassen tauchten, die den Blick vom Meer her
abschnitten, löschten sie die Lampen und schlichen in
der Dunkelheit weiter.
Die Gassen waren leer – schwarze, stille Schlünde,
durch die sich manch einsamer Fußgänger nicht wagen
mochte. Die Männer kannten diesen Teil der Stadt und
verloren keine Zeit. Einmal kam ihnen eine Patrouille
von Wachsoldaten entgegen, die nach Mitternacht
durch die Stadt schritten. Sie drückten sich eng in einen
Hausflur. Daß sie ohne Licht durch die Gassen
schlichen, machte sie verdächtig, und es hatte lästige
Fragen gegeben. Vielleicht hätte einer der Soldaten
sogar Jaggar erkannt. Das wäre das Ende des
Abenteuers gewesen.
Zum Glück kümmerten sich die Soldaten wenig um
die Hauseingänge. Als ihr Schritt in der Ferne
verklang, eilten die vier weiter. Bald ragte der Palast
dunkel über die Häuser. Ihr Schritt wurde vorsichtiger.
Am Palasttor standen mehrere Wachen. Die Stelle,
an der es möglich war, die hohe Mauer zu überklettern
und in den Garten zu gelangen, lag direkt in ihrem
Blickfeld. Der Mond war unerfreulich hell.
Die vier tauchten in die Gasse zurück. »Also, es
bleibt dabei«, flüsterte Jaggar. »Ihr lenkt sie ab.
Während du zum König gehst und ihm die Nachricht
bringst, daß die Schwarze Wellenreiterin in Pequa
gelandet ist, werde ich mir einen Weg über die Mauer
suchen. Und ihr horcht auf mein Zeichen. Der Ruf des
Küstenvogels!«
Die Männer nickten.
»Wenn euch jemand fragt, mich habt ihr nicht
gesehen. Es würde euren Kommandanten in des
Teufels Küche bringen, wenn ihr euch verplappert.«
»Alles klar, Kapitän.«
»Dann vorwärts. Die Lampen hat euch der Wind
ausgeblasen. Und seht nicht zurück!«
Jaggar sah Moraq und den beiden Männern nach, als
sie auf das Tor zuschritten. Die Stimmen der Wachen
drangen zu ihm herüber, als die Gruppe sie erreichte.
Jaggar huschte los. Er erreichte die Mauer unbemerkt
und verharrte einen Moment. Die Wachen wandten
ihm den Rücken zu, als sie Moraq einließen und mit
seinen Männern ein Gespräch begannen. Sie schienen
dankbar für die Abwechslung.
Jaggar schnellte hoch, erreichte die Mauerkante und
zog sich keuchend auf den Sims. Dort lag er einen
Augenblick flach und lauschte. Sie schienen ihn nicht
bemerkt zu haben.
Er atmete auf. Die erste Hürde war genommen.
Lautlos ließ er sich in den Garten hinab. Er prallte
dumpf auf und lauschte erneut – mit angehaltenem
Atem. Die Wachen lachten. Moraqs Männer gaben
irgend etwas zum Besten.
Undeutlich sah er, wie Moraq das innere Palasttor
erreichte und pochte. Die Tür öffnete sich. Kurz sah er
Coris‘ Silhouette.
Dann hastete er durch das Buschwerk, breite
Rasenflächen vermeidend, auf das Palastgebäude zu.
Niemand schien ihn zu bemerken. Er lehnte sich
keuchend an den kalten Marmor und starrte hoch. Die
erste der Terrassen befand sich nicht weit von ihm.
Vorsichtig steuerte er darauf zu. Es gab genügend
Mauervorsprünge. Seine Erinnerung hatte ihn nicht
getrogen.
Er überprüfte seinen Gürtel, den Sitz der Waffen.
Das Schwert hatte er an Bord gelassen. Nur Dolch und
Entermesser steckten in seinem Gurt.
Er schlüpfte aus den Sandalen und schob sie unter
die nächsten Büsche. Dann sprang er, erreichte den
ersten Vorsprung, einen Tigerkopf, und zog sich daran
hoch. Jaggar war äußerst dankbar für diese
künstlerische Gestaltung der Palastmauer. Ohne die
Schädel, die in regelmäßigen Abständen aus der glatten
Wand ragten, wäre es verdammt schwierig gewesen,
auch nur in die Nähe der Terrasse zu gelangen.
Aber es war auch so ein Risiko. Es gab nichts außer
den Schädeln wilder, säbelzahnbewaffneter
Ungeheuer, wie sie auf der Schlangeninsel einst
existiert haben mochten, wenn man den alten
Legenden Glauben schenken wollte. Ein Sturz in die
Tiefe mußte den sicheren Tod bedeuten. Das Pflaster
lag bleich im Mondlicht. Jede Weiterbewegung
bedeutete einen Sprung, ein verzweifeltes
Festklammern auf dem polierten Marmor und eine
Reihe von unvermeidbaren Geräuschen. Dennoch
erreichte er die erste Terrasse unbemerkt.
Dort verschnaufte er ein wenig. Von hier ließ sich
der Hafen gut überblicken, aber er war heute dunkel
bis auf einige flackernde Lampen an der Stelle, an der
die Seehexe vor Anker lag, und einem vereinzelten
Licht auf Moraqs Schaluppe. Der Palastpark lag im
Mondlicht. Wenn er sich weit über die Brüstung
vorlehnte, vermochte er das Parktor, die Wachen und
Moraqs Männer zu erkennen.
Die Fenster und Türen waren dunkel. In diesem
Stockwerk schien keine Seele wach. Er versuchte die
Tür. Sie war verschlossen. Er fluchte, obwohl er nicht
erwartet hatte, sie offen vorzufinden.
Nun, da er weit genug von den Wachen entfernt
war, konnte er die leichtere Methode wählen. Er starrte
zu der Reihe von Balkonen hoch vor des Königs
Fenstern. Aus zweien der Fenster drang plötzlich Licht.
Das durfte die kleine Audienzkammer sein, die der
König für nächtliche oder vertrauliche Gespräche
benutzte. Moraq mußte nun bei ihm sein.
Es war an der Zeit zu handeln.
Er riß sein Hemd aus dem Gürtel und begann das
Seil abzuwickeln, das er darunter um seine Mitte
geschlungen hatte. Es dauerte eine Weile, denn es war
von beträchtlicher Länge. Dann zog er den Bootshaken
aus dem Gürtel hervor und knüpfte das Tau daran fest.
Er starrte erneut hoch und wählte einen der Balkone
vor den dunklen Fenstern. Jaggar war einer der
wenigen, die wußten, wo die Gemächer des Königs
lagen. Von diesem Balkon würde er direkt in das
Schlafgemach gelangen, das einzige, in dem keine
Wachen stehen würden.
Er wog das Eisen in seiner Hand – und warf es. Es
wirbelte hoch, und mit ihm das Tau. Zu kurz!
Es berührte den Balken mit leisem Klirren und fiel.
Einen Augenblick verschluckten es dunkle Schatten
unter den Mauervorsprüngen, und Jaggar fürchtete
einen Herzschlag lang, er könnte es verfehlen und es
würde mit totenerweckendem Getöse auf die Terrasse
prallen. Aber dann funkelte es im Mondlicht und
landete sicher in seiner Hand.
Er warf es erneut – kräftiger. Befriedigt sah er, wie
es über der Brüstung verschwand. Es klirrte
verräterisch, als es aufschlug, und glitt scharrend über
den Stein. Dann straffte sich das Tau. Er zog vorsichtig
daran. Fester. Es hielt.
Er wartete noch einige Atemzüge. Nichts regte sich.
Dann begann er an dem Tau hochzuklettern.
Er pendelte bereits hoch über der Terrasse, als er
eine Bewegung am Seil verspürte. Er blickte hoch. Ein
Soldat lehnte sich über die Brüstung. Er hielt einen
Dolch in der Rechten und sah grinsend auf Jaggar
hinab.
»Sieh an, eine Spinne am Faden«, spottete er. »Ich
hoffe, es ist nicht dein einziger. An dem hier wirst du
gleich keine Freude mehr haben.«
Mit diesen Worten begann er mit dem Dolch an dem
Tau zu säbeln. Alles in Jaggar schrie auf. Die Gefahr
verlieh ihm Bärenkräfte. Mit der Gewandtheit eines
Affen kletterte er das letzte Stück hoch. Das Tau
begann zu reißen.
»Halt!« rief eine Stimme. Der Dolch hielt inne. Die
letzten Fäden hielten die nun reglose Gestalt. König
Jellis‘ Gesicht erschien über der Brüstung. Es starrte
unbewegt hinab auf den Kapitän. »Zieht ihn hoch!«
Das Gesicht verschwand. Zwei andere erschienen.
Kräftige Arme griffen über das Geländer und begannen
das Seil hochzuziehen. Fäuste packten Jaggars Arme
und zerrten die erschöpfte Gestalt auf den Balkon.
Er stolperte auf die Beine. Ein halbes Dutzend
Wachen standen um ihn, die Klingen blank in der
Faust. Sie deuteten ins Innere, wo nun Lampen
flackerndes Licht verbreiteten.
Er atmete tief ein und folgte ihnen. Er wußte, daß es
das Ende seiner Pläne war. Den Palast würde er nicht
mehr lebend verlassen.
Der König, angetan in einen schweren zeremoniellen
Mantel, darunter aber offenbar nackt, musterte seinen
Kapitän amüsiert. Im Hintergrund sah Jaggar den
Kommandanten von Pequa stehen, dessen Gesicht alle
Farbe verloren hatte. Kelim sei Dank schien er sich
jedoch rasch zu erholen. Keiner der Anwesenden
beachtete ihn. Sie hatten ihn offenbar vollkommen
vergessen.
»So sehen wir uns also wieder, mein guter Jaggar«,
meinte der König spöttisch. »Ich habe gehört, daß es in
deiner Heimat Brauch ist, nachts ein Mädchen
solcherart zu überraschen. Hattest du das im Sinn?«
Die Wachen lachten.
Jaggar verzog keine Miene. »Bist du allein, mein
König – oder ist die Schlange in deinen Gedanken?«
Jellis maß ihn einen Augenblick nachdenklich. »Du
bringst eine Botschaft?«
Jaggar nickte. »Mehr als das. Eine Warnung und
einen Plan.«
»Du bringst sie auf einem seltsamen Weg.«
»Es führt kein anderer Weg zu dir selbst, König. Ich
kenne Serphats Macht ...«
»Was willst du damit sagen?« fragte der König
barsch, aber nicht barsch genug. Es war etwas
Zögerndes an ihm.
»Ich werde dir frei und wahr wie immer antworten.
Ich habe dich nie belogen, mein König, obwohl mir
dein jäher Zorn oft gern die Klinge dafür gegeben
hätte. Am Ende schätztest du es immer.«
Der König nickte ungeduldig.
»Schick sie fort«, sagte Jaggar und deutete auf die
Wachen. »Die Wahrheit, wenn du sie nicht bereits
ahnst, wird dir nicht gefallen. Noch weniger, wenn sie
sie hören.«
Jellis zögerte. Dann winkte er den Männern.
»Verlaßt den Raum.«
Jaggar wartete, bis sie gegangen waren. »Was ist mit
ihm?« fragte er und deutete auf Moraq, der mit
geballten Fäusten in der Tür zum Schlafraum stand, als
würde er es wahrhaft wagen, seine Klinge gegen den
König zu ziehen, wenn er Jaggars Tod befahl.
»Es ist gut, Kommandant, du kannst gehen«, sagte
Jellis.
Moraq verneigte sich und wandte sich um.
»Kommandant!« rief ihn Jellis zurück. »Du kennst
diesen Mann, nicht wahr?«
»Ich kämpfte oft an seiner Seite.«
»Wenn ich ihn töten ließe, was würdest du wohl
tun?«
»Ich würde ihn betrauern, mein König.«
Der König nickte nachdenklich.
»Es war nicht dein Boot, das ihn brachte?«
Moraq zögerte nicht. »Es war nicht mein Boot, mein
König.«
»Es ist dein Kopf, wenn du mich belügst.«
Moraq nickte ungerührt. »Ich sagte dir, daß eines
der Boote fehlte auf seinem Schiff.«
Jellis nickte erneut. »Ja, das sagtest du. Du kannst
gehen.«
Moraq verneigte sich und ging.
»Er ist dein Freund, warum bedienst du dich nicht
seiner?« fragte der König.
»Wenn selbst die Kapitäne der Bruderschaft unter
Serphats Einfluß stehen, wie konnte ich da hoffen, ihn
von einer guten Sache zu überzeugen?« erwiderte
Jaggar.
»Von einer guten Sache?« wiederholte der König.
»Ich sehe, daß du nachdenklich bist, König«, fuhr
Jaggar rasch fort. »Es ist, als ob der Priester schliefe ...«
Jellis starrte ihn an. Er fühlte sich seltsam frei – und
leer. Als hätte er nur verschwommene Erinnerungen in
seinem Geist, über das, was in den letzten Tagen
geschehen war. »Du bist aus Candis geflohen, Kapitän.
Warum?«
»Weißt du es nicht?« fragte Jaggar vorsichtig. Er
fühlte, daß der Priester im Augenblick keine Macht
über den König ausübte, was auch immer die Gründe
sein mochten. Sicherlich hatte er nicht mit diesem
nächtlichen Besuch gerechnet. Vielleicht brauchte er
den König nicht zu entführen. Vielleicht konnte er ihn
überreden und ihm so die Augen öffnen. »Waren es
nicht deine Männer, die auf mein Schiff kamen, um mir
im Schlaf die Klinge zu geben?«
»Tat ich das?« fragte der König verwirrt. »Doch, ich
muß es wohl getan haben.« Er griff mit der Hand an
seine Stirn – tief in Gedanken. »Es ist als ... ja, ich
erinnere mich. Ich schickte die Männer. Aber es ist ...«
»Es ist nicht deine Art zu töten«, ergänzte Jaggar
grinsend. »Nicht heimlich. Wenn du den Tod gibst, soll
jeder ihn genießen können, nicht wahr? Aber ich muß
dich enttäuschen, mein König. Ich habe für die eine wie
die andere Art wenig übrig.«
»Aber ich hätte dich niemals ...« Er schüttelte
verwundert den Kopf. Dann fuhr er wütend fort: »Der
einzige Tod, den du durch meine Hand erlitten hättest,
wäre der im Zorn gewesen, und ich hätte ihn bedauert
wie Selas Verschwinden ...«
Impulsiv nahm er Jaggar an den Schultern. »Und
dennoch war ich es, der die Männer schickte. Ich
erinnere mich. Welcher Wahnsinn läßt mich Freund
und Feind nicht mehr sehen?«
»Serphats Teufelei, mein König«, sagte Jaggar
bewegt. »Seine dunklen Kräfte sind es, die mit jedem
Tag mehr Macht über dich und die Bruderschaft,
gewinnen.«
»Serphat«, wiederholte der König nachdenklich. »Er
hat nur ein Ziel ...« Er brach ab.
Entsetzt sah Jaggar, wie sich der Blick des Königs zu
verschleiern schien, wie alles Nachdenkliche aus seinen
Zügen verschwand. Die muskulöse Gestalt straffte sich
wie unter einem inneren Befehl.
Eine dunkle Gestalt erschien in der Tür, angetan mit
einem Umhang und einer Kapuze, die tief ins Gesicht
gezogen war, so daß aus dessen Schatten nur die
Augen leuchteten – im Widerschein der Kerzen,
mochte der flüchtige Beobachter glauben. Aber Jaggar
stand nah genug, um zu erkennen, daß es ein inneres
Feuer war, das in ihnen schwelte. Er hatte plötzlich
Angst – ein panisches Bedürfnis zu fliehen.
Aber er wußte gleichzeitig, daß es zu spät war.
Mit veränderter Stimme sagte der König: »Du bist
also zurückgekommen, um deinem König die Augen
zu öffnen!« Er lachte, und Jaggar schauderte, denn es
war nicht des Königs Lachen, das aus dessen Mund
kam, sondern Serphats. Es war voller Hohn und
Triumph.
»Du amüsierst mich«, fuhr die Stimme fort. »Ich
habe dich unterschätzt. Deine Beharrlichkeit gefällt
mir. Ich werde sie nutzen. Sieh mich an!«
Das letzte war ein zwingender Befehl. In
instinktivem Gehorsam blickte Jaggar auf – nicht zum
König, sondern zur dunklen Gestalt in der Tür. Hilflos
starrte er in das Gesicht.
Serphats Gesicht.
Und während er starrte, löschten die schwelenden
Augen etwas in ihm aus.
3.
Maratha, die Seherin, betrachtete unbewegt das Kind,
das vor ihr zwischen die Kissen gebettet lag. Ihre
blinden Augen nahmen es nicht wirklich wahr, nur ihr
innerer Blick strich liebkosend über das schlafende
Geschöpf.
»Dragomar«, murmelte sie. »Der Sohn des
schlafenden Gottes!« Triumph war in ihrer Stimme. Sie
schien Kraft aus dieser Tatsache zu schöpfen. Der
erschöpfte Ausdruck ihres Gesichts verschwand
langsam. Die tiefen Furchen des Alters glätteten sich
magisch.
Der Morgen kam grau über die östlichen Hügel
Myras. Vielleicht war es die erwachende Sonne, aus der
die Frau ihre Kraft nahm. Aber ihr blindes Gesicht war
nicht dem Osten zugewandt, sondern dem Westen, wo
die Stadt über den Kamm eines Hügels hinweg sanft
anstieg und dann steil zur Küste abfiel.
Dort auf dem Kamm des Hügels stand weiß und
milchig in der Dämmerung der Marmorpalast der
myranischen Könige, in dem Dragon nun schlief mit
einem Lächeln auf den Lippen, und Amee, die neue
Königin Myras, schwach und bleich; neben ihr in einer
kunstvoll geschnitzten Wiege Atlantor, der Knabe,
Dragons Sohn, den sie am Abend geboren hatte.
Das Kind der Königin war es, das Marathas blinde
Augen fesselte. Immer wieder verglich sie ihr eigenes
Kind mit dem Amees. Ihr innerer Blick ließ sie mehr
sehen als gewöhnliche Menschen. Sie sah tief unter die
Oberfläche der Dinge, und wenn es eine Seele gab,
dann blieb sie ihr so wenig verborgen wie das
schlagende Herz oder das Flüstern der Gedanken. Sie
entdeckte keine Unterschiede mehr. Es war derselbe
kleine feuchte Mund, dieselbe Nase, dieselbe Farbe der
Augen, das gleiche Gewicht.
Es waren zwei Söhne Dragons, zwei Söhne Amees,
aus zwei verschiedenen Körpern geboren! Aber nur
äußerlich. Maratha kannte die Schatten des dunklen
Erbes in Dragomar, den magischen Keim in seinem
Blut, der ihn dereinst zu mehr als einem König machen
würde – zu einem wahren Herrscher über die Völker
dieser Erde.
Es war ihr Blut, aus dem diese Macht kam, eine
Macht, die bewies, daß ihre Vorfahren einst den
Göttern nähergewesen sein mochten.
Nur dieser Sohn Dragons war es, der sein Erbe
antreten sollte! Der Erstgezeugte! Dragomar!
Marathas Aufmerksamkeit richtete sich auf die
schlafende Frau in der Kammer neben dem Gemach
der Königin. Es war Iwa, die Hetäre, Iwa, die Heilerin
und Amme der Königskinder von Urgor, die Amee mit
nach Myra gebracht hatte. Iwas Schlauheit würde
schwerer zu täuschen sein als jede andere Person im
Palast. Maratha wußte, daß sie sehr vorsichtig zu Werk
gehen mußte. Es gab noch eine Gefahr im Palast, der
nur schwer mit List zu begegnen war – Yina, das
Mädchen, das die Gedanken der Menschen um sie zu
hören vermochte, und das nicht von Dragons Seite
wich.
Marathas Finger verkrampften sich. Ihr schlimmster
Gegner aber war die Zeit. Sie durfte nicht warten.
Während der nächsten Tage mußte sie ihren Plan
ausführen. Nur für kurze Zeit würden die beiden
Knaben einander so vollkommen gleichen. Wohl hatte
sie Dragomars Gestalt und Aussehen formen können,
solange er noch Teil ihres Leibes war. Aber sie besaß
keinen Einfluß mehr auf ihn, nun da sein eigener
kleiner, noch tastender Verstand es übernommen hatte,
den kleinen Körper zu lenken. Er werde wachsen – und
wachsend, sich verändern.
Und wenn die Götter Amee nicht mit Blindheit
schlugen, dann mußte sie es erkennen, daß es nicht
mehr ihr eigen Fleisch und Blut war, das sie an ihren
Busen hielt.
Nein, es mußte rasch geschehen, so lange das
kritische Auge der Mutter noch nichts Verdächtiges
erkennen konnte. Morgen oder am Tag danach würde
Dragomar in der königlichen Wiege liegen – in einer
Wiege, die wohl die Zukunft der Welt bereithalten
mochte.
Ihr voller Mund zuckte, als wollte sie es laut
beschwören. Ihr Gesicht war glatt und von
ungewöhnlicher Schönheit. Als die Sonne aufging, lag
sie noch immer reglos, verloren in den Bildern ihres
inneren Blicks, in dem Wirklichkeit sich mit
Voraussicht und Träumen mischte.
Sie sah nicht mehr aus wie die alternde Frau, die sie
noch vor wenigen Stunden gewesen war, als die
Geburt ihres Kindes sie eines Großteiles jener Kraft
beraubt hatte, die die Illusion ihrer Jugend und
Schönheit aufrechthielt.
Jemand pochte an ihre verschlossene Tür, aber
Maratha hörte es nicht. Sie war weit fort. Die
Wirklichkeit war erloschen, wie so oft. In ihren weit
offenen Augen winkten die Schatten ihrer Träume wie
in den tiefen Kelchen dunkler Blumen.
Erneut klopfte es, und die Stimme eines Mädchens
sagte zaghaft. »Tomara ist hier, Herrin.« Und mit
einem Anflug von Furcht, als sich nichts regte: »Geht es
euch gut, Herrin? So laßt mich doch ein.«
Sie vernahm die gedämpften Laute eines Kindes
und erschrak. Es war während der Nacht geschehen!
Das Kind war da! Aber warum rührte die Frau sich
nicht?
Ein tiefer mütterlicher Instinkt ließ auch Maratha
das Weinen des Kindes hören. Ihre Lider zuckten. Der
Augenblick, die Bilder des Sehens verschwanden.
Erschöpft fuhr sie hoch, tastete nach dem Kind und zog
es hoch an ihre Brust. Ihre Wangen waren aschgrau,
wie immer, wenn sie aus ihrer Trance kam, ihre
Schönheit welk, als schickte sie mit dem inneren Blick
einen Teil ihrer Kraft hinaus, um den Augen ihrer Seele
Licht zu geben.
Dann vernahm sie die Stimme des Mädchens an der
Tür und ihr verzweifeltes Pochen.
»Herrin! So antwortet doch!«
»Ich komme, Tomara«, murmelte sie mit schwacher
Stimme. Den Knaben an sich gepreßt, erhob sie sich
vom Bett und ging mit erstaunlicher Sicherheit zur Tür.
Sie schob den Riegel beiseite und ließ das
Dienstmädchen ein.
»Oh, Herrin!« rief Tomara. »Den Göttern sei Dank!
Ich dachte schon, es wäre euch etwas geschehen ...«
»Und warst um deinen Lohn besorgt?« erwiderte
Maratha mit einem schwachen Lächeln.
»Herrin, Ihr wißt, daß es nicht so ist ...« Sie
schmollte, aber sie wußte, daß die Frau ihre Dienste
sehr schätzte und der Vorwurf nicht ernst gemeint war.
Vielleicht wurde sie mit ihr gehen, wenn sie Myra
verließ. Sie hatte gesagt, eine wie sie könnte sie schon
brauchen, eine die Augen im Kopf hatte und damit
auch zu sehen wußte.
Ihr Blick fiel auf das Kind. »Ein Knabe, Herrin? Ach,
gebt ihn mir.« Sie griff nach Dragomar, und Maratha
ließ sie lächelnd gewähren. »Eigentlich sollte ich euch
böse sein. Ihr habt alles allein gemacht. Ihr hättet mich
nicht fortschicken sollen heute nacht ...«
»Nun beruhige dich, Tomara« sagte Maratha
lächelnd. »Ich bin sicher, daß auch viele myranische
Frauen ihre Kinder allein zur Welt bringen ...«
»Aber sie sind nicht ...« Das Mädchen schlug die
Hand vor den Mund.
»Sie sind nicht blind, wolltest du sagen?« sagte
Maratha. Sie nickte. »Dein Mitleid ist vergeudet, kleine
Freundin. Ich bin weniger hilflos als manche Sehende.
Aber jetzt schließ die Tür. Wir haben viel vor. Und wir
sind nicht mehr allein ...«
»Sagt Ihr mir, wie er heißen soll, Herrin?« fragte
Tomara und legte den Knaben auf den Tisch. Sie holte
Schüsseln und Wasser.
»Dragomar wird er heißen«, flüsterte Maratha und
setzte sich müde auf das Bett. Aber das wird er nie
erfahren, dachte sie. Denn sie werden ihn Atlantor
rufen. Morgen schon werden sie ihn Atlantor rufen.
»Dragomar«, wiederholte das Mädchen und begann
das quiekende Bündel mit einem Schwamm zu
waschen. »Das klingt nach großen Taten«, sagte sie.
»Mögen die Götter sie ihm bescheren«, sagte
Maratha.
»Eine ist schon getan.« Das Mädchen rümpfte
lachend die Nase.
4.
»Onkel«, sagte der Junge und hielt Dragon am Arm
fest, »über Mädchen laßt sich ja manches sagen, da hast
du recht ...«
»Na warte, Kim ...!« unterbrach ihn das
mausgesichtige Mädchen heftig.
Dragon grinste. »Hört auf zu zanken ...«
»Trotzdem hat Yina recht. Onkel. Du solltest nicht
ohne uns in den Ratssaal gehen. Es ist zu gefährlich.«
»Nun hört zu, ihr zwei. Ich kann nur ein guter König
Myras sein, wenn ich die Gebräuche der Bürger achte,
und eines dieser ungeschriebenen Gesetze verbietet es
Frauen und Kindern, an den Ratsversammlungen
teilzunehmen. Es ist wichtig, daß diese Männer, die
heute versammelt sind, mir und meinen Plänen
zustimmen. Ich will sie überzeugen, nicht mit Befehlen
zwingen. Ich muß ihr Herz und ihre Ehre und ihren
Verstand rühren. Das wird mir nie gelingen, wenn ich
euch da mit hineinnehme. Das ist etwas, das diese
myranischen Männer niemals dulden oder gestatten
würden, außer mit Groll im Herzen. Es wäre sehr
schwer, diesen Groll zu besänftigen. Seht ihr das ein?«
Der Junge nickte.
Das Mädchen sagte: »Natürlich sehen wir das ein,
Onkel. Aber du hast es bereits mehrmals zu spüren
bekommen, daß du nicht nur Freunde, sondern auch
Feinde hast. Einer von ihnen mag dort drinnen sitzen.«
Sie zögerte. »Du brauchst uns einfach, Onkel.«
Er strich ihr übers Haar. »Ich weiß, daß ich euch
brauche«, stimmte er lächelnd zu. »Geht auf den
Balkon, aber bleibt hinter der Balustrade verborgen,
damit euch keiner sieht. Nehmt einen von Cherons
Männern mit. Er kann mich warnen, wenn es nötig sein
sollte. Aber ich denke nicht, daß es jemand wagen
wurde, während der Ratssitzung Hand an mich zu
legen.« Er sah die beiden an. »Zufrieden?«
Yina nickte zögernd.
»Muß man wohl«, meinte der Junge.
Der große Ratssaal war fast voll. Mehr als zwei
Dutzend der myranischen Daikane, der
Provinzstatthalter, waren mit ihren Gefolgschaften
anwesend. Sie alle leckten noch immer an den
Wunden, die Dragons Heer ihnen geschlagen hatte,
aber die wenigsten hegten Groll gegen den neuen
König. Es war nicht ihr Krieg gewesen, sondern Zogors
Feldzug. Sie hatten den Krieg gegen Urgor nicht
gewollt. Es mochte Ausnahmen geben. Aber diese
wenigen sahen wohl ein, daß es besser war zu
schweigen. Sie hatten verloren, und es galt, den Sieger
erst einmal kennenzulernen, seine Stärke
auszukundschaften, vielleicht sogar, ihn in Sicherheit
zu wiegen.
Außerdem hatte dieser Dragon bis jetzt bewiesen,
daß er gerecht war und friedlich. Da er gegen eine
Übermacht gesiegt hatte, konnte er wohl auch nicht
feige sein. Wenn er nur halb der Mann war, der Zogor
nie gewesen war, dann konnte man mit ihm auch
auskommen. Vielleicht hatte er für die eine oder andere
Provinz ein Herz. Die Steuern waren nicht immer leicht
zu erbringen. Sie sahen die Erlasse und Neuerungen in
der Hauptstadt mit anderen Augen. Sicher, an den
meisten Küsten gab es Sklaverei, aber die östlicheren
Provinzen im Landesinnern, meist angesiedelte
Nomadenstämme, die ihr Bewußtsein für Freiheit über
die Jahrhunderte bewahrt hatten, sie hatten nicht viel
übrig für Sklaverei. Sie waren für diesen neuen König.
Und sie wußten, daß er einen starken Arm brauchte,
um seine Ideen durchzusetzen. Dieser Arm würden sie
ihm vielleicht sein.
Wenn er ihnen ein wenig Zeit ließ – denn sie waren
müde, und sie sehnten sich nach ihren Frauen, ihren
vertrauten Problemen, die sie zurücklassen mußten, als
Zogor sie vor Monden an seinen Hof befahl. Beinahe
die Hälfte ihrer Männer war gefallen. Sie würden viel
Trauer nach Hause bringen und keine Botschaft vom
Sieg.
Aber vielleicht Kunde von einem König, der weiser
war und gerechter.
Einer, den die Götter liebten.
Einer, den seine Männer den Schlafenden Gott
nannten.
Wollten die Götter, daß er wach blieb ...
Die zwölf Stadträte waren ebenfalls anwesend. Ihre
Mienen hatten die Verbitterung und die dunklen
Zweifel der letzten Tage verloren, seit sie wußten, daß
die Flotte einmütig hinter dem König stand.
Ihre Situation war sehr einfach geworden: Im Osten
hinter den Hügeln der Stadt lagerte das Heer des
Königs, ein siegesbewußtes Heer noch dazu, das
ständig wuchs, weil es die myranischen Söldner
aufnahm, die nach der Niederlage ihres Heeres und
nach dem Einzug der Eroberer plötzlich brotlos
dastanden. Viele von ihnen hatten nicht viel mehr
gelernt, als eine Klinge zu führen, und das nicht immer
mit Geschick.
Was anfangs Verrat gewesen wäre, wurde immer
mehr ein natürlicher Vorgang – um so mehr, als das
Volk den neuen König deutlich genug fühlen ließ, daß
es ihn als Befreier willkommen hieß.
Diese neuen Gesetze über die Sklaverei – nun, es
blieb noch abzuwarten, wer die anfallende Arbeit tat!
Andererseits hatte der König deutlich genug
verkündet, daß er den Frieden wollte. Das bedeutete,
daß jene, die auf den Feldern gebraucht wurden, in den
Mühlen, den Spinnereien ... daß sie da waren, ihre
Arbeit zu tun, wenn es keine Kriege gab, in die sie
ziehen mußten. Sicher würde der König dulden, daß
noch ein paar Sklaven in den Minen blieben. Niemand
würde verlangen können, daß ein freier Mann in die
Erzstollen stieg.
Und wenn doch der Gerechtigkeitsfimmel des
Königs so weit gehen sollte ... nun, dann würde man
eben guten Lohn bieten müssen. Und einen guten Preis
für das Eisen verlangen können. Der König würde bald
einsehen, daß er sich nur selbst strafte, wenn er für
jedes Schwert in seinen Waffenkammern den
doppelten Preis zahlen mußte.
Wenn die Kapitäne der Flotte es schafften, ohne
Sklaven auszukommen, und ihre Schiffe dennoch
fuhren, dann würde es auch in den Minen gelingen. Bei
den Göttern! Irgendwo war Stolz in der myranischen
Seele!
Selbst in der des Krämers!
Also: im Osten das Heer, im Hafen die Flotte,
dazwischen das jubelnde Volk!
Nur ein Idiot von einem Stadtrat stellte sich gegen
solch einen König – selbst wenn er friedlich war.
Dragon betrat die Ratshalle.
Die Versammelten erhoben sich, bis er am
Thronstuhl Platz genommen hatte. Dann setzten auch
sie sich wieder. Die Daikane und ihre engeren
Gefolgsleute, die sie mitgebracht hatten wie zu Zogors
Zeiten, ein halbes Dutzend an der Zahl, befanden sich
zum erstenmal seit dem Thronwechsel im Palast. Sie
waren ein wenig erstaunt über die Förmlichkeit, mit
der alles seinen Lauf nahm – kein Wein, keine
Tänzerinnen.
Es deutete darauf hin, daß auch kein Blut fließen
würde, und das war ein begrüßenswerter Umstand.
Es war auch das erste, das Dragon anschnitt, denn er
hatte wohl inzwischen erfahren, wie Zogor seine
Ratsversammlungen abzuhalten pflegte.
»Ihr, die Ihr die Würden des Reiches auf Euren
Schultern getragen habt.
Ihr sollt heute frei entscheiden, ob Ihr sie auch
weiter unter meiner Regentschaft tragen wollt. Jeder
soll frei sagen, was er denkt und fühlt, denn das Herz
ist so wichtig wie der Sinn. Jeder wird gehört werden.
Ich weiß von König Zogors festlichen
Zusammenkünften in dieser Halle, bei denen jeder
ausreichend zu trinken, aber nichts zu sagen hatte ...«
Ein allgemeines Gemurmel brandete bei diesen
Worten auf, das zustimmend klang.
Dragon wartete, bis die Männer sich beruhigten.
Dann fuhr er fort: »Es soll zur Sitte werden an meinem
Hof, daß wir mit nüchternen Sinnen die Geschicke des
Reiches beraten – und danach unsere Beschlüsse
begießen, mit dem Blut des myranischen Weines. Das
einzige Blut, das ich gern vergossen sehe ...«
Einige der Männer begannen beifällig auf die Tische
zu pochen. Andere stimmten ein. Es dauerte eine
Weile, bis es wieder still im Saal wurde.
Dragon lächelte. Er nickte.
»Ich sehe, daß wir uns in wesentlichen Dingen
bereits einig sind. Das ist gut. Ich will heute Euren Rat
hören. Es gibt vieles an der myranischen Lebensweise,
das ich noch nicht verstehe. Ihr sollt dies ändern. Und
wir wollen die Dinge besprechen, die Euch am Herzen
liegen. Es soll keiner zu seinem Volk oder seinem
Stamm zurückkehren ohne die Überzeugung, daß man
in Myra die Probleme der äußersten Provinzen ebenso
wichtig nimmt wie jene der Hauptstadt selbst. Der
Schreiber des Hofes, einer der weisen Männer, der
Söhne von Atlantis, wird alles aufzeichnen, was nicht
gleich zu regeln ist. Außerdem ist es mein Wille, daß
jeder Daikan in der Hauptstadt einen ständigen
Gesandten hat, der ihn vertritt: diesem Stellvertreter
sollen ein gutes Dutzend Männer zur Seite stehen, die
die Aufgabe von Botenreitern übernehmen. Für die
Abgesandten, ihre Männer und Familien werden
standesgemäße Häuser bereitgestellt!«
Das fand erneut bei der Mehrzahl der versammelten
Daikane Zustimmung. Es gab ihnen zudem das Gefühl,
daß ein ganz neuer Wind wehte, einer, der ihrem Stand
auch am königlichen Hof den Wert gab, den sie ihm
am häuslichen Herd beimaßen. In ihren Reichen, ihren
Provinzen waren sie die Stellvertreter des Königs, hatte
ihr Wort Gewicht. Es schien vorbei mit der lähmenden,
gefährlichen Willkür eines Zogor oder Ermyas. Es sah
so aus, als sollte ihr Wort das lang entbehrte Gewicht
erhalten.
Die, die es nicht guthießen, waren jene, die
Falschheit witterten, deren Herzen längst im Mißtrauen
kalt geworden waren.
Es wurde eine lange Sitzung – eine der längsten seit
Antritt seiner Regentschaft über das myranische Reich.
Dragons Ideen stießen nicht immer auf Zustimmung.
Es gab heftige Rede und Gegenrede und Vorschläge,
wie es während Zogors Herrschaft nie geschehen war.
Dragon erfuhr vieles auf diese Weise, das ihm fremd
war und das ihm tiefen Einblick in das myranische
Leben gab. Es war wesentlich vielgestaltiger als das
einfache Leben in Urgor. Es lag wohl an der Größe des
myranischen Reiches, an der Vielzahl und
Verschiedenheit seiner Völker und Stämme.
Manche seiner Ideen mußte er zurückstecken, weil
die Vernunft ihm sagte, daß es dafür noch zu früh war.
Aber für die meisten Schritte, die er zu unternehmen
gedachte, vermochte er die Männer zu gewinnen: die
neuen Steuern, das Bündnis mit Katmahzar, dem
Frauenreich im Norden, die Erstellung einer jederzeit
einsatzbereiten Miliztruppe, die im Ernstfall dem
König unterstand, die Errichtung von Schulen, an
denen die weisen Söhne von Atlantis unterrichten
sollten, und eine Menge anderes mehr.
Was Yina und Kim und sicherlich auch Dragon
befürchteten, trat nicht ein. Die Gedanken des
Mädchens forschten immer wieder suchend in der
Menge, unermüdlich. Keine Mörderseele saß da unten
im Saal. Für die anwesenden Männer war der König
einer der ihren geworden. Symbolisch saß er mit ihnen
am Lagerfeuer oder an der heimatlichen Festtafel.
Mitternacht war längst vorbei, als Dragon fühlte,
daß genug geredet war. Er ließ den versprochenen
Wein bringen, und reichlich zu essen. Dann verlangte
er, daß die Männer ihm myranische Lieder singen
sollten und von ihren Taten berichten. Das fand
begeisterte Zustimmung. Ein Barde aus Morandik, der
nordöstlichsten Provinz wurde vor den Thron
geschoben, wo er nach einer tiefen Verneigung an den
Saiten eines lautenähnlichen Instrumentes zu zupfen
begann und eine traurige Erzählung anhub, in der von
einem Krieg die Rede war, in den ein junger Krieger
zog; in dessen Verlauf eine Stadt erobert wurde, in der
man tötete, und schändete und brandschatzte ohne
Erbarmen. Es war die Eroberung einer Stadt, bei der
ein Heerführer des Königs den Zorn des Totengottes
Amyron auf sich lud.
Dragon lauschte fasziniert, denn er war sicher, daß
es die Eroberung Dans durch Kelkaris Heer war, die
der Barde in blutigen Einzelheiten beschrieb. Doch da
war kein Triumph über den Sieg. Die Zuhörer
schwiegen grimmig und betroffen. Die meisten von
ihnen waren nicht in Dan gewesen, sondern mit Zogors
Heer gegen Urgor gezogen. Und solcherart hatten sie
den myranischen Triumph, die Eroberung Dans, noch
nicht gesehen. Sie wußten alle, daß der Barde den
Untergang Dans besang, denn es gab keinen im ganzen
Heer, der nicht inzwischen vom unrühmlichen Ende
Kelkaris durch die Hand des Totengottes erfahren
hatte.
Während dies im Palast geschah, saßen vier Männer in
einer dunklen Kammer in einem anderen Teil der
Stadt. Die von einer einzelnen Kerze spärlich erhellte
Kammer befand sich in einem runden, aus groben
Steinblöcken gebauten Turm, der wie ein drohender
Finger über die ärmlichen Häuser dieses Stadtteils
emporragte. Er war einst Teil eines alten Tempels
gewesen, an dessen Altären man zu Mis betete, der
Göttin der Schlange. Aber das war vor langer Zeit
gewesen, als die Menschen Myras noch barbarischer
waren und Blutbande mit ihren Göttern knüpften.
Heute betete oder starb niemand mehr in Mis‘
Tempeln. Sie waren Ruinen aus einer älteren Zeit, als
die meisten sich vorzustellen vermochten.
Der Rest des Tempels waren von Büschen und
Unkraut überwachsene Ruinen. Nur dieser eine Turm
stand noch, und die Menschen mieden ihn und
verriegelten ihre Türen, wenn sie nachts Licht in den
kahlen Fensteröffnungen bemerkten.
Arzan Shor hauste in diesen Mauern, in denen
jahrtausendealte Kräfte und Geheimnisse schlummern
mußten, bereit, zu erwachen für jenen, der wagemutig
genug war, die Hand danach auszustrecken.
Arzan Shor war es – ein Magier, der mehr von den
Göttern der Alten wußte und ihren Kräften, als die
meisten ertragen hätten. Er war machtgierig, und er
war Geheimnissen auf der Spur, die ihm bald diese
Macht geben würden. Macht über den König und das
Reich. Macht über die Menschen, selbst ihrer
Gedanken.
Er war ein viel zu großer, viel zu dunkelhäutiger
Mann, um in Myras Grenzen geboren zu sein. Die
Menschen, die von ihm wußten, bezweifelten, ob er
überhaupt geboren worden war. Er mußte aus dem
Süden kommen, wo die Menschen schwärzer wurden –
und nicht nur äußerlich.
Ein spitzer Bart stieß am Kinn abwärts wie ein
silberner Dolch. Seine Nase war geknickt und verlieh
ihm zusammen mit den stechenden Augen etwas
Habichtartiges. Er war inkarnierte Düsternis in dem
flackernden Kerzenlicht, ein Eindruck, den der
schwarze Mantel noch verstärkte und die Kapuze, die
weit vorgezogen war und Stirn und Augen in Schatten
hüllte.
Die drei Männer, die mit ihm saßen, ebenfalls in
dunkle Kapuzenmäntel gekleidet, schienen seine
Gehilfen.
Und sie hatten Furcht vor ihrem Herrn. Sie stand
deutlich in ihren Gesichtern.
Die Hand des Magiers zuckte vor wie eine Klaue.
Die drei Männer fuhren zurück und ließen den Blick
nicht von den Fingern, die sich zur Faust schlossen. Als
der Magier die geballte Faust zurückzog, beugten sich
die Oberkörper der drei Männer nach vorn, als hingen
sie an unsichtbaren Fäden daran.
Als er die Faust öffnete, zuckten sie zurück. Bleich.
Arzan Shor lachte. »Das ist nur ein Anfang. Unsere
Macht wird unermeßlich sein. Zamoc schien sie zu
besitzen, aber er war zu schwach. Noch jemand ist in
der Stadt, der ein wenig davon besitzt. Ich spüre es.
Aber jetzt greifen wir nach dieser Macht. Und der
König ist der Schlüssel. Ihn brauchen wir. Es wäre
falsch, jetzt nicht alles zu wagen. Freiwillig würde uns
der König den Inhalt seines Schädels nicht in den
Schoß leeren. So müssen wir einen Blick hineinwerfen.«
Er sah seine Gefolgsleute an, denen dieser Gedanke
Furcht einzuflößen schien. Den König entführen war
schon Wahnwitz genug. Aber sie wußten, daß Arzan
Shor über Leichen gehen würde, und daß sie die ersten
dieser Leichen wären, wenn sie sich ihm in den Weg
stellten.
Aber auch sie lockte die Macht, die an der Seite des
Magiers die ihre sein würde.
»So trefft jetzt die Vorbereitungen. Heute nacht noch
soll es geschehen. Ich habe eben erfahren, daß der
König die Ratssitzung beendet hat und nun mit den
Männern zecht.« Er lächelte. »Er wird müde sein. Die
Gelegenheit ist günstig.«
»Aber ... wer soll es tun, Meister?« fragte einer der
Männer.
»Es gibt in ganz Myra nur einen, der es wagen
könnte, den König aus seinem Palast zu entführen, und
dem es auch gelingen mag – El Dschafar.«
»El Dschafar!« entfuhr es den Männern. »Er ist der
selbstsüchtigste Mann des Reiches ...«
»Außer mir«, unterbrach ihn Arzan Shor grinsend.
»Er weiß nichts von unserem wirklichen Plan ...«
»Und er hat zugestimmt?«
Der Magier nickte.
»Wie könnt Ihr seiner Loyalität nur sicher sein?«
meinte einer der Männer.
Arzan Shor lächelte. »Er wird mich nicht betrügen.
Er kann es nicht. Ich habe vorgesorgt.«
5.
Eine gute halbe Stunde zu Pferd nördlich der Stadt lag
ein Schiff vor Anker, ein bauchiger Kauffahrer. Er
schien die Bucht gut zu kennen, sonst wäre er nicht um
Mitternacht eingelaufen. Wenige wagten das, denn die
Untiefen waren tückisch.
Mehrere kleine Boote hatten an seiner Seite angelegt.
Zahlreiche Fackeln erhellten die Szene. Das Schiff
wurde entladen.
Ein Stück oberhalb der spitzen Küstenfelsen standen
zwei Dutzend Zelte, zwischen denen mehrere große
Feuer brannten.
Der Mann, der von den vordersten Felsen aus in die
Bucht hinabstarrte, war mittelgroß und dicklich. Er
hielt die Hände am Rücken umschlossen Die dunklen
Augen in dem runden Gesicht funkelten im Fackellicht,
und sein Mund verzog sich mißmutig unter dem
langen, nach außen gezwirbelten Schnurrbart, als er
sah, was von Renors Schiff in die Boote verladen
wurde. Mädchen!
Und der König hatte die Sklaverei verboten!
Niemand würde in Myra wagen, Sklavinnen zu
kaufen. Was bedeutete, daß er sie in den Süden bringen
mußte, um sie loszuwerden. Das minderte die
Gewinnspanne beträchtlich. Zudem war es mit
Gefahren verbunden, da König Jellis‘ Piraten die
südlichen Meere unsicher machten.
Er seufzte. Es würde eine Weile dauern, bis alle
seine Mittelsmänner erfahren hatten, daß menschliche
Ware vorerst mehr Schwierigkeiten als Gewinn
brachten.
Ein Großteil der Lichter erlosch auf dem Schiff,
während die Boote an Land ruderten. Der Mann auf
den Felsen wandte sich um und schritt auf eines der
Feuer zu. Seine Männer machten ihm Platz. Er
wechselte ein paar Worte mit ihnen, und sie lachten, als
sie hörten, welche Fracht das Schiff brachte.
Als die Männer mit den Gefangenen den Lagerplatz
erreichten, ging der Mann ihnen entgegen und deutete
auf sein Zelt. Die Männer, die die Fracht in ihren
Booten geholt hatten, setzten sich ans Feuer zu den
übrigen. Die gefangenen Frauen, sechs an der Zahl,
wurden in das Zelt des Anführers gebracht. Ihnen
folgte ein hochgewachsener Mann in einem blauen
Wams und hellen Beinkleidern mit einem krummen
Schwert an der Seite und, was ihn von allen anderen
unterschied, einem schwarzen, breitkrempigen Hut,
der sein langes, schwarzes Haar in keiner Weise
bändigte. Ihn begleiteten vier seiner Männer. Sie
nickten jenen am Feuer grüßend zu. Sie würden bald
bei ihnen sitzen. Wenigstens eine
Weile.
Der Anführer des Lagers empfing den Hutträger mit
einem süßsauren Seitenblick auf die Gefangenen, die
gleichmütig, mit Ketten an Händen und Füßen,
zwischen ihren Wächtern standen. Sie waren alle sehr
jung, zwischen fünfzehn und zwanzig Sommer. Sie
trugen knöchellange seidene Röcke und schmale
Oberteile. Sie wirkten kraftvoll, muskulös. Es war
wenig Zartes an ihnen trotz der reizvollen Kleidung.
»Na«, meinte der mit dem Hut. »Sag nur, sie
gefallen dir nicht, Dschafar!«
Der Anführer, El Dschafar, nickte nachdenklich. Da
war eine unter ihnen, die ihm ins Auge stach. Er wußte
nicht, was es war, das ihm so besonders gefiel. Aber es
war etwas an ihr – vielleicht die Art und Weise des
Protests in ihren Augen – oder das Raubtier, das in ihr
zu schlummern schien, so wie sie dastand.
»Sie sind Katmahzari, nicht wahr, Renor?«
Der mit dem Hut stimmte zu. »Allerdings, sie sind
Amazonen. Und sie haben großes Temperament. Wir
überquerten den Sakyra, als sie uns angriffen, ein
ganzes Dutzend. Sie waren auf dem Weg nach Akyrja.
Sie haben gekämpft wie die Teufel. Wenn sie die
Freuden des Bettes nur halb so gut ...«
El Dschafar unterbrach ihn: »Es war ein guter Fang,
gewiß. Das will ich dir gar nicht bestreiten.« Sein Blick
wanderte wieder zu der jungen Kriegerin, die nun so
unkriegerisch wirkte und doch voll mühsam
kontrollierter Wildheit war. Es mußte reizvoll sein, sie
zu zähmen, dachte er. Er bemerkte Renors Blick und
wandte sich rasch von der Gefangenen ab.
»Du hast von dem neuen König und seinen
Gesetzen gehört?« begann er. »Du warst lange fort,
mehr als zwei Monde.«
Renor winkte ab. »Ja, ich weiß, daß im ganzen Reich
die Sklaverei abgeschafft wurde. Aber der Arm des
Königs ist kurz, wenn auch sein Ruf weit dringt, und
die Menschen sind es gewöhnt, zu befehlen. Sie
werden aufwachen, wenn plötzlich niemand mehr da
ist, den sie treten können. Ich sage dir, Dschafar, das
geht rasch zu Ende. Entweder der König, oder das
Gesetz, oder beides. Und wenn alle die Freiheit
gerochen haben, wird es schwierig sein, sie wieder
einzufangen. Nichts wird so begehrt sein wie
Sklavinnen. Deshalb ließ ich sie nicht wieder laufen.
Ich dachte, freilassen kannst du sie noch immer, wenn
es dir zu heiß wird.«
»Ungern«, erwiderte Dschafar. »Wenn ich etwas
einmal in meinen Fingern habe, gebe ich es nur ungern
wieder her, ohne daß Münzen klimpern.« Er schüttelte
den Kopf. »Aber diesmal ist es zu gefährlich. Die
Eroberer haben ein Bündnis mit den Katmahzari.
König Dragon will dieses Bündnis auf Myra erweitern.
Wir können nicht gut unsere Verbündeten als
Sklavinnen verkaufen, wenigstens nicht, solange der
König ein Auge auf die Dinge hat.«
Renor nickte langsam. »Du hast recht. Was schlägst
du vor?«
»Sie können nicht hierbleiben. Meine Männer
würden die Finger nicht von ihnen lassen. Dagegen
habe ich zwar an und für sich nichts einzuwenden.
Aber die meisten würden vergessen, daß sie
Kriegerinnen vor sich haben und hätten den eigenen
Dolch im Leib, bevor der Spaß noch richtig losgeht.
Nein ... bring sie aufs Schiff zurück.«
Renor zuckte die Achseln. »Du bist der Herr.«
»Ich hätte sie behalten, wenn du sie aus Balava oder
sonst wo herhättest. Aber Katmahzari ...!« Er schüttelte
den Kopf. »Nicht einmal König Zogor hätte sie gekauft,
und der war an allem interessiert, was Röcke trug. Was
hast du noch?«
»Perlen«, erklärte Renor. »Aus Balava. Wein, auch
aus Balava. Aber damit hast du dich noch nie
abgegeben. Sie sind zudem gekauft ...« Er grinste.
»Nichts für El Dschafar, den Dieb.«
Dschafar erwiderte das Grinsen. »Wann fährst du
ab?«
»Noch heute nacht, mein Freund.«
Dschafar nickte. »Wohin?«
»In den Süden. Nach Sabar vielleicht. Von dort
brachte ein Händler Samenkörner mit, deren Genuß
ihm Träume bescherte, wie er sie noch nie gesehen
hatte.«
»Bring mir davon«, sagte El Dschafar. »Nimmst du
sie mit?« Er deutete auf die Kriegerinnen.
Renor nickte. »Sie werden ihren Preis bringen. Was
sie im Süden an Sklavinnen schätzen, ist die helle
Haut.«
»So laß mir die hier.« El Dschafar deutete, auf das
Mädchen, das er schon die ganze Zeit über beobachtet
hatte.
Renor nickte grinsend. »Der übliche Preis?« fragte er
dann lauernd. Als Dschafar zustimmte, atmete er auf.
»Wenn ich dir einen Rat geben darf, mein Freund:
Laß sie nicht aus den Ketten. Sie ist ein Teufel.«
El Dschafar lachte. »Haben es deine Männer
ausprobiert, Renor? Oder vielleicht du selbst?«
»Du weißt, daß wir deine Ware nicht angreifen«,
erwiderte Renor. »Aber wir hatten Mühe, mit ihnen
fertig zu werden. Die Röcke zogen sie nur an, weil ich
ihnen drohte, meine Männer würden ihnen den
Harnisch vom Leib reißen. Sie verabscheuen nichts
mehr als die Berührung durch Männer.«
El Dschafar nickte und betrachtete das Mädchen,
das seine Blicke kalt erwiderte. »Eine wie sie könnte ich
an meiner Seite gebrauchen.« Seiner Stimme war nicht
zu entnehmen, ob er es ernst oder im Scherz meinte.
Renor lachte und gab seinen Männern einen Wink.
Sie schoben die heftig widerstrebenden Mädchen nach
draußen. »Wir segeln gegen Morgen. Meine Männer
waren lange unterwegs. Gewährst du ihnen Platz an
deinen Feuern?«
El Dschafar nickte abwesend. »Sie sind willkommen
in meinem Lager.« Er hatte nur Augen für das
Katmahzari-Mädchen, das stolz vor ihm stand. Er
wußte nicht allzu viel von den Amazonen. Sie waren
nicht die ersten, die er gesehen hatte. Aber von ihrer
sprichwörtlichen Wildheit hatte er nur gehört. Er
wußte, was jedermann über sie wußte: daß sie
kriegerisch waren und derb, und daß sie Männer
verachteten; daß es das Wort Liebe nicht gab in ihrer
Sprache; und wehe den Männern, die ihnen im
Frühsommer in die Hände fielen. Was dann geschah,
darüber gingen die Meinungen auseinander. Es gab
jedenfalls keinen, der darüber bisher berichtet hatte.
Händler und fahrende Sänger erzählten von seltsamen
Bräuchen in den Grenzgebieten, von
Nomadenstämmen, die im Mond des Adlers und der
Schlange tief in das Katmahzari-Gebiet zogen, während
die Frauen und Mädchen zurückblieben.
Er streckte vorsichtig die Hand nach ihr aus. Sie
stand reglos, bis er sie an der Schulter berührte. Sie
zischte ein Wort, das er nicht verstand, das aber nicht
viel Gutes bedeuten konnte. Sie spuckte ihn an, aber er
war rascher. Er faßte sie am Haar und riß ihren Kopf
zurück.
»Kleine Bestie«, sagte er grinsend. Er beugte sich
über sie und preßte seinen Mund auf ihren. Trotz der
Ketten gelang es ihr, sich loszureißen. Im nächsten
Augenblick gruben sich ihre Zähne in seine Hand, die
noch immer die schwarzen Strähnen ihres Haares hielt.
»Aahhh! Miststück!« Er stieß sie von sich und preßte
sein blutendes Gelenk mit der anderen Hand. Aber das
Grinsen verschwand keinen Augenblick aus seinem
Gesicht. »Schade, daß du mich nicht verstehst. Ich
könnte dir sagen, wie ergötzlich dein Widerstand ist.«
Er griff blitzschnell nach dem schmalen Tuch an
ihren Brüsten und riß es mit einem Ruck nach unten.
Sie stand stolz und mit verachtungsvollem Blick,
während er sie wohlgefällig musterte. Sie war es
gewohnt, entweder im Harnisch oder nackt zu
kämpfen. Die Feinde waren fast immer männlich.
Scham im Sinne eines myranischen Mädchens war ihr
fremd. Sie hatte nur Verachtung für die männlichen
Begierden. Geringschätzung.
Sie duckte, sich abwehrbereit, als er erneut nach ihr
griff. Sie zerrte an den Ketten, obwohl es nutzlos war.
Das hatte sie auf dem Schiff längst erfahren. Es war
eine instinktive Bewegung – die eines Kämpfers, nicht
die eines Mädchens.
In diesem Augenblick kam jemand in das Zelt.
Wütend fuhr El Dschafar herum. Eine in einen
schwarzen Kapuzenmantel gekleidete Gestalt stand vor
ihm. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Jähe
Erkenntnis verzerrte seine Züge. Seine Rechte sank an
den Gürtel und umklammerte den Griff des Dolches.
Aber er zog ihn nicht. Der Fremde starrte ihn nur an.
Das Mädchen sah verwundert, daß El Dschafar wie
fasziniert dem Blick des Schwarzgekleideten
begegnete – und nicht mehr loskam. Sie hatte selbst
Mühe, ihren Blick loszureißen.
»Es ist Zeit«, sagte die dunkle Gestalt.
»Ja«, erwiderte El Dschafar mit einem Gehorsam,
der der Katmahzari noch seltsamer erschien. Was ging
hier vor?
»Du kennst den Turm?« Es war keine eigentliche
Frage, die der Schwarze stellte, mehr eine Feststellung.
»Ja.«
Der Schwarze nickte. »Dort schaffst du ihn hin. Aber
nur wenn du sicher bist, daß du alle Verfolger
abgeschüttelt hast.«
»Ja«, erwiderte Dschafar mit leblos klingender
Stimme.
Der Schwarze nickte erneut. Mit einer seltsamen
Bewegung seiner Hand bedeckte er kurz seine Augen.
Dann wandte er sich um und verließ das Zelt, während
El Dschafar wie aus einem Traum zu erwachen schien.
Benommen starrte er das Mädchen an. Sie bemerkte
die Angst in seinem Gesicht. Einen Augenblick schien
es, als wollte er sie etwas fragen, doch dann besann er
sich darauf, daß sie ja seine Sprache nicht verstand.
Wie unter einem Zwang ging er zum Zelteingang.
»Bardoc! Mengor! Selak!«
Drei Männer kamen kurz darauf in das Zelt, alle wie
Dschafar gekleidet – in weiße Beinkleider und bunte
Hemden, die sie vorn geknotet hatten. Den Kopf
bedeckte ein weißes dickgerolltes Tuch. Breite
Ledergürtel hingen lose um die Hüften und hatten
offenbar nur den Zweck Schwert und Dolch zu tragen.
»Sucht ein Dutzend Männer zusammen. Wir haben
einen Auftrag«, erklärte El Dschafar.
Die Männer nickten und wollten sich entfernen.
»Und bringt mir einen, der sich im Palast auskennt«,
rief er ihnen nach.
Einer von ihnen stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
»In den Palast brechen wir ein?«
»Ja«, meinte Dschafar ungeduldig. »Und wir haben
keine Zeit zu verlieren.«
Als die Männer das Zelt verlassen hatten, schritt der
Anführer unruhig auf und ab. Das Mädchen schien er
vergessen zu haben.
Nach längerer Zeit erschien einer der drei wieder
und stieß einen Mann ins Innere, der zu Boden fiel, als
er ihn losließ und Mühe hatte, wieder auf die Beine zu
kommen.
»Endlich, Bardoc«, rief Dschafar aus, als bedeutete
es ihm großes Unbehagen, zu warten.
Bardoc deutete auf die torkelnde Gestalt. »Melis ist
der einzige, der den Palast kennt. Aber er ist
vollkommen betrunken.«
Dschafar stierte auf den erbleichenden Melis, dem
zu dämmern schien, daß sich die Sache um ihn drehte,
und daß gleich etwas geschehen würde.»Ich lasse den
Hund nüchtern peitschen!« rief er.
»Ich fürchte, das wird nicht viel helfen, Dschafar«,
wandte Bardoc ein.
Melis hob abwehrend die Arme und stammelte mit
furchtgeweiteten Augen: »A-all-lles klar! Ichwwwerde
euch fühhh-ren!« Damit klappte er zusammen, und
selbst Dschafar schien einzusehen, daß er auch auf
schmerzliche Art ernüchtert keine große Hilfe sein
würde.
»Es muß ohne ihn gehen«, sagte er gepreßt. »Sind
die Männer bereit?«
»Sie sind es, Dschafar.«
»Gut. Dann wollen wir nicht zögern ...«
»Herr!« rief das Mädchen, und die Götter waren
Zeugen, daß ihr dieses, Herr nicht leicht fiel. »Ich weiß
im Palast Bescheid!«
Dschafar fuhr herum. Er starrte sie verblüfft an. Sie
hatte im besten Myranisch gesprochen. Das
beeindruckte ihn im ersten Augenblick weitaus mehr
als die Tatsache, daß sie sich im Palast auskannte.
»Nergins Bart!« entfuhr es ihm. Auch Bardoc sah
das Mädchen erstaunt an.
»Es ist wahr, Herr«, fuhr sie rasch fort. »Ich bin nicht
zum erstenmal in Myra. Ich war Zogors Sklavin. Und
die Würmer mögen dafür an seinen Gebeinen fressen!«
»Das tun sie«, erwiderte Dschafar.
Ihre Augen schienen lebendig zu werden. »Nimm
mir diese Ketten ab, Herr. Und laß mich diese Röcke
ausziehen. Sie sind einer Kriegerin unwürdig. Ich
werde dir niemals ein Weib sein, aber wenn du eine
gute Klinge brauchst ... der Mann, der mich brachte,
wird dir sagen, daß ich sie zu führen weiß.«
»Eine Sklavin am Hof, hm?« murmelte Dschafar
nachdenklich. Er schwankte, denn sie schien ihm als
Frau begehrenswert, aber er wußte, daß sie eine
Katmahzari war, die seine Gefühle niemals erwidern
würde. Und die Zeit drängte.
»Gut«, stimmte er zu. Zu Bardoc sagte er: »Hol
Solac. Er soll ihr die Ketten öffnen. Und schaff mir
diesen Idioten vom Hals!« Er trat mit dem Fuß nach
dem schnarchenden Melis.
Dann sah er zu, wie der Schmied dem Mädchen die
Ketten öffnete. Er beobachtete, wie sie auflebte, als die
Eisen fielen. Seltsamerweise fühlte er sich weniger frei
als das Mädchen in diesem Augenblick. Er spürte, daß
ihn etwas fesselte – etwas nicht aus Eisen.
»Du bist geflohen?« fragte er sie.
»Ja ... Dschafar.«
»Wie heißt du?«
»Dajna.«
»Bardoc, laß ihr Kleider und Watten bringen.« Als
alle das Zelt verlassen hatten, sagte er zu dem
Mädchen, das sich hastig der langen Röcke entledigte.
»Merk dir eines, Dajna. El Dschafar hat noch nie etwas
bereut.« Es lag eine deutliche Drohung in der Stimme.
Sie gab keine Antwort. Sie dachte über die Ironie
nach, mit der das Schicksal sie gestraft hatte. Vor
einigen Monden war sie nach Myra gekommen und
hatte sich als Sklavin ausgegeben, um König Zogors
Absichten zu erfahren, denn die Königin befürchtete
einen myranischen Angriff. Als geheime
Kundschafterin war sie an Zogors Hof gekommen.
Und als der König sie fragte, wer sie gefangen hatte, da
hatte sie ihm geantwortet: El Dschafar, der Dieb. Und
nun, wenige Monde nach ihrer Flucht befand sie sich
wahrhaftig in El Dschafars Hand. Und wieder kam sie
in den Palast!
Die Wege des Schicksals waren in der Tat
bemerkenswert.
Aber nun schien die Zeit der Demütigung vorbei.
Eine gute Klinge war wieder in ihrer Hand. Mit ihr
konnte man schon ein wenig beitragen zum Lauf des
Schicksal.
Der Reiter, der von Nordosten in die Stadt kam, war
lange unterwegs gewesen. Er war müde, und sein
Pferd nicht minder. Die dunkle, schlafende Stadt war
auch nicht dazu angetan seine Lebensgeister
aufzumuntern. Einmal an der Stadtgrenze hielten ihn
Wachen an – keine myranischen Soldaten, sondern
Krieger, wie er sie schon jenseits des Euphir gesehen
hatte. Krieger aus Urgor, gegen die Myranien in den
Krieg gezogen war – ohne ihn, El Haleb, den Fürsten
der Silikerstämme und einstigen Daikan des Reiches.
Seit seiner Flucht aus dem Palast des Königs waren
Monde verstrichen. Er hatte versucht, mit einem Schilf
den Göverfluß zu erreichen. Aber überall an der Küste
waren des Königs Schergen. Und die große Flotte war
nach Dan unterwegs gewesen. Ihren
Küstenkontrollenwäre auch nicht der kleinste Segler
entkommen.
So war nur der Landweg geblieben. Dazu mußte er
den Tälern nach Norden folgen, um an die Straßen
nach Osten zu gelangen. Es war ein Weg von Monden
bis zu den Quellen des Göver. Und das ganze Land
schien lebendig von Zogors Soldaten. Es war ein
ständiges Versteckspiel. Seine Gefährten starben bei
einem nächtlichen Überfall auf ihr Lager. Mit einem
Dutzend der besten war er nach Myra gekommen. Ihr
Blut war sinnlos vergossen worden von einem König,
dem ein Leben wenig bedeutete. Er kam ohne sie heim,
und ohne Amt und Ehren. Das war etwas, das seinen
Weg schwer machte und beschwerlich. Es war Kunde
von Tod und Untergang, die er heimbrachte zu seinen
Stämmen. Ihnen blieb nur die Flucht. Nach Jahren der
Wanderschaft aus dem Osten mußten sie nun wieder
fort. Denn König Zogor würde nicht ruhen, bis kein
Siliker mehr am Göver atmete, wenn dieser Krieg erst
vorbei war.
Aber dann kamen die ersten Nachrichten von der
Niederlage des myranischen Heeres und von Zogors
Tod. Versprengte Soldatentrupps, die auf dem
Rückmarsch waren, entweder in ihre Heimat oder zur
Hauptstadt berichteten davon.
Zogor war tot, das Heer geschlagen. Myra verloren.
An einen, den sie jenseits des Euphir einen Gott
nannten.
Dragon.
Dann war nicht alles verloren – das waren El Halebs
erste Gedanken gewesen. Der neue König würde
Verbündete brauchen. Einem Siliker war es gleich, ob
ein Myraner oder ein Urgorit über Myranien herrschte.
Er kam selbst aus dem Osten, wie seine schrägen
Augen und die hohen Backenknochen bewiesen. Seine
Loyalität galt dem, der ihn in Frieden leben ließ.
Das war der Grund, warum sich El Maleb auf den
Weg nach Myra machte. Er wußte, es würde nicht
leicht sein, den neuen König von seiner Willigkeit zu
überzeugen. Schließlich hatte er sich offen gegen Zogor
gestellt, ihn sogar zu töten versucht. Und war Dragon
auch Zogors Feind, so würde es nicht einfach sein, ihm
zu beweisen, daß es nichts mit Untreue zu tun hatte,
sondern mit der Notwendigkeit zu überleben.
Die Wachen ließen ihn ohne Behinderung durch, als er
ihnen sagte, wer er sei und was er wollte. Er erfuhr,
daß er um wenige Stunden zu spät gekommen war, um
an der großen Ratsversammlung der Daikane
teilzunehmen.
Deshalb ritt er trotz seiner Müdigkeit durch die
schlafende Stadt, um in einer der Schenken am Hafen,
die bis zum Morgen geöffnet waren, noch Neuigkeiten
aufzuschnappen und etwas über den neuen König zu
erfahren.
Er begegnete einem weiteren Wachtrupp,
myranische Soldaten diesmal, die grüßend an ihm
vorbeiritten, als der Anführer ihn erkannte. Er erfuhr,
daß es sich um eine mehrerer Patrouillen handelte, die
nachts mehrmals durch die Straßen ritten, um für Ruhe
und Ordnung zu sorgen.
Das war El Haleb völlig neu. Denn unter Zogors
Herrschaft hatte es wohl auch nächtliche Patrouillen
gegeben, aber in der Regel nur, um irgend welche
Opfer aufzuspüren, denen der König an den Kragen
wollte.
Er erreichte die gewundene Straße des Glanzes, die
über den Berg der Könige führte, unterhalb des
Palastes vorbei und nicht weniger gewunden hinab
zum Hafen. Sie war eine der gepflegtesten Straßen
Myras, beidseitig eingesäumt von Olivenbäumen, bis
hinab zwischen die eng aneinandergedrängten
Steinhäuser im Hafen.
El Haleb erreichte den Kamm des Berges. Das Meer
lag zu seinen Füßen mit da und dort einem der
Tavernenlichter als Spiegelbilder in dem schwarzen
Wasser. Er atmete auf. Der lange Ritt war zu Ende. Zu
seiner Linken strebte der Palast in den Himmel,
dunkel, lichtlos. Ein steiler Serpentinenweg führte zu
seinen Toren hoch. Er dachte an seinen Gang zum
König, der ihn morgen über diesen Weg führen würde.
Während er noch starrte, sah er mehrere Gestalten
den Weg hochhuschen – gebückt und vorsichtig. Ein
gutes Dutzend glaubte El Haleb in der Dunkelheit
unterscheiden zu können. Ihn hatten sie offenbar nicht
bemerkt. Ihre Aufmerksamkeit war auf die Wachen am
Palasttor gerichtet, die die Gefahr noch nicht erkannt
hatten.
El Haleb stieg ab. Er wußte nicht, was die Männer
vorhatten. Aber es war deutlich genug, daß sie in den
Palast eindringen wollten. El Haleb war im
allgemeinen nicht der Mann, der sich in fremde
Angelegenheiten mischte, aber er brauchte das
Vertrauen des Königs, und dies mochte ein günstiger
Augenblick sein, ein wenig davon zu gewinnen.
Er hätte niemanden aufgehalten, der aus dem Palast
geflohen wäre. Seine eigene Flucht an der Seite dieses
Katmahzarimädchens saß ihm noch zu tief in den
Gliedern. Er wußte, daß es viele Gründe geben mochte,
um aus dem myranischen Königspalast zu fliehen.
Aber die hier wollten hinein!
Vielleicht versuchten sie jemanden zu befreien.
Seine Müdigkeit war verflogen. Er mußte aus nächster
Nähe sehen, was dort vorging.
Ein halberstickter Aufschrei drang durch die stille
Nachtluft an sein Ohr. Dann nichts mehr.
El Haleb sah plötzlich, daß die Wachen
verschwunden waren. Gleich darauf bemerkte er drei
Gestalten am Tor.
Als es sich öffnete, setzte er sich in Bewegung. Er
kannte einen zweiten Eingang in das Gebäude, der
zwar nicht weniger schwierig und gefährlich war, aber
der ihn nicht mit dem Dutzend Männer in Konflikt
bringen würde, die vor den Palasttoren in den Büschen
und Felsen kauerten.
6.
Yina erwachte.
Sie schwitzte trotz der Kühle in ihrem Zimmer. Sie
wußte instinktiv, daß eine drohende Gefahr sie
geweckt hatte. Sie unterdrückte das erste Verlangen,
Kim und Kano zu wecken. Das konnte sie noch immer
tun. Sie hatten nur ein paar Schritte weit zu Dragons
und Amees Gemächer. Wenige Augenblicke würden
genügen, um Dragon zu wecken und zu warnen.
Sie mußte erst herausfinden, was überhaupt
geschah. Die Eindrücke waren verschwommen. Sie
versuchte sich zu konzentrieren, aber die fremden
Gedanken waren zu weit weg. Sie lauschte. Bis auf das
unverständliche Flüstern in ihrem Kopf war alles still.
Rasch erhob sie sich. Sie hob das lange
Nachtgewand hoch und eilte zum Fenster. In der
Dunkelheit war nichts zu sehen. Zwischen den Bäumen
regte sich nichts. Myra lag dunkel weit unter ihr.
Sie zog das weiße Nachthemd aus und kleidete sich
an. Kim! Kano! dachte sie scharf.
Die beiden Jungen hörten sie nicht sofort. Sie rief
erneut.
Verschlafen antwortete Kano: Was ist, Maus?
Ich weiß es noch nicht.
Und deshalb weckst du mich?
Mich auch, dachte Kim unfreundlich.
Seid still, dachte das Mädchen heftig. Wie soll ich es
herausfinden, wenn ihr mir den Kopf vollquasselt?
Fremde sind im Palast, oder vor den Toren.
Bist du sicher?
Ja, das bin ich.
Soll ich Onkelchen wecken? fragte Kano.
Nein, noch nicht, erwiderte das Mädchen. Erst wenn
ich Genaueres weiß. Ich gehe nachsehen.
Wir gehen mit! erklärten die beiden Knaben wie aus
einem Mund.
Kommt nicht in Frage! Ihr bleibt oben, um ihn zu
wecken, wenn ich es euch sage.
Na schön, Maus. Mach dich allein wichtig!
Das Mädchen atmete auf.
Still jetzt!
Die fremden Gedanken wurden stärker. Sie müssen
schon im Palast sein, dachte sie. Sie sind flink.
Kannst du sie nicht verstehen?
Nein, sie sind noch zu weit weg.
Hast du Angst, Maus?
Ein bißchen, dachte sie zitternd. Wir wecken jetzt
Onkel Dragon, sagte Kano entschieden.
Ja, dachte Yina zögernd, es ist wohl besser. Sie
scheinen sich im Palast auszukennen.
Wie viele sind es?
Sie versuchte es herauszufinden. Zwei, Kim. Nein ...
da ist noch jemand. Drei.
Sie öffnete die Tür ihrer Kammer und lauschte in
den stockdunklen Korridor. Zu hören war nichts. Sie
befanden sich wohl noch unten in der Halle.
Onkel ist wach, meldete sich Kano erleichtert.
Hast du ihm gesagt, daß fremde Männer im Palast
sind?
Ja, natürlich, aber ...
Aber?
Er lacht.
Was?
Zögernd antwortete Kano: Etwas stimmt nicht mit
ihm. Er torkelt!
Der Wein! dachte Yina erschreckt.
Natürlich! stimmte Kano zu. Cheron sagte zu Iwa,
daß der König seine Daikane unter den Tisch
getrunken hätte, und daß es wohl ein böses Erwachen
geben würde.
Du mußt ihn wachhalten, Kano, dachte sie
eindringlich.
Ja, Maus.
Kim?
Ich höre mit, Maus.
Sag Iwa Bescheid. Sie weiß, was zu tun ist.
Gemacht. Was noch, Schwester?
Sie lächelte innerlich über das »Schwester«. So
hatten die Jungen sie schon lange nicht mehr genannt.
Hast du Angst, Kim?
Ich glaube nicht.
Jemand muß nach unten, ohne daß er entdeckt wird,
und die Wachablösung wecken.
Ohne Licht? erwiderte er ein wenig zögernd.
Natürlich ohne Licht, Dummer. Wie sollten wir
sonst verborgen bleiben?
Wir? fragte Kim rasch.
Ich muß näher heran, sonst kann ich sie nicht
belauschen. Ich erwarte dich an meiner Zimmertür.
Mach rasch.
Ja, Maus. Bin schon unterwegs. Sie hörte die
Erleichterung in seinen Gedanken. Sie spürte sie selbst
auch. Zu zweit war alles nicht so schwierig. Wenn nur
Onkel Dragon wach genug wurde, um mit der Gefahr
fertig zu werden! Warum schlugen die Wachen keinen
Alarm? Vielleicht hatten sie gar nicht bemerkt, daß
jemand in den Palast gedrungen war. Wenn nur Partho
schon hier wäre. Aber er kam erst morgen oder
übermorgen, sobald die Neugliederung des Heeres
abgeschlossen war.
Sie stand in der offenen Kammertür und lauschte in
die Finsternis. Schritte näherten sich. Leise, Kim!
warnte sie.
Ja, ja, antwortete er ungeduldig. Gleich darauf
tauchte er neben ihr auf.
Von unten kam ein Laut. Ein leises Klirren von
Ketten oder Waffen. Die beiden hielten den Atem an.
Die verschwommenen Stimmen in ihrem Kopf wurden
klarer. Sie mußten schon sehr nah sein. Dann verstand
sie die ersten hastigen Gedanken.
Die eines Mannes, der Bardoc hieß, und der an einen
anderen Mann dachte, dessen Name ihr bekannt war:
El Dschafar. Von diesem Mann hatte sie schon gehört.
Er wurde auch der Dieb genannt. Jeder in Myra schien
ihn zu kennen, und man erzählte sich die seltsamsten
Geschichten über ihn.
El Dschafar, der Dieb, durchfuhr es sie dann. Dann
war dieser Mann also hier, um etwas zu stehlen! Ein
Dieb kam nicht bei Nacht in den Palast, um dem König
einen Besuch zu machen! Worauf hatten sie es
abgesehen? Der Mann namens Bardoc schien es
offenbar nicht zu wissen. Er war froh, daß soweit alles
gut gegangen war, aber er verfluchte El Dschafar
innerlich, weil er ihnen nicht mitgeteilt hatte, was sie
aus dem Palast mitnehmen sollten. Es mußte etwas
Umfangreicheres sein, sonst hätte er nicht ein Dutzend
Männer mitgenommen, die vor den Toren warteten.
Seltsamerweise empfing Yina keinerlei Gedanken
von El Dschafar. Das verwirrte sie.
Sie nahm Kim an der Hand. Vorsichtig schlichen sie
den Gang entlang auf die Stiegen zu, die in das
Hauptgebäude und in die Hallen hinabführten.
Kriegst du alles mit? dachte sie. Sie hatte die ganze
Zeit über die aufgefangenen Gedanken im Geist
wiederholt, damit die Knaben sie verstehen konnten.
Ja, antworteten beide.
Berichtest du Onkel Dragon, Kano?
Ja, Maus. Und er wird immer wacher.
Gut. Erleichtert konzentrierte sie sich wieder auf die
fremden Gedanken. Sie wurden mit jedem Schritt
klarer. Aber die El Dschafars vermochte sie nicht
auszumachen. Dafür entdeckte sie die einer Frau, die
Dajna hieß, wie sie gleich darauf herausfand, und eine
Katmahzari war. Das verwunderte sie wiederum sehr,
denn die Katmahzari waren ihre Verbündeten. Auch
sie schien nicht zu wissen, was El Dschafar im Palast
suchte. Ihre Gedanken waren düster. Sie schien eine
Gefangene zu sein. Und sie kannte den Palast genau. Er
weckte böse Erinnerungen.
Onkel fragt, meldete Kano sich plötzlich, ob du dich
auch nicht irrst mit dem Namen Dajna?
Nein, ich irre mich bestimmt nicht.
Könnte sie jene Katmahzari sein, die mit diesem
Silikerfürsten floh und die Botschaft an die Uska
sandte?
Ich weiß es nicht. Ich kann es nur erfahren, wenn sie
daran denkt. Aber es wäre möglich. Da war ein kurzer
Gedanke an El Haleb. Ja, sie kennt ihn. Und sie war
schon einmal hier, zu Zogors Zeit. Jetzt gehört sie zu El
Dschafars Kriegern. Aber sie wird fliehen, wenn das
alles vorbei ist.
Wenn was alles vorbei ist?
Das scheint keiner zu wissen. Weder der Mann
namens Bardoc, noch die Frau. Nur El Dschafar. Aber
ich kann El Dschafar nicht finden.
Sagtest du nicht, es wären drei? kam Kanos Stimme
wieder.
Ja. Aber der dritte ist noch zu weit weg. Ich kann
seine Gedanken nicht verstehen.
Könnte es El Dschafar sein? Onkel Dragon meint,
daß sich El Dschafar nicht mit Kleinigkeiten abgibt. Der
Dieb ist dafür bekannt, daß er das Unmögliche
fertigbringt. Kommen sie nach oben?
Ja, antwortete das Mädchen. Sie kommen näher, sie
müssen nach oben kommen.
Onkel Dragon sagt, ihr sollt sie an euch vorbeilassen
und euch ruhig verhalten. Und dann den Gong im
Halbstock anschlagen. Das wird den ganzen Palast in
Aufruhr bringen – genug jedenfalls, um die
Eindringlinge abzuschrecken.
Ja, das tun wir, stimmte Yina zu.
Betrunken oder nicht, Onkelchen hat gute Ideen,
stellte Kim fest.
Sei nicht so respektlos! schalt Yina.
Die Knaben lachten, und das nahm die Anspannung
ein wenig von ihnen. Aber nur für einen Augenblick.
Dann hörten sie die Schritte im Halbstock. Yina und
Kim drückten sich eng an die kalte Wand. Die
Gedanken der Eindringlinge waren nun sehr klar. Sie
wußten immer noch nicht, was sie tun sollten. Sie
fühlten sich ziemlich sicher, und sie folgten jemandem.
Sie gehorchten El Dschafar. Wo aber war El Dschafar?
Dann fing sie endlich die Gedanken des Nachzüglers
auf. Auch er war nicht El Dschafar. Er war ein alter
Bekannter – El Haleb. Und er gehörte nicht zu den
ersten. Er folgte ihnen. Seine Gedanken waren ein
wenig wirr und nicht immer ganz verständlich unter
den anderen näheren Stimmen. Er wollte zum König.
Er wollte wissen, wer die drei waren und was sie
wollten.
Onkel sagt, das ist alles sehr verwirrend, meinte
Kano.
Du magst ihn trösten, erwiderte sie, das ist es auch
ohne Wein. Was wird er tun?
Er sucht nach seinem Schwert.
Plötzlich flammte Licht auf. Jemand kam mit einer
Fackel von oben.
Wer ist das? schrieen die Gedanken des Mädchens.
Wer ist was?
Jemand kommt mit einer Fackel aus den oberen
Gemächern. Vielleicht Tante Amee ...
Nein, sie schläft. Das muß Iwa Onkel! Onkel ...
Was ist, Kano?
Er hat das Licht entdeckt. Es kam aus Tante Amees
Zimmer. Er ist mit dem Schwert in der Hand
hinausgestürzt ...
Bleib bei ihm, Kano! Etwas stimmt hier nicht! Panik
erfaßte das Mädchen plötzlich. El Haleb denkt an drei
Männer, die er vor sich hat. Er weiß nicht, daß eine
Frau dabei ist, aber er denkt an drei Personen, und ich
empfange nur die Gedanken von zweien. Wenn El
Haleb recht hat, dann muß El Dschafar ...
Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. Hastige
Schritte kamen die Stiegen herauf. Von mehr als zwei
Personen. Die Gedanken, die sie empfing, waren einen
Augenblick chaotisch. Dann kam von oben eine Gestalt
mit einer Fackel um die Ecke und hüllte die Szene in
flackerndes Licht. Drei wilde Gestalten duckten sich
einen Moment unter dem Licht und stürzten dann auf
die Fackel zu.
Yina glaubte Iwas Gestalt zu erkennen und neben
ihr Dragon. Und davor, halb verdeckt vom Schatten
einer Säule, einen Mann mit erhobenem Dolch.
Instinktiv preßte Yina ihre Hand vor den Mund
Kims, um ihn an einem verräterischen Aufschrei zu
hindern Eine der Gestalten sprang Iwa an und schlug
sie nieder. Die Fackel fiel, flackerte noch einmal auf
und verlöschte.
In diesem Augenblick huschte eine Gestalt an ihnen
vorbei.
Danach hörten sie nur noch Schreie und Stöhnen
und Kampfgetümmel. Und auch die Gedanken, die
Yina empfing, waren nicht viel anders.
Ein Todesschrei gellte, und jemand fiel. Yina
erkannte, daß es Bardoc war. Im nächsten Augenblick
verlöschten Dragons Gedanken.
Da waren nur noch jene der Katmahzari die hilflos
im Griff eines Unbekannten hing. Und die Gedanken El
Halebs, der erkannt hatte, daß es Dajna war, die er
festhielt. Mit aller Gewalt, als wäre sie etwas, das er
nicht wieder verlieren wollte.
So standen sie in der Finsternis, und keiner wagte
einen Laut. Aber Yinas feine Ohren vernahmen, daß
sich jemand entfernte. Jemand, dessen Gedanken sie
nicht aufzufangen vermochte.
Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie hatte Angst.
Irgend etwas Schreckliches war in der Finsternis
geschehen. Mit Onkel Dragon und Iwa.
Mit Kim an der Hand stürmte sie den Gang zu
ihrem Zimmer zurück. Dabei stolperte sie über Bardocs
Leiche und fiel mit einem Aufschrei der Länge nach
hin. Als sie sich aufrappelte, war Kim verschwunden.
Kim! riefen ihre Gedanken, schrill vor Entsetzen.
Kim!
Aber nur Kano antwortete ihren stummen Rufen.
Was ist geschehen. Maus?
Onkel Dragon ist ... Sie wußte nicht, was mit Dragon
war. Er mochte tot sein, wie Bardoc. Aber bevor sie
Kano zusammenhängend antworten konnte, schlug der
große Gong an und hallte wie der Sturmschrei der
Götter durch die leeren Hallen und Korridore.
Langsam flammten Lichter auf und näherten sich
aufgeregte Stimmen. Der Alptraum der Finsternis
begann zu weichen. Iwa stöhnte neben dem Mädchen.
Ihre Gedanken erwachten, als sie zu sich kam.
Schluchzend vor Erleichterung schlang das Mädchen
die Arme um sie.
El Haleb gelang es unbemerkt die Palastmauer zu
überklettern, an einer Stelle, an der ihn wohl die
Wachen bemerkt hätten, nicht aber die verborgenen
Männer jenseits der Straße. Aber sie hatten die Wachen
beseitigt, und das erleichterte ihm sein Eindringen
beträchtlich.
Im Palastgarten sah er sich kurz um und versuchte
sich zu erinnern, aus welchem der Fenster sie gestiegen
waren. Alles war dunkel. Er hatte den Teil des Palastes
vor sich, in dem die Bediensteten wohnten, die Köche,
Schneider, Vorkoster und Sklaven. Dort würde es am
leichtesten sein einzudringen. Selbst wenn er entdeckt
wurde, waren seine Chancen hier besser als bei den
Wachen im Hauptteil des Palastes. Von hier wußte er,
wie er die bewachten Hallen umgehen konnte, um zu
den Gemächern des Königs selbst zu gelangen, wenn
es sein mußte.
Niemand bemerkte sein Eindringen. In dem
finsteren Korridor tastete er sich leise in die Richtung
der Empfangshalle vor. Alles war still. Die
Eindringlinge waren also noch nicht bemerkt worden.
El Haleb erreichte die Stiege, die er gesucht hatte. Sie
führte in den Halbstock – zu den Quartieren der
Wachmannschaften. Aber jene, die dort waren,
schliefen. Von ihnen würde keine Gefahr drohen.
Er beeilte sich und erreichte mit unterdrücktem
Keuchen einen nicht weniger finsteren Gang, der in
den königlichen Flügel des Palastes führte. Er kam zur
Hauptstiege und hielt an. Er lauschte.
Leise Schritte näherten sich aus der Halle. Das
mußten die Eindringlinge sein. Die Wachen würden
nicht solcherart durch die Gänge schleichen. Die
Beseitigung der Wachen mußte die drei wohl solange
aufgehalten haben.
Er wartete, denn er wollte in ihrem Rücken sein, um
zu erfahren, was sie vorhatten.
Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt,
aber schließlich spürte er mehr als er es hörte, daß sie
an ihm vorbeischlichen. Er hatte richtig geraten, sie
waren auf dem Weg zu den königlichen Gemächern.
Sollte der König selbst ihr Opfer sein?
El Haleb folgte ihnen. Er hörte sie mehrmals
flüstern, aber er verstand nicht, was sie sagten. Den
Stimmen nach schien ein Mädchen dabei zu sein. El
Halebs Neugier wuchs immer mehr.
Sie erreichten die obere Etage unangefochten. Aber
dann begannen die Schwierigkeiten. Sie waren nicht
mehr allein. Irgendwoher aus der Finsternis kamen
Geräusche. El Haleb hielt sich zurück. Es mochte hier
noch ein anderes Warnsystem geben, von dem er nichts
wußte, und was er am wenigsten wollte, war, mit
dieser Gruppe entdeckt zu werden.
Im nächsten Augenblick aber wurden die Dinge
völlig aus seiner Hand genommen. Jemand tauchte mit
einer Fackel hinter einer Gangbiegung auf. El Haleb
sah die drei Gestalten vor sich in blendendes Licht
gehüllt, und er machte eine Entdeckung, die sein Herz
höher schlagen ließ.
In diesem kurzen Moment, da das Licht durch den
Korridor flackerte, erkannte er das Mädchen
wieder – Dajna, das Katmahzari-Mädchen, das ihm aus
Zogors Kerker geholfen hatte und mit dem er aus Myra
geflohen war. Die Götter mochten wissen, wie sie
wiederum hierherkam. Sie würde ihm vieles erklären
können. Es war Fügung, daß er sie hier wieder traf. Sie
war diese ganzen Monde nicht aus seinem Herzen
gewichen, obwohl er wußte, daß sie eine Amazone
war, eine, für die der Mann Befruchtung bedeutete,
nicht mehr. Die Dinge überstürzten sich. Noch eine
Gestalt tauchte neben jener mit der Fackel auf und
sprang dem ersten Eindringling entgegen. Jemand
schlug den Fackelträger nieder. Bevor es pechschwarz
wurde, hatte El Haleb das Mädchen erreicht und von
hinten umklammert. Sie hatte einen Dolch in der
Rechten und wehrte sich wie ein Teufel.
Einer schrie und starb in der Finsternis. Dajna
erstarrte einen Augenblick, den El Haleb nutzte, ihrer
Hand das Messer zu entreißen. Er umklammerte das
Mädchen und brachte seinen Mund nah an ihr Ohr.
»Um der Götter willen, Dajna«, flüsterte er und spürte
erleichtert, wie sie ihren Widerstand aufgab, als sie
ihren Namen hörte. »Keinen Laut.«
In der plötzlichen Stille hörten sie, wie sich jemand
entfernte, keuchend, als hätte er eine Last zu tragen.
Dann begannen mehrere zu laufen, und El Haleb fragte
sich, wer wohl noch alles in dieser Dunkelheit stand.
Sie mußten verschwinden, bevor der ganze Palast
lebendig wurde. Jemand fiel ganz in ihrer Nähe mit
einem Aufschrei. Schritte entfernten sich. Dajna wurde
unruhig in seinem Griff. Er gab sie frei und zog sie mit
sich den Korridor entlang. Sie kamen nur bis zu den
Stiegen.
Der Gong dröhnte durch die Gänge. El Haleb wußte,
daß sie den Palast niemals mehr ungesehen verlassen
konnten, und daß er nun das tun mußte, weshalb er
nach Myra gekommen war. Zum König gehen. Auch
wenn alles gegen ihn sprach.
Er hielt Dajna fest, als sie fliehen wollte. »Zu spät«,
murmelte er.
Von unten kamen Stimmen und Lichter und
brandeten hoch wie eine Woge. Sie waren überall. Das
Mädchen schien einzusehen, daß es keinen Ausweg
gab. El Haleb fühlte plötzlich ihre Hände an seinem
Gürtel und spürte, wie sein Dolch aus der Hülle glitt.
»Dajna, nein!« rief er und griff in der Dunkelheit
nach ihr.
Seine Stimme ließ sie innehalten mit dem Dolch
bereits an ihrer Brust. »Haleb?« flüsterte sie. »Ja«, sagte
er.
»Die, Götter spotten uns, mein Freund«, sagte sie
leise und senkte den Dolch.
»Nein«, widersprach er. »Es kann nicht ihr Spott
sein, der uns wieder zusammenführt. Ich habe mir
nichts sehnlicher gewünscht.«
Sie lachte leise. »Als hier mit mir zu sterben? Aber
du hast recht, es ist leichter, mit dir zu sterben ...«
»Nein, Dajna. Sie werden uns nicht töten. Nicht nach
allem, was ich über König Dragon gehört habe. Nicht
nach diesem Dienst, den wir ihm erwiesen haben.«
»Du denkst, er wird sich erinnern? Du ...«
»Dein Volk hat an seiner Seite gefochten«,
unterbrach er sie. »Aber es ist müßig, über das
Schicksal zu raten, das schon auf uns zukommt.«
Er entwand ihr sanft den Dolch und steckte ihn
wieder in seinen Gürtel. Es wurde heller, als der
Fackelschein näherkam. Er zog Dajna an sich. Sie
sträubte sich gegen die Umarmung. Aber er hielt sie
fest. Es war ihm ein Bedürfnis, sie zu halten. Und sie
gab ihr Sträuben auf und legte die Arme auf seine
Schultern und ihr Gesicht an seines. Vielleicht war es
die Ausweglosigkeit der Situation oder die
Erleichterung, hier einen getroffen zu haben, der ihr
Freund war, den sie schätzte, auch wenn er ein Mann
war, die sie ihren anerzogenen weiblichen Stolz
vergessen und für einen Moment Geborgenheit finden
ließen in seinen Armen.
Oder besser, ein Gefühl, nicht allein zu sein.
Ein Schluchzen in unmittelbarer Nähe beendete
diesen Augenblick seltsamer Zuneigung zwischen
Mann und Amazone. Sie löste sich aus seinen Armen.
»Was war das?«
Jemand stöhnte. Eine weibliche Stimme, und das
Schluchzen verstärkte sich. Es schien von einem
Mädchen zu kommen, El Haleb und Dajna beugten
sich hinab und tasteten in der Finsternis. »Wer ist da?«
fragte der Siliker. »Seid Ihr verletzt?«
Da kamen die ersten Wachen mit Fackeln und
gezogenen Klingen den Gang entlanggestürmt.
Verwundert sah El Haleb eine ältere Frau am Boden,
die sich benommen aufrichtete. Ihre Augen waren
geweitet, als sie den Siliker und das ungewöhnlich
gekleidete Mädchen sah.
Die Arme um ihren Hals, die Augen ein wenig
gerötet von den Tränen, die rasch versiegten, starrte
ihnen ein junges Mädchen entgegen, aus dessen Zügen
die Furcht wich, als das Licht enthüllte, daß sich sonst
niemand mehr hier befand.
Die Wachen rissen El Haleb und die Katmahzari
hoch. »Wer seid ihr zwei Vögel? Redet!« Der Anführer
der Wache hob drohend die Klinge.
Das Mädchen sprang auf und stellte sich schützend
vor die beiden Gefangenen. »Nein, laß sie, Alaan. Die
beiden sind Freunde.«
Während Dajna und El Haleb erstaunt auf das
Mädchen starrten, das sie noch nie zuvor gesehen
hatten, nickte der Wachkommandant. »Du mußt es
wissen, Yina. Irrst du dich auch nicht?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Dann ist es gut. Aber kann mir einer sagen, was
nun eigentlich geschehen ist und wer den Gong
geschlagen hat?«
»Ich«, bemerkte eine zaghafte Stimme im
Hintergrund. Es gab einiges Getümmel, als die Wachen
Platz machten, um jemanden durchzulassen. Dann
stand Kim blinzelnd im Fackellicht.
Gleichzeitig kam vom anderen Ende des Korridors
Kano. Er sah sich verwirrt um. Dann bückte er sich und
hob etwas auf, das nicht weit von Yina lag. Ein
Schwert.
»Das ist Onkels Schwert«, sagte er. »Wo ist er?«
Betroffenes Schweigen antwortete ihm.
7.
Der König war verschwunden!
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im
gesamten Palast.
König Dragon war entführt worden. Es konnte
keinen Zweifel geben, nach allem, was Yina und die
Knaben und die beiden Eindringlinge auszusagen
hatten.
Während Kommandant Alaan, ein Urgorite, wie die
meisten Soldaten im Palast, mit zwei Dutzend seiner
Männer den Palastgarten und die Umgegend absuchen
ließ, und dabei auf nicht viel mehr als die betäubten
Torwachen stieß, und auf einige Hinweise darauf, daß
sich mehrere Männer in der Nähe des Palastes
verborgen gehalten haben mußten, fand in den
Gemächern der Königin eine hastige Beratung statt.
Boten wurden ausgesandt, um Cheron und Partho
herbeizuholen.
Aber El Haleb, obwohl zum Umfallen müde und
erschöpft, drängte darauf, nicht erst auf die Ankunft
der Helfer zu warten, sondern sofort El Dschafars
Lager aufzusuchen. Auch Dajna drängte darauf. Sie
hatte auch noch andere Gründe dafür. Ihre fünf
Gefährtinnen befanden sich noch auf dem Schiff, das
am Morgen auslaufen und die Kriegerinnen im Süden
als Sklavinnen verkaufen wollte. Sie gestand der
Königin freimütig, wie es gekommen war, daß sie sich
El Dschafar zu diesem abenteuerlichen Einbruch in den
Palast anschloß. Weil sie erhofft hatte, dabei zu fliehen.
Das sei aber unmöglich gewesen.
Als Amee von den gefangenen Katmahzari hörte,
schickte sie sofort einen Boten in den Hafen, einen,
dem sie bei seinem Leben verbot, zu jemandem über
das Verschwinden des Königs zu sprechen. Die Flotte
lag im Hafen. Einige Schiffe würden sich des
Kauffahrers annehmen und ihn zur Herausgabe der
gefangenen Frauen zwingen. Sie wußte, wie tapfer die
Katmahzari an Dragons Seite gekämpft hatten. Keine
dieser Frauen durfte die Schmach der Sklaverei
erdulden, nicht wenn es in ihrer Hand lag, es zu
verhindern.
Aber es erschien ihr auch absurd, daß El Dschafar
den König entführen und in sein Lager bringen würde.
Sie beschäftigte sich immer wieder mit einem
Gedanken: Warum hatte Yina die Gedanken dieses
Diebes nicht lesen können? Es paßte irgendwie zu dem,
was Dajna berichtet hatte – daß nämlich sie und die
anderen Männer nicht gewußt hatten, was El Dschafar
im Palast suchte. War es möglich, daß er es selbst nicht
wußte, sondern daß ihn nur ein Zwang dazu trieb – ein
Zwang namens Cnossos? War es möglich, daß dieser
Teufel hundert Leben besaß und immer wieder
auftauchen würde, um ihnen das Leben zur Hölle zu
machen?
Der Gedanke ließ sie zittern. War Dragon bereits in
Cnossos‘ Hand?
»Es sieht aus wie Cnossos‘ Werk«, murmelte sie.
Die Kinder sahen sie erstaunt an. Daran hatte selbst
Yina noch nicht gedacht. Iwa nickte. »Cnossos?« fragte
El Haleb. »Ihr habt ihn gesehen, wenn auch nicht in
seiner wahren Gestalt. Aber als Zamoc. Das war
Cnossos, der Gott der vielen Namen, wie wir ihn in
Urgor nannten. Dragons größter Feind. Er kann seine
Gestalt wandeln, wie es ihm gefällt. Ihm gehorchen die
Horden der Nacht, die Zom-bys, die Vampire und
selbst die Menschen, die er sich zu Willen macht ...«
Dajna schüttelte bleich den Kopf. »Ihr glaubt, daß El
Dschafar nicht der echte El Dschafar war, sondern
dieser Cnossos in seiner Gestalt ... Ist es das, was Ihr
glaubt, erhabene Königin?« Amee nickte.
»Dann ist es wohl nicht Cnossos« meinte Dajna
aufatmend. »Als El Dschafar mich nämlich wie ein ...
Mädchen zu behandeln versuchte ...« Sie hatte Mühe,
ihre Geringschätzung zu verbergen. Aber sie errötete
unter Amees Blick, sehr zu ihrem Mißbehagen, wie El
Haleb bemerkte, der kein Auge von der jungen
Kriegerin und Nichte Asmyras, der Königin der
Amazonen, ließ.
»Da biß ich ihn in das Handgelenk«, fuhr sie fort
und errötete erneut, diesmal vor Scham über diese
unfeine Art des Kämpfens. »Ich war in Ketten«, fügte
sie hinzu. »Er blutete stark. Und wenn ich mich recht
erinnere, dann floß bei Zamoc kein Tropfen Blut, auch
nicht, als sein Schädel bis in den Nacken gespalten
war.«
El Haleb nickte. Ein leises Grauen beschlich ihn bei
dieser Erinnerung.
»Danach war ich ständig bei ihm«, erklärte Dajna.
Außerdem hatte er sich bereits verändert, als dieser
Besucher ins Lager kam, von dem ich bereits berichtete.
Ein schwarzgekleideter Mann in einem Mantel mit
Kapuze. Von ihm muß Dschafar den Auftrag erhalten
haben. Denn er vergaß mich völlig. Nichts kümmerte
ihn mehr. Er hatte es sehr eilig, in den Palast zu
kommen. Er rief seine Männer zusammen. Den Rest
wißt Ihr bereits.«
Die Königin nickte unruhig. »Wer der
Schwarzgekleidete war, konntet Ihr nicht sehen?«
»Nein, erhabene Königin. Aber Dschafar benahm
sich sehr seltsam in seiner Gegenwart. So als wäre er
betrunken. Er starrte ihn an und stimmte allem zu ...«
Amee nickte erneut. »Wer dieser Besucher auch
war – er hat sich Gewalt über den König der Diebe
verschafft. Und es sieht immer mehr wie Cnossos‘
Machenschaft aus!« Verzweifelt sah sie von einem zum
andern. »Wir dürfen keine Zeit verlieren«, sagte sie
zitternd vor plötzlicher Schwäche. Iwa trat an ihre Seite
und hielt sie an den Schultern.
»Ihr braucht Ruhe, Königin«, sagte sie streng.
»Oh. Iwa! Wie soll ich Ruhe finden, wenn Dragon
...«
Iwa unterbrach sie. »Ihr habt jetzt einen, der Euch
dringender braucht als der König. Ihr habt ihm einen
Sohn geboren. Er braucht Eure ganze Kraft. Überlaßt es
den Männern, nach dem König zu suchen!« Dabei warf
sie einen herausfordernden Blick auf Dajna, den diese
ignorierte.
Plötzlich stieß Dajna hervor: »Wie konnte ich es nur
vergessen! Der Schwarze sagte etwas von einem Turm,
zu dem die Beute zu bringen sei ...«
»Ein Turm«, wiederholte die Königin hoffnungsvoll.
»Das mag uns weiterhelfen.«
»Aber nicht viel«, erscholl eine männliche Stimme
von der Tür her. »Darf ich eintreten?« Es war Cheron.
Er wartete die Antwort nicht ab. »Es gibt mehr als
hundert Türme in der Stadt, und die meisten haben
unterirdische Gewölbe, in denen wir tagelang suchen
könnten.«
»Aber was können wir tun?«
»Abwarten«, erklärte Cheron. »Sie wollten den
König nicht töten, sonst hätten sie es gleich hier getan
...«
»Und du meinst«, unterbrach ihn Amee heftig, »daß
sie ihn früher oder später zurückbringen werden? Ist
das deine ganze Weisheit. Freund Cheron?«
»Verzeiht, meine Königin«, erwiderte Cheron ruhig.
»Vielleicht würde Partho die Stadt umgraben lassen,
und vielleicht wäre das mehr nach Eurem Geschmack.
Aber seid vor einem gewarnt: Laßt das Volk nicht
wissen, daß etwas mit dem König geschehen ist, so
lange Ihr nicht sicher seid, ob Euer Heer bereit steht
und stark genug ist, Myra noch einmal zu erobern, um
Atlantor sein Erbe zu sichern.«
Die Königin sah ihn bleich an. »Du hast Dragon
schon aufgegeben?«
»Nein. Aber was wir für ihn tun, muß heimlich
geschehen.«
Maratha, die Seherin, schlief unruhig in dieser Nacht.
Wirre Träume ließen sie nicht zur Ruhe kommen.
Sie liebte die Träume, weil es für sie eine Art von Sehen
bedeutete, weil sie Bilder und Farben sah, die ihren
blinden Augen versagt blieben.
Aber in dieser Nacht waren die Träume drohend
und schienen irgendeine Gefahr zu bergen – eine
Warnung, die nicht einsickerte in den Mantel ihrer
bleiernen Müdigkeit.
Stöhnend wälzte sie sich auf dem Lager hin und her,
bis Tomara erwachte, der sie gestattet hatte, auch
nachts über zu bleiben, und sie mit ängstlichen Rufen
weckte.
»Herrin, wacht auf! Ihr habt einen bösen Traum! So
wacht doch auf!«
Erst als das Mädchen sie, kräftig rüttelte, glitt sie aus
ihren bedrohlichen Träumen und fand in die Finsternis
ihres Lebens zurück.
Ihr Herz pochte wie rasend. Ihr Atem kam heftig.
»Beruhigt Euch, Herrin«, sagte das Mädchen
besorgt, »es war nur ein schlimmer Traum.«
Nach einem Augenblick nickte Maratha. »Es ist gut,
Tomara. Ich bin wach. Und die Götter hatten Mühe,
mich zu warnen ...«
»Warnen, Herrin ...?« fragte Tomara verständnislos.
»Schläft Dragomar?«
»Ja, Herrin.«
»Gut«, murmelte Maratha und sank in die Kissen
zurück. »Es ist nicht mehr lange bis zur
Morgendämmerung, nicht wahr?«
»Es ist nicht mehr lange, Herrin.«
»So geh wieder zu Bett, Tomara. Ich werde dich
rufen, wenn ich dich brauche.«
Das Mädchen nickte zögernd. Dann sagte sie: »Gute
Nacht. Herrin.« Und ging in ihre Kammer zurück. Eine
Weile lauschte sie, aber es blieb alles still. Manchmal
fürchtete sie diese seltsame blinde Frau ein wenig.
Und sie hätte sich noch mehr gefürchtet, hätte sie
ihre Herrin so gesehen, wie sie nun auf ihrem Bett lag –
die Augen weit offen, beinahe ohne zu atmen. Wie
eine Tote.
Maratha sah.
Es war einer jener Momente, da ihr innerer Blick
sein Ziel selbst suchte, ohne ihr lenkendes Zutun. Es
war die Drohung aus ihren Träumen, die ihn lenkte.
Irgend etwas in Myra, oder besser, irgend jemand,
besaß mehr als menschliche Kräfte. Und er war dabei,
sie zu nutzen.
War Cnossos wieder auferstanden? Hatte wiederum
etwas von ihm überlebt und war dabei, sich
aufzubauen, Kräfte zu sammeln? War Dragon abermals
in Gefahr?
Ein Gesicht tauchte vor ihrem Innern auf – ein
düsteres, hageres, dunkelhäutiges Gesicht mit spitzem
Kinnbart und unter einer schwarzen Kapuze
verborgenen Augen, deren Blicke durch das Fleisch bis
in das Mark zu dringen schienen. Er saß allein und
brütend in einem Raum, der spärliches Licht von einer
fast niedergebrannten Kerze erhielt. Und er wartete.
Es schien ein Turm zu sein, in dem er saß, aus
steinernen Mauern. Aus alten Mauern, in deren Steinen
etwas von einer alten, gefährlichen Vergangenheit war.
Sie betrachtete den stummen Mann eine Weile. Bald
schien es ihr, als hielte er ihren inneren Blick fest. Nur
mit Mühe vermochte sie sich loszureißen. Er weckte
Erinnerungen in ihr, uralte Dinge, die vor ihr erlebt
worden waren und die dennoch in ihr schlummerten.
Sie wußte, daß etwas vom gleichen Blut in seinen
Adern fließen mußte.
Plötzlich erwachte der Mann aus seinem starren
Brüten. Seine Aufmerksamkeit richtete sich nach
draußen, woher Geräusche durch die Fenster kamen.
Die Stimmen mehrerer Männer waren zu vernehmen.
Dann pochte jemand an das Tor.
Maratha kam völlig frei aus seinem unbewußten
Bann. Trümmer eines verfallenen Tempels prägten sich
ihr ein. Und ein Pferd, über dessen Sattel ein lebloser
Körper hing, während ein Dutzend Reiter Mühe
hatten, ihre Pferde zu beruhigen.
Das Tor tat sich auf. Zwei schwarzgekleidete
Männer mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen griffen
nach der schlaffen Gestalt auf dem Pferd und hoben sie
vorsichtig aus dem Sattel. Während das Klappern der
Hufe auf dem Pflaster in der Ferne verklang, trugen die
Männer ihre Last die Wendeltreppe hoch und in den
Raum, in dem noch immer der Mann saß. Er erhob
sich, als die beiden eintraten und ihre Last auf den
Tisch legten.
»Hier ist er, Meister«, sagte einer der Männer
ehrfürchtig.
Auch Maratha sah ihn, und ein stummer Aufschrei
entrang sich ihrem Geist.
Auf dem Tisch lag niemand anderer als Dragon!
Und er schien tot zu sein ...
Nach einem Augenblick, als sich ihre
ungewöhnliche Sehkraft voll auf ihn richtete, erkannte
sie, daß er lebte. Er atmete. Sein Herz schlug.
»Bindet ihn fest!« befahl der, den sie Meister
genannt hatten.
Die Männer machten sich daran, den Bewußtlosen
festzubinden.
Maratha konzentrierte sich auf den »Meister«. Sie
versuchte zu erfahren, was in ihm vorging. Wofür er
sein Opfer auserkoren hatte. Aber ihre magischen
Sinne prallten vor einer unsichtbaren Wand zurück.
Die Drohung war wieder fühlbar. Die Drohung aus
den Träumen. Es war nichts Gutes, das dieser Mann
mit Dragon vorhatte. Sie mußte handeln.
Aber zwei Dinge hatten mit einemmal zu geschehen!
Ihre Lider zuckten. Ihre dunklen Augen schlossen
sich, als das innere Licht erlosch, die inneren Stimmen
verstummten.
Maratha erwachte.
Sie war älter geworden in diesen Augenblicken, wie
immer, wenn der Blick des Geistes an den Kräften ihres
Körpers zehrte. Altern war etwas, das sie ständig
ertrug. In einer Stunde mochte sie vom blühenden
Geschöpf zu einer schlohweißen Greisin werden, wenn
der Zustand des inneren Blicks fast alle ihre Kräfte
kostete. Ruhte sie, dann kamen ihre Kräfte zurück und
ihre Jugend und Schönheit.
Aber für Ruhe war nun keine Zeit.
Ihr ältliches Aussehen erfüllte auch einen guten
Zweck. Sie brauchte ihre Gestalt nicht zu verändern,
was das Mädchen sicherlich sehr erschreckt hätte, denn
niemand würde in ihr Maratha wiedererkennen. Ein
wenig würde sich Tomara wahrscheinlich wundern,
daß ihre Herrin in dieser Nacht soviel älter geworden
war. Aber sie würde es der Erschöpfung zuschreiben
und dem Kind.
Sie erhob sich, und da sie sich mit Hilfe des inneren
Blicks ihre Umgebung genau eingeprägt hatte, fand sie
die Tür sicher wie eine Sehende.
Sie weckte Tomara.
»Kannst du reiten?«
»Ja. Herrin.«
»Gut. Besorge uns Pferde. Wir werden der Königin
einen Besuch abstatten.«
»Der Königin?« entfuhr es dem Mädchen. »Oh.
Herrin, nein, das kann ich nicht. Wie ich aussehen
würde unter all den feinen Leuten am Hof. Was sollte
sie von mir denken?«
»Daß ihre Bürger ordentliche, einfache Leute sind«,
sagte Maratha lächelnd »... die ihr helfen, wenn sie in
Not ist.«
»Ist sie denn in Not?«
»Ja, seit heute nacht hat sie beträchtlichen
Kummer ...«
»Aber woher – wißt Ihr ...?«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Tomara. Bring
uns jetzt Pferde. Die Zeit drängt.«
»Jetzt gleich. Herrin? « fragte sie verwundert »Die
Sonne ist noch nicht einmal aufgegangen. Wird die
Königin denn wach sein zu dieser frühen Stunde?«
»Heute wird sie es sein. Nun mach schon.«
Während das Mädchen zu Melocs Karawanserei lief,
um zwei Pferde zu mieten, kleidete sich Maratha an.
Sie sah aus wie eine vornehme myranische Frau
mittleren Alters, die Witwe eines Offiziers.
Sie fütterte den kleinen Dragomar und brachte ihn
mit langsamen, gleichmäßigen, streichelnden
Bewegungen ihrer schlanken Hände zum Einschlafen.
Befriedigt legte sie ihn mit den Tüchern und Kissen in
einen Tragkorb. Den bedeckte sie mit weiteren
Tüchern, bis der Knabe nicht mehr zu sehen war. Sie
überzeugte sich, daß er auch genügend Luft bekam.
Ungeduldig wartete sie, daß das Mädchen mit den
Pferden kam. Es dauerte eine Weile. Als sie schließlich
kam, war sie außer Atem »Verzeiht. Herrin. Ich konnte
nicht ... ich habe mein schönstes Kleid angezogen.
Ich ...«
Maratha unterdrückte ihren Ärger.
Sie sah in der Tat verwandelt aus in den bunten
weiten Röcken. Maratha sah es nicht, aber sie spürte es.
Sie lächelte. »Ich hoffe, die Königin weiß es zu
schätzen. Tomara.«
Das Mädchen errötete. »Verzeiht, es war nicht
Eitelkeit. Aber sicher hätte die Königin gedacht, ich
käme betteln zu ihr ...«
»In solchen Lumpen kommst du in mein Haus?«
fragte Maratha ironisch.
»Nein. Herrin. Für mich sind es nicht Lumpen, nur
die Kleider einer Magd. Aber in den Augen der
Königin ...«
»Die Königin ist auch nur eine Frau. Tomara.« stellte
Maratha fest.
»Ist sie schon?«
»Du wirst es sehen. Nimm den Korb. Bring mich zu
den Pferden!«
»Wo ist Dragomar?« fragte das Mädchen.
»Im Korb. Tomara. Du sorgst dafür, daß niemand
sieht, was unter den Tüchern liegt. Ich denke nicht, daß
er erwachen wird. Aber du läßt mir den Korb nicht aus
den Augen. Nicht einen winzigen Moment, und mag
die Königin dich auch noch so sehr beeindrucken. Hast
du mich verstanden?«
»Ja. Herrin. Seid Ihr wahrhaftig schon stark genug,
um zu reiten?«
»Hab keine Angst um mich. Aber um dich, wenn du
nicht stets an meiner Seite bist.«
»Sorgt Euch nicht. Herrin. Ich werde immer da
sein.«
Maratha tastete nach dem Pferd. »Manchmal
verfluche ich meine Augen. Aber ich würde auch mit
keinem tauschen. Selbst mit der Königin nicht«,
murmelte sie.
Cherons Rat wurde befolgt. Niemand sollte vorerst
etwas vom Verschwinden des Königs erfahren.
Aber die ganze Stadt wußte, bei Morgengrauen, daß
etwas vorging. Das ließ sich nicht verbergen. Denn
Partho bestand darauf, jeden einzelnen Turm der Stadt
in Augenschein zu nehmen. Soldatentrupps
patrouillierten durch jede Straße. In Türme, die nicht
geöffnet wurden, wurde gewaltsam eingedrungen.
Viele erinnerte das an Zogors Zeiten, und sie fluchten
in ihre dunklen Bärte.
Es war ein mühsames und nutzloses Unterfangen.
Amee war müde und den Tränen nahe. Nur Cherons
Warnungen und Parthos Zuversicht hielten sie aufrecht
und ließen sie nach außen hin gelassen erscheinen,
wenn Boten und Stadtkommandanten zur Audienz
kamen. Das ging fast pausenlos den ganzen Morgen so.
Enttäuschende Nachrichten und Beschwerden. Nichts
sonst. Auch von Yina nicht, die mit Parthos Trupp
unterwegs war, um Dragons Gedanken aufzuspüren,
wenn er noch am Leben war.
Die Hoffnung sank. Man mochte den König längst
aus der Stadt gebracht haben. Die Truppen hatten zwar
einen Ring um die Stadt geschlossen, durch den keine
Maus schlüpfen konnte, aber zu dem Zeitpunkt, da
dies geschehen war, mochte Dragon längst die Stadt
verlassen haben.
Nur eines wußte man sicher; kein Schiff hatte die
Küste in Stadtnähe verlassen, auch nicht der
Kauffahrer mit den gefangenen Katmahzari. Die
Kriegerinnen trafen noch am Morgen im Palast ein,
und die Wiedersehensfreude war groß, als man sie zu
Dajna brachte.
Die Schwäche all dieser Unternehmungen lag in der
Geheimhaltung. Die Männer wußten nicht genau,
wonach sie suchten. Nach Männern in schwarzen
Kapuzenmänteln, die diese längst abgelegt haben
mochten. Die Soldaten, die die Stadt eingeschlossen
hielten, hatten wenigstens eindeutigere Befehle:
niemanden durchzulassen, und wenn es der König
selbst wäre. Blieb noch abzuwarten, ob sie den König
wirklich aufzuhalten wagten, wenn dieser Augenblick
kam. Aber selbst wenn sie ihn nicht aufhielten, war
damit eine Spur gegeben.
Dann kam eine fremde Frau mit ihrer Dienerin in
den Palast und bat um Audienz. Sie behauptete, die
Königin allein in ihren Gemächern sehen zu müssen.
Sie könne helfen.
Amee sagte in ihrer Verzweiflung sofort zu. Sie griff
nach jedem Strohhalm.
Es war rascher und einfacher gegangen, als Maratha
erwartet hatte. Sie stiegen, geführt von mehreren
Wachen, die Treppen zu den königlichen Gemächern
hinauf. Tomara mit großen, staunenden Augen. Sie war
noch nie zuvor im Palast gewesen, und so
beeindruckend das gewaltige Bauwerk von außen
wirkte, es stand im Innern um nichts nach – Teppiche,
polierte, spiegelnde Marmorwände, goldene Zier,
dazwischen die blühenden, grünenden Innenhöfe und
Terrassen, das Spiel von Sonnenlicht auf buntem Glas,
das rote Flecken an die Wände warf wie von Blut, oder
blaue von der Farbe des Spätnachmittagshimmels und
grüne von der Tiefe verwachsener Bäche.
Die Königin erwartete sie ungeduldig. Tomara
erschrak, als sie das bleiche, angsterfüllte Gesicht sah,
das sehr schön sein mußte, wenn es lächelte. Das
grüne, bodenlange Kleid, das sie trug, war nur ein
Abklatsch des Grüns ihrer Augen.
Maratha verneigte sich. Das Mädchen sank in die
Knie.
»Kommt«, sagte die Königin ungeduldig. »Setzt
Euch. Ihr sagt, Ihr könnt mir helfen? Wißt Ihr denn,
was es ist, das mir fehlt?«
Maratha lauschte unmerklich. Amee schien sie nicht
zu erkennen. Die Erregung der Königin hatte andere
Ursachen.
Während der ersten Nächte in Myra hatte sich
Maratha mit Hilfe des inneren Blicks den Palast genau
eingeprägt, besonders die Königsgemächer.
Sie wußte jedes einzelne Möbelstück. Sie hätte durch
das Zimmer gehen können, ohne daß jemand erkannt
hätte, daß sie blind war. Zu ihrer Rechten vernahm sie
sanfte Babylaute. Dort mußte die kunstvoll geschnitzte
Wiege stehen. Ihre geschärften Sinne nahmen die
Königin nah vor sich wahr.
Maratha hob den Kopf, strich über ihre Stirn, als
wäre sie müde und sagte: »Was Euch fehlt, Königin?
Ein König, wenn mich meine Träume nicht täuschen,
und das tun sie selten.«
Sie hörte, wie Amee den Atem anhielt. »Ihr wißt, wo
er ist?«
»Ich habe ihn gesehen«, antwortete Maratha
ausweichend.
»Ihr habt ...«, entfuhr es Amee. »Wo, edle Frau ...
sagt mir, wo! Ich bitte Euch. Und ich will Euch reich
belohnen. Euch und Eure Dienerin!«
»Ich will keinen Lohn«, winkte Maratha ab. Sie
stützte die Stirn in die Hand. »Es genügt, wenn Ihr es
wissen laßt, daß die Träume Pheleas mehr wissen, als
die Götter jedem zeigen.«
»Ja, das will ich gern tun«, stimmte Amee rasch zu.
»Sagt mir, wo er ist?«
Maratha zuckte die Achseln. »Das müßt Ihr
herausfinden. Ich kann Euch nur meinen Traum
erzählen ...«
»Nur einen Traum?« wiederholte die Königin
enttäuscht. Sie war ein wenig seltsam berührt von dem
unsteten Blick der Frau. Aber vielleicht hing das mit
ihren Träumen zusammen. Starke Träume mochten
Ruhelosigkeit bringen. »Erzählt den Traum«, bat sie
dann rasch.
Einen Moment blickte ihr die Frau direkt in die
Augen, und Amee glaubte, in einen Abgrund zu sehen.
Die Königin schrak zurück.
»Ich sehe eine Kammer«, begann Maratha halblaut,
aber deutlich verständlich. »Sie ist düster. Nur eine
Kerze brennt. Eine reglose Gestalt liegt auf einem
Tisch, mit schweren Eisen an Händen und Füßen ...«
»Dragon?« fragte die Königin hastig.
Maratha nickte. »Ja, es ist der König.«
»Ist er tot?«
»Nein. Aber er hat noch nicht erkannt, wo er sich
befindet, und was mit ihm geschehen soll ...«
»Was soll mit ihm geschehen?« Amee zitterte
unwillkürlich.
»Ich weiß es ebensowenig wie er. Darüber gab der
Traum keine Auskunft. Vier Männer befinden sich bei
ihm. Sie tragen schwarze Kapuzen und Mäntel. Ihre
Gesichter sind im Schatten. Ich vermag sie nicht zu
sehen.«
»Männer in schwarzen Kapuzenmänteln«,
wiederholte Amee und sprang auf. »Euer Traum ist
wahr!« rief sie.
»Ja, er ist wahr«, bestätigte Maratha unbewegt.
»Was tun sie?«
»Drei haben dem König die Eisen angelegt. Sie
verlassen die Kammer. Der vierte ist ihr Anführer. Er
ist der stärkste; sein Blick ist der tiefste; seine Machtgier
die größte. Er sucht nach einem Geheimnis, das der
König kennt. Er sucht nach ...« Sie begann plötzlich zu
lachen.
»Wonach sucht er?« drängte Amee.
»Nach den Kräften, die Zamoc besaß, als er am Hof
von Myra weilte«, vollendete Maratha. »Und er glaubt,
daß der König der Schlüssel zum Geheimnis sei, weil
Dragon letztendlich Zamoc besiegt hat!«
»Zamocs Kräfte?«, wiederholte die Königin erregt.
»Aber Zamoc war längst tot. Es war ...« Sie preßte die
Hand vor den Mund.
»Es war Cnossos in seiner Gestalt.«
Amee sah die Frau erstaunt an. »Ihr wißt ...?«
»In meinen Träumen ist die Wahrheit«, erklärte
Maratha gleichmütig. »Arzan Shor hat ein wenig vom
Blut der alten Götter in sich. Er kennt einige der
verlorengeglaubten Geheimnisse. Und er lechzt nach
den magischen Kräften des Gottes der vielen Namen.
Er hat nur einen Anhaltspunkt – den König, der selber
voller Geheimnisse ist.«
»Arzan Shor? Das ist kein myranischer Name.«
»Nein. Er ist ein schwarzhäutiger Mann aus dem
tiefen Süden.«
»Wenn er Cnossos findet ... wird er werden wie er?«
Maratha schüttelte den Kopf. »Abermals nein. Dazu
ist er zu klein. Er hat zu wenig Verstand und zu wenig
vom alten Blut. Er ist nur ein drittklassiger Magier.
Selbst meine Träume taugen mehr. Aber er mag dem
König wohl eine Gefahr sein – wenn er nämlich
herausfindet, daß die Dinge zu groß für ihn sind, nach
denen er greift. Wut führt oft eine rasche Klinge.«
Die Königin wurde bleich.
»Wo ist er?«
»Ich sehe nur einen Turm ...«
»Ja, das stimmt. Wir suchen den ganzen Morgen
schon in den Türmen der Stadt. Wo steht dieser Turm?
Wo?« Ihre Fäuste waren geballt.
»Ich weiß es nicht, Königin Amee. Aber ich sehe
einen verfallenen Tempel und enge Straßen und
Häuser zu seinen Füßen ...«
»Ein Tempel!« rief Amee. »Bitte, wartet. Ich will nur
rasch meinem Kommandanten Anweisung geben.
Dann müßt Ihr mir mehr erzählen ...!«
Maratha nickte zustimmend.
Amee stürzte aus dem Raum.
»Wir haben sie ganz schön in Aufregung versetzt,
nicht wahr?« sagte sie zu Tomara.
»Ja, Herrin«, flüsterte das Mädchen. »Ist es wahr,
daß der König verschwunden ist? Und daß Ihr wißt,
wo er sich befindet?«
»Ja, es ist wahr. Aber nun rasch ... siehst du die
Wiege dort in der Ecke?«
»Ja, Herrin.«
»Der Sohn des Königs liegt in ihr. Bring ihn mir, ich
möchte ihn im Arm halten ...!«
»Herrin!« entfuhr es dem Mädchen. »Das würde die
Königin niemals dulden. Wenn sie uns sieht!«
»Maß dir nicht an, zu wissen, was die Königin tun
oder lassen würde. Sie ist mir zu Dank verpflichtet.
Und außerdem kannst du an der Tür wachen und
sehen, ob jemand kommt. Mach schon!«
Zögernd trat das Mädchen zu der Wiege. Einen
Moment wagte sie es nicht. Dann nahm sie rasch das
Kind heraus und lief damit zu Maratha. »Hier, Herrin!«
Sie legte es Maratha in die Arme und rannte zur Tür.
Noch kam niemand, aber das Mädchen zitterte. Sie sah
sich nicht um, was ihre Herrin tat, sie hatte nur Augen
für den Korridor.
Maratha zögerte keinen Augenblick. Kaum hielt sie
Atlantor im Arm, tastete sie nach ihrem Korb und zog
ihn vor sich, so daß Tomara, sollte sie einen Blick zu ihr
her werfen, nicht erkennen konnte, was vorging.
Hastig zog sie den noch immer schlafenden Dragomar
aus den Tüchern und schob den erwachenden Atlantor
dazwischen. Er kreischte, aber Marathas Hand
beruhigte ihn, strich einschläfernd über seinen kleinen
Nacken. Und nicht einen Moment zu früh schob sie die
Tücher darüber.
Das Mädchen kam auf sie zugestürzt. »Eine Frau
kommt, Herrin!« Sie wollte Maratha das Kind aus den
Armen reißen, um es in die Wiege zurückzulegen, aber
Maratha hielt es fest. Nun war der geeignete
Augenblick, herauszufinden, wie gut der formende
Vorgang gelungen war, wie vollkommen sie ihr Kind
während der Geburt dem Amees nachzubilden
vermocht hatte. Es genügte nicht, daß sie es einfach
austauschte – sie mußten es auch als ihres anerkennen.
Nur so würde Dragomar das Erbe des Schlafenden
Gottes antreten können, das ihm zustand, als dem
Erstgezeugten Dragons.
Die Frau kam in den Raum, und Maratha fühlte, wie
sie erstarrte, als sie das königliche Kind in den Armen
der Fremden sah. Maratha wußte auch, wen sie vor
sich hatte, als sie die Stimme hörte. Es war Iwa, die
Amme und Vertraute Amees.
Sie stürzte auf Maratha zu und riß ihr das Kind aus
den Armen. »Wer seid Ihr? Wie kommt Ihr dazu,
dieses Kind aus der Wiege zu nehmen? Wo ist die
Königin?«
Tomara brachte vor Schreck kein Wort hervor.
Maratha lächelte. Sie dachte, selbst wenn nun der echte
Atlantor im Korb zu schreien begann, würden sie nicht
mehr zu unterscheiden vermögen, welches Kind sie
nun im Arm hielten. Aber Atlantor regte sich nicht,
und auch Dragomar stimmte kein Protestgeschrei an,
als die fremde Frau ihn in das Bett legte.
»Weiß die Königin, daß Ihr hier seid?« fragte Iwa
barsch.
Maratha nickte. »Ja, sie weiß es. Sie wird gleich
zurückkommen ...«
»Aber bestimmt hat sie Euch nicht gestattet, das
Kind aus der Wiege zu nehmen!«
»Sie hat es auch nicht verboten«, erwiderte Maratha
ruhig.
»Nur weil sie nicht dachte, daß Ihr die Impertinenz
besitzt ...«
»Iwa!« rief Amee von der Tür her. »Wie sprichst du
mit dieser Frau? Was ist geschehen?«
»Sie hatte Atlantor am Arm, als ich hereinkam«, rief
Iwa aufgebracht darüber, daß die Königin offenbar die
Partei der Frau ergriff.
Der Schreck verschlug Amee das Wort. Wie hatte sie
den Knaben nur allein lassen können? Was hätte nicht
alles geschehen können? Jemand hatte den König
entführt. Jemand mochte auch seinen Sohn entführen
oder gar töten, um den myranischen Thronerben zu
beseitigen!
»Verzeiht mir, Königin Amee«, sagte Maratha rasch.
»Ich konnte das Verlangen nicht unterdrücken, den
Sohn Dragons in den Armen zu halten. Ihr dürft nichts
Böses denken. Ich will ehrlich sein, ich hätte es mir als
Dank erbeten, ihn einmal zu halten, um die gewichtige
Zukunft zu fühlen, die die Götter sicherlich für ihn
bereithalten müssen.«
Amees Argwohn schwand angesichts solcher Worte.
»Es ist gut, Iwa. Wenn man Dragon in den nächsten
Stunden wiederfindet, dann verdanken wir es dieser
edlen Dame, die in ihren Träumen sah, wohin man ihn
brachte.«
»In ihren Träumen, so.« Das Mißtrauen schwand
nicht aus Iwas Stimme. »Was manche Leute so träumen
...!«
»Iwa«, rief Amee. »Du wirst dich sofort entschul-
digen ...!«
»Das ist nicht nötig«, sagte Maratha rasch, um die
Dinge nicht noch mehr zuzuspitzen. »Es ist in diesen
unsicheren Zeiten gut, jemanden mit wachen Augen
um sich zu haben. Verzeiht noch einmal meine
Unverschämtheit.«
»Ich bin es, die Euch danken muß«, rief Amee aus.
»Partho ist unterwegs mit einigen Männern. Eine der
Palastwachen glaubt zu wissen, wo sich dieser alte
Tempel befindet. Er erinnert sich auch an den Turm.
Mögen die Götter geben, daß es der richtige ist!«
»Er ist es«, erklärte Maratha zuversichtlich. »Aber
nun müßt Ihr uns entschuldigen. Vielleicht bedürft Ihr
eines Tages wieder meiner Träume.«
»Ich bin sicher«, sagte Amee rasch. »Sagt mir, wo ich
Euch finden kann.«
Maratha erhob sich und lächelte. »Das ist nicht
nötig. Ich werde da sein. Ich werde es aus meinen
Träumen wissen, ob Ihr oder die Euren in Gefahr sind.
Die Götter wachen über dieses Kind«, fügte sie
kryptisch hinzu. »Und was den Lohn betrifft, so bin ich
schon belohnt. Es ist nicht allen Sterblichen vergönnt,
die Geschicke von Königen zu lenken. Lebt wohl.«
Erst als sie den Palast verlassen hatten, atmete sie
auf. Nun war der Plan erfüllt, ihre Aufgabe in Myra
beendet. Sie konnte zurückkehren an den Raxos ... nach
Hause. Mit Atlantor, der von nun an den Namen
Dragomar führen würde; auf den nun keine Reiche
mehr warteten und kein Thron.
Nur eine Hütte am Raxos und die Liebe einer nicht
ganz menschlichen Mutter.
8.
Dragon erwachte durch die Berührung von kaltem
Eisen an seinen Handgelenken. Es währte eine Weile,
bis er in die Wirklichkeit fand. Währenddessen waren
dunkle Schatten um ihn emsig bemüht, ihn
festzuhalten.
Er konnte sich nicht bewegen!
Diese Erkenntnis brachte ihn rasch ein ganzes Stück
weiter zur Wahrnehmung der Umwelt. Aber noch
immer war der Wein schwer in seinem Kopf und
lähmte seine Überlegungen. Sein Blick war trüb. Das
Licht war spärlich. Er hatte das Gefühl, daß es nicht
viel zu sehen gab, auch wenn sein Blick sich geklärt
hatte. Und dann hatte er noch ein anderes Gefühl: daß
ihm das, was er sehen würde, nicht gefallen würde.
Was war geschehen?
Flüchtige Bilder huschten irgendwo in seinem
Innern vorbei, zu bedeutungslos, als daß er sie erfassen
konnte. Alle seine Erinnerungen, schienen solcherart
seinem Zugriff auszuweichen.
Er hatte getrunken. Das war etwas, das er wußte!
Das ihm einen Ankerplatz in seinen Überlegungen gab.
Von hier aus konnte er mit System grübeln.
System, was war das nur für ein seltsames Wort?
Eines, das er sicher noch nie aus urgoritischem oder
myranischem Mund vernommen hatte. Aber er
verstand es. Es bedeutete soviel wie Ordnung,
Reihenfolge.
Der Wein schien ein paar seiner uralten
Erinnerungen zum Leben zu erwecken. Er fühlte eine
seltsame innere Freiheit, ein großes Loch, aus dem
jeden Augenblick etwas emportauchen konnte.
Das äußere Gefühl hatte weniger mit Freiheit zu tun.
Er sperrte die Augen weit auf.
Mehrere dunkelgekleidete, tief verhüllte Gestalten
machten sich an ihm zu schaffen. Irgendwo im
Hintergrund brannte eine einsame Kerze, die zu wenig
Licht spendete, als daß er die Männer genau erkennen
konnte.
Er versuchte sich herumzudrehen, sich
hochzurappeln. Es gefiel ihm nicht, so auf dem
Präsentierteller vor diesen Gestalten zu liegen. Er
erkannte, daß er weder Arme noch Beine bewegen
konnte.
Verdammter Wein!
Wie kam er hierher? Jemand hatte ihn also
schließlich doch unter den Tisch getrunken und ihn
samt dem Tisch hierhergebracht. Das mußte geklärt
werden! Bis in alle Einzelheiten. Wer war es nur
gewesen, der davon angefangen hatte, daß Zogor seine
Daikane unter den Tisch trank? Sklaverei abschaffen
konnte jeder und gelehrt von Zehnten und Steuern
reden auf dieser trockensten aller Ratssitzungen!
Was war das nur für ein König, der seine Daikane
nicht unter den Tisch trank?
Dann kam ihm zu Bewußtsein, daß er nicht unter
dem Tisch lag, sondern darauf. Und wer hatte schon je
davon gehört, daß Betrunkene auf dem Tisch lagen?
Niemand mit einer ehrlichen Zunge! Beim Schrei
des Riesen!
Letztere bekräftigende Worte beschäftigten ihn eine
Weile. Die Erinnerung, die einen Moment lang
dagewesen war, heraufbeschworen wie von
Zauberhand aus dem tiefen Loch, das sich bei seinem
Erwachen aufgetan hatte, verschwand wieder, bevor er
ihre Bedeutung erfassen konnte. Zurück blieben nur
die Worte: Beim Schrei des Riesen.
Andererseits war nichts unnatürlich daran. Warum
sollten nicht auch Riesen schreien?
Zwei Augen näherten sich ihm bedenklich.
Wenigstens empfand er es so.
Er hatte plötzlich Furcht. Furcht, in dieses Loch zu
fallen, das sich aufgetan hatte, hineingestoßen zu
werden von diesen unerbittlichen Augen. Er begann zu
kämpfen. Und wurde wach!
Zum erstenmal nahm er seine Umgebung mit einer
Nüchternheit wahr, die ihn selbst überraschte. Er war
auf dem Tisch mit Eisen gefesselt an Händen und
Füßen. Die Idee, sich daraus selbst zu befreien, konnte
er begraben. Seine Chance konnte nur bei dem Mann
vor ihm liegen. Er starrte ihn an, aber die Kerze im
Hintergrund gab zu wenig Licht. Er sah nur die im
Widerschein funkelnden Augen tief in der Kapuze.
»Wer bist du?« keuchte Dragon. Der andere gab
keine Antwort. Er betrachtete seinen Gefangenen nur
stumm.
Dragon sah an sich hinab. Sein Oberkörper war
nackt, und er trug noch die Beinkleider, mit denen er
ins Bett gefallen war. Er erinnerte sich plötzlich daran,
daß er zu Bett gegangen war. Dann an Kanos Versuche,
ihn aufzuwecken. Und schließlich an eine
Auseinandersetzung mit unbekannten Männern im
Korridor des Palastes. Er hatte einen erledigt ... dann
hörte irgendwie alles auf.
Man hatte ihn also niedergeschlagen und
hierhergeschafft, wo immer das auch war. Und nun
hing er hier wie ein Schaustück. Und seinem
Gegenüber hatte es die Rede verschlagen.
Wo war er hier?
In Mis‘ Tempel.
Mis‘ Tempel? Die Worte waren plötzlich in seinen
Gedanken gewesen – so als hätte er sie selbst gedacht.
Oder hatte sein lichtscheuer Freund gesprochen ...?
Wer war Mis? Keine myranische Gottheit, soviel ihm
bekannt war.
Die Göttin der Schlange.
Dragon schüttelte eine Benommenheit ab, die immer
mehr von ihm Besitz ergriff. Die Göttin der Schlange,
also. Das weckte keine Erinnerung in ihm.
Sie ist alt, König. Älter als das myranische Reich.
Dragon schrak zusammen. Jemand war in seinen
Gedanken, einem Dämon gleich.
Der Dämon lachte, daß es in Dragons Schädel
widerhallte.
Ich bin Arzan Shor. Ein Magier. Du fühlst, ist nur ein
kleiner Teil meiner Macht.
»Was willst du?« fragte Dragon unwillkürlich laut.
Du brauchst nicht zu sprechen. Es genügt, wenn du
denkst. Ich kann deine Gedanken verstehen.
Was willst du? wiederholte Dragon.
Er kämpfte erneut gegen die Benommenheit an. Sie
hing mit der Macht zusammen, die der andere über
seinen Geist besaß. Beides wuchs stetig. Er spürte die
Nutzlosigkeit seines Widerstands, und es erfüllte ihn
mit Wut.
Ich will alles wissen, was du weißt, König. Danach
magst du gehen. Wenn du noch kannst! Spott schwang
mit den letzten Gedanken.
Warum fragst du nicht einfach? dachte der König
wütend.
Du würdest nicht alles sagen, stellte der Magier fest.
Auch will ich alles wissen, auch jene Dinge, die deiner
Erinnerung vielleicht gerade nicht gegenwärtig sind.
Meinen suchenden Gedanken bleibt nichts verborgen.
Auch nicht die unwichtigen Dinge. Die kleinen
Freuden der Könige. Königin Amee, habe ich sagen
hören, ist von außergewöhnlicher Schönheit. Ich bin
sicher, deine Erinnerungen, König, werden mich
überzeugen. Und sie werden viele Dinge enthalten, die
nur der Liebhaber weiß ...
Dragon lachte. »Deshalb die Mühe, Magier?« sagte
er.
Zum erstenmal spürte er so etwas wie Wut in den
Gedanken des anderen, die dieser aus Dragons Geist
rasch zurückzog, als hätte er Angst, auch seine
geheimsten Absichten könnten sich in einem
unbewachten Augenblick seinem Gefangenen
mitteilen.
»Es gibt viele seltsame Vögel in einem großen Reich
wie Myranien«, fuhr der König fort. »Aber du
übertriffst sie alle. Ein Magier, der Könige entführt und
die alten Kräfte dazu benutzt, königliche
Bettgeheimnisse ...«
König, sei gewarnt! Die Gedanken peitschten wie
glühende Messer durch Dragons Kopf. Er wand sich
wild. Als er keuchend in seinen Fesseln hing, kamen
die Gedanken Arzan Shors ruhiger, aber noch immer
mit der Schärfe einer Klinge.
Du siehst, wie einfach es ist, Qual zu bereiten. Ein
Gedanke, und du würdest tausend Tode sterben. Spott,
so weise sollte ein König sein, ist immer ein Kind der
Situation. Und deine ist nicht die Lage zu spotten.
Dragon verbiß sich einen Gedanken der
Erwiderung. Es war besser, diesen Narren nicht noch
mehr zu reizen.
Das ist die rechte Einstellung, mein Freund.
Freund? Der Schmerz hatte Dragon ernüchtert. Er
wußte plötzlich, daß er nicht allein auf der Welt war. Er
besaß Freunde. Aber wo blieben sie so lange? Hatte
keiner gesehen, daß er entführt worden war?
Das wohl. Aber keiner weiß, wo du bist. Lachen.
Dragon dachte an Yina, aber er verbarg den
Gedanken rasch. Das Bewußtsein aber, daß sie ihn
finden konnte, vielleicht als einzige, blieb. Yina?
Der Magier lachte, als Dragon seine Gedanken in
den Hintergrund drängte, sorgsam darauf bedacht, sie
vor ihm zu verbergen. Wir wollen es nicht länger
hinauszögern. Wir wollen sehen, ob mich dein
königlicher Geist bereichert. Du denkst an Zamoc. Du
weißt, wer Zamoc war. Du hast seinen Kräften
widerstanden. Du kennst seine Kräfte.
Monoton drangen die Fragen in sein Gehirn. Zamoc,
dachte er. Zamoc-Cnossos ... Cnossos?
Cnossos. Zamoc. Was wollte dieser verrückte
Magier? Etwas über Cnossos erfahren? Ein völlig
unwirkliches Gefühl zu lachen überkam ihn. Arzan
Shor sah in der Tat aus wie ein Ableger Cnossos! Es
wäre interessant zu erfahren, ob er blutete, wenn ihn
eine Klinge traf. Sein Gesicht jedenfalls war das eines
Geiers, wenn das etwas zu bedeuten hatte.
Geier? Denk darüber nach. Du weißt mehr darüber.
Was bedeutet der Geier? Eine Bedrohung, dachte
Dragon und glitt tiefer unter den dirigierenden
Gedanken des Magiers. Eine Bedrohung ... ein altes
Übel, das irgendwie mit meiner Vergangenheit
zusammenhängt. Wenn ich mich nur erinnern könnte
...!
Die Wirklichkeit um ihn schwand. Er trieb auf dieses
Loch zu, diesen Schlund in seinem Innern. Aber nun
hatte er keine Furcht mehr. Nur Neugier, die ihn
vorwärtsstieß. Alles um ihn war taub. Es gab nirgends
eine Wirklichkeit, nirgends eine Oberfläche, an die man
emportauchen konnte. Die Gefahr lauerte nicht hier
unten. Sie wartete oben. Sie wartete, daß man
emportauchte mit einer Hand voll kostbarer
Erkenntnisse.
Er hing an einem Faden über dem Abgrund seines
eigenen Ichs. Er sah hinab in die unergründlichen
Tiefen von Jahrtausenden. Ein Schwindel erfaßte ihn.
Er suchte nach irgend etwas, an dem er sich
festklammern konnte am Rand dieses Abgrunds, in
dem das Feuer und der Glanz einer anderen Zeit, einer
anderen Welt loderten, die ihm vage vertraut waren
und doch so unermeßlich fremd.
Aber der Faden hielt ihn unerbittlich über dem
Nichts.
Das Gesicht eines Mädchens tauchte empor, lächelte
ihm zu mit der Trauer der Ewigkeit in den Augen. Er
wußte, daß sie Mura hieß.
Dann waren die Sterne um ihn – nah und greifbar.
Er lag zwischen ihnen in einem seltsamen Boot, das
durch den Himmel fuhr, und die Abgründe um ihn
erfüllten ihn mit Schaudern.
Plötzlich aber wallte Feuer empor aus einer
unbekannten und doch vertrauten Stadt. Die Erde
brannte und wurde hochgeschleudert. Der ganze
Abgrund war ein Ofen, in dem das Feuer einer Welt
loderte, die in Flammen aufging. Und er zappelte
hilflos darüber.
Ein Schrei entrang sich ihm, erfüllt von einer
instinktiven Furcht, geboren aus den unbegreiflichen
Bildern fremdartiger Erinnerungen, über denen
Cnossos schwebte, Amyron gleich.
Die Bilder verlöschten, aber die Furcht blieb und
wallte hoch an diesem Faden, der ihn so erbarmungslos
hielt.
Jemand schrie, und es war nicht er selbst. In seinem
Gehirn war alles zu Asche geworden, Erinnerungen
und Gefühle gleichermaßen. Er öffnete die Augen.
Der Magier wich mit vor Entsetzen starren Augen
vor ihm zurück. Sein Mund war noch immer zum
Schrei geöffnet. Er hatte gesehen, was Dragon gesehen
hatte. Er hatte so wenig verstanden wie Dragon, was
die Bilder bedeuteten. Aber das Entsetzen, das sie
auslösten, war in ihm ungleich stärker, weil er ein Kind
seiner barbarischen Welt war, ein Geschöpf ohne
Erinnerung an die Zeit der Götter ...
Und ihres Untergangs.
Etwas, das Dragon einst verstanden und nur
vergessen hatte.
Aus den Augenwinkeln sah Dragon, wie die Hand des
Magiers nach seinem Dolch im Gürtel griff.
»Hat dich der Mut verlassen, Arzan Shor?«
Der Schwarze zögerte, aber die Furcht wich keinen
Augenblick aus seinen Zügen.
»Du hast zuviel gesehen, nicht wahr? Mehr als du
ertragen kannst. Das ist nicht mehr die Macht, nach der
du greifen wolltest! Denkst du, ich bin der einzige, in
dem sie schlummert? Denkst du, du könntest sie tilgen
aus dieser Welt, indem du mir den Dolch in die Brust
stößt?«
»Vielleicht nicht für immer«, zischte der Magier in
einem kaum verständlichen Myranisch. »Aber
wenigstens für den Augenblick!«
»Und dann?« erwiderte Dragon ruhig, ungeachtet
des erhobenen Dolches.
Arzan Shor zögerte.
»Möchtest du solch eine Macht zum Feind?« sagte
der König drohend.
Der Magier starrte ihn an. Sein schwarzes Gesicht
war fahl. Seine Kapuze war vom Kopf geglitten, und
sein kahler Schädel glänzte wie poliert.
So sah also der Tod aus, dachte Dragon.
Ein Tumult kam von draußen durch die leeren
Fensteröffnungen. Arzan Shor zuckte zusammen.
Dragon lauschte angestrengt. Einen Augenblick schien
es, als würde der Magier zustoßen, aber dann überwog
die Furcht.
Dragon verstand deutlich seine Gedanken: Das
Ende ... durch einen Feind wie diesen ... muß über alle
Maßen schrecklich sein. Ihr Götter ... ein Frevler steht ...
Sie erloschen, als Geräusche von unterhalb der
Kammer kamen. Stimmen. Kampflärm.
Parthos Stimme: »Ha, Haleb, diese schwarze Brut
ficht so armselig, daß ich mich frage, wie sie bei ihren
dunklen Machenschaften bis jetzt am Leben geblieben
ist!«
Schreie drangen hoch. Dann Yinas Stimme, und sie
erfüllte Dragon mit grenzenloser Erleichterung.
»Oben Partho. Er lebt!«
Der Magier wich an die Wand zurück. Hastige
Schritte näherten sich über steinerne Stiegen.
Der Magier löschte die Kerze. In der vollkommenen
Dunkelheit hielt Dragon den Atem an. Sein Körper
spannte sich in Erwartung des Dolches.
Fäuste und Körper schlugen gegen die schwere
Bohlentür. Sie schwang auf und knallte gegen die
Wand.
Eine Fackel tauchte den Raum in flackerndes Licht.
Dragon sah sich hastig um.
In der Tür standen Partho und ein Fremder mit einer
blutigen Klinge in der Faust. Dahinter Yina mit großen,
ängstlichen Augen. Und hinter ihr Soldaten der
Palastwache.
Sonst war die Kammer leer.
Arzan Shor war verschwunden.
9.
»Wir sollten die Stadt nach ihm absuchen«, meinte
Partho, als sie im Palast zusammensaßen.
Dragon schüttelte den Kopf. »Nein, das würde nur
noch mehr Aufsehen erregen.«
»Aber die Stadt ist noch abgeriegelt. Er kann nicht
entkommen.«
»Nein, Partho. Er fürchtet mich mehr als den Tod. Er
würde alles eher wagen als mir noch einmal
gegenübertreten.«
»Wie ist das möglich?« Partho schüttelte verwundert
den Kopf.
»Es ist das alte Übel«, erklärte Dragon stirnrunzelnd,
als wäre er sich selbst seiner Worte nicht sicher. »Es
hängt mit meiner Vergangenheit zusammen, mit
meinen verlorenen Erinnerungen. Irgendwie ... ist es
ihm gelungen, den Vorhang ein wenig beiseite
zuschieben. Wir sahen beide etwas, das wir nicht
verstanden ... eine ungeheure Macht ... irgendwo
zwischen den Sternen, die ein ganzes Land in Feuer
und Asche verwandelte. Ich fühle, nein, ich weiß, daß
es mit Cnossos zusammenhängt. Ich hatte Furcht ... wie
sie nur einen Mann überkommt, der sich etwas
gegenübergestellt sieht, das er nicht versteht. Aber es
erschreckte den Magier noch mehr.« Nachdenklich
fügte er hinzu: »Er war kein gewöhnlicher Mann. Er
konnte in meinen Gedanken lesen, wie manche eurer
Brüder und Schwestern, Cheron. Zweifellos war es
auch sein Werk, daß unsere Yina keine Gedanken von
El Dschafar auffangen konnte. Vielleicht wußte El
Dschafar nicht einmal, welchen Auftrag er hatte und
welches Risiko er einging ...«
Partho nickte. »Wir haben ihn befragt. Er gibt vor,
nichts zu wissen.«
»Ist es dann nicht gefährlich, diesen Arzan Shor
laufen zu lassen, wenn er solche Macht über die
Menschen hat, daß sie seine willigen Werkzeuge sind?«
warf Cheron ein.
»Sind nicht überall seinesgleichen, wohin wir
schauen?« erwiderte Dragon. »Wir müßten diese halbe
blutrünstige Welt einsperren, wenn wir uns um jeden
kümmern wollten, der mit grausamer Hand über
andere herrscht. Oder hältst du Zogor für besser, nur
weil seine Macht vom Schwert abhängig war? War er
deshalb im Grunde weniger dämonisch?«Cheron
schwieg.
»Ja«, sagte Partho in die Stille. »Es ist besser, ihn
laufenzulassen. »Er grinste. »Ob er es will oder nicht, er
ist auf unserer Seite.«
Die Umsitzenden sahen ihn erstaunt an.
»Seht Ihr es nicht?«, meinte Partho. »Er wird in
Kreisen seinesgleichen vor dem König warnen und
davon berichten, was er gesehen hat. Wenn es sich weit
genug herumspricht, wird es keiner mehr wagen,
Hand an den großen König Myras zu legen.«
Cheron nickte zustimmend. Dragon lachte. »Wenn
ich ehrlich bin, Freunde, habe ich selber ein wenig
Angst vor mir.«
»Einer hat es nicht«, erklärte Amee. »So oft wir ihn
auch vernichtet glaubten – er kam immer wieder.«
»Wißt ihr denn«, fragte Cheron, »könnt ihr sicher
sein, daß es nur einer ist? Könnte es nicht auch von
seiner Art mehrere geben, vielleicht ein ganzes Volk?
Das von den Sternen kam, so wie du es in deiner
Erinnerung zu sehen glaubtest?«
Dragon nickte nachdenklich. »Warum hassen sie uns
nur?«
»Wohl weil ihr beide aus der alten Zeit stammt«,
sann Cheron. »Es mag einen Krieg gegeben haben
zwischen euch, einen Krieg mit Waffen, die Feuer
speien konnten und die Erde aufreißen wie das
Donnerpulver, das dir so gute Dienste leistete. Du
trägst den Schlüssel in dir, König. Vielleicht werden
viele wie Arzan Shor noch herausfinden, daß es
gefährlich ist, einen Blick hinter diese Tür zu tun.«
»Eines Tages«, sagte Dragon zuversichtlich, »wird
sie sich öffnen. Ich fühle es.« Er ballte die Fäuste.
Dajna stand in einem der Palasttürme und starrte hinab
auf den Hafen, in dem geschäftiges Treiben herrschte.
Die meisten der großen Galeeren in den Docks und an
den Kais wurden ausgebessert, von Tang gereinigt, die
Segel bemalt. Das Wasser des breiten Hafenbeckens
war grünlichblau unter der prallen Mittagssonne.
Selbst hier in den Schatten von Stein und Marmor hoch
oben auf den Terrassen und Zinnen des Palastes war
der Gluthauch zu spüren. Nur der gelegentliche salzige
Wind vom Meer her, der deutlich erkennbar über die
Wimpel und Segel strich und die Wetterhähne auf den
Dächern hin und her wirbelte, spendete einen Hauch
erfrischender Kühle.
Dajna nahm das alles nur mit halbem Herzen wahr.
Sie war tief in Gedanken. Es gab etwas, das ihr Gemüt
beinahe schmerzlich berührte. Der Abschied.
Zum erstenmal hatte sie längere Zeit unter Männern
gelebt, die sie nicht haßte, die ihre Gefährten waren,
nicht ihre Feinde. Es war nicht so, daß ihr Männer
fremd waren. Es gab sie in Kaleir, ihrer Heimatstadt, es
gab sie überall in Katmahzar – auf den Bauernhöfen, in
den Minen, in den Schmieden, auch in manchen
Bädern und Speisehäusern. Aber die wenigsten Frauen
kamen mit ihnen in Berührung, außer in den Zeiten der
Befruchtung. Zudem hatten sie wenig Kriegerisches an
sich, nichts, das ihnen in den Augen der
Katmahzari-Frauen Ansehen oder Persönlichkeit gab –
blasse Geschöpfe, die nur den einen Zweck erfüllten:
die Art zu erhalten.
Als Nichte der Königin genoß Dajna bereits früh
Rechte, die gewöhnlichen Kriegerinnen versagt
blieben. Sie kam weit herum und sah mehr als die
meisten. Sie ging in geheimer Mission an den
myranischen Hof, als Sklavin König Zogors. Sie kannte
die Begierden, Fehler und interessanten Eigenschaften
der Männer – der echten Männer, wie es sie in ganz
Katmahzar nicht gab.
Sie hatte noch nicht geboren, und trotzdem ihre
Jungfräulichkeit nicht bewahrt – ein Preis, den sie in
der Welt der Männer hatte bezahlen müssen, um ihre
Maske als Weib zu wahren.
Seltsamerweise war das eines der Dinge gewesen,
die sie am wenigsten berührt hatten. Sie hatte
Katmahzari Frauen gesehen, die Schlimmeres mit
gefangenen Männern taten. Sie hatte gelernt, daß die
Grausamkeiten einzelner nicht für ein Volk oder eine
Art zählten.
Der Gedanke, Sklavin zu sein, entsetzte sie am
meisten. Die Zeit an Zogors Hof war nur schwer
erträglich gewesen, aber die Königin brauchte die
wichtigen Nachrichten. Sie mußte erfahren, ob Myra
einen Feldzug gegen Katmahzar plante. Die Pflicht
hatte sie es ertragen lassen.
Aber in all der Zeit hatte sie sich gewandelt, ohne
daß es ihr bewußt geworden war. Es gab Männer, zu
denen sie aufblickte, weil sie tapfere Krieger waren. Es
gab solche, die sie ob ihrer muskulösen Gestalt
bewunderte. Und obwohl sie erzogen worden war,
Liebe und zärtliche Zuneigung nur für das eigene
Geschlecht zu empfinden, gab es nun einen, der
seltsame Gefühle in ihr auslöste.
Diese Gefühle waren es, über die sie sich
klarzuwerden versuchte, als sie mit windverwehtem
schwarzen Haar und abwesendem Gesicht in den
Hafen hinabstarrte.
Vor allem spürte sie eine Einsamkeit, wenn sie an
ihre Rückkehr nach Kaleir dachte. Es war keine
körperliche Einsamkeit. Jede der übrigen
Katmahzari-Kriegerinnen hier am Hof hätte es als
große Ehre empfunden, mit der Nichte der Königin
Zärtlichkeiten zu tauschen und die Sinne zu
befriedigen.
Es waren aber nicht ihre Sinne, die sie mit Verlangen
erfüllten, sondern ihre Seele, ihr Herz.
Ihr Herz sagte ihr, es wäre gut, mit Haleb zu reiten.
Ihr Verstand sagte, daß es falsch war, daß sie Kinder
zweier Welten waren, die einander niemals
vollkommen begreifen konnten, auch wenn sie es noch
so sehr versuchten.
War es so wichtig, dieses vollkommene
Verständnis? Verstanden Mann und Frau einander hier
so gut? Es sah nicht so aus.
Aber sie wußte, daß sie fest bleiben mußte, daß sie
zuviel verlor. Zuviel, einiger verwirrender Gefühle
wegen. Für den Bruchteil eines Augenblicks beneidete
sie diese myranischen Frauen in ihren seidenen
Kleidern, um die unvergleichliche Art, Sklavin zu sein
und doch frei, Untertan zu sein und doch zu nehmen,
weich zu sein ohne Scham.
»Matra!« sagte eine Stimme hinter ihr, was soviel
bedeutete wie »Heilige Mutter«, Dajna fuhr herum, ein
wenig bleich, weil sie sich in ihren beinah ketzerischen
Gedanken ertappt fühlte. Malija stand in der Tür. Sie
war die älteste der Kriegerinnen, die auf Nemors Schiff
gewesen waren.
»Kind, Ihr träumt«, sagte sie. »Wie viele Tage
werden noch vergehen, ehe wir wahrhaftig abreiten?
Man könnte meinen, die Männer hätten es Euch
angetan.« Letzteres klang, als wäre es nicht ganz frei
von echten Zweifeln. Für Malija, die seit drei Dutzend
Jahren an den Grenzen Katmahzars ritt und die Welt
jenseits der Grenzen leidlich kannte, war es kein so
absurder Gedanke wie für jene im Herzen des
Amazonenreichs, die nie andere Männer als die
verweichlichten Söhne ihrer Mütter gesehen hatten.
Es war kein Geheimnis, daß es verachtete
Überläuferinnen gab, deren Schicksal man totschwieg.
Es kam ihr in den Sinn, wie leicht es im Grunde war.
Hatte man erst einmal die Verachtung überwunden,
dann brauchte es nicht viel, den Lockungen des
Fremdartigen zu erliegen.
»Es drängt dich, zurückzukehren?« fragte Dajna.
»Nicht mich allein, Dajna.«
»Wenn es nichts gibt, das euch hält, so reitet!«
»Ihr bleibt?« Es war eine mehr als forschende Frage.
»Ja«, sagte Dajna fest.
»Was sagen wir unseren Schwestern, wo Dajna, die
Nichte Asmyras geblieben ist?«
»Dort, wo es ihr gefällt, Malija. Es gibt so vieles, das
sich zu sehen lohnt im Reich unserer myranischen
Verbündeten, daß ...«
»Die myranischen Männer meint Ihr wohl?« warf
Malija spöttisch ein.
»Ist das euer Dank?« fuhr Dajna heftig auf. »Ihr
wäret ohne mich bereits Sklavinnen am Hof eines
schwarzhäutigen Fürsten. Hast du das schon
vergessen, Malija?«
Die Frau erbleichte. »Verzeiht mir, Dajna.«
»Verstehst du es nicht, Malija? Es ist eine Welt, die
so ganz anders ist als unsere. Ich weiß nicht, ob ich in
ihr leben möchte. Aber eins möchte ich: sie
kennenlernen. Ihre Art zu leben ist nicht ohne Reiz ...«
»Eines Tages«, warnte die Ältere in versöhnlichem
Ton, »mag es sogar einen Mann geben, mit dem Ihr es
versuchen möchtet.«
Dajna zuckte die Achseln. »Es gefällt mir zu sehr
hier, um nun fortzugehen. Ich glaube, daß eine gute
Klinge hier gebraucht wird. Es hat in diesem Land viele
Vorteile, eine Frau zu sein, die sich zu wehren versteht.
Die Königin würde meine Anwesenheit am Hof sehr
schätzen. Und es gibt Männer hier, die ich achten
gelernt habe – und du auch, wenn du ehrlich genug
bist. Der König ist einer von ihnen. Hier ist der Puls der
Welt, Malija. Ich würde die Eintönigkeit am Hof
Asmyras nicht lange genug ertragen, um dort in
Frieden zu leben. Du hast des Königs Worte gehört. Ein
Haus soll hier für Abgesandte aus Katmahzar
eingerichtet werden. Das ist etwas, das mich reizt,
Schwester. Und wenn du mir eine gute Freundin sein
willst, wie ich es dir bin, dann berichtest du ohne Spott
in Kaleir von mir.«
Die Kriegerin sank in die Knie und umfaßte ihr
Schwert. »Seid gewiß, daß ich es tun werde. Ich bin
auch sicher, daß die Mutter Königin nicht zögern wird,
die Gesandtschaft nach Myra zu entsenden. Jeder weiß,
wie sehr sie das Bündnis mit König Dragon achtet. Ihr
habt recht, er ist ein vernünftiger Mann.« Sie lächelte,
und es war aufrichtig gemeint, als sie sagte: »Lebt
wohl, Dajna, und mögen Euch Töchter beschieden
sein.«
Wenig später sah sie das kleine Häufchen der
Amazonen aus dem Palast reiten. Mehrere Soldaten
ritten mit ihnen. Die Gruppe nahm die nördliche Straße
und war bald hinter den Hügeln verschwunden.
Auch nach einer Stunde waren die Soldaten noch
nicht zurückgekommen, und Dajna hatte den leisen
Verdacht, daß sie der König oder die Königin als
Begleitschutz bis an die Grenzen befohlen hatte.
Sie lächelte bei dem Gedanken. Dieses Bündnis war
etwas, das tiefer schneiden würde, als sie alle ahnten.
Matras Töchter würden manches lernen müssen.
»Ah, El Haleb, Ihr seid mir der Rechte«, sagte Partho,
während sie den Audienzraum verließen, in dem
Dragon die Heerführer um sich versammelt hatte, um
mit ihnen zu beraten. »Der König gibt Euch ein Schiff,
das Euch zum Göver zurückbringt, was Euch einige
Tage im Sattel erspart. Und Ihr seht so unzufrieden
aus, als hätte man Euch nichts Schlimmeres antun
können. Was ist es, das Euch bedrückt?«
El Haleb verzog sein Gesicht, als messe er der Sache
im Grunde wenig Bedeutung bei. Dann sah er die
ehrliche Anteilnahme in Parthos Zügen und sagte: »Es
ist eine Entscheidung, Kommandant, die ich fürchte.«
»Eine, die Ihr zu treffen habt?« fragte Partho.
El Haleb schüttelte den Kopf.
»So ist es eine, die die junge Kriegerin treffen
könnte?« riet Partho.
Die Züge des Silikers hellten sich auf. Lebhaft sagte
er: »Es gäbe nichts, das ich lieber an meiner Seite sähe
als Dajna. Sie ist ...« Er verstummte verlegen. Traurig
fügte er hinzu: »Aber ich weiß, daß Sie es ablehnen
würde ...«
Partho nickte langsam. »Es ist gegen ihre Natur. Sie
sind ein seltsames Volk, diese Amazonen. Aber ich
denke doch, daß Ihr mit Dajna irgendein Abkommen
treffen könnt, wenn sie es Euch wert ist, daß Ihr auch
ein paar Zugeständnisse macht, die Euer Leben
betreffen. Sie würde Euch niemals ein gutes Weib sein.
Und sie würde sich wohl niemals befehlen lassen.
Gebräuche und Erziehung lassen sich nicht
abschütteln. Nicht von heute auf morgen. Wir haben an
ihrer Seite gefochten und ihre Klinge schätzen gelernt,
wenn uns auch sonst manches mißfiel. Aber Dajna ist
anders.« Er lächelte. »Etwas gefällt ihr hier, sonst wäre
sie nicht allein hiergeblieben, während ihre
Gefährtinnen vor geraumer Weile Myra verließen.«
»Sie ist geblieben?« rief der Siliker erfreut.
»Meinetwegen?«
»Das«, meinte Partho, »müßt Ihr wohl
herausfinden.«
Er fand sie auf dem Turm, wo sie noch immer aus dem
Fenster blickte, mit einem melancholischen Lächeln auf
den Lippen, das sie ihm verwirrend weiblich
erscheinen ließ.
Als sie ihn kommen hörte, wandte sie sich um, und
das Lächeln schwand aus ihren Zügen.
»Dajna«, sagte er unbeholfen. »Der König gab mir
ein Schiff für die Heimreise ...«
»Ja?« sagte sie. »Er ist ein dankbarer Mann ...«
»Ich würde lieber mit dir reiten, Dajna« sagte er mit
unsicherer Stimme.
»Wohin, Haleb? Zum Göverfluß? Zu deinen
Stämmen?«
»Wohin du willst«, sagte er leise.
Sie sah ihn lange an. »Es ist dein Ernst?«
Der Siliker nickte. Ja, es war sein Ernst.
»Seit ich hier oben bin, hoffte ich, du würdest
kommen ...«
»So erwiderst du meine Gefühle«, entfuhr es El
Haleb.
»Wie könnte ich das, Haleb?« Sie sah seine
Enttäuschung und fuhr rasch fort: »Weißt du, wie die
Katmahzari-Kriegerinnen ihre Kinder zeugen?«
Er schüttelte stumm den Kopf.
»Wir haben einen Mond der Zeugung«, erklärte sie,
»in dem wir die Männer in unsere Hütten lassen oder
mit in unsere Häuser nehmen. Dort füllen wir unser
Geschlecht mit ihrem Samen. Es ist keine Liebe dabei,
keine Leidenschaft, nur die Notwendigkeit, zu
befruchten.« Sie sah ihn. »So hast du es dir nicht
vorgestellt, nicht wahr? Denkst du, daß es mit uns
anders sein würde?«
»Ja«, erwiderte er heftig. »Siehst du nicht den
Unterschied? Du hast keinen eurer Männer vor dir, die
ihr verachtet, und die euch hassen oder wenigstens
ebenso verachten. Ich will nicht behaupten, daß ich mir
vorstellen kann, was in einem Katmahzari-Mann
vorgeht. Aber eines ganz gewiß nicht. Er bringt euch
keine Liebe entgegen. Aber ich ... ich liebe dich, ganz
gleich, wie du es empfinden magst. Ich würde dich
lieben, selbst wenn ich dein Sklave wäre, Dajna. Und
du müßtest aus Stein sein, wenn du meine Leidenschaft
nicht fühlen könntest. Ich habe nicht den Eindruck, daß
du mich verachtest, daß du mich wie einen eurer
Männer siehst ...«
»Nein«, sagte sie rasch.
Erregt wollte er nach ihren Armen greifen, sah die
Abwehr in ihrem Gesicht und unterdrückte das
Verlangen, sie zu berühren.
»Wenn nur ein wenig von dem Feuer dich erfaßt,
das in meinem Herzen für dich brennt, Dajna ...«
Sie sah ihn verwundert an. »Viele Frauen haben
mich geliebt, Haleb. Manche, weil sie ein Bedürfnis
nach Liebe hatten, andere, weil es eine Ehre für sie war,
mit der Nichte der Königin das Lager zu teilen, und
eine, weil sie mir von Herzen zugetan war. Aber keine
hat mit solchen Worten um meine Gunst geworben,
wie ... oh, Haleb ... dein Feuer ... es brennt sicher. Ich
weiß es. Ich fühlte es, seit wir uns wiedertrafen. Deine
Wange an
meiner ... in der Dunkelheit, als du mich festhieltest, da
war ich dir zugetan wie einer Geliebten. Und ich
verfluchte, daß etwas sich in mir sträubte, deine
Zärtlichkeit zu erwidern.«
Sie trat ganz nahe zu ihm. »Haleb, mein Liebster,
nimm mir das Schwert ab.«
Stumm griff er nach dem Gürtel ihres Gewandes,
öffnete ihn und ließ ihn mit dem Schwert zu Boden
gleiten. Als er sie in die Arme zog, war es einen
Moment, als bewegte er eine Statue von Eis. Aber sein
Feuer, das ihm soviel Zuversicht gab, schmolz ein
wenig davon ab; genug, daß er sie an sich ziehen
konnte und die Wärme ihres Körpers fühlte. Nach
einer langen Weile begannen ihre Hände seinen zu
antworten. Ihr Mund war nicht länger hart und
verschlossen unter seinen Küssen.
Plötzlich machte sie sich frei. »Ich glaube an dein
Feuer, Haleb«, flüsterte sie. »Wenn du mir nur Zeit
läßt, es zu fühlen ... mich aufzuwärmen. Du wirst sehr
viel Geduld mit mir haben müssen!«
10.
Die letzten Tage waren sehr anstrengend gewesen.
Yina blickte verlangend auf das Meer hinab, das nun
ein Gemisch von Schwarz und Silber war in der
Abendsonne. Sie sehnte sich wieder ein wenig nach
Einsamkeit. Die gedankliche Überwachung des Königs,
um ihn vor heimlichen Mördern und Mißgünstigen zu
schützen, hatte ihr kaum Zeit gelassen, an Bodo zu
denken. Kein Augenblick war ihr geblieben, ihn zu
vermissen. Sie hatte Kapitäne und Heerführer auf ihre
Loyalität überprüft, sie war fast immer in der Nähe
Dragons gewesen, und mehr als einmal hatte sie die
Gefahr, die ihm drohte, rechtzeitig erkannt.
Aber heute abend wollte sie fort – zu ihrem
geliebten Ausflugsziel.
Die Bucht der Großen Steine. Das Meer und die
Sterne und den Sand wollte sie um sich haben, und die
schmerzlichen Erinnerungen an Bodo.
Aber diesmal wollte sie sich nicht heimlich
fortschleichen aus dem Palast. Sie würde Tante Amee
von ihrem Vorhaben unterrichten und Iwa.
Dragon fühlte sich erschöpft. Arzan Shors Kräfte
hatten ihm mehr zugesetzt, als er erst geglaubt hatte.
Selbst jetzt, zwei Tage nach diesem Erlebnis, gab es
noch immer Augenblicke, da eine Müdigkeit über ihn
kam – so als wäre etwas tief in ihm am Erwachen und
brauchte Kräfte, um stärker zu werden. Bruchstücke
von Erinnerungen zogen durch seine rastlosen
Gedanken. Aber wenn er nach ihnen greifen wollte,
lösten sie sich auf wie Seifenblasen.
Schlafen schien das einzige Mittel gegen die
Müdigkeit. Es sah so aus, als hätte er endlich Zeit, sich
Ruhe zu gönnen. Das Reich war fest in seiner Hand.
Das Heer war stärker als je zuvor. Und seine Flotte
wuchs mit jedem sonnigen Tag. Nach Plänen eines
Zunter Schiffsbauers wuchsen neue Schiffe in den
Docks. Es galt, die wenige Zeit zur Ruhe zu nutzen, die
ihm die Regierungsgeschäfte ließen.
Es gelang Yina, Partho zu überreden, sie vor
Anbruch der Dunkelheit mit einem Schiff
hinauszufahren zur Bucht der Steine. Das würde ihr
den langen, beschwerlichen Weg ersparen. Partho, der
längst wußte, welcher Herzenskummer das Mädchen
von Zeit zu Zeit in die Einsamkeit trieb, stimmte
zögernd zu. Er hatte ein ungutes Gefühl.
Beim letztenmal war sie von Piraten verschleppt
worden. Was diesmal geschehen mochte, war nicht
auszudenken. Deshalb befahl er den Männern, die Yina
hinausfuhren, daß sie in ihrer Nähe bleiben und sie
nicht aus den Augen lassen sollten – doch so, daß sie
nicht merkte, daß sie beobachtet wurde.
Wenig später starrten Kim und Kano von einem der
Palastfenster in den Hafen, aus dem ein kleines Boot
fuhr, in dessen einzigem Segel sich der Abendwind
fing und es hinausschob zwischen den geankerten
Galeeren. Sie waren verärgert und enttäuscht, denn sie
wären zu gern mitgefahren.
Aber Yina war aufs heftigste dagegen gewesen. Und
sie hatte von Partho Schützenhilfe bekommen. Drei
Jugendliche im Auge zu behalten, hätte mindestens die
vierfache Schiffsbesatzung erfordert. Außerdem war es
noch aus einem anderen Grund wichtig, daß die
Knaben im Palast blieben. Wenn nämlich Yina wider
Erwarten doch wieder etwas zustoßen sollte, dann
konnte sie mit Kim oder Kano im Palast
Gedankenkontakt aufnehmen, und Hilfe konnte
schnellstens in die Wege geleitet werden.
Als sie in dem noch warmen Sand lag, allein mit der
Natur und ihren Gedanken, dachte sie über Dragons
Liebe zu Amee nach, und über jene, die El Haleb, der
Daikan der Siliker, für die Katmahzari-Kriegerin
empfand. Und sie verglich sie mit Bodos und ihren
Gefühlen.
Sie war tief in Gedanken, und sie sah die auf dem
flachen Wasser heranrasenden, delphingezogenen
Wellenbretter erst, als die geduckten Gestalten
abstiegen, drei an der Zahl, und durch das seichte
Wasser auf sie zukamen.
Sie erschrak furchtbar, aber gleich darauf vernahm
sie eine vertraute Gedankenstimme – die des
Tainu-Mädchens Issola, die Yina freudig begrüßte.
Wer die anderen beiden waren, ein Mädchen, das
keine zwanzig Sommer zählen konnte und sicherlich
nicht aus Myra stammte. Der andere war ein Junge,
nicht viel älter als das Mädchen.
Woher wußtest du, daß ich hier bin? fragte Yina,
und las in Issolas Gedanken: Ich habe dich mehrmals
gerufen, aber du hast mich nicht gehört.
Yina wurde merklich rot im Gesicht. Sie dachte, daß
Issola vielleicht ihre Gedanken über Bodo hatte lesen
können. Aber wenn es der Fall war, so hätte sie
sicherlich Anzeichen in Issolas Gedanken finden
müssen. Von hier aus, fuhr Issola fort, hätte ich dich
wieder gerufen. Du hättest mich auch im Palast gehört.
Wir wollten dann hier warten, bis jemand kam.
Laut sagte sie: »Das sind Wigor und Sela.«
Die beiden grüßten mit einem Kopfnicken. Yina
grüßte zurück.
»Wir haben sie aus dem Meer gefischt, weitab von
jeder Küste, inmitten eines Sturms. Sie kamen von der
Schwarzen Wellenreiterin. Es sieht so aus, als wären sie
die einzigen Überlebenden, Sie waren Kapitän Jaggars
Gefangene ...«
Yina sah die beiden mit großen Augen an. Die
Erinnerungen tauchten wieder auf – an Jaggar, der sie
zu seiner Braut machen wollte.
»Aber im Gegensatz zu uns«, fuhr Issola fort,
»wissen sie nur Gutes von Jaggar zu berichten. Und sie
wissen noch sehr viel mehr, das den König
interessieren wird. Kannst du ihn rufen?«
Yina nickte. »Nicht direkt, wie du weißt, aber Kano
wird ihn sofort wecken. Ist es wirklich so dringend,
daß wir ihn noch jetzt in der Nacht wecken?«
Issola nickte und schüttelte ihr weißes,
schulterlanges Haar. Ernst sagte sie: »Wir haben eine
sehr wichtige Nachricht für König Dragon. Diese
beiden kommen von der Schlangeninsel, zu der Jaggar
uns bringen wollte.
König Jellis hat dort eine Flotte von dreihundert
Schiffen zusammengezogen. Sie bereiten sich auf einen
Angriff vor und sind wahrscheinlich schon unterwegs.
Wir haben Späher ausgeschickt, die das Meer
beobachten werden. Sag dem König, das Ziel dieser
Schiffe ist Myra.«
Yina starrte die drei bleich an. Ihre Gedanken
überschlugen sich, als sie Kim und Kano die Botschaft
übermittelte, die sie an Dragon weiterleiteten.
Die Nacht hatte so still begonnen.
Aber heute würde keiner mehr ein Auge schließen
im Palast von Myra.
Nicht mit dreihundert feindlichen Schiffen im
Anzug, deren Segel morgen schon am Horizont
auftauchen mochten ...
ENDE
Weder für den Balamiter noch für den Atlanter laufen
die Dinge genau nach Plan. Dafür ist der Rahmen der
gegenwärtigen Auseinandersetzung zwischen den
beiden Kontrahenten zu weit gespannt.
Und so geschieht es, daß das Eingreifen anderer, die
bisher Nebenfiguren im großen Spiel zu sein schienen,
schicksalhafte Bedeutung erlangt. Das gilt besonders
für die Zeit, da die Schlacht um Myra droht ...
Mehr darüber schreibt Hugh Walker im nächsten
Dragon-Band. Der Roman erscheint unter dem Titel:
DIE BRUDERSCHAFT DES GROSSEN MEERES