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Die Macht der Götter

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1.

Mit vollen Segeln fuhr die Schwarze Wellenreiterin

nach Süden und erreichte in der Abenddämmerung

Pequa, eine kleine Insel, deren helle Felsen manchmal

an strahlenden Tagen von Candis‘ Hafen aus sichtbar

waren. Außer zwei armseligen Fischerdörfern und

einem Ausguckposten oben auf den Felsen war das

Eiland unbewohnt.

In einer der zahlreichen felsigen Buchten lief das

Schiff ein und warf Anker.

Kapitän Jaggar zweifelte nicht daran, daß seine

Ankunft nicht unbemerkt geblieben war. Aber er war

verhältnismäßig sicher, daß man nicht nach ihm

Ausschau hielt. Der König würde nicht annehmen, daß

sein desertierter Kapitän sich in die Nähe der

Schlangeninsel zurückwagte. Die Chancen standen also

dafür, daß Moraq gar nichts von der ganzen Sache

wußte.

Natürlich kannte Moraq Jaggar und die Schwarze

Wellenreiterin. Sie gehörte zu den Schiffen der

Bruderschaft, die immer in Candis selbst vor Anker

lagen, wenn sie von ihren Beutefahrten zurückkamen.

Die neunköpfige Mannschaft war völlig erschöpft.

Seit Wiquin Wigors Flucht mit Sela und jenem

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fürchterlichen Sturm hatten die Männer kein Auge

zugetan. Die stürmische See hatte ihnen alles

abverlangt auf einem Schiff, das nicht voll bemannt

war.

Die drei Männer, die in Phelos an Bord gekommen

waren und bei Wigor angeheuert hatten, um an die

myranische Küste zu gelangen, und nun davon weiter

als zuvor entfernt waren, begnügten sich nicht mehr

mit Murren. Sie verlangten, an Land gesetzt zu

werden. Sie wollten in Fischerbooten nach Candis

segeln, um dort neu anzuheuern.

Aber Jaggar war sicher, daß sie über die

Anwesenheit der Wellenreiterin nicht schweigen

würden, auch wenn sie es jetzt beteuerten. Und das

würde alle seine Pläne vereiteln. Deshalb ließ er die

Männer kurzerhand in den Laderaum sperren und

bewachen, mit der Androhung, sie König Jellis für

seinen Krokodilteich mitzubringen. Das ließ ihr

Gezeter verstummen. Selbst auf Pathos hatte man

bereits von den Riesenkrokodilen des Königs der

Schlangeninsel gehört, und auch, daß Jellis nicht sehr

zimperlich in der Auswahl des Futters für seine

Lieblinge war. Was sie nicht wissen konnten war, daß

Serphat, der Priester der Schlange Mis, die Tiere getötet

hatte, um Mis‘ Macht über die Geschöpfe des Wassers

zu beweisen. Aber selbst wenn sie bereits von der

Mannschaft das eine oder andere Wort vernommen

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hatten, so schreckte sie doch die Aussicht, daß sie

Gefangene des Königs sein sollten, genug ab, denn es

war allgemein bekannt, daß Jellis Leben wenig achtete

– mit Ausnahme seines eigenen.

Eines war klar: Die Schwarze Wellenreiterin würde

vorerst nicht mehr auslaufen. Es galt dafür zu sorgen,

daß die Flotte sie nicht fand. Es hing von Moraq ab.

Aber auch mit seiner Hilfe würde es sich nicht

unbegrenzt verheimlichen lassen. Außerdem konnte

die Flotte jederzeit aus Candis auslaufen. Sie ankerte

vermutlich nur noch hier, um einige Nachzügler

aufzunehmen. Jaggar hatte erwartet, daß sie längst

nach Myra unterwegs wäre, aber die Händlerschiffe

zwischen Pathos und den Miklenischen Inseln, die

ihnen begegnet waren, hatten keine größere Flotte

gesichtet, und es war beinahe unmöglich, in diesen

häufig befahrenen Gewässern eine Kriegsflotte von

dreihundert Schiffen zu übersehen. Sie mußte noch vor

Candis ankern!

Es galt, den König und die Bruderschaft von einem

Dämon zu befreien, der jede Gestalt annehmen konnte,

und der Macht über die Gedanken des Königs

besaß – Serphat, der geheimnisvolle Priester der

Schlangengöttin Mis. Ein Schwert oder ein Dolch

konnten ihm nichts anhaben, das hatte Jaggar bereits

erfahren und beinahe mit dem Tod bezahlt. Aber Feuer

vermochte etwas gegen diesen Teufel, so hatte Wigor

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berichtet. Es verriet seine wirkliche Gestalt –

schleimiges Gewürm, das über das Deck gekrochen

war und im Wasser verschwand, das es offenbar

geboren hatte. Denn Serphat war aus dem Meer

gekommen, in Gestalt einer riesigen Schlange.

Wer oder was Serphat wirklich war, davor

schreckten Jaggars Gedanken zurück. Er war der

einzige, der die Gefahr zu sehen schien, in der nicht

nur der König und die Bruderschaft, sondern die

gesamte Schlangeninsel schwebte – und bald vielleicht

alle Küsten des großen Meeres. Wenn Myra fiel und

Dragon in die Gewalt dieses Priesters kam, dann

Gnade den freien Völkern des Meeres. Sie würden alle

Sklaven sein. Sklaven eines wieder auferstandenen

Alptraums, der seit tausend Jahren vergessen war und

von dem nur noch eine instinktive Furcht in den

Herzen der Menschen und verfallene, überwucherte

Opferstätten und Tempel im Landesinnern kündeten.

Die Iquani, hieß es, waren Kinder der Schlange.

Ein Einmaster kam in die Bucht, kurz bevor die

Dunkelheit hereinbrach. Jaggar ordnete an, die

Strickleitern auszurollen. Es war der erwartete Besuch

Moraqs.

Jaggar befahl seinen Männern, dafür zu sorgen, daß

die Gefangenen sich nicht bemerkbar machen konnten,

und die Waffen griffbereit zu halten.

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Der Patrouillensegler kam längsseits mit

eingerollten Segeln und vier ausgefahrenen Rudern.

An Deck war in der Dunkelheit nur eine einzelne

Gestalt zu erkennen, Moraq, der am Steuer stand. Fünf

oder sechs Mann, schätzte Jaggar, mußten sich auf dem

Schiff befinden. Mit ihnen würden sie im Notfall fertig

werden ...

Moraqs bullige Stimme unterbrach seine düsteren

Gedanken und hallte über die stille, nächtliche Bucht.

»Ha, Jaggar, bist du eine Maus, daß du dich

verkriechst?«

Er kletterte die Strickleiter hoch. Der schwache

Schein der Lampen, die seine drei Begleiter an Bord

brachten, fiel auf sein grinsendes Gesicht.

Eine lange Narbe an der linken Wange gab Moraqs

Zügen etwas gnomenhaft Boshaftes, obwohl seine

Statur alles andere denn klein war. Er war im Gegenteil

ein Hüne, und Bosheit war ihm fremd. Ein Fremder

hätte ihn vielleicht falsch eingeschätzt, nicht Jaggar. Er

wußte aber auch, daß die Friedfertigkeit des Mannes

über einen anderen Umstand leicht hinwegtäuschte:

daß er nämlich eine Klinge zu führen wußte wie nur

wenige in Candis.

Jaggar winkte seinen Männern, die eilig zwei

Schemel brachten und einen Tisch, und Becher und

Rum auftrugen.

»Na«, meinte Moraq jovial, während er mit der

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Zunge schmatzte und das Gesicht verzog, »der Rum ist

so grauenhaft wie das, was sie in Peggara brauen. Du

hast schlechte Beute gemacht, Jaggar.«

Jaggar schüttelte den Kopf. »Keine Beute, Moraq.

Der Rum ist hier geladen. Ich komme ohne Beute

zurück, und ich brauche deine Hilfe.«

Moraqs Züge wurden ernst. »Ich bin keiner von der

Bruderschaft«, sagte er bedächtig. »Aber es gibt viel,

das ich für dich tun würde.«

Jaggar nickte. Er warf einen Blick auf Moraqs

Männer, die nicht weit von ihnen an der Reling

standen. »Schick sie weg! Was ich dir sage, ist nur für

deine Ohren.«

Moraq zögerte einen Augenblick. Er war ein

vorsichtiger Mann, der spürte, daß auf diesem Schiff

nicht alles stimmte. Aber er hatte mit Jaggar zusammen

gefochten, bevor er Kommandant von Pequa geworden

war. Und das überwog. Er befahl seinen Männern, auf

ihr Schiff zurückzukehren und abzuwarten. Jaggar sah

ihnen aufatmend nach.

»Heraus damit«, sagte Moraq. »Was ist geschehen?«

»Ist die Flotte ausgelaufen?« entgegnete Jaggar mit

einer Frage.

»Nein. Soviel ich erfahren habe, warten sie noch auf

Meliqs Schiffe, die heute nacht eintreffen werden. Der

König scheint kein Risiko einzugehen. Er kratzt alles

zusammen, was Männer tragen kann. Du warst auf

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Kundschaft, nicht wahr? Was hast du erfahren?«

Jaggar zögerte. Es wäre leicht gewesen, nun zu

schwindeln. Moraq schien ahnungslos. Aber etwas riet

ihm, Moraq nicht zu belügen, sondern zu versuchen,

ihn zu überzeugen. Er brauchte einen Gefährten, den

auch die Wahrheit nicht entmutigte, denn früher oder

später würde er sie erfahren. Die Wellenreiterin war

mit der kleinen Besatzung manövrierunfähig. Mit ihr

konnte er bestenfalls zu fliehen versuchen, wenn seine

Pläne fehlschlugen. Aber für seine Pläne brauchte er

ein anderes Schiff – eines von Moraqs Booten.

»Nein, ich war nicht auf Kundschaft. Ich war krank.

Und ich habe beinahe meine ganze Mannschaft

verloren.«

»Krank?« fragte der Kommandant von Pequa

entgeistert.

Jaggar nickte. »Sag mir eines, ist dieser Priester noch

in Candis?«

»Du meinst Serphat? Ja, und man sieht den König

nie ohne ihn. Das berichten die Boten, die täglich zur

Insel kommen. Ich habe ihn noch nie selbst gesehen. Ist

es wahr, daß er sich in eine Schlange zu verwandeln

vermag?«

»Nicht nur das«, erwiderte Jaggar. »Er kann sich in

jeden von uns verwandeln, ohne daß wir den

Unterschied merken ...«

Moraq starrte den Kapitän ungläubig an. »In jeden

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von uns?«

»Ja«, knirschte Jaggar. »Und er trachtet mir nach

dem Leben – im Namen des Königs ...«

Unbewußt fuhr die Hand des Kommandanten zum

Schwert. »Was sagst du da?« Er starrte Jaggar

forschend an. »Du bist desertiert, nicht wahr? Darum

verkriechst du dich hier wie eine Maus ...!«

»Ja und nein«, erklärte Jaggar fest, seine Lippen

waren ein schmaler Strich. Nun war der Augenblick,

da er Moraq verlieren oder gewinnen würde. Hart fuhr

er fort: »Der König würde sagen, ich sei desertiert. Er

weiß es nicht besser. Es gibt wenig, das der König

wirklich weiß, seit Serphat bei ihm ist. Auch die

Bruderschaft glaubt, ich wäre desertiert. Sie alle sind

dem Priester hörig. Aber du hast noch einen freien

Willen. Und wenn er dir lieb und teuer ist, dann hörst

du mich an, bevor du dein Schwert ziehst. Der König

ist in Gefahr. Wir alle sind in Gefahr ... Es gibt nur

einen, der die Gefahr

kennt – ich.«

»Ich bin Soldat«, sagte Moraq mit spürbarer Kälte.

»Ich habe kein anderes Wort als Feigheit für Desertion.

Hätten meine Augen nicht oft genug gesehen, daß du

nicht feige bist, Jaggar, so hinge mein Schwert nicht

mehr so ruhig an meiner Seite. Bei Kelim, es muß der

Teufel selbst sein, der dich zur Maus macht ...!«

»Es ist der Teufel selbst«, sagte Jaggar zustimmend.

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»In Serphats Gestalt.« Er goß einen Becher des

abscheulichen Rums in sich hinein und stand unruhig

auf. »Vor fünf Tagen kam ich von einer

Erkundungsfahrt von Myras Küsten zurück. Ich warnte

den König, daß ein Angriff auf Myra uns teuer zu

stehen kommen könnte. Er lachte mich wie immer aus,

wenn ich zur Vorsicht gemahnte. Es machte mich auch

wütend wie immer, aber ich wußte, daß er meinen

Bericht überdenken würde, sobald er allein war. Das

hatte er immer getan. Vielleicht hätte er die Idee nicht

fallengelassen, Myra anzugreifen, aber sicher wäre er

umsichtiger ans Werk gegangen und hätte nicht ohne

einen Vertrag mit den Kyriern im Westen die Insel so

vollkommen von Streitkräften entblößt, wie er es eben

tut. Er hätte auf längere Sicht geplant und mehr zu

erfahren versucht über den neuen myranischen König

– Dragon ...«

Moraq brummte zustimmend. Das leuchtete ihm

ein. Während der Dauer dieser Eroberungsfahrt würde

die Schlangeninsel praktisch nackt daliegen, eine

leichte Beute, nach der Kyrien und Balava die Hände

ausstrecken mochten.

»Aber dann kam dieser Schlangenpriester an Land«,

fuhr Jaggar fort, »und ich brachte ihn selbst zum König,

und seitdem hat der König keinen eigenen Gedanken

mehr. Ich habe den Priester reden hören von Myra. Da

dachte ich, er wäre ein Mann mit Haß im Herzen. Bald

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darauf sah ich den König mit dem gleichen Haß im

Herzen, und am selben Abend kamen seine Häscher

auf mein Schiff, um mir die Klinge zu geben ...«

»Sie sollten dich töten?« entfuhr es dem

Kommandanten.

»Ja. Ein halbes Dutzend. Sie stießen ihre Klingen in

mein Bett, aber ich habe ein gutes Ohr für nächtliche

Geräusche und hatte es längst verlassen. Ich verbarg

mich auf Deck und wartete auf die Brut ...«

»Die Mannschaft ...«, warf Moraq ein.

»Schlief«, erklärte Jaggar. »Bootsmann Galis, den ich

längst als Spitzel des Königs im Verdacht hatte,

beseitigte die Deckwachen. Das alles nicht genug,

schlich sich ein myranischer Junge an Bord, der seit

Monden hinter mir her war und mir ans Leben wollte,

weil wir vor einem halben Jahr sein Liebchen aus

Deyman mitgenommen hatten und sein Bruder dabei

ums Leben kam.« Jaggar nickte zu sich. »Ein guter

Junge, wie ich ihn mir als Sohn wünschte – zu

unerfahren noch, um alt zu werden mit seiner

Tollkühnheit. Er wollte einen fairen Kampf. Als er die

Meuchelmörder sah, da focht sein Arm für mich. Nur

zwei kehrten heim in dieser Nacht, dem König Kunde

zu bringen. Vier fanden ein nasses Grab, und der Junge

wäre mit ihnen gewesen, hätte mein Dolch ihm nicht

sein junges Leben gerettet ...«

»Was geschah dann?« fragte Moraq atemlos.

Page 12: Die Macht der Götter

»Der junge Wigor begrub seinen Groll gegen mich.

Ich bot ihm Heuer an. Einen wie ihn konnte ich gut

gebrauchen. Er nahm an. Ich hieß ihn, meinen

Bootsmann Galis im Auge zu behalten. Das tat er denn

auch. Einer der Diebesgilde holte Galis in den Palast.

Wigor, der ihm folgte, schwor, ihn dort in den

Gewölben gesehen zu haben ... tot, von einem Schwert

durchbohrt ...«

Der Kommandant ballte die Fäuste. »So ist es nicht

der König, der dir ans Leben wollte. Er hätte nicht

seinen eigenen Mann umgebracht ...«

Jaggar nickte. »Solcherart überlegte ich auch. Da fiel

zum erstenmal mein Verdacht auf den Priester. Ich

dachte erst, er wollte nur einen Zeugen beseitigen, den

wir bereits im Verdacht hatten, aber es kam anders.

Am Abend desselben Tages kam Galis an Bord. Daß

der Junge mich hintergangen hatte, war mein erster

Gedanke. Aber sein Erschrecken war anderer Art, das

konnte ich deutlich genug sehen. Auch daß mit Galis

etwas nicht stimmte, fühlte ich in den Knochen. Wenn

er mich ansah, fiel es mir schwer, einen Finger zu

rühren. Mir war Furcht immer fremd. Aber nicht an

diesem Abend. Keine Stunde später, als ich an Deck

kam, sprang er auf mich los. Ich wollte ihn abwehren.

Er kümmerte sich gar nicht um das Entermesser in

seinem Bauch. Er packte mich mit Händen von solcher

Kälte, daß in mir alles zu Eis wurde.

Page 13: Die Macht der Götter

Ich muß geschrieen haben, bevor er mich packte,

denn plötzlich waren Stimmen um mich. Die Männer

zerrten uns auseinander. Das war das letzte, das ich für

gute zwei Tage sah.«

»Zwei Tage ...?«

»Ja, zwei Tage. Und ich erwachte durch das Schreien

meiner Männer und durch den Klang von Schwertern.

Ein Dreimaster ohne Flaggen versuchte trotz des

schweren Winds längsseits zu gehen. Ein Dutzend

seiner Mannschaft waren wie Teufel über die Gischt

gesprungen und lernten, daß wir eine verdammt teure

Beute waren. Denn keiner verließ unser Schiff mehr

lebend. Aber wir waren selbst nur noch zehn, und der

Sturm trieb uns von den Fischerinseln nordwärts ...«

»Kelims Blut!« entfuhr es Moraq. »Die Fischerinseln,

sagst du?«

»Ja. Wir hatten mächtig Fahrt drauf. So nach und

nach erfuhr ich, was geschehen war. Wigor hatte das

Kommando übernommen, und meine Mannschaft, die

ahnte, daß ich mich in Gefahr befand, wenn sie auch

noch nicht erkannt hatte, in welcher, folgte ihm. Sie

ruderten noch in der Nacht aus dem Hafen und quer

durch die Flotte. Es war ein Meisterstück. Sie kamen

nach Pathos. Dort ging die Hälfte der Mannschaft an

Land, jene, die des Königs Zorn fürchteten. Ein paar

Männer aus Phelos heuerten an, die nach Myra wollten

wie Wigor. Aber ich bezweifle, daß meine Männer

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wirklich nach Myra gegangen wären. Sie kamen mit,

um da zu sein, wenn ich erwachte und sie brauchte.

Wir hatten das Inselmeer weit hinter uns, als der Sturm

sich endlich legte. Wigor wollte nach Myra. Ich aber

wollte zurück. Für mich gab es nur eines: Serphat,

diesen Teufel, zu erledigen, bevor alle ihm hörig sind!«

Moraq schüttelte nachdenklich den Kopf. »Was

bringt dich auf den Gedanken, Galis wäre Serphat

gewesen? Nur weil dieser Myraner behauptete, seine

Leiche gesehen zu haben ...«

»Er war wie Eis«, unterbrach ihn Jaggar. »Schlangen

haben kaltes Blut. Er vermochte sich in Schlangen zu

verwandeln, das habe ich mit eigenen Augen gesehen,

und Tausende auf Minos Fest werden es dir bestätigen.

Warum sollte er da nicht auch die Gestalt eines

anderen Menschen annehmen können? Ich hatte keinen

Grund, an Wigors Worten zu zweifeln. Aber ich hätte

sicher auch gezweifelt ohne die einstimmigen Berichte

meiner Männer über das, was an Deck geschehen war,

nachdem sie mich dem vermeintlichen Galis entrissen

hatten. Schwerter vermochten ihm nichts anzuhaben.

Erst als einer ihm mit Feuer zu Leibe rückte – da löste

sich seine Gestalt auf, und schleimiges Gewürm kroch

über die Planken ins Meer ...«

Der Kommandant war bleich geworden bei diesen

Worten.

»Das war nicht Galis, dem wir gegenübergestanden

Page 15: Die Macht der Götter

hatten«, ergänzte Jaggar kopfschüttelnd. »Das war

Serphat, der sich im Palast befunden hatte, als Galis ihn

betrat.«

Moraq leerte den Becher und goß nach. »Das ist eine

verdammte Geschichte, die du da erzählst, und keinem

andern würde ich sie glauben. Sag mir noch eins –

welchen Haß nährt der Priester gegen dich?«

Jaggar zuckte die Achseln. »Ich kann es nur

vermuten. Es muß wohl sein, weil ich den König vor

einem Angriff auf Myra warnte. Der Priester scheint

nur ein Ziel zu kennen: Myra unter seine Faust zu

bekommen, gleich um welchen Preis. Und jede Stimme

dagegen ist wie ein Dorn in seinem Fleisch. Als

Kapitän der Bruderschaft hätten sie meine Warnungen

hören müssen im Ratssaal, ob sie dem König nun

gefielen oder nicht.

Natürlich genügt des Königs Wort für den Angriff,

aber im Zweifelsfall wäre die Bruderschaft stark genug,

sich selbst gegen den König zu stellen. Dieses Risiko,

denke ich, ist es, das Serphat vermeiden wollte. Wie

sehr der Priester aber bereits vorgesorgt hatte, erkannte

ich, als ich versuchte, einigen der Kapitäne meine

Bedenken mitzuteilen. Sie empfingen mich, als wäre

ich ein Verräter, obwohl keiner noch etwas von den

Dingen wissen konnte, die ich mit dem König

besprochen hatte, denn keiner war nach mir beim

König zur Audienz gewesen. Jemand hatte sie

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beeinflußt. Und es gab nur einen, der Macht genug

besaß, sie gegen einen aus ihrer Mitte aufzuwiegeln ...!«

Eine Weile schwiegen die beiden Männer.

Schließlich sagte Moraq: »Wo ist dieser junge

Myraner?«

»Er floh in der ersten Nacht, als wir wieder nach

Süden segelten«, erklärte der Kapitän, und ein Anflug

von Trauer überschattete sein Gesicht. »Er war zu

wagemutig, ein Narr, der glaubte, mit einem Boot

Myra zu erreichen.«

»Myra?« entfuhr es Moraq. »Aber das bedeutet, daß

man dort von des Königs Plänen weiß, wenn er die

Küste erreicht hat ...!«

Jaggar schüttelte den Kopf. »Da können wir

unbesorgt sein. Es gab einen Sturm am Morgen, der die

Wellenreiterin beinahe kentern ließ. In dem Boot hatte

er keine Chance.« Und gepreßt fügte er hinzu: »Wenn

ich je einer myranischen Seele nachtrauere, dann

seiner. Ein wenig Zeit und Verstand, und er wäre einer

von unserem Holz geworden. Laß uns einen Becher auf

ihn leeren!«

Er hob seinen Becher, und Moraq stieß an.

»Was willst du tun?« fragte Moraq nach einer Weile.

»Den König warnen?« Er schüttelte den Kopf. »Er wird

dir nicht glauben. Er kann es gar nicht, wenn es

stimmt, was du sagst, daß er nach des Priesters Pfeife

tanzt«

Page 17: Die Macht der Götter

»Ich muß ihn überzeugen ... oder den Priester

vernichten.« Jaggar starrte den Kommandanten

forschend an. »Hilfst du mir?«

Moraq ließ sich Zeit, ehe er antwortete. »Wie?«

Ich brauche eines deiner Boote«, sagte Jaggar rasch.

»Mit der Wellenreiterin kann ich nicht nach Candis,

selbst wenn ich noch genügend Leute hätte. Ich muß

heimlich gehen, sonst komme ich nicht an den König

heran ...«

Der Kommandant nickte. »Der erste, der dich sieht,

würde dich an den Mast knüpfen, und ich frage mich,

warum ich es nicht selbst tue.« Er sah, daß Jaggar

zusammenzuckte, und grinste. »Ein anderer, der so wie

du meine Vernunft strapaziert, würde langst hängen.

Aber ich habe zu oft an deiner Seite gekämpft. Dein

Arm ist mir teuer geworden. Und da ist etwas an

deiner Geschichte, das mich schaudern läßt. Also

glaube ich dir, wie verrückt es auch alles klingt. Aber

sei gewarnt. Wenn alles nur ein Spiel ist, und du meine

Hand mißbrauchst für etwas, das mir Schamrote ins

Gesicht treiben würde, dann hast du einen erbitterten

Feind auf deinen Fersen. Hier, mein Freund!« Er reichte

Jaggar die Hand, die dieser erfreut ergriff.

»Ein Boot und einen Arm!« rief er, griff nach dem

Becher und leerte ihn und setzte sich auf den Schemel.

»Nun ist mir leichter.«

Moraq lachte. »Dir vielleicht. Meine Gefühle sind

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eher gegenteilig. Meine Erfahrungen, daß Freunde

selten Gewinn, aber um so mehr Schwierigkeiten

bringen, haben sich über die Jahre immer wieder

bestätigt.«

»Ah, Freund, du siehst zu schwarz. Heute nacht

entführe ich den König. «

»Was hast du vor?« schrie der Kommandant auf.

Jaggar grinste, zum erstenmal, seit der Kommandant

von Pequa an Bord gekommen war, oder wenigstens

zum erstenmal mit leichtem Herzen.

»Ich entführe den König und bringe ihn hierher.

Und hier will ich ihm die Augen öffnen, wenn es nicht

bereits die Abwesenheit des Priesters tut.«

Moraq nickte. Seine Augen glänzten plötzlich in

stummem Beifall. »Das ist ein Meisterstück nach

meinem Geschmack, und was in meiner Macht steht,

werde ich tun, damit es gelingt.«

»Gut. Dann wollen wir keine Zeit mehr verlieren. Sie

werden morgen auslaufen. Was zu geschehen hat, muß

in dieser Nacht geschehen. Ist der König noch im

Palast?«

»Ja.«

»Bist du sicher?«

Moraq nickte. »Seit die Flotte im Hafen liegt, haben

wir eine verstärkte Mannschaft auf der Insel. Ein

Schnellsegler liegt in der Ostbucht in Bereitschaft.

Schiffe, die zu nahe kommen und die Flotte entdecken

Page 19: Die Macht der Götter

könnten, werden hier zum Ankern gezwungen. Da der

König meine Boten persönlich empfängt, wären wir die

ersten, die erfahren würden, auf welches Schiff sich der

König begeben hat. Bis jetzt haben wir darüber noch

keine Nachricht.«

»Hast du Kontrollen, wenn du ein Boot nach Candis

schickst?«

»Ja. Aber keine sehr gründlichen.«

»Niemand durchsucht das Boot?«

»Nein, sie verlangen nur die Losung. Und sie

würden selbst die nicht verlangen, wenn ich fahre.

Jeder kennt mich.«

Jaggar überdachte das einen Augenblick. »Wir

werden also eine Botschaft nach Candis bringen. Was

meinst du? Wie stehen die Chancen, daß wir den Palast

erreichen?«

»Gut genug.«

»Werden deine Männer nicht Verdacht schöpfen?«

»Ich kann sie beruhigen. Sie werden bereitwillig

genug glauben, daß du in geheimer Mission des Königs

hier bist. Und das ist schon die halbe Wahrheit.«

»Vielleicht ist es die ganze, bevor der Morgen

kommt«, erwiderte Jaggar.

Page 20: Die Macht der Götter

2.

Kurz vor Mitternacht verließ Moraqs Boot die Insel, auf

deren Felsen ein helles Leuchtfeuer brannte. Der Mond

gab spärliches Licht. Vier Männer ruderten den

Einmaster langsam durch das nachtschwarze Wasser.

Mehrere Fackeln und Lampen kündeten weithin, daß

das Boot zur Küste unterwegs war und Nachricht für

den König brachte.

Als sie aus den Felsen der Insel auftauchten, füllte

ein leichter Wind das Segel. Moraq ließ die Ruder

einziehen. Sie machten langsame Fahrt auf die Küste

zu. Es war keine Eile.

Moraqs Männer waren von Jaggars geheimer

Mission unterrichtet. Sie wußten auch, daß der Kapitän

jemanden an Bord bringen wurde. Daß dies der König

selbst sein sollte, ahnten sie allerdings nicht.

Nach geraumer Weile sahen sie die ersten dunklen

Schatten der großen Galeeren vor sich.

Moraq ließ das Segel offen. Die Ruderer nahmen

ihre Arbeit wieder auf. Da die Flotte so deutlich

auszumachen war, verzichtete Moraq auf den Gong,

mit dem die Deckwachen ihn normalerweise nachts in

den Hafen lotsten. Ein paarmal kamen halblaute

Anfragen aus der Dunkelheit, auf die Moraq mit dem

Page 21: Die Macht der Götter

Losungswort antwortete.

Jaggar hatte sich unter Deck begeben und starrte

gespannt aus den Ruderluken. Zum Greifen nah glitten

die Bordwände der Galeeren und schnellen Segler an

ihm vorbei, schwarz und drohend. Eine schier nicht

enden wollende Reihe. Er schüttelte verwundert den

Kopf. Mehr denn je wurde ihm nun bewußt, welch

unglaubliches Wagnis Wigor auf sich genommen hatte,

als er die Wellenreiterin bei Nacht unbemerkt durch

dieses Labyrinth von Schiffen steuerte.

Dann erreichten sie den Kai und legten an. Nur die

Seehexe, des Königs Flaggschiff, lag in unmittelbarer

Nähe. Aber auch auf ihr war alles ruhig. Die

Mannschaft schlief. Die Deckwachen sahen wohl zu

der anlegenden Schaluppe herüber, aber wohl nur der

willkommenen Abwechslung wegen.

Zwei Männer blieben im Boot zurück. Die anderen

beiden begleiteten Jaggar und Moraq mit Lampen über

den Marktplatz. Sie schritten ohne Hast aus.

Als sie die ersten Häuser erreichten und in die

dunklen Gassen tauchten, die den Blick vom Meer her

abschnitten, löschten sie die Lampen und schlichen in

der Dunkelheit weiter.

Die Gassen waren leer – schwarze, stille Schlünde,

durch die sich manch einsamer Fußgänger nicht wagen

mochte. Die Männer kannten diesen Teil der Stadt und

verloren keine Zeit. Einmal kam ihnen eine Patrouille

Page 22: Die Macht der Götter

von Wachsoldaten entgegen, die nach Mitternacht

durch die Stadt schritten. Sie drückten sich eng in einen

Hausflur. Daß sie ohne Licht durch die Gassen

schlichen, machte sie verdächtig, und es hatte lästige

Fragen gegeben. Vielleicht hätte einer der Soldaten

sogar Jaggar erkannt. Das wäre das Ende des

Abenteuers gewesen.

Zum Glück kümmerten sich die Soldaten wenig um

die Hauseingänge. Als ihr Schritt in der Ferne

verklang, eilten die vier weiter. Bald ragte der Palast

dunkel über die Häuser. Ihr Schritt wurde vorsichtiger.

Am Palasttor standen mehrere Wachen. Die Stelle,

an der es möglich war, die hohe Mauer zu überklettern

und in den Garten zu gelangen, lag direkt in ihrem

Blickfeld. Der Mond war unerfreulich hell.

Die vier tauchten in die Gasse zurück. »Also, es

bleibt dabei«, flüsterte Jaggar. »Ihr lenkt sie ab.

Während du zum König gehst und ihm die Nachricht

bringst, daß die Schwarze Wellenreiterin in Pequa

gelandet ist, werde ich mir einen Weg über die Mauer

suchen. Und ihr horcht auf mein Zeichen. Der Ruf des

Küstenvogels!«

Die Männer nickten.

»Wenn euch jemand fragt, mich habt ihr nicht

gesehen. Es würde euren Kommandanten in des

Teufels Küche bringen, wenn ihr euch verplappert.«

»Alles klar, Kapitän.«

Page 23: Die Macht der Götter

»Dann vorwärts. Die Lampen hat euch der Wind

ausgeblasen. Und seht nicht zurück!«

Jaggar sah Moraq und den beiden Männern nach, als

sie auf das Tor zuschritten. Die Stimmen der Wachen

drangen zu ihm herüber, als die Gruppe sie erreichte.

Jaggar huschte los. Er erreichte die Mauer unbemerkt

und verharrte einen Moment. Die Wachen wandten

ihm den Rücken zu, als sie Moraq einließen und mit

seinen Männern ein Gespräch begannen. Sie schienen

dankbar für die Abwechslung.

Jaggar schnellte hoch, erreichte die Mauerkante und

zog sich keuchend auf den Sims. Dort lag er einen

Augenblick flach und lauschte. Sie schienen ihn nicht

bemerkt zu haben.

Er atmete auf. Die erste Hürde war genommen.

Lautlos ließ er sich in den Garten hinab. Er prallte

dumpf auf und lauschte erneut – mit angehaltenem

Atem. Die Wachen lachten. Moraqs Männer gaben

irgend etwas zum Besten.

Undeutlich sah er, wie Moraq das innere Palasttor

erreichte und pochte. Die Tür öffnete sich. Kurz sah er

Coris‘ Silhouette.

Dann hastete er durch das Buschwerk, breite

Rasenflächen vermeidend, auf das Palastgebäude zu.

Niemand schien ihn zu bemerken. Er lehnte sich

keuchend an den kalten Marmor und starrte hoch. Die

erste der Terrassen befand sich nicht weit von ihm.

Page 24: Die Macht der Götter

Vorsichtig steuerte er darauf zu. Es gab genügend

Mauervorsprünge. Seine Erinnerung hatte ihn nicht

getrogen.

Er überprüfte seinen Gürtel, den Sitz der Waffen.

Das Schwert hatte er an Bord gelassen. Nur Dolch und

Entermesser steckten in seinem Gurt.

Er schlüpfte aus den Sandalen und schob sie unter

die nächsten Büsche. Dann sprang er, erreichte den

ersten Vorsprung, einen Tigerkopf, und zog sich daran

hoch. Jaggar war äußerst dankbar für diese

künstlerische Gestaltung der Palastmauer. Ohne die

Schädel, die in regelmäßigen Abständen aus der glatten

Wand ragten, wäre es verdammt schwierig gewesen,

auch nur in die Nähe der Terrasse zu gelangen.

Aber es war auch so ein Risiko. Es gab nichts außer

den Schädeln wilder, säbelzahnbewaffneter

Ungeheuer, wie sie auf der Schlangeninsel einst

existiert haben mochten, wenn man den alten

Legenden Glauben schenken wollte. Ein Sturz in die

Tiefe mußte den sicheren Tod bedeuten. Das Pflaster

lag bleich im Mondlicht. Jede Weiterbewegung

bedeutete einen Sprung, ein verzweifeltes

Festklammern auf dem polierten Marmor und eine

Reihe von unvermeidbaren Geräuschen. Dennoch

erreichte er die erste Terrasse unbemerkt.

Dort verschnaufte er ein wenig. Von hier ließ sich

der Hafen gut überblicken, aber er war heute dunkel

Page 25: Die Macht der Götter

bis auf einige flackernde Lampen an der Stelle, an der

die Seehexe vor Anker lag, und einem vereinzelten

Licht auf Moraqs Schaluppe. Der Palastpark lag im

Mondlicht. Wenn er sich weit über die Brüstung

vorlehnte, vermochte er das Parktor, die Wachen und

Moraqs Männer zu erkennen.

Die Fenster und Türen waren dunkel. In diesem

Stockwerk schien keine Seele wach. Er versuchte die

Tür. Sie war verschlossen. Er fluchte, obwohl er nicht

erwartet hatte, sie offen vorzufinden.

Nun, da er weit genug von den Wachen entfernt

war, konnte er die leichtere Methode wählen. Er starrte

zu der Reihe von Balkonen hoch vor des Königs

Fenstern. Aus zweien der Fenster drang plötzlich Licht.

Das durfte die kleine Audienzkammer sein, die der

König für nächtliche oder vertrauliche Gespräche

benutzte. Moraq mußte nun bei ihm sein.

Es war an der Zeit zu handeln.

Er riß sein Hemd aus dem Gürtel und begann das

Seil abzuwickeln, das er darunter um seine Mitte

geschlungen hatte. Es dauerte eine Weile, denn es war

von beträchtlicher Länge. Dann zog er den Bootshaken

aus dem Gürtel hervor und knüpfte das Tau daran fest.

Er starrte erneut hoch und wählte einen der Balkone

vor den dunklen Fenstern. Jaggar war einer der

wenigen, die wußten, wo die Gemächer des Königs

lagen. Von diesem Balkon würde er direkt in das

Page 26: Die Macht der Götter

Schlafgemach gelangen, das einzige, in dem keine

Wachen stehen würden.

Er wog das Eisen in seiner Hand – und warf es. Es

wirbelte hoch, und mit ihm das Tau. Zu kurz!

Es berührte den Balken mit leisem Klirren und fiel.

Einen Augenblick verschluckten es dunkle Schatten

unter den Mauervorsprüngen, und Jaggar fürchtete

einen Herzschlag lang, er könnte es verfehlen und es

würde mit totenerweckendem Getöse auf die Terrasse

prallen. Aber dann funkelte es im Mondlicht und

landete sicher in seiner Hand.

Er warf es erneut – kräftiger. Befriedigt sah er, wie

es über der Brüstung verschwand. Es klirrte

verräterisch, als es aufschlug, und glitt scharrend über

den Stein. Dann straffte sich das Tau. Er zog vorsichtig

daran. Fester. Es hielt.

Er wartete noch einige Atemzüge. Nichts regte sich.

Dann begann er an dem Tau hochzuklettern.

Er pendelte bereits hoch über der Terrasse, als er

eine Bewegung am Seil verspürte. Er blickte hoch. Ein

Soldat lehnte sich über die Brüstung. Er hielt einen

Dolch in der Rechten und sah grinsend auf Jaggar

hinab.

»Sieh an, eine Spinne am Faden«, spottete er. »Ich

hoffe, es ist nicht dein einziger. An dem hier wirst du

gleich keine Freude mehr haben.«

Mit diesen Worten begann er mit dem Dolch an dem

Page 27: Die Macht der Götter

Tau zu säbeln. Alles in Jaggar schrie auf. Die Gefahr

verlieh ihm Bärenkräfte. Mit der Gewandtheit eines

Affen kletterte er das letzte Stück hoch. Das Tau

begann zu reißen.

»Halt!« rief eine Stimme. Der Dolch hielt inne. Die

letzten Fäden hielten die nun reglose Gestalt. König

Jellis‘ Gesicht erschien über der Brüstung. Es starrte

unbewegt hinab auf den Kapitän. »Zieht ihn hoch!«

Das Gesicht verschwand. Zwei andere erschienen.

Kräftige Arme griffen über das Geländer und begannen

das Seil hochzuziehen. Fäuste packten Jaggars Arme

und zerrten die erschöpfte Gestalt auf den Balkon.

Er stolperte auf die Beine. Ein halbes Dutzend

Wachen standen um ihn, die Klingen blank in der

Faust. Sie deuteten ins Innere, wo nun Lampen

flackerndes Licht verbreiteten.

Er atmete tief ein und folgte ihnen. Er wußte, daß es

das Ende seiner Pläne war. Den Palast würde er nicht

mehr lebend verlassen.

Der König, angetan in einen schweren zeremoniellen

Mantel, darunter aber offenbar nackt, musterte seinen

Kapitän amüsiert. Im Hintergrund sah Jaggar den

Kommandanten von Pequa stehen, dessen Gesicht alle

Farbe verloren hatte. Kelim sei Dank schien er sich

jedoch rasch zu erholen. Keiner der Anwesenden

beachtete ihn. Sie hatten ihn offenbar vollkommen

vergessen.

Page 28: Die Macht der Götter

»So sehen wir uns also wieder, mein guter Jaggar«,

meinte der König spöttisch. »Ich habe gehört, daß es in

deiner Heimat Brauch ist, nachts ein Mädchen

solcherart zu überraschen. Hattest du das im Sinn?«

Die Wachen lachten.

Jaggar verzog keine Miene. »Bist du allein, mein

König – oder ist die Schlange in deinen Gedanken?«

Jellis maß ihn einen Augenblick nachdenklich. »Du

bringst eine Botschaft?«

Jaggar nickte. »Mehr als das. Eine Warnung und

einen Plan.«

»Du bringst sie auf einem seltsamen Weg.«

»Es führt kein anderer Weg zu dir selbst, König. Ich

kenne Serphats Macht ...«

»Was willst du damit sagen?« fragte der König

barsch, aber nicht barsch genug. Es war etwas

Zögerndes an ihm.

»Ich werde dir frei und wahr wie immer antworten.

Ich habe dich nie belogen, mein König, obwohl mir

dein jäher Zorn oft gern die Klinge dafür gegeben

hätte. Am Ende schätztest du es immer.«

Der König nickte ungeduldig.

»Schick sie fort«, sagte Jaggar und deutete auf die

Wachen. »Die Wahrheit, wenn du sie nicht bereits

ahnst, wird dir nicht gefallen. Noch weniger, wenn sie

sie hören.«

Jellis zögerte. Dann winkte er den Männern.

Page 29: Die Macht der Götter

»Verlaßt den Raum.«

Jaggar wartete, bis sie gegangen waren. »Was ist mit

ihm?« fragte er und deutete auf Moraq, der mit

geballten Fäusten in der Tür zum Schlafraum stand, als

würde er es wahrhaft wagen, seine Klinge gegen den

König zu ziehen, wenn er Jaggars Tod befahl.

»Es ist gut, Kommandant, du kannst gehen«, sagte

Jellis.

Moraq verneigte sich und wandte sich um.

»Kommandant!« rief ihn Jellis zurück. »Du kennst

diesen Mann, nicht wahr?«

»Ich kämpfte oft an seiner Seite.«

»Wenn ich ihn töten ließe, was würdest du wohl

tun?«

»Ich würde ihn betrauern, mein König.«

Der König nickte nachdenklich.

»Es war nicht dein Boot, das ihn brachte?«

Moraq zögerte nicht. »Es war nicht mein Boot, mein

König.«

»Es ist dein Kopf, wenn du mich belügst.«

Moraq nickte ungerührt. »Ich sagte dir, daß eines

der Boote fehlte auf seinem Schiff.«

Jellis nickte erneut. »Ja, das sagtest du. Du kannst

gehen.«

Moraq verneigte sich und ging.

»Er ist dein Freund, warum bedienst du dich nicht

seiner?« fragte der König.

Page 30: Die Macht der Götter

»Wenn selbst die Kapitäne der Bruderschaft unter

Serphats Einfluß stehen, wie konnte ich da hoffen, ihn

von einer guten Sache zu überzeugen?« erwiderte

Jaggar.

»Von einer guten Sache?« wiederholte der König.

»Ich sehe, daß du nachdenklich bist, König«, fuhr

Jaggar rasch fort. »Es ist, als ob der Priester schliefe ...«

Jellis starrte ihn an. Er fühlte sich seltsam frei – und

leer. Als hätte er nur verschwommene Erinnerungen in

seinem Geist, über das, was in den letzten Tagen

geschehen war. »Du bist aus Candis geflohen, Kapitän.

Warum?«

»Weißt du es nicht?« fragte Jaggar vorsichtig. Er

fühlte, daß der Priester im Augenblick keine Macht

über den König ausübte, was auch immer die Gründe

sein mochten. Sicherlich hatte er nicht mit diesem

nächtlichen Besuch gerechnet. Vielleicht brauchte er

den König nicht zu entführen. Vielleicht konnte er ihn

überreden und ihm so die Augen öffnen. »Waren es

nicht deine Männer, die auf mein Schiff kamen, um mir

im Schlaf die Klinge zu geben?«

»Tat ich das?« fragte der König verwirrt. »Doch, ich

muß es wohl getan haben.« Er griff mit der Hand an

seine Stirn – tief in Gedanken. »Es ist als ... ja, ich

erinnere mich. Ich schickte die Männer. Aber es ist ...«

»Es ist nicht deine Art zu töten«, ergänzte Jaggar

grinsend. »Nicht heimlich. Wenn du den Tod gibst, soll

Page 31: Die Macht der Götter

jeder ihn genießen können, nicht wahr? Aber ich muß

dich enttäuschen, mein König. Ich habe für die eine wie

die andere Art wenig übrig.«

»Aber ich hätte dich niemals ...« Er schüttelte

verwundert den Kopf. Dann fuhr er wütend fort: »Der

einzige Tod, den du durch meine Hand erlitten hättest,

wäre der im Zorn gewesen, und ich hätte ihn bedauert

wie Selas Verschwinden ...«

Impulsiv nahm er Jaggar an den Schultern. »Und

dennoch war ich es, der die Männer schickte. Ich

erinnere mich. Welcher Wahnsinn läßt mich Freund

und Feind nicht mehr sehen?«

»Serphats Teufelei, mein König«, sagte Jaggar

bewegt. »Seine dunklen Kräfte sind es, die mit jedem

Tag mehr Macht über dich und die Bruderschaft,

gewinnen.«

»Serphat«, wiederholte der König nachdenklich. »Er

hat nur ein Ziel ...« Er brach ab.

Entsetzt sah Jaggar, wie sich der Blick des Königs zu

verschleiern schien, wie alles Nachdenkliche aus seinen

Zügen verschwand. Die muskulöse Gestalt straffte sich

wie unter einem inneren Befehl.

Eine dunkle Gestalt erschien in der Tür, angetan mit

einem Umhang und einer Kapuze, die tief ins Gesicht

gezogen war, so daß aus dessen Schatten nur die

Augen leuchteten – im Widerschein der Kerzen,

mochte der flüchtige Beobachter glauben. Aber Jaggar

Page 32: Die Macht der Götter

stand nah genug, um zu erkennen, daß es ein inneres

Feuer war, das in ihnen schwelte. Er hatte plötzlich

Angst – ein panisches Bedürfnis zu fliehen.

Aber er wußte gleichzeitig, daß es zu spät war.

Mit veränderter Stimme sagte der König: »Du bist

also zurückgekommen, um deinem König die Augen

zu öffnen!« Er lachte, und Jaggar schauderte, denn es

war nicht des Königs Lachen, das aus dessen Mund

kam, sondern Serphats. Es war voller Hohn und

Triumph.

»Du amüsierst mich«, fuhr die Stimme fort. »Ich

habe dich unterschätzt. Deine Beharrlichkeit gefällt

mir. Ich werde sie nutzen. Sieh mich an!«

Das letzte war ein zwingender Befehl. In

instinktivem Gehorsam blickte Jaggar auf – nicht zum

König, sondern zur dunklen Gestalt in der Tür. Hilflos

starrte er in das Gesicht.

Serphats Gesicht.

Und während er starrte, löschten die schwelenden

Augen etwas in ihm aus.

3.

Maratha, die Seherin, betrachtete unbewegt das Kind,

Page 33: Die Macht der Götter

das vor ihr zwischen die Kissen gebettet lag. Ihre

blinden Augen nahmen es nicht wirklich wahr, nur ihr

innerer Blick strich liebkosend über das schlafende

Geschöpf.

»Dragomar«, murmelte sie. »Der Sohn des

schlafenden Gottes!« Triumph war in ihrer Stimme. Sie

schien Kraft aus dieser Tatsache zu schöpfen. Der

erschöpfte Ausdruck ihres Gesichts verschwand

langsam. Die tiefen Furchen des Alters glätteten sich

magisch.

Der Morgen kam grau über die östlichen Hügel

Myras. Vielleicht war es die erwachende Sonne, aus der

die Frau ihre Kraft nahm. Aber ihr blindes Gesicht war

nicht dem Osten zugewandt, sondern dem Westen, wo

die Stadt über den Kamm eines Hügels hinweg sanft

anstieg und dann steil zur Küste abfiel.

Dort auf dem Kamm des Hügels stand weiß und

milchig in der Dämmerung der Marmorpalast der

myranischen Könige, in dem Dragon nun schlief mit

einem Lächeln auf den Lippen, und Amee, die neue

Königin Myras, schwach und bleich; neben ihr in einer

kunstvoll geschnitzten Wiege Atlantor, der Knabe,

Dragons Sohn, den sie am Abend geboren hatte.

Das Kind der Königin war es, das Marathas blinde

Augen fesselte. Immer wieder verglich sie ihr eigenes

Kind mit dem Amees. Ihr innerer Blick ließ sie mehr

sehen als gewöhnliche Menschen. Sie sah tief unter die

Page 34: Die Macht der Götter

Oberfläche der Dinge, und wenn es eine Seele gab,

dann blieb sie ihr so wenig verborgen wie das

schlagende Herz oder das Flüstern der Gedanken. Sie

entdeckte keine Unterschiede mehr. Es war derselbe

kleine feuchte Mund, dieselbe Nase, dieselbe Farbe der

Augen, das gleiche Gewicht.

Es waren zwei Söhne Dragons, zwei Söhne Amees,

aus zwei verschiedenen Körpern geboren! Aber nur

äußerlich. Maratha kannte die Schatten des dunklen

Erbes in Dragomar, den magischen Keim in seinem

Blut, der ihn dereinst zu mehr als einem König machen

würde – zu einem wahren Herrscher über die Völker

dieser Erde.

Es war ihr Blut, aus dem diese Macht kam, eine

Macht, die bewies, daß ihre Vorfahren einst den

Göttern nähergewesen sein mochten.

Nur dieser Sohn Dragons war es, der sein Erbe

antreten sollte! Der Erstgezeugte! Dragomar!

Marathas Aufmerksamkeit richtete sich auf die

schlafende Frau in der Kammer neben dem Gemach

der Königin. Es war Iwa, die Hetäre, Iwa, die Heilerin

und Amme der Königskinder von Urgor, die Amee mit

nach Myra gebracht hatte. Iwas Schlauheit würde

schwerer zu täuschen sein als jede andere Person im

Palast. Maratha wußte, daß sie sehr vorsichtig zu Werk

gehen mußte. Es gab noch eine Gefahr im Palast, der

nur schwer mit List zu begegnen war – Yina, das

Page 35: Die Macht der Götter

Mädchen, das die Gedanken der Menschen um sie zu

hören vermochte, und das nicht von Dragons Seite

wich.

Marathas Finger verkrampften sich. Ihr schlimmster

Gegner aber war die Zeit. Sie durfte nicht warten.

Während der nächsten Tage mußte sie ihren Plan

ausführen. Nur für kurze Zeit würden die beiden

Knaben einander so vollkommen gleichen. Wohl hatte

sie Dragomars Gestalt und Aussehen formen können,

solange er noch Teil ihres Leibes war. Aber sie besaß

keinen Einfluß mehr auf ihn, nun da sein eigener

kleiner, noch tastender Verstand es übernommen hatte,

den kleinen Körper zu lenken. Er werde wachsen – und

wachsend, sich verändern.

Und wenn die Götter Amee nicht mit Blindheit

schlugen, dann mußte sie es erkennen, daß es nicht

mehr ihr eigen Fleisch und Blut war, das sie an ihren

Busen hielt.

Nein, es mußte rasch geschehen, so lange das

kritische Auge der Mutter noch nichts Verdächtiges

erkennen konnte. Morgen oder am Tag danach würde

Dragomar in der königlichen Wiege liegen – in einer

Wiege, die wohl die Zukunft der Welt bereithalten

mochte.

Ihr voller Mund zuckte, als wollte sie es laut

beschwören. Ihr Gesicht war glatt und von

ungewöhnlicher Schönheit. Als die Sonne aufging, lag

Page 36: Die Macht der Götter

sie noch immer reglos, verloren in den Bildern ihres

inneren Blicks, in dem Wirklichkeit sich mit

Voraussicht und Träumen mischte.

Sie sah nicht mehr aus wie die alternde Frau, die sie

noch vor wenigen Stunden gewesen war, als die

Geburt ihres Kindes sie eines Großteiles jener Kraft

beraubt hatte, die die Illusion ihrer Jugend und

Schönheit aufrechthielt.

Jemand pochte an ihre verschlossene Tür, aber

Maratha hörte es nicht. Sie war weit fort. Die

Wirklichkeit war erloschen, wie so oft. In ihren weit

offenen Augen winkten die Schatten ihrer Träume wie

in den tiefen Kelchen dunkler Blumen.

Erneut klopfte es, und die Stimme eines Mädchens

sagte zaghaft. »Tomara ist hier, Herrin.« Und mit

einem Anflug von Furcht, als sich nichts regte: »Geht es

euch gut, Herrin? So laßt mich doch ein.«

Sie vernahm die gedämpften Laute eines Kindes

und erschrak. Es war während der Nacht geschehen!

Das Kind war da! Aber warum rührte die Frau sich

nicht?

Ein tiefer mütterlicher Instinkt ließ auch Maratha

das Weinen des Kindes hören. Ihre Lider zuckten. Der

Augenblick, die Bilder des Sehens verschwanden.

Erschöpft fuhr sie hoch, tastete nach dem Kind und zog

es hoch an ihre Brust. Ihre Wangen waren aschgrau,

wie immer, wenn sie aus ihrer Trance kam, ihre

Page 37: Die Macht der Götter

Schönheit welk, als schickte sie mit dem inneren Blick

einen Teil ihrer Kraft hinaus, um den Augen ihrer Seele

Licht zu geben.

Dann vernahm sie die Stimme des Mädchens an der

Tür und ihr verzweifeltes Pochen.

»Herrin! So antwortet doch!«

»Ich komme, Tomara«, murmelte sie mit schwacher

Stimme. Den Knaben an sich gepreßt, erhob sie sich

vom Bett und ging mit erstaunlicher Sicherheit zur Tür.

Sie schob den Riegel beiseite und ließ das

Dienstmädchen ein.

»Oh, Herrin!« rief Tomara. »Den Göttern sei Dank!

Ich dachte schon, es wäre euch etwas geschehen ...«

»Und warst um deinen Lohn besorgt?« erwiderte

Maratha mit einem schwachen Lächeln.

»Herrin, Ihr wißt, daß es nicht so ist ...« Sie

schmollte, aber sie wußte, daß die Frau ihre Dienste

sehr schätzte und der Vorwurf nicht ernst gemeint war.

Vielleicht wurde sie mit ihr gehen, wenn sie Myra

verließ. Sie hatte gesagt, eine wie sie könnte sie schon

brauchen, eine die Augen im Kopf hatte und damit

auch zu sehen wußte.

Ihr Blick fiel auf das Kind. »Ein Knabe, Herrin? Ach,

gebt ihn mir.« Sie griff nach Dragomar, und Maratha

ließ sie lächelnd gewähren. »Eigentlich sollte ich euch

böse sein. Ihr habt alles allein gemacht. Ihr hättet mich

nicht fortschicken sollen heute nacht ...«

Page 38: Die Macht der Götter

»Nun beruhige dich, Tomara« sagte Maratha

lächelnd. »Ich bin sicher, daß auch viele myranische

Frauen ihre Kinder allein zur Welt bringen ...«

»Aber sie sind nicht ...« Das Mädchen schlug die

Hand vor den Mund.

»Sie sind nicht blind, wolltest du sagen?« sagte

Maratha. Sie nickte. »Dein Mitleid ist vergeudet, kleine

Freundin. Ich bin weniger hilflos als manche Sehende.

Aber jetzt schließ die Tür. Wir haben viel vor. Und wir

sind nicht mehr allein ...«

»Sagt Ihr mir, wie er heißen soll, Herrin?« fragte

Tomara und legte den Knaben auf den Tisch. Sie holte

Schüsseln und Wasser.

»Dragomar wird er heißen«, flüsterte Maratha und

setzte sich müde auf das Bett. Aber das wird er nie

erfahren, dachte sie. Denn sie werden ihn Atlantor

rufen. Morgen schon werden sie ihn Atlantor rufen.

»Dragomar«, wiederholte das Mädchen und begann

das quiekende Bündel mit einem Schwamm zu

waschen. »Das klingt nach großen Taten«, sagte sie.

»Mögen die Götter sie ihm bescheren«, sagte

Maratha.

»Eine ist schon getan.« Das Mädchen rümpfte

lachend die Nase.

4.

Page 39: Die Macht der Götter

»Onkel«, sagte der Junge und hielt Dragon am Arm

fest, »über Mädchen laßt sich ja manches sagen, da hast

du recht ...«

»Na warte, Kim ...!« unterbrach ihn das

mausgesichtige Mädchen heftig.

Dragon grinste. »Hört auf zu zanken ...«

»Trotzdem hat Yina recht. Onkel. Du solltest nicht

ohne uns in den Ratssaal gehen. Es ist zu gefährlich.«

»Nun hört zu, ihr zwei. Ich kann nur ein guter König

Myras sein, wenn ich die Gebräuche der Bürger achte,

und eines dieser ungeschriebenen Gesetze verbietet es

Frauen und Kindern, an den Ratsversammlungen

teilzunehmen. Es ist wichtig, daß diese Männer, die

heute versammelt sind, mir und meinen Plänen

zustimmen. Ich will sie überzeugen, nicht mit Befehlen

zwingen. Ich muß ihr Herz und ihre Ehre und ihren

Verstand rühren. Das wird mir nie gelingen, wenn ich

euch da mit hineinnehme. Das ist etwas, das diese

myranischen Männer niemals dulden oder gestatten

würden, außer mit Groll im Herzen. Es wäre sehr

schwer, diesen Groll zu besänftigen. Seht ihr das ein?«

Der Junge nickte.

Das Mädchen sagte: »Natürlich sehen wir das ein,

Onkel. Aber du hast es bereits mehrmals zu spüren

bekommen, daß du nicht nur Freunde, sondern auch

Feinde hast. Einer von ihnen mag dort drinnen sitzen.«

Page 40: Die Macht der Götter

Sie zögerte. »Du brauchst uns einfach, Onkel.«

Er strich ihr übers Haar. »Ich weiß, daß ich euch

brauche«, stimmte er lächelnd zu. »Geht auf den

Balkon, aber bleibt hinter der Balustrade verborgen,

damit euch keiner sieht. Nehmt einen von Cherons

Männern mit. Er kann mich warnen, wenn es nötig sein

sollte. Aber ich denke nicht, daß es jemand wagen

wurde, während der Ratssitzung Hand an mich zu

legen.« Er sah die beiden an. »Zufrieden?«

Yina nickte zögernd.

»Muß man wohl«, meinte der Junge.

Der große Ratssaal war fast voll. Mehr als zwei

Dutzend der myranischen Daikane, der

Provinzstatthalter, waren mit ihren Gefolgschaften

anwesend. Sie alle leckten noch immer an den

Wunden, die Dragons Heer ihnen geschlagen hatte,

aber die wenigsten hegten Groll gegen den neuen

König. Es war nicht ihr Krieg gewesen, sondern Zogors

Feldzug. Sie hatten den Krieg gegen Urgor nicht

gewollt. Es mochte Ausnahmen geben. Aber diese

wenigen sahen wohl ein, daß es besser war zu

schweigen. Sie hatten verloren, und es galt, den Sieger

erst einmal kennenzulernen, seine Stärke

auszukundschaften, vielleicht sogar, ihn in Sicherheit

zu wiegen.

Außerdem hatte dieser Dragon bis jetzt bewiesen,

Page 41: Die Macht der Götter

daß er gerecht war und friedlich. Da er gegen eine

Übermacht gesiegt hatte, konnte er wohl auch nicht

feige sein. Wenn er nur halb der Mann war, der Zogor

nie gewesen war, dann konnte man mit ihm auch

auskommen. Vielleicht hatte er für die eine oder andere

Provinz ein Herz. Die Steuern waren nicht immer leicht

zu erbringen. Sie sahen die Erlasse und Neuerungen in

der Hauptstadt mit anderen Augen. Sicher, an den

meisten Küsten gab es Sklaverei, aber die östlicheren

Provinzen im Landesinnern, meist angesiedelte

Nomadenstämme, die ihr Bewußtsein für Freiheit über

die Jahrhunderte bewahrt hatten, sie hatten nicht viel

übrig für Sklaverei. Sie waren für diesen neuen König.

Und sie wußten, daß er einen starken Arm brauchte,

um seine Ideen durchzusetzen. Dieser Arm würden sie

ihm vielleicht sein.

Wenn er ihnen ein wenig Zeit ließ – denn sie waren

müde, und sie sehnten sich nach ihren Frauen, ihren

vertrauten Problemen, die sie zurücklassen mußten, als

Zogor sie vor Monden an seinen Hof befahl. Beinahe

die Hälfte ihrer Männer war gefallen. Sie würden viel

Trauer nach Hause bringen und keine Botschaft vom

Sieg.

Aber vielleicht Kunde von einem König, der weiser

war und gerechter.

Einer, den die Götter liebten.

Einer, den seine Männer den Schlafenden Gott

Page 42: Die Macht der Götter

nannten.

Wollten die Götter, daß er wach blieb ...

Die zwölf Stadträte waren ebenfalls anwesend. Ihre

Mienen hatten die Verbitterung und die dunklen

Zweifel der letzten Tage verloren, seit sie wußten, daß

die Flotte einmütig hinter dem König stand.

Ihre Situation war sehr einfach geworden: Im Osten

hinter den Hügeln der Stadt lagerte das Heer des

Königs, ein siegesbewußtes Heer noch dazu, das

ständig wuchs, weil es die myranischen Söldner

aufnahm, die nach der Niederlage ihres Heeres und

nach dem Einzug der Eroberer plötzlich brotlos

dastanden. Viele von ihnen hatten nicht viel mehr

gelernt, als eine Klinge zu führen, und das nicht immer

mit Geschick.

Was anfangs Verrat gewesen wäre, wurde immer

mehr ein natürlicher Vorgang – um so mehr, als das

Volk den neuen König deutlich genug fühlen ließ, daß

es ihn als Befreier willkommen hieß.

Diese neuen Gesetze über die Sklaverei – nun, es

blieb noch abzuwarten, wer die anfallende Arbeit tat!

Andererseits hatte der König deutlich genug

verkündet, daß er den Frieden wollte. Das bedeutete,

daß jene, die auf den Feldern gebraucht wurden, in den

Mühlen, den Spinnereien ... daß sie da waren, ihre

Arbeit zu tun, wenn es keine Kriege gab, in die sie

Page 43: Die Macht der Götter

ziehen mußten. Sicher würde der König dulden, daß

noch ein paar Sklaven in den Minen blieben. Niemand

würde verlangen können, daß ein freier Mann in die

Erzstollen stieg.

Und wenn doch der Gerechtigkeitsfimmel des

Königs so weit gehen sollte ... nun, dann würde man

eben guten Lohn bieten müssen. Und einen guten Preis

für das Eisen verlangen können. Der König würde bald

einsehen, daß er sich nur selbst strafte, wenn er für

jedes Schwert in seinen Waffenkammern den

doppelten Preis zahlen mußte.

Wenn die Kapitäne der Flotte es schafften, ohne

Sklaven auszukommen, und ihre Schiffe dennoch

fuhren, dann würde es auch in den Minen gelingen. Bei

den Göttern! Irgendwo war Stolz in der myranischen

Seele!

Selbst in der des Krämers!

Also: im Osten das Heer, im Hafen die Flotte,

dazwischen das jubelnde Volk!

Nur ein Idiot von einem Stadtrat stellte sich gegen

solch einen König – selbst wenn er friedlich war.

Dragon betrat die Ratshalle.

Die Versammelten erhoben sich, bis er am

Thronstuhl Platz genommen hatte. Dann setzten auch

sie sich wieder. Die Daikane und ihre engeren

Gefolgsleute, die sie mitgebracht hatten wie zu Zogors

Page 44: Die Macht der Götter

Zeiten, ein halbes Dutzend an der Zahl, befanden sich

zum erstenmal seit dem Thronwechsel im Palast. Sie

waren ein wenig erstaunt über die Förmlichkeit, mit

der alles seinen Lauf nahm – kein Wein, keine

Tänzerinnen.

Es deutete darauf hin, daß auch kein Blut fließen

würde, und das war ein begrüßenswerter Umstand.

Es war auch das erste, das Dragon anschnitt, denn er

hatte wohl inzwischen erfahren, wie Zogor seine

Ratsversammlungen abzuhalten pflegte.

»Ihr, die Ihr die Würden des Reiches auf Euren

Schultern getragen habt.

Ihr sollt heute frei entscheiden, ob Ihr sie auch

weiter unter meiner Regentschaft tragen wollt. Jeder

soll frei sagen, was er denkt und fühlt, denn das Herz

ist so wichtig wie der Sinn. Jeder wird gehört werden.

Ich weiß von König Zogors festlichen

Zusammenkünften in dieser Halle, bei denen jeder

ausreichend zu trinken, aber nichts zu sagen hatte ...«

Ein allgemeines Gemurmel brandete bei diesen

Worten auf, das zustimmend klang.

Dragon wartete, bis die Männer sich beruhigten.

Dann fuhr er fort: »Es soll zur Sitte werden an meinem

Hof, daß wir mit nüchternen Sinnen die Geschicke des

Reiches beraten – und danach unsere Beschlüsse

begießen, mit dem Blut des myranischen Weines. Das

einzige Blut, das ich gern vergossen sehe ...«

Page 45: Die Macht der Götter

Einige der Männer begannen beifällig auf die Tische

zu pochen. Andere stimmten ein. Es dauerte eine

Weile, bis es wieder still im Saal wurde.

Dragon lächelte. Er nickte.

»Ich sehe, daß wir uns in wesentlichen Dingen

bereits einig sind. Das ist gut. Ich will heute Euren Rat

hören. Es gibt vieles an der myranischen Lebensweise,

das ich noch nicht verstehe. Ihr sollt dies ändern. Und

wir wollen die Dinge besprechen, die Euch am Herzen

liegen. Es soll keiner zu seinem Volk oder seinem

Stamm zurückkehren ohne die Überzeugung, daß man

in Myra die Probleme der äußersten Provinzen ebenso

wichtig nimmt wie jene der Hauptstadt selbst. Der

Schreiber des Hofes, einer der weisen Männer, der

Söhne von Atlantis, wird alles aufzeichnen, was nicht

gleich zu regeln ist. Außerdem ist es mein Wille, daß

jeder Daikan in der Hauptstadt einen ständigen

Gesandten hat, der ihn vertritt: diesem Stellvertreter

sollen ein gutes Dutzend Männer zur Seite stehen, die

die Aufgabe von Botenreitern übernehmen. Für die

Abgesandten, ihre Männer und Familien werden

standesgemäße Häuser bereitgestellt!«

Das fand erneut bei der Mehrzahl der versammelten

Daikane Zustimmung. Es gab ihnen zudem das Gefühl,

daß ein ganz neuer Wind wehte, einer, der ihrem Stand

auch am königlichen Hof den Wert gab, den sie ihm

am häuslichen Herd beimaßen. In ihren Reichen, ihren

Page 46: Die Macht der Götter

Provinzen waren sie die Stellvertreter des Königs, hatte

ihr Wort Gewicht. Es schien vorbei mit der lähmenden,

gefährlichen Willkür eines Zogor oder Ermyas. Es sah

so aus, als sollte ihr Wort das lang entbehrte Gewicht

erhalten.

Die, die es nicht guthießen, waren jene, die

Falschheit witterten, deren Herzen längst im Mißtrauen

kalt geworden waren.

Es wurde eine lange Sitzung – eine der längsten seit

Antritt seiner Regentschaft über das myranische Reich.

Dragons Ideen stießen nicht immer auf Zustimmung.

Es gab heftige Rede und Gegenrede und Vorschläge,

wie es während Zogors Herrschaft nie geschehen war.

Dragon erfuhr vieles auf diese Weise, das ihm fremd

war und das ihm tiefen Einblick in das myranische

Leben gab. Es war wesentlich vielgestaltiger als das

einfache Leben in Urgor. Es lag wohl an der Größe des

myranischen Reiches, an der Vielzahl und

Verschiedenheit seiner Völker und Stämme.

Manche seiner Ideen mußte er zurückstecken, weil

die Vernunft ihm sagte, daß es dafür noch zu früh war.

Aber für die meisten Schritte, die er zu unternehmen

gedachte, vermochte er die Männer zu gewinnen: die

neuen Steuern, das Bündnis mit Katmahzar, dem

Frauenreich im Norden, die Erstellung einer jederzeit

einsatzbereiten Miliztruppe, die im Ernstfall dem

König unterstand, die Errichtung von Schulen, an

Page 47: Die Macht der Götter

denen die weisen Söhne von Atlantis unterrichten

sollten, und eine Menge anderes mehr.

Was Yina und Kim und sicherlich auch Dragon

befürchteten, trat nicht ein. Die Gedanken des

Mädchens forschten immer wieder suchend in der

Menge, unermüdlich. Keine Mörderseele saß da unten

im Saal. Für die anwesenden Männer war der König

einer der ihren geworden. Symbolisch saß er mit ihnen

am Lagerfeuer oder an der heimatlichen Festtafel.

Mitternacht war längst vorbei, als Dragon fühlte,

daß genug geredet war. Er ließ den versprochenen

Wein bringen, und reichlich zu essen. Dann verlangte

er, daß die Männer ihm myranische Lieder singen

sollten und von ihren Taten berichten. Das fand

begeisterte Zustimmung. Ein Barde aus Morandik, der

nordöstlichsten Provinz wurde vor den Thron

geschoben, wo er nach einer tiefen Verneigung an den

Saiten eines lautenähnlichen Instrumentes zu zupfen

begann und eine traurige Erzählung anhub, in der von

einem Krieg die Rede war, in den ein junger Krieger

zog; in dessen Verlauf eine Stadt erobert wurde, in der

man tötete, und schändete und brandschatzte ohne

Erbarmen. Es war die Eroberung einer Stadt, bei der

ein Heerführer des Königs den Zorn des Totengottes

Amyron auf sich lud.

Dragon lauschte fasziniert, denn er war sicher, daß

es die Eroberung Dans durch Kelkaris Heer war, die

Page 48: Die Macht der Götter

der Barde in blutigen Einzelheiten beschrieb. Doch da

war kein Triumph über den Sieg. Die Zuhörer

schwiegen grimmig und betroffen. Die meisten von

ihnen waren nicht in Dan gewesen, sondern mit Zogors

Heer gegen Urgor gezogen. Und solcherart hatten sie

den myranischen Triumph, die Eroberung Dans, noch

nicht gesehen. Sie wußten alle, daß der Barde den

Untergang Dans besang, denn es gab keinen im ganzen

Heer, der nicht inzwischen vom unrühmlichen Ende

Kelkaris durch die Hand des Totengottes erfahren

hatte.

Während dies im Palast geschah, saßen vier Männer in

einer dunklen Kammer in einem anderen Teil der

Stadt. Die von einer einzelnen Kerze spärlich erhellte

Kammer befand sich in einem runden, aus groben

Steinblöcken gebauten Turm, der wie ein drohender

Finger über die ärmlichen Häuser dieses Stadtteils

emporragte. Er war einst Teil eines alten Tempels

gewesen, an dessen Altären man zu Mis betete, der

Göttin der Schlange. Aber das war vor langer Zeit

gewesen, als die Menschen Myras noch barbarischer

waren und Blutbande mit ihren Göttern knüpften.

Heute betete oder starb niemand mehr in Mis‘

Tempeln. Sie waren Ruinen aus einer älteren Zeit, als

die meisten sich vorzustellen vermochten.

Der Rest des Tempels waren von Büschen und

Page 49: Die Macht der Götter

Unkraut überwachsene Ruinen. Nur dieser eine Turm

stand noch, und die Menschen mieden ihn und

verriegelten ihre Türen, wenn sie nachts Licht in den

kahlen Fensteröffnungen bemerkten.

Arzan Shor hauste in diesen Mauern, in denen

jahrtausendealte Kräfte und Geheimnisse schlummern

mußten, bereit, zu erwachen für jenen, der wagemutig

genug war, die Hand danach auszustrecken.

Arzan Shor war es – ein Magier, der mehr von den

Göttern der Alten wußte und ihren Kräften, als die

meisten ertragen hätten. Er war machtgierig, und er

war Geheimnissen auf der Spur, die ihm bald diese

Macht geben würden. Macht über den König und das

Reich. Macht über die Menschen, selbst ihrer

Gedanken.

Er war ein viel zu großer, viel zu dunkelhäutiger

Mann, um in Myras Grenzen geboren zu sein. Die

Menschen, die von ihm wußten, bezweifelten, ob er

überhaupt geboren worden war. Er mußte aus dem

Süden kommen, wo die Menschen schwärzer wurden –

und nicht nur äußerlich.

Ein spitzer Bart stieß am Kinn abwärts wie ein

silberner Dolch. Seine Nase war geknickt und verlieh

ihm zusammen mit den stechenden Augen etwas

Habichtartiges. Er war inkarnierte Düsternis in dem

flackernden Kerzenlicht, ein Eindruck, den der

schwarze Mantel noch verstärkte und die Kapuze, die

Page 50: Die Macht der Götter

weit vorgezogen war und Stirn und Augen in Schatten

hüllte.

Die drei Männer, die mit ihm saßen, ebenfalls in

dunkle Kapuzenmäntel gekleidet, schienen seine

Gehilfen.

Und sie hatten Furcht vor ihrem Herrn. Sie stand

deutlich in ihren Gesichtern.

Die Hand des Magiers zuckte vor wie eine Klaue.

Die drei Männer fuhren zurück und ließen den Blick

nicht von den Fingern, die sich zur Faust schlossen. Als

der Magier die geballte Faust zurückzog, beugten sich

die Oberkörper der drei Männer nach vorn, als hingen

sie an unsichtbaren Fäden daran.

Als er die Faust öffnete, zuckten sie zurück. Bleich.

Arzan Shor lachte. »Das ist nur ein Anfang. Unsere

Macht wird unermeßlich sein. Zamoc schien sie zu

besitzen, aber er war zu schwach. Noch jemand ist in

der Stadt, der ein wenig davon besitzt. Ich spüre es.

Aber jetzt greifen wir nach dieser Macht. Und der

König ist der Schlüssel. Ihn brauchen wir. Es wäre

falsch, jetzt nicht alles zu wagen. Freiwillig würde uns

der König den Inhalt seines Schädels nicht in den

Schoß leeren. So müssen wir einen Blick hineinwerfen.«

Er sah seine Gefolgsleute an, denen dieser Gedanke

Furcht einzuflößen schien. Den König entführen war

schon Wahnwitz genug. Aber sie wußten, daß Arzan

Shor über Leichen gehen würde, und daß sie die ersten

Page 51: Die Macht der Götter

dieser Leichen wären, wenn sie sich ihm in den Weg

stellten.

Aber auch sie lockte die Macht, die an der Seite des

Magiers die ihre sein würde.

»So trefft jetzt die Vorbereitungen. Heute nacht noch

soll es geschehen. Ich habe eben erfahren, daß der

König die Ratssitzung beendet hat und nun mit den

Männern zecht.« Er lächelte. »Er wird müde sein. Die

Gelegenheit ist günstig.«

»Aber ... wer soll es tun, Meister?« fragte einer der

Männer.

»Es gibt in ganz Myra nur einen, der es wagen

könnte, den König aus seinem Palast zu entführen, und

dem es auch gelingen mag – El Dschafar.«

»El Dschafar!« entfuhr es den Männern. »Er ist der

selbstsüchtigste Mann des Reiches ...«

»Außer mir«, unterbrach ihn Arzan Shor grinsend.

»Er weiß nichts von unserem wirklichen Plan ...«

»Und er hat zugestimmt?«

Der Magier nickte.

»Wie könnt Ihr seiner Loyalität nur sicher sein?«

meinte einer der Männer.

Arzan Shor lächelte. »Er wird mich nicht betrügen.

Er kann es nicht. Ich habe vorgesorgt.«

Page 52: Die Macht der Götter

5.

Eine gute halbe Stunde zu Pferd nördlich der Stadt lag

ein Schiff vor Anker, ein bauchiger Kauffahrer. Er

schien die Bucht gut zu kennen, sonst wäre er nicht um

Mitternacht eingelaufen. Wenige wagten das, denn die

Untiefen waren tückisch.

Mehrere kleine Boote hatten an seiner Seite angelegt.

Zahlreiche Fackeln erhellten die Szene. Das Schiff

wurde entladen.

Ein Stück oberhalb der spitzen Küstenfelsen standen

zwei Dutzend Zelte, zwischen denen mehrere große

Feuer brannten.

Der Mann, der von den vordersten Felsen aus in die

Bucht hinabstarrte, war mittelgroß und dicklich. Er

hielt die Hände am Rücken umschlossen Die dunklen

Augen in dem runden Gesicht funkelten im Fackellicht,

und sein Mund verzog sich mißmutig unter dem

langen, nach außen gezwirbelten Schnurrbart, als er

sah, was von Renors Schiff in die Boote verladen

wurde. Mädchen!

Und der König hatte die Sklaverei verboten!

Niemand würde in Myra wagen, Sklavinnen zu

kaufen. Was bedeutete, daß er sie in den Süden bringen

mußte, um sie loszuwerden. Das minderte die

Page 53: Die Macht der Götter

Gewinnspanne beträchtlich. Zudem war es mit

Gefahren verbunden, da König Jellis‘ Piraten die

südlichen Meere unsicher machten.

Er seufzte. Es würde eine Weile dauern, bis alle

seine Mittelsmänner erfahren hatten, daß menschliche

Ware vorerst mehr Schwierigkeiten als Gewinn

brachten.

Ein Großteil der Lichter erlosch auf dem Schiff,

während die Boote an Land ruderten. Der Mann auf

den Felsen wandte sich um und schritt auf eines der

Feuer zu. Seine Männer machten ihm Platz. Er

wechselte ein paar Worte mit ihnen, und sie lachten, als

sie hörten, welche Fracht das Schiff brachte.

Als die Männer mit den Gefangenen den Lagerplatz

erreichten, ging der Mann ihnen entgegen und deutete

auf sein Zelt. Die Männer, die die Fracht in ihren

Booten geholt hatten, setzten sich ans Feuer zu den

übrigen. Die gefangenen Frauen, sechs an der Zahl,

wurden in das Zelt des Anführers gebracht. Ihnen

folgte ein hochgewachsener Mann in einem blauen

Wams und hellen Beinkleidern mit einem krummen

Schwert an der Seite und, was ihn von allen anderen

unterschied, einem schwarzen, breitkrempigen Hut,

der sein langes, schwarzes Haar in keiner Weise

bändigte. Ihn begleiteten vier seiner Männer. Sie

nickten jenen am Feuer grüßend zu. Sie würden bald

bei ihnen sitzen. Wenigstens eine

Page 54: Die Macht der Götter

Weile.

Der Anführer des Lagers empfing den Hutträger mit

einem süßsauren Seitenblick auf die Gefangenen, die

gleichmütig, mit Ketten an Händen und Füßen,

zwischen ihren Wächtern standen. Sie waren alle sehr

jung, zwischen fünfzehn und zwanzig Sommer. Sie

trugen knöchellange seidene Röcke und schmale

Oberteile. Sie wirkten kraftvoll, muskulös. Es war

wenig Zartes an ihnen trotz der reizvollen Kleidung.

»Na«, meinte der mit dem Hut. »Sag nur, sie

gefallen dir nicht, Dschafar!«

Der Anführer, El Dschafar, nickte nachdenklich. Da

war eine unter ihnen, die ihm ins Auge stach. Er wußte

nicht, was es war, das ihm so besonders gefiel. Aber es

war etwas an ihr – vielleicht die Art und Weise des

Protests in ihren Augen – oder das Raubtier, das in ihr

zu schlummern schien, so wie sie dastand.

»Sie sind Katmahzari, nicht wahr, Renor?«

Der mit dem Hut stimmte zu. »Allerdings, sie sind

Amazonen. Und sie haben großes Temperament. Wir

überquerten den Sakyra, als sie uns angriffen, ein

ganzes Dutzend. Sie waren auf dem Weg nach Akyrja.

Sie haben gekämpft wie die Teufel. Wenn sie die

Freuden des Bettes nur halb so gut ...«

El Dschafar unterbrach ihn: »Es war ein guter Fang,

gewiß. Das will ich dir gar nicht bestreiten.« Sein Blick

wanderte wieder zu der jungen Kriegerin, die nun so

Page 55: Die Macht der Götter

unkriegerisch wirkte und doch voll mühsam

kontrollierter Wildheit war. Es mußte reizvoll sein, sie

zu zähmen, dachte er. Er bemerkte Renors Blick und

wandte sich rasch von der Gefangenen ab.

»Du hast von dem neuen König und seinen

Gesetzen gehört?« begann er. »Du warst lange fort,

mehr als zwei Monde.«

Renor winkte ab. »Ja, ich weiß, daß im ganzen Reich

die Sklaverei abgeschafft wurde. Aber der Arm des

Königs ist kurz, wenn auch sein Ruf weit dringt, und

die Menschen sind es gewöhnt, zu befehlen. Sie

werden aufwachen, wenn plötzlich niemand mehr da

ist, den sie treten können. Ich sage dir, Dschafar, das

geht rasch zu Ende. Entweder der König, oder das

Gesetz, oder beides. Und wenn alle die Freiheit

gerochen haben, wird es schwierig sein, sie wieder

einzufangen. Nichts wird so begehrt sein wie

Sklavinnen. Deshalb ließ ich sie nicht wieder laufen.

Ich dachte, freilassen kannst du sie noch immer, wenn

es dir zu heiß wird.«

»Ungern«, erwiderte Dschafar. »Wenn ich etwas

einmal in meinen Fingern habe, gebe ich es nur ungern

wieder her, ohne daß Münzen klimpern.« Er schüttelte

den Kopf. »Aber diesmal ist es zu gefährlich. Die

Eroberer haben ein Bündnis mit den Katmahzari.

König Dragon will dieses Bündnis auf Myra erweitern.

Wir können nicht gut unsere Verbündeten als

Page 56: Die Macht der Götter

Sklavinnen verkaufen, wenigstens nicht, solange der

König ein Auge auf die Dinge hat.«

Renor nickte langsam. »Du hast recht. Was schlägst

du vor?«

»Sie können nicht hierbleiben. Meine Männer

würden die Finger nicht von ihnen lassen. Dagegen

habe ich zwar an und für sich nichts einzuwenden.

Aber die meisten würden vergessen, daß sie

Kriegerinnen vor sich haben und hätten den eigenen

Dolch im Leib, bevor der Spaß noch richtig losgeht.

Nein ... bring sie aufs Schiff zurück.«

Renor zuckte die Achseln. »Du bist der Herr.«

»Ich hätte sie behalten, wenn du sie aus Balava oder

sonst wo herhättest. Aber Katmahzari ...!« Er schüttelte

den Kopf. »Nicht einmal König Zogor hätte sie gekauft,

und der war an allem interessiert, was Röcke trug. Was

hast du noch?«

»Perlen«, erklärte Renor. »Aus Balava. Wein, auch

aus Balava. Aber damit hast du dich noch nie

abgegeben. Sie sind zudem gekauft ...« Er grinste.

»Nichts für El Dschafar, den Dieb.«

Dschafar erwiderte das Grinsen. »Wann fährst du

ab?«

»Noch heute nacht, mein Freund.«

Dschafar nickte. »Wohin?«

»In den Süden. Nach Sabar vielleicht. Von dort

brachte ein Händler Samenkörner mit, deren Genuß

Page 57: Die Macht der Götter

ihm Träume bescherte, wie er sie noch nie gesehen

hatte.«

»Bring mir davon«, sagte El Dschafar. »Nimmst du

sie mit?« Er deutete auf die Kriegerinnen.

Renor nickte. »Sie werden ihren Preis bringen. Was

sie im Süden an Sklavinnen schätzen, ist die helle

Haut.«

»So laß mir die hier.« El Dschafar deutete, auf das

Mädchen, das er schon die ganze Zeit über beobachtet

hatte.

Renor nickte grinsend. »Der übliche Preis?« fragte er

dann lauernd. Als Dschafar zustimmte, atmete er auf.

»Wenn ich dir einen Rat geben darf, mein Freund:

Laß sie nicht aus den Ketten. Sie ist ein Teufel.«

El Dschafar lachte. »Haben es deine Männer

ausprobiert, Renor? Oder vielleicht du selbst?«

»Du weißt, daß wir deine Ware nicht angreifen«,

erwiderte Renor. »Aber wir hatten Mühe, mit ihnen

fertig zu werden. Die Röcke zogen sie nur an, weil ich

ihnen drohte, meine Männer würden ihnen den

Harnisch vom Leib reißen. Sie verabscheuen nichts

mehr als die Berührung durch Männer.«

El Dschafar nickte und betrachtete das Mädchen,

das seine Blicke kalt erwiderte. »Eine wie sie könnte ich

an meiner Seite gebrauchen.« Seiner Stimme war nicht

zu entnehmen, ob er es ernst oder im Scherz meinte.

Renor lachte und gab seinen Männern einen Wink.

Page 58: Die Macht der Götter

Sie schoben die heftig widerstrebenden Mädchen nach

draußen. »Wir segeln gegen Morgen. Meine Männer

waren lange unterwegs. Gewährst du ihnen Platz an

deinen Feuern?«

El Dschafar nickte abwesend. »Sie sind willkommen

in meinem Lager.« Er hatte nur Augen für das

Katmahzari-Mädchen, das stolz vor ihm stand. Er

wußte nicht allzu viel von den Amazonen. Sie waren

nicht die ersten, die er gesehen hatte. Aber von ihrer

sprichwörtlichen Wildheit hatte er nur gehört. Er

wußte, was jedermann über sie wußte: daß sie

kriegerisch waren und derb, und daß sie Männer

verachteten; daß es das Wort Liebe nicht gab in ihrer

Sprache; und wehe den Männern, die ihnen im

Frühsommer in die Hände fielen. Was dann geschah,

darüber gingen die Meinungen auseinander. Es gab

jedenfalls keinen, der darüber bisher berichtet hatte.

Händler und fahrende Sänger erzählten von seltsamen

Bräuchen in den Grenzgebieten, von

Nomadenstämmen, die im Mond des Adlers und der

Schlange tief in das Katmahzari-Gebiet zogen, während

die Frauen und Mädchen zurückblieben.

Er streckte vorsichtig die Hand nach ihr aus. Sie

stand reglos, bis er sie an der Schulter berührte. Sie

zischte ein Wort, das er nicht verstand, das aber nicht

viel Gutes bedeuten konnte. Sie spuckte ihn an, aber er

war rascher. Er faßte sie am Haar und riß ihren Kopf

Page 59: Die Macht der Götter

zurück.

»Kleine Bestie«, sagte er grinsend. Er beugte sich

über sie und preßte seinen Mund auf ihren. Trotz der

Ketten gelang es ihr, sich loszureißen. Im nächsten

Augenblick gruben sich ihre Zähne in seine Hand, die

noch immer die schwarzen Strähnen ihres Haares hielt.

»Aahhh! Miststück!« Er stieß sie von sich und preßte

sein blutendes Gelenk mit der anderen Hand. Aber das

Grinsen verschwand keinen Augenblick aus seinem

Gesicht. »Schade, daß du mich nicht verstehst. Ich

könnte dir sagen, wie ergötzlich dein Widerstand ist.«

Er griff blitzschnell nach dem schmalen Tuch an

ihren Brüsten und riß es mit einem Ruck nach unten.

Sie stand stolz und mit verachtungsvollem Blick,

während er sie wohlgefällig musterte. Sie war es

gewohnt, entweder im Harnisch oder nackt zu

kämpfen. Die Feinde waren fast immer männlich.

Scham im Sinne eines myranischen Mädchens war ihr

fremd. Sie hatte nur Verachtung für die männlichen

Begierden. Geringschätzung.

Sie duckte, sich abwehrbereit, als er erneut nach ihr

griff. Sie zerrte an den Ketten, obwohl es nutzlos war.

Das hatte sie auf dem Schiff längst erfahren. Es war

eine instinktive Bewegung – die eines Kämpfers, nicht

die eines Mädchens.

In diesem Augenblick kam jemand in das Zelt.

Wütend fuhr El Dschafar herum. Eine in einen

Page 60: Die Macht der Götter

schwarzen Kapuzenmantel gekleidete Gestalt stand vor

ihm. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Jähe

Erkenntnis verzerrte seine Züge. Seine Rechte sank an

den Gürtel und umklammerte den Griff des Dolches.

Aber er zog ihn nicht. Der Fremde starrte ihn nur an.

Das Mädchen sah verwundert, daß El Dschafar wie

fasziniert dem Blick des Schwarzgekleideten

begegnete – und nicht mehr loskam. Sie hatte selbst

Mühe, ihren Blick loszureißen.

»Es ist Zeit«, sagte die dunkle Gestalt.

»Ja«, erwiderte El Dschafar mit einem Gehorsam,

der der Katmahzari noch seltsamer erschien. Was ging

hier vor?

»Du kennst den Turm?« Es war keine eigentliche

Frage, die der Schwarze stellte, mehr eine Feststellung.

»Ja.«

Der Schwarze nickte. »Dort schaffst du ihn hin. Aber

nur wenn du sicher bist, daß du alle Verfolger

abgeschüttelt hast.«

»Ja«, erwiderte Dschafar mit leblos klingender

Stimme.

Der Schwarze nickte erneut. Mit einer seltsamen

Bewegung seiner Hand bedeckte er kurz seine Augen.

Dann wandte er sich um und verließ das Zelt, während

El Dschafar wie aus einem Traum zu erwachen schien.

Benommen starrte er das Mädchen an. Sie bemerkte

die Angst in seinem Gesicht. Einen Augenblick schien

Page 61: Die Macht der Götter

es, als wollte er sie etwas fragen, doch dann besann er

sich darauf, daß sie ja seine Sprache nicht verstand.

Wie unter einem Zwang ging er zum Zelteingang.

»Bardoc! Mengor! Selak!«

Drei Männer kamen kurz darauf in das Zelt, alle wie

Dschafar gekleidet – in weiße Beinkleider und bunte

Hemden, die sie vorn geknotet hatten. Den Kopf

bedeckte ein weißes dickgerolltes Tuch. Breite

Ledergürtel hingen lose um die Hüften und hatten

offenbar nur den Zweck Schwert und Dolch zu tragen.

»Sucht ein Dutzend Männer zusammen. Wir haben

einen Auftrag«, erklärte El Dschafar.

Die Männer nickten und wollten sich entfernen.

»Und bringt mir einen, der sich im Palast auskennt«,

rief er ihnen nach.

Einer von ihnen stieß einen anerkennenden Pfiff aus.

»In den Palast brechen wir ein?«

»Ja«, meinte Dschafar ungeduldig. »Und wir haben

keine Zeit zu verlieren.«

Als die Männer das Zelt verlassen hatten, schritt der

Anführer unruhig auf und ab. Das Mädchen schien er

vergessen zu haben.

Nach längerer Zeit erschien einer der drei wieder

und stieß einen Mann ins Innere, der zu Boden fiel, als

er ihn losließ und Mühe hatte, wieder auf die Beine zu

kommen.

»Endlich, Bardoc«, rief Dschafar aus, als bedeutete

Page 62: Die Macht der Götter

es ihm großes Unbehagen, zu warten.

Bardoc deutete auf die torkelnde Gestalt. »Melis ist

der einzige, der den Palast kennt. Aber er ist

vollkommen betrunken.«

Dschafar stierte auf den erbleichenden Melis, dem

zu dämmern schien, daß sich die Sache um ihn drehte,

und daß gleich etwas geschehen würde.»Ich lasse den

Hund nüchtern peitschen!« rief er.

»Ich fürchte, das wird nicht viel helfen, Dschafar«,

wandte Bardoc ein.

Melis hob abwehrend die Arme und stammelte mit

furchtgeweiteten Augen: »A-all-lles klar! Ichwwwerde

euch fühhh-ren!« Damit klappte er zusammen, und

selbst Dschafar schien einzusehen, daß er auch auf

schmerzliche Art ernüchtert keine große Hilfe sein

würde.

»Es muß ohne ihn gehen«, sagte er gepreßt. »Sind

die Männer bereit?«

»Sie sind es, Dschafar.«

»Gut. Dann wollen wir nicht zögern ...«

»Herr!« rief das Mädchen, und die Götter waren

Zeugen, daß ihr dieses, Herr nicht leicht fiel. »Ich weiß

im Palast Bescheid!«

Dschafar fuhr herum. Er starrte sie verblüfft an. Sie

hatte im besten Myranisch gesprochen. Das

beeindruckte ihn im ersten Augenblick weitaus mehr

als die Tatsache, daß sie sich im Palast auskannte.

Page 63: Die Macht der Götter

»Nergins Bart!« entfuhr es ihm. Auch Bardoc sah

das Mädchen erstaunt an.

»Es ist wahr, Herr«, fuhr sie rasch fort. »Ich bin nicht

zum erstenmal in Myra. Ich war Zogors Sklavin. Und

die Würmer mögen dafür an seinen Gebeinen fressen!«

»Das tun sie«, erwiderte Dschafar.

Ihre Augen schienen lebendig zu werden. »Nimm

mir diese Ketten ab, Herr. Und laß mich diese Röcke

ausziehen. Sie sind einer Kriegerin unwürdig. Ich

werde dir niemals ein Weib sein, aber wenn du eine

gute Klinge brauchst ... der Mann, der mich brachte,

wird dir sagen, daß ich sie zu führen weiß.«

»Eine Sklavin am Hof, hm?« murmelte Dschafar

nachdenklich. Er schwankte, denn sie schien ihm als

Frau begehrenswert, aber er wußte, daß sie eine

Katmahzari war, die seine Gefühle niemals erwidern

würde. Und die Zeit drängte.

»Gut«, stimmte er zu. Zu Bardoc sagte er: »Hol

Solac. Er soll ihr die Ketten öffnen. Und schaff mir

diesen Idioten vom Hals!« Er trat mit dem Fuß nach

dem schnarchenden Melis.

Dann sah er zu, wie der Schmied dem Mädchen die

Ketten öffnete. Er beobachtete, wie sie auflebte, als die

Eisen fielen. Seltsamerweise fühlte er sich weniger frei

als das Mädchen in diesem Augenblick. Er spürte, daß

ihn etwas fesselte – etwas nicht aus Eisen.

»Du bist geflohen?« fragte er sie.

Page 64: Die Macht der Götter

»Ja ... Dschafar.«

»Wie heißt du?«

»Dajna.«

»Bardoc, laß ihr Kleider und Watten bringen.« Als

alle das Zelt verlassen hatten, sagte er zu dem

Mädchen, das sich hastig der langen Röcke entledigte.

»Merk dir eines, Dajna. El Dschafar hat noch nie etwas

bereut.« Es lag eine deutliche Drohung in der Stimme.

Sie gab keine Antwort. Sie dachte über die Ironie

nach, mit der das Schicksal sie gestraft hatte. Vor

einigen Monden war sie nach Myra gekommen und

hatte sich als Sklavin ausgegeben, um König Zogors

Absichten zu erfahren, denn die Königin befürchtete

einen myranischen Angriff. Als geheime

Kundschafterin war sie an Zogors Hof gekommen.

Und als der König sie fragte, wer sie gefangen hatte, da

hatte sie ihm geantwortet: El Dschafar, der Dieb. Und

nun, wenige Monde nach ihrer Flucht befand sie sich

wahrhaftig in El Dschafars Hand. Und wieder kam sie

in den Palast!

Die Wege des Schicksals waren in der Tat

bemerkenswert.

Aber nun schien die Zeit der Demütigung vorbei.

Eine gute Klinge war wieder in ihrer Hand. Mit ihr

konnte man schon ein wenig beitragen zum Lauf des

Schicksal.

Der Reiter, der von Nordosten in die Stadt kam, war

Page 65: Die Macht der Götter

lange unterwegs gewesen. Er war müde, und sein

Pferd nicht minder. Die dunkle, schlafende Stadt war

auch nicht dazu angetan seine Lebensgeister

aufzumuntern. Einmal an der Stadtgrenze hielten ihn

Wachen an – keine myranischen Soldaten, sondern

Krieger, wie er sie schon jenseits des Euphir gesehen

hatte. Krieger aus Urgor, gegen die Myranien in den

Krieg gezogen war – ohne ihn, El Haleb, den Fürsten

der Silikerstämme und einstigen Daikan des Reiches.

Seit seiner Flucht aus dem Palast des Königs waren

Monde verstrichen. Er hatte versucht, mit einem Schilf

den Göverfluß zu erreichen. Aber überall an der Küste

waren des Königs Schergen. Und die große Flotte war

nach Dan unterwegs gewesen. Ihren

Küstenkontrollenwäre auch nicht der kleinste Segler

entkommen.

So war nur der Landweg geblieben. Dazu mußte er

den Tälern nach Norden folgen, um an die Straßen

nach Osten zu gelangen. Es war ein Weg von Monden

bis zu den Quellen des Göver. Und das ganze Land

schien lebendig von Zogors Soldaten. Es war ein

ständiges Versteckspiel. Seine Gefährten starben bei

einem nächtlichen Überfall auf ihr Lager. Mit einem

Dutzend der besten war er nach Myra gekommen. Ihr

Blut war sinnlos vergossen worden von einem König,

dem ein Leben wenig bedeutete. Er kam ohne sie heim,

und ohne Amt und Ehren. Das war etwas, das seinen

Page 66: Die Macht der Götter

Weg schwer machte und beschwerlich. Es war Kunde

von Tod und Untergang, die er heimbrachte zu seinen

Stämmen. Ihnen blieb nur die Flucht. Nach Jahren der

Wanderschaft aus dem Osten mußten sie nun wieder

fort. Denn König Zogor würde nicht ruhen, bis kein

Siliker mehr am Göver atmete, wenn dieser Krieg erst

vorbei war.

Aber dann kamen die ersten Nachrichten von der

Niederlage des myranischen Heeres und von Zogors

Tod. Versprengte Soldatentrupps, die auf dem

Rückmarsch waren, entweder in ihre Heimat oder zur

Hauptstadt berichteten davon.

Zogor war tot, das Heer geschlagen. Myra verloren.

An einen, den sie jenseits des Euphir einen Gott

nannten.

Dragon.

Dann war nicht alles verloren – das waren El Halebs

erste Gedanken gewesen. Der neue König würde

Verbündete brauchen. Einem Siliker war es gleich, ob

ein Myraner oder ein Urgorit über Myranien herrschte.

Er kam selbst aus dem Osten, wie seine schrägen

Augen und die hohen Backenknochen bewiesen. Seine

Loyalität galt dem, der ihn in Frieden leben ließ.

Das war der Grund, warum sich El Maleb auf den

Weg nach Myra machte. Er wußte, es würde nicht

leicht sein, den neuen König von seiner Willigkeit zu

überzeugen. Schließlich hatte er sich offen gegen Zogor

Page 67: Die Macht der Götter

gestellt, ihn sogar zu töten versucht. Und war Dragon

auch Zogors Feind, so würde es nicht einfach sein, ihm

zu beweisen, daß es nichts mit Untreue zu tun hatte,

sondern mit der Notwendigkeit zu überleben.

Die Wachen ließen ihn ohne Behinderung durch, als er

ihnen sagte, wer er sei und was er wollte. Er erfuhr,

daß er um wenige Stunden zu spät gekommen war, um

an der großen Ratsversammlung der Daikane

teilzunehmen.

Deshalb ritt er trotz seiner Müdigkeit durch die

schlafende Stadt, um in einer der Schenken am Hafen,

die bis zum Morgen geöffnet waren, noch Neuigkeiten

aufzuschnappen und etwas über den neuen König zu

erfahren.

Er begegnete einem weiteren Wachtrupp,

myranische Soldaten diesmal, die grüßend an ihm

vorbeiritten, als der Anführer ihn erkannte. Er erfuhr,

daß es sich um eine mehrerer Patrouillen handelte, die

nachts mehrmals durch die Straßen ritten, um für Ruhe

und Ordnung zu sorgen.

Das war El Haleb völlig neu. Denn unter Zogors

Herrschaft hatte es wohl auch nächtliche Patrouillen

gegeben, aber in der Regel nur, um irgend welche

Opfer aufzuspüren, denen der König an den Kragen

wollte.

Er erreichte die gewundene Straße des Glanzes, die

Page 68: Die Macht der Götter

über den Berg der Könige führte, unterhalb des

Palastes vorbei und nicht weniger gewunden hinab

zum Hafen. Sie war eine der gepflegtesten Straßen

Myras, beidseitig eingesäumt von Olivenbäumen, bis

hinab zwischen die eng aneinandergedrängten

Steinhäuser im Hafen.

El Haleb erreichte den Kamm des Berges. Das Meer

lag zu seinen Füßen mit da und dort einem der

Tavernenlichter als Spiegelbilder in dem schwarzen

Wasser. Er atmete auf. Der lange Ritt war zu Ende. Zu

seiner Linken strebte der Palast in den Himmel,

dunkel, lichtlos. Ein steiler Serpentinenweg führte zu

seinen Toren hoch. Er dachte an seinen Gang zum

König, der ihn morgen über diesen Weg führen würde.

Während er noch starrte, sah er mehrere Gestalten

den Weg hochhuschen – gebückt und vorsichtig. Ein

gutes Dutzend glaubte El Haleb in der Dunkelheit

unterscheiden zu können. Ihn hatten sie offenbar nicht

bemerkt. Ihre Aufmerksamkeit war auf die Wachen am

Palasttor gerichtet, die die Gefahr noch nicht erkannt

hatten.

El Haleb stieg ab. Er wußte nicht, was die Männer

vorhatten. Aber es war deutlich genug, daß sie in den

Palast eindringen wollten. El Haleb war im

allgemeinen nicht der Mann, der sich in fremde

Angelegenheiten mischte, aber er brauchte das

Vertrauen des Königs, und dies mochte ein günstiger

Page 69: Die Macht der Götter

Augenblick sein, ein wenig davon zu gewinnen.

Er hätte niemanden aufgehalten, der aus dem Palast

geflohen wäre. Seine eigene Flucht an der Seite dieses

Katmahzarimädchens saß ihm noch zu tief in den

Gliedern. Er wußte, daß es viele Gründe geben mochte,

um aus dem myranischen Königspalast zu fliehen.

Aber die hier wollten hinein!

Vielleicht versuchten sie jemanden zu befreien.

Seine Müdigkeit war verflogen. Er mußte aus nächster

Nähe sehen, was dort vorging.

Ein halberstickter Aufschrei drang durch die stille

Nachtluft an sein Ohr. Dann nichts mehr.

El Haleb sah plötzlich, daß die Wachen

verschwunden waren. Gleich darauf bemerkte er drei

Gestalten am Tor.

Als es sich öffnete, setzte er sich in Bewegung. Er

kannte einen zweiten Eingang in das Gebäude, der

zwar nicht weniger schwierig und gefährlich war, aber

der ihn nicht mit dem Dutzend Männer in Konflikt

bringen würde, die vor den Palasttoren in den Büschen

und Felsen kauerten.

6.

Page 70: Die Macht der Götter

Yina erwachte.

Sie schwitzte trotz der Kühle in ihrem Zimmer. Sie

wußte instinktiv, daß eine drohende Gefahr sie

geweckt hatte. Sie unterdrückte das erste Verlangen,

Kim und Kano zu wecken. Das konnte sie noch immer

tun. Sie hatten nur ein paar Schritte weit zu Dragons

und Amees Gemächer. Wenige Augenblicke würden

genügen, um Dragon zu wecken und zu warnen.

Sie mußte erst herausfinden, was überhaupt

geschah. Die Eindrücke waren verschwommen. Sie

versuchte sich zu konzentrieren, aber die fremden

Gedanken waren zu weit weg. Sie lauschte. Bis auf das

unverständliche Flüstern in ihrem Kopf war alles still.

Rasch erhob sie sich. Sie hob das lange

Nachtgewand hoch und eilte zum Fenster. In der

Dunkelheit war nichts zu sehen. Zwischen den Bäumen

regte sich nichts. Myra lag dunkel weit unter ihr.

Sie zog das weiße Nachthemd aus und kleidete sich

an. Kim! Kano! dachte sie scharf.

Die beiden Jungen hörten sie nicht sofort. Sie rief

erneut.

Verschlafen antwortete Kano: Was ist, Maus?

Ich weiß es noch nicht.

Und deshalb weckst du mich?

Mich auch, dachte Kim unfreundlich.

Seid still, dachte das Mädchen heftig. Wie soll ich es

herausfinden, wenn ihr mir den Kopf vollquasselt?

Page 71: Die Macht der Götter

Fremde sind im Palast, oder vor den Toren.

Bist du sicher?

Ja, das bin ich.

Soll ich Onkelchen wecken? fragte Kano.

Nein, noch nicht, erwiderte das Mädchen. Erst wenn

ich Genaueres weiß. Ich gehe nachsehen.

Wir gehen mit! erklärten die beiden Knaben wie aus

einem Mund.

Kommt nicht in Frage! Ihr bleibt oben, um ihn zu

wecken, wenn ich es euch sage.

Na schön, Maus. Mach dich allein wichtig!

Das Mädchen atmete auf.

Still jetzt!

Die fremden Gedanken wurden stärker. Sie müssen

schon im Palast sein, dachte sie. Sie sind flink.

Kannst du sie nicht verstehen?

Nein, sie sind noch zu weit weg.

Hast du Angst, Maus?

Ein bißchen, dachte sie zitternd. Wir wecken jetzt

Onkel Dragon, sagte Kano entschieden.

Ja, dachte Yina zögernd, es ist wohl besser. Sie

scheinen sich im Palast auszukennen.

Wie viele sind es?

Sie versuchte es herauszufinden. Zwei, Kim. Nein ...

da ist noch jemand. Drei.

Sie öffnete die Tür ihrer Kammer und lauschte in

den stockdunklen Korridor. Zu hören war nichts. Sie

Page 72: Die Macht der Götter

befanden sich wohl noch unten in der Halle.

Onkel ist wach, meldete sich Kano erleichtert.

Hast du ihm gesagt, daß fremde Männer im Palast

sind?

Ja, natürlich, aber ...

Aber?

Er lacht.

Was?

Zögernd antwortete Kano: Etwas stimmt nicht mit

ihm. Er torkelt!

Der Wein! dachte Yina erschreckt.

Natürlich! stimmte Kano zu. Cheron sagte zu Iwa,

daß der König seine Daikane unter den Tisch

getrunken hätte, und daß es wohl ein böses Erwachen

geben würde.

Du mußt ihn wachhalten, Kano, dachte sie

eindringlich.

Ja, Maus.

Kim?

Ich höre mit, Maus.

Sag Iwa Bescheid. Sie weiß, was zu tun ist.

Gemacht. Was noch, Schwester?

Sie lächelte innerlich über das »Schwester«. So

hatten die Jungen sie schon lange nicht mehr genannt.

Hast du Angst, Kim?

Ich glaube nicht.

Jemand muß nach unten, ohne daß er entdeckt wird,

Page 73: Die Macht der Götter

und die Wachablösung wecken.

Ohne Licht? erwiderte er ein wenig zögernd.

Natürlich ohne Licht, Dummer. Wie sollten wir

sonst verborgen bleiben?

Wir? fragte Kim rasch.

Ich muß näher heran, sonst kann ich sie nicht

belauschen. Ich erwarte dich an meiner Zimmertür.

Mach rasch.

Ja, Maus. Bin schon unterwegs. Sie hörte die

Erleichterung in seinen Gedanken. Sie spürte sie selbst

auch. Zu zweit war alles nicht so schwierig. Wenn nur

Onkel Dragon wach genug wurde, um mit der Gefahr

fertig zu werden! Warum schlugen die Wachen keinen

Alarm? Vielleicht hatten sie gar nicht bemerkt, daß

jemand in den Palast gedrungen war. Wenn nur Partho

schon hier wäre. Aber er kam erst morgen oder

übermorgen, sobald die Neugliederung des Heeres

abgeschlossen war.

Sie stand in der offenen Kammertür und lauschte in

die Finsternis. Schritte näherten sich. Leise, Kim!

warnte sie.

Ja, ja, antwortete er ungeduldig. Gleich darauf

tauchte er neben ihr auf.

Von unten kam ein Laut. Ein leises Klirren von

Ketten oder Waffen. Die beiden hielten den Atem an.

Die verschwommenen Stimmen in ihrem Kopf wurden

klarer. Sie mußten schon sehr nah sein. Dann verstand

Page 74: Die Macht der Götter

sie die ersten hastigen Gedanken.

Die eines Mannes, der Bardoc hieß, und der an einen

anderen Mann dachte, dessen Name ihr bekannt war:

El Dschafar. Von diesem Mann hatte sie schon gehört.

Er wurde auch der Dieb genannt. Jeder in Myra schien

ihn zu kennen, und man erzählte sich die seltsamsten

Geschichten über ihn.

El Dschafar, der Dieb, durchfuhr es sie dann. Dann

war dieser Mann also hier, um etwas zu stehlen! Ein

Dieb kam nicht bei Nacht in den Palast, um dem König

einen Besuch zu machen! Worauf hatten sie es

abgesehen? Der Mann namens Bardoc schien es

offenbar nicht zu wissen. Er war froh, daß soweit alles

gut gegangen war, aber er verfluchte El Dschafar

innerlich, weil er ihnen nicht mitgeteilt hatte, was sie

aus dem Palast mitnehmen sollten. Es mußte etwas

Umfangreicheres sein, sonst hätte er nicht ein Dutzend

Männer mitgenommen, die vor den Toren warteten.

Seltsamerweise empfing Yina keinerlei Gedanken

von El Dschafar. Das verwirrte sie.

Sie nahm Kim an der Hand. Vorsichtig schlichen sie

den Gang entlang auf die Stiegen zu, die in das

Hauptgebäude und in die Hallen hinabführten.

Kriegst du alles mit? dachte sie. Sie hatte die ganze

Zeit über die aufgefangenen Gedanken im Geist

wiederholt, damit die Knaben sie verstehen konnten.

Ja, antworteten beide.

Page 75: Die Macht der Götter

Berichtest du Onkel Dragon, Kano?

Ja, Maus. Und er wird immer wacher.

Gut. Erleichtert konzentrierte sie sich wieder auf die

fremden Gedanken. Sie wurden mit jedem Schritt

klarer. Aber die El Dschafars vermochte sie nicht

auszumachen. Dafür entdeckte sie die einer Frau, die

Dajna hieß, wie sie gleich darauf herausfand, und eine

Katmahzari war. Das verwunderte sie wiederum sehr,

denn die Katmahzari waren ihre Verbündeten. Auch

sie schien nicht zu wissen, was El Dschafar im Palast

suchte. Ihre Gedanken waren düster. Sie schien eine

Gefangene zu sein. Und sie kannte den Palast genau. Er

weckte böse Erinnerungen.

Onkel fragt, meldete Kano sich plötzlich, ob du dich

auch nicht irrst mit dem Namen Dajna?

Nein, ich irre mich bestimmt nicht.

Könnte sie jene Katmahzari sein, die mit diesem

Silikerfürsten floh und die Botschaft an die Uska

sandte?

Ich weiß es nicht. Ich kann es nur erfahren, wenn sie

daran denkt. Aber es wäre möglich. Da war ein kurzer

Gedanke an El Haleb. Ja, sie kennt ihn. Und sie war

schon einmal hier, zu Zogors Zeit. Jetzt gehört sie zu El

Dschafars Kriegern. Aber sie wird fliehen, wenn das

alles vorbei ist.

Wenn was alles vorbei ist?

Das scheint keiner zu wissen. Weder der Mann

Page 76: Die Macht der Götter

namens Bardoc, noch die Frau. Nur El Dschafar. Aber

ich kann El Dschafar nicht finden.

Sagtest du nicht, es wären drei? kam Kanos Stimme

wieder.

Ja. Aber der dritte ist noch zu weit weg. Ich kann

seine Gedanken nicht verstehen.

Könnte es El Dschafar sein? Onkel Dragon meint,

daß sich El Dschafar nicht mit Kleinigkeiten abgibt. Der

Dieb ist dafür bekannt, daß er das Unmögliche

fertigbringt. Kommen sie nach oben?

Ja, antwortete das Mädchen. Sie kommen näher, sie

müssen nach oben kommen.

Onkel Dragon sagt, ihr sollt sie an euch vorbeilassen

und euch ruhig verhalten. Und dann den Gong im

Halbstock anschlagen. Das wird den ganzen Palast in

Aufruhr bringen – genug jedenfalls, um die

Eindringlinge abzuschrecken.

Ja, das tun wir, stimmte Yina zu.

Betrunken oder nicht, Onkelchen hat gute Ideen,

stellte Kim fest.

Sei nicht so respektlos! schalt Yina.

Die Knaben lachten, und das nahm die Anspannung

ein wenig von ihnen. Aber nur für einen Augenblick.

Dann hörten sie die Schritte im Halbstock. Yina und

Kim drückten sich eng an die kalte Wand. Die

Gedanken der Eindringlinge waren nun sehr klar. Sie

wußten immer noch nicht, was sie tun sollten. Sie

Page 77: Die Macht der Götter

fühlten sich ziemlich sicher, und sie folgten jemandem.

Sie gehorchten El Dschafar. Wo aber war El Dschafar?

Dann fing sie endlich die Gedanken des Nachzüglers

auf. Auch er war nicht El Dschafar. Er war ein alter

Bekannter – El Haleb. Und er gehörte nicht zu den

ersten. Er folgte ihnen. Seine Gedanken waren ein

wenig wirr und nicht immer ganz verständlich unter

den anderen näheren Stimmen. Er wollte zum König.

Er wollte wissen, wer die drei waren und was sie

wollten.

Onkel sagt, das ist alles sehr verwirrend, meinte

Kano.

Du magst ihn trösten, erwiderte sie, das ist es auch

ohne Wein. Was wird er tun?

Er sucht nach seinem Schwert.

Plötzlich flammte Licht auf. Jemand kam mit einer

Fackel von oben.

Wer ist das? schrieen die Gedanken des Mädchens.

Wer ist was?

Jemand kommt mit einer Fackel aus den oberen

Gemächern. Vielleicht Tante Amee ...

Nein, sie schläft. Das muß Iwa Onkel! Onkel ...

Was ist, Kano?

Er hat das Licht entdeckt. Es kam aus Tante Amees

Zimmer. Er ist mit dem Schwert in der Hand

hinausgestürzt ...

Bleib bei ihm, Kano! Etwas stimmt hier nicht! Panik

Page 78: Die Macht der Götter

erfaßte das Mädchen plötzlich. El Haleb denkt an drei

Männer, die er vor sich hat. Er weiß nicht, daß eine

Frau dabei ist, aber er denkt an drei Personen, und ich

empfange nur die Gedanken von zweien. Wenn El

Haleb recht hat, dann muß El Dschafar ...

Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. Hastige

Schritte kamen die Stiegen herauf. Von mehr als zwei

Personen. Die Gedanken, die sie empfing, waren einen

Augenblick chaotisch. Dann kam von oben eine Gestalt

mit einer Fackel um die Ecke und hüllte die Szene in

flackerndes Licht. Drei wilde Gestalten duckten sich

einen Moment unter dem Licht und stürzten dann auf

die Fackel zu.

Yina glaubte Iwas Gestalt zu erkennen und neben

ihr Dragon. Und davor, halb verdeckt vom Schatten

einer Säule, einen Mann mit erhobenem Dolch.

Instinktiv preßte Yina ihre Hand vor den Mund

Kims, um ihn an einem verräterischen Aufschrei zu

hindern Eine der Gestalten sprang Iwa an und schlug

sie nieder. Die Fackel fiel, flackerte noch einmal auf

und verlöschte.

In diesem Augenblick huschte eine Gestalt an ihnen

vorbei.

Danach hörten sie nur noch Schreie und Stöhnen

und Kampfgetümmel. Und auch die Gedanken, die

Yina empfing, waren nicht viel anders.

Ein Todesschrei gellte, und jemand fiel. Yina

Page 79: Die Macht der Götter

erkannte, daß es Bardoc war. Im nächsten Augenblick

verlöschten Dragons Gedanken.

Da waren nur noch jene der Katmahzari die hilflos

im Griff eines Unbekannten hing. Und die Gedanken El

Halebs, der erkannt hatte, daß es Dajna war, die er

festhielt. Mit aller Gewalt, als wäre sie etwas, das er

nicht wieder verlieren wollte.

So standen sie in der Finsternis, und keiner wagte

einen Laut. Aber Yinas feine Ohren vernahmen, daß

sich jemand entfernte. Jemand, dessen Gedanken sie

nicht aufzufangen vermochte.

Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie hatte Angst.

Irgend etwas Schreckliches war in der Finsternis

geschehen. Mit Onkel Dragon und Iwa.

Mit Kim an der Hand stürmte sie den Gang zu

ihrem Zimmer zurück. Dabei stolperte sie über Bardocs

Leiche und fiel mit einem Aufschrei der Länge nach

hin. Als sie sich aufrappelte, war Kim verschwunden.

Kim! riefen ihre Gedanken, schrill vor Entsetzen.

Kim!

Aber nur Kano antwortete ihren stummen Rufen.

Was ist geschehen. Maus?

Onkel Dragon ist ... Sie wußte nicht, was mit Dragon

war. Er mochte tot sein, wie Bardoc. Aber bevor sie

Kano zusammenhängend antworten konnte, schlug der

große Gong an und hallte wie der Sturmschrei der

Götter durch die leeren Hallen und Korridore.

Page 80: Die Macht der Götter

Langsam flammten Lichter auf und näherten sich

aufgeregte Stimmen. Der Alptraum der Finsternis

begann zu weichen. Iwa stöhnte neben dem Mädchen.

Ihre Gedanken erwachten, als sie zu sich kam.

Schluchzend vor Erleichterung schlang das Mädchen

die Arme um sie.

El Haleb gelang es unbemerkt die Palastmauer zu

überklettern, an einer Stelle, an der ihn wohl die

Wachen bemerkt hätten, nicht aber die verborgenen

Männer jenseits der Straße. Aber sie hatten die Wachen

beseitigt, und das erleichterte ihm sein Eindringen

beträchtlich.

Im Palastgarten sah er sich kurz um und versuchte

sich zu erinnern, aus welchem der Fenster sie gestiegen

waren. Alles war dunkel. Er hatte den Teil des Palastes

vor sich, in dem die Bediensteten wohnten, die Köche,

Schneider, Vorkoster und Sklaven. Dort würde es am

leichtesten sein einzudringen. Selbst wenn er entdeckt

wurde, waren seine Chancen hier besser als bei den

Wachen im Hauptteil des Palastes. Von hier wußte er,

wie er die bewachten Hallen umgehen konnte, um zu

den Gemächern des Königs selbst zu gelangen, wenn

es sein mußte.

Niemand bemerkte sein Eindringen. In dem

finsteren Korridor tastete er sich leise in die Richtung

der Empfangshalle vor. Alles war still. Die

Page 81: Die Macht der Götter

Eindringlinge waren also noch nicht bemerkt worden.

El Haleb erreichte die Stiege, die er gesucht hatte. Sie

führte in den Halbstock – zu den Quartieren der

Wachmannschaften. Aber jene, die dort waren,

schliefen. Von ihnen würde keine Gefahr drohen.

Er beeilte sich und erreichte mit unterdrücktem

Keuchen einen nicht weniger finsteren Gang, der in

den königlichen Flügel des Palastes führte. Er kam zur

Hauptstiege und hielt an. Er lauschte.

Leise Schritte näherten sich aus der Halle. Das

mußten die Eindringlinge sein. Die Wachen würden

nicht solcherart durch die Gänge schleichen. Die

Beseitigung der Wachen mußte die drei wohl solange

aufgehalten haben.

Er wartete, denn er wollte in ihrem Rücken sein, um

zu erfahren, was sie vorhatten.

Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt,

aber schließlich spürte er mehr als er es hörte, daß sie

an ihm vorbeischlichen. Er hatte richtig geraten, sie

waren auf dem Weg zu den königlichen Gemächern.

Sollte der König selbst ihr Opfer sein?

El Haleb folgte ihnen. Er hörte sie mehrmals

flüstern, aber er verstand nicht, was sie sagten. Den

Stimmen nach schien ein Mädchen dabei zu sein. El

Halebs Neugier wuchs immer mehr.

Sie erreichten die obere Etage unangefochten. Aber

dann begannen die Schwierigkeiten. Sie waren nicht

Page 82: Die Macht der Götter

mehr allein. Irgendwoher aus der Finsternis kamen

Geräusche. El Haleb hielt sich zurück. Es mochte hier

noch ein anderes Warnsystem geben, von dem er nichts

wußte, und was er am wenigsten wollte, war, mit

dieser Gruppe entdeckt zu werden.

Im nächsten Augenblick aber wurden die Dinge

völlig aus seiner Hand genommen. Jemand tauchte mit

einer Fackel hinter einer Gangbiegung auf. El Haleb

sah die drei Gestalten vor sich in blendendes Licht

gehüllt, und er machte eine Entdeckung, die sein Herz

höher schlagen ließ.

In diesem kurzen Moment, da das Licht durch den

Korridor flackerte, erkannte er das Mädchen

wieder – Dajna, das Katmahzari-Mädchen, das ihm aus

Zogors Kerker geholfen hatte und mit dem er aus Myra

geflohen war. Die Götter mochten wissen, wie sie

wiederum hierherkam. Sie würde ihm vieles erklären

können. Es war Fügung, daß er sie hier wieder traf. Sie

war diese ganzen Monde nicht aus seinem Herzen

gewichen, obwohl er wußte, daß sie eine Amazone

war, eine, für die der Mann Befruchtung bedeutete,

nicht mehr. Die Dinge überstürzten sich. Noch eine

Gestalt tauchte neben jener mit der Fackel auf und

sprang dem ersten Eindringling entgegen. Jemand

schlug den Fackelträger nieder. Bevor es pechschwarz

wurde, hatte El Haleb das Mädchen erreicht und von

hinten umklammert. Sie hatte einen Dolch in der

Page 83: Die Macht der Götter

Rechten und wehrte sich wie ein Teufel.

Einer schrie und starb in der Finsternis. Dajna

erstarrte einen Augenblick, den El Haleb nutzte, ihrer

Hand das Messer zu entreißen. Er umklammerte das

Mädchen und brachte seinen Mund nah an ihr Ohr.

»Um der Götter willen, Dajna«, flüsterte er und spürte

erleichtert, wie sie ihren Widerstand aufgab, als sie

ihren Namen hörte. »Keinen Laut.«

In der plötzlichen Stille hörten sie, wie sich jemand

entfernte, keuchend, als hätte er eine Last zu tragen.

Dann begannen mehrere zu laufen, und El Haleb fragte

sich, wer wohl noch alles in dieser Dunkelheit stand.

Sie mußten verschwinden, bevor der ganze Palast

lebendig wurde. Jemand fiel ganz in ihrer Nähe mit

einem Aufschrei. Schritte entfernten sich. Dajna wurde

unruhig in seinem Griff. Er gab sie frei und zog sie mit

sich den Korridor entlang. Sie kamen nur bis zu den

Stiegen.

Der Gong dröhnte durch die Gänge. El Haleb wußte,

daß sie den Palast niemals mehr ungesehen verlassen

konnten, und daß er nun das tun mußte, weshalb er

nach Myra gekommen war. Zum König gehen. Auch

wenn alles gegen ihn sprach.

Er hielt Dajna fest, als sie fliehen wollte. »Zu spät«,

murmelte er.

Von unten kamen Stimmen und Lichter und

brandeten hoch wie eine Woge. Sie waren überall. Das

Page 84: Die Macht der Götter

Mädchen schien einzusehen, daß es keinen Ausweg

gab. El Haleb fühlte plötzlich ihre Hände an seinem

Gürtel und spürte, wie sein Dolch aus der Hülle glitt.

»Dajna, nein!« rief er und griff in der Dunkelheit

nach ihr.

Seine Stimme ließ sie innehalten mit dem Dolch

bereits an ihrer Brust. »Haleb?« flüsterte sie. »Ja«, sagte

er.

»Die, Götter spotten uns, mein Freund«, sagte sie

leise und senkte den Dolch.

»Nein«, widersprach er. »Es kann nicht ihr Spott

sein, der uns wieder zusammenführt. Ich habe mir

nichts sehnlicher gewünscht.«

Sie lachte leise. »Als hier mit mir zu sterben? Aber

du hast recht, es ist leichter, mit dir zu sterben ...«

»Nein, Dajna. Sie werden uns nicht töten. Nicht nach

allem, was ich über König Dragon gehört habe. Nicht

nach diesem Dienst, den wir ihm erwiesen haben.«

»Du denkst, er wird sich erinnern? Du ...«

»Dein Volk hat an seiner Seite gefochten«,

unterbrach er sie. »Aber es ist müßig, über das

Schicksal zu raten, das schon auf uns zukommt.«

Er entwand ihr sanft den Dolch und steckte ihn

wieder in seinen Gürtel. Es wurde heller, als der

Fackelschein näherkam. Er zog Dajna an sich. Sie

sträubte sich gegen die Umarmung. Aber er hielt sie

fest. Es war ihm ein Bedürfnis, sie zu halten. Und sie

Page 85: Die Macht der Götter

gab ihr Sträuben auf und legte die Arme auf seine

Schultern und ihr Gesicht an seines. Vielleicht war es

die Ausweglosigkeit der Situation oder die

Erleichterung, hier einen getroffen zu haben, der ihr

Freund war, den sie schätzte, auch wenn er ein Mann

war, die sie ihren anerzogenen weiblichen Stolz

vergessen und für einen Moment Geborgenheit finden

ließen in seinen Armen.

Oder besser, ein Gefühl, nicht allein zu sein.

Ein Schluchzen in unmittelbarer Nähe beendete

diesen Augenblick seltsamer Zuneigung zwischen

Mann und Amazone. Sie löste sich aus seinen Armen.

»Was war das?«

Jemand stöhnte. Eine weibliche Stimme, und das

Schluchzen verstärkte sich. Es schien von einem

Mädchen zu kommen, El Haleb und Dajna beugten

sich hinab und tasteten in der Finsternis. »Wer ist da?«

fragte der Siliker. »Seid Ihr verletzt?«

Da kamen die ersten Wachen mit Fackeln und

gezogenen Klingen den Gang entlanggestürmt.

Verwundert sah El Haleb eine ältere Frau am Boden,

die sich benommen aufrichtete. Ihre Augen waren

geweitet, als sie den Siliker und das ungewöhnlich

gekleidete Mädchen sah.

Die Arme um ihren Hals, die Augen ein wenig

gerötet von den Tränen, die rasch versiegten, starrte

ihnen ein junges Mädchen entgegen, aus dessen Zügen

Page 86: Die Macht der Götter

die Furcht wich, als das Licht enthüllte, daß sich sonst

niemand mehr hier befand.

Die Wachen rissen El Haleb und die Katmahzari

hoch. »Wer seid ihr zwei Vögel? Redet!« Der Anführer

der Wache hob drohend die Klinge.

Das Mädchen sprang auf und stellte sich schützend

vor die beiden Gefangenen. »Nein, laß sie, Alaan. Die

beiden sind Freunde.«

Während Dajna und El Haleb erstaunt auf das

Mädchen starrten, das sie noch nie zuvor gesehen

hatten, nickte der Wachkommandant. »Du mußt es

wissen, Yina. Irrst du dich auch nicht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Dann ist es gut. Aber kann mir einer sagen, was

nun eigentlich geschehen ist und wer den Gong

geschlagen hat?«

»Ich«, bemerkte eine zaghafte Stimme im

Hintergrund. Es gab einiges Getümmel, als die Wachen

Platz machten, um jemanden durchzulassen. Dann

stand Kim blinzelnd im Fackellicht.

Gleichzeitig kam vom anderen Ende des Korridors

Kano. Er sah sich verwirrt um. Dann bückte er sich und

hob etwas auf, das nicht weit von Yina lag. Ein

Schwert.

»Das ist Onkels Schwert«, sagte er. »Wo ist er?«

Betroffenes Schweigen antwortete ihm.

Page 87: Die Macht der Götter

7.

Der König war verschwunden!

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im

gesamten Palast.

König Dragon war entführt worden. Es konnte

keinen Zweifel geben, nach allem, was Yina und die

Knaben und die beiden Eindringlinge auszusagen

hatten.

Während Kommandant Alaan, ein Urgorite, wie die

meisten Soldaten im Palast, mit zwei Dutzend seiner

Männer den Palastgarten und die Umgegend absuchen

ließ, und dabei auf nicht viel mehr als die betäubten

Torwachen stieß, und auf einige Hinweise darauf, daß

sich mehrere Männer in der Nähe des Palastes

verborgen gehalten haben mußten, fand in den

Gemächern der Königin eine hastige Beratung statt.

Boten wurden ausgesandt, um Cheron und Partho

herbeizuholen.

Aber El Haleb, obwohl zum Umfallen müde und

erschöpft, drängte darauf, nicht erst auf die Ankunft

der Helfer zu warten, sondern sofort El Dschafars

Lager aufzusuchen. Auch Dajna drängte darauf. Sie

hatte auch noch andere Gründe dafür. Ihre fünf

Gefährtinnen befanden sich noch auf dem Schiff, das

Page 88: Die Macht der Götter

am Morgen auslaufen und die Kriegerinnen im Süden

als Sklavinnen verkaufen wollte. Sie gestand der

Königin freimütig, wie es gekommen war, daß sie sich

El Dschafar zu diesem abenteuerlichen Einbruch in den

Palast anschloß. Weil sie erhofft hatte, dabei zu fliehen.

Das sei aber unmöglich gewesen.

Als Amee von den gefangenen Katmahzari hörte,

schickte sie sofort einen Boten in den Hafen, einen,

dem sie bei seinem Leben verbot, zu jemandem über

das Verschwinden des Königs zu sprechen. Die Flotte

lag im Hafen. Einige Schiffe würden sich des

Kauffahrers annehmen und ihn zur Herausgabe der

gefangenen Frauen zwingen. Sie wußte, wie tapfer die

Katmahzari an Dragons Seite gekämpft hatten. Keine

dieser Frauen durfte die Schmach der Sklaverei

erdulden, nicht wenn es in ihrer Hand lag, es zu

verhindern.

Aber es erschien ihr auch absurd, daß El Dschafar

den König entführen und in sein Lager bringen würde.

Sie beschäftigte sich immer wieder mit einem

Gedanken: Warum hatte Yina die Gedanken dieses

Diebes nicht lesen können? Es paßte irgendwie zu dem,

was Dajna berichtet hatte – daß nämlich sie und die

anderen Männer nicht gewußt hatten, was El Dschafar

im Palast suchte. War es möglich, daß er es selbst nicht

wußte, sondern daß ihn nur ein Zwang dazu trieb – ein

Zwang namens Cnossos? War es möglich, daß dieser

Page 89: Die Macht der Götter

Teufel hundert Leben besaß und immer wieder

auftauchen würde, um ihnen das Leben zur Hölle zu

machen?

Der Gedanke ließ sie zittern. War Dragon bereits in

Cnossos‘ Hand?

»Es sieht aus wie Cnossos‘ Werk«, murmelte sie.

Die Kinder sahen sie erstaunt an. Daran hatte selbst

Yina noch nicht gedacht. Iwa nickte. »Cnossos?« fragte

El Haleb. »Ihr habt ihn gesehen, wenn auch nicht in

seiner wahren Gestalt. Aber als Zamoc. Das war

Cnossos, der Gott der vielen Namen, wie wir ihn in

Urgor nannten. Dragons größter Feind. Er kann seine

Gestalt wandeln, wie es ihm gefällt. Ihm gehorchen die

Horden der Nacht, die Zom-bys, die Vampire und

selbst die Menschen, die er sich zu Willen macht ...«

Dajna schüttelte bleich den Kopf. »Ihr glaubt, daß El

Dschafar nicht der echte El Dschafar war, sondern

dieser Cnossos in seiner Gestalt ... Ist es das, was Ihr

glaubt, erhabene Königin?« Amee nickte.

»Dann ist es wohl nicht Cnossos« meinte Dajna

aufatmend. »Als El Dschafar mich nämlich wie ein ...

Mädchen zu behandeln versuchte ...« Sie hatte Mühe,

ihre Geringschätzung zu verbergen. Aber sie errötete

unter Amees Blick, sehr zu ihrem Mißbehagen, wie El

Haleb bemerkte, der kein Auge von der jungen

Kriegerin und Nichte Asmyras, der Königin der

Amazonen, ließ.

Page 90: Die Macht der Götter

»Da biß ich ihn in das Handgelenk«, fuhr sie fort

und errötete erneut, diesmal vor Scham über diese

unfeine Art des Kämpfens. »Ich war in Ketten«, fügte

sie hinzu. »Er blutete stark. Und wenn ich mich recht

erinnere, dann floß bei Zamoc kein Tropfen Blut, auch

nicht, als sein Schädel bis in den Nacken gespalten

war.«

El Haleb nickte. Ein leises Grauen beschlich ihn bei

dieser Erinnerung.

»Danach war ich ständig bei ihm«, erklärte Dajna.

Außerdem hatte er sich bereits verändert, als dieser

Besucher ins Lager kam, von dem ich bereits berichtete.

Ein schwarzgekleideter Mann in einem Mantel mit

Kapuze. Von ihm muß Dschafar den Auftrag erhalten

haben. Denn er vergaß mich völlig. Nichts kümmerte

ihn mehr. Er hatte es sehr eilig, in den Palast zu

kommen. Er rief seine Männer zusammen. Den Rest

wißt Ihr bereits.«

Die Königin nickte unruhig. »Wer der

Schwarzgekleidete war, konntet Ihr nicht sehen?«

»Nein, erhabene Königin. Aber Dschafar benahm

sich sehr seltsam in seiner Gegenwart. So als wäre er

betrunken. Er starrte ihn an und stimmte allem zu ...«

Amee nickte erneut. »Wer dieser Besucher auch

war – er hat sich Gewalt über den König der Diebe

verschafft. Und es sieht immer mehr wie Cnossos‘

Machenschaft aus!« Verzweifelt sah sie von einem zum

Page 91: Die Macht der Götter

andern. »Wir dürfen keine Zeit verlieren«, sagte sie

zitternd vor plötzlicher Schwäche. Iwa trat an ihre Seite

und hielt sie an den Schultern.

»Ihr braucht Ruhe, Königin«, sagte sie streng.

»Oh. Iwa! Wie soll ich Ruhe finden, wenn Dragon

...«

Iwa unterbrach sie. »Ihr habt jetzt einen, der Euch

dringender braucht als der König. Ihr habt ihm einen

Sohn geboren. Er braucht Eure ganze Kraft. Überlaßt es

den Männern, nach dem König zu suchen!« Dabei warf

sie einen herausfordernden Blick auf Dajna, den diese

ignorierte.

Plötzlich stieß Dajna hervor: »Wie konnte ich es nur

vergessen! Der Schwarze sagte etwas von einem Turm,

zu dem die Beute zu bringen sei ...«

»Ein Turm«, wiederholte die Königin hoffnungsvoll.

»Das mag uns weiterhelfen.«

»Aber nicht viel«, erscholl eine männliche Stimme

von der Tür her. »Darf ich eintreten?« Es war Cheron.

Er wartete die Antwort nicht ab. »Es gibt mehr als

hundert Türme in der Stadt, und die meisten haben

unterirdische Gewölbe, in denen wir tagelang suchen

könnten.«

»Aber was können wir tun?«

»Abwarten«, erklärte Cheron. »Sie wollten den

König nicht töten, sonst hätten sie es gleich hier getan

...«

Page 92: Die Macht der Götter

»Und du meinst«, unterbrach ihn Amee heftig, »daß

sie ihn früher oder später zurückbringen werden? Ist

das deine ganze Weisheit. Freund Cheron?«

»Verzeiht, meine Königin«, erwiderte Cheron ruhig.

»Vielleicht würde Partho die Stadt umgraben lassen,

und vielleicht wäre das mehr nach Eurem Geschmack.

Aber seid vor einem gewarnt: Laßt das Volk nicht

wissen, daß etwas mit dem König geschehen ist, so

lange Ihr nicht sicher seid, ob Euer Heer bereit steht

und stark genug ist, Myra noch einmal zu erobern, um

Atlantor sein Erbe zu sichern.«

Die Königin sah ihn bleich an. »Du hast Dragon

schon aufgegeben?«

»Nein. Aber was wir für ihn tun, muß heimlich

geschehen.«

Maratha, die Seherin, schlief unruhig in dieser Nacht.

Wirre Träume ließen sie nicht zur Ruhe kommen.

Sie liebte die Träume, weil es für sie eine Art von Sehen

bedeutete, weil sie Bilder und Farben sah, die ihren

blinden Augen versagt blieben.

Aber in dieser Nacht waren die Träume drohend

und schienen irgendeine Gefahr zu bergen – eine

Warnung, die nicht einsickerte in den Mantel ihrer

bleiernen Müdigkeit.

Stöhnend wälzte sie sich auf dem Lager hin und her,

bis Tomara erwachte, der sie gestattet hatte, auch

Page 93: Die Macht der Götter

nachts über zu bleiben, und sie mit ängstlichen Rufen

weckte.

»Herrin, wacht auf! Ihr habt einen bösen Traum! So

wacht doch auf!«

Erst als das Mädchen sie, kräftig rüttelte, glitt sie aus

ihren bedrohlichen Träumen und fand in die Finsternis

ihres Lebens zurück.

Ihr Herz pochte wie rasend. Ihr Atem kam heftig.

»Beruhigt Euch, Herrin«, sagte das Mädchen

besorgt, »es war nur ein schlimmer Traum.«

Nach einem Augenblick nickte Maratha. »Es ist gut,

Tomara. Ich bin wach. Und die Götter hatten Mühe,

mich zu warnen ...«

»Warnen, Herrin ...?« fragte Tomara verständnislos.

»Schläft Dragomar?«

»Ja, Herrin.«

»Gut«, murmelte Maratha und sank in die Kissen

zurück. »Es ist nicht mehr lange bis zur

Morgendämmerung, nicht wahr?«

»Es ist nicht mehr lange, Herrin.«

»So geh wieder zu Bett, Tomara. Ich werde dich

rufen, wenn ich dich brauche.«

Das Mädchen nickte zögernd. Dann sagte sie: »Gute

Nacht. Herrin.« Und ging in ihre Kammer zurück. Eine

Weile lauschte sie, aber es blieb alles still. Manchmal

fürchtete sie diese seltsame blinde Frau ein wenig.

Und sie hätte sich noch mehr gefürchtet, hätte sie

Page 94: Die Macht der Götter

ihre Herrin so gesehen, wie sie nun auf ihrem Bett lag –

die Augen weit offen, beinahe ohne zu atmen. Wie

eine Tote.

Maratha sah.

Es war einer jener Momente, da ihr innerer Blick

sein Ziel selbst suchte, ohne ihr lenkendes Zutun. Es

war die Drohung aus ihren Träumen, die ihn lenkte.

Irgend etwas in Myra, oder besser, irgend jemand,

besaß mehr als menschliche Kräfte. Und er war dabei,

sie zu nutzen.

War Cnossos wieder auferstanden? Hatte wiederum

etwas von ihm überlebt und war dabei, sich

aufzubauen, Kräfte zu sammeln? War Dragon abermals

in Gefahr?

Ein Gesicht tauchte vor ihrem Innern auf – ein

düsteres, hageres, dunkelhäutiges Gesicht mit spitzem

Kinnbart und unter einer schwarzen Kapuze

verborgenen Augen, deren Blicke durch das Fleisch bis

in das Mark zu dringen schienen. Er saß allein und

brütend in einem Raum, der spärliches Licht von einer

fast niedergebrannten Kerze erhielt. Und er wartete.

Es schien ein Turm zu sein, in dem er saß, aus

steinernen Mauern. Aus alten Mauern, in deren Steinen

etwas von einer alten, gefährlichen Vergangenheit war.

Sie betrachtete den stummen Mann eine Weile. Bald

schien es ihr, als hielte er ihren inneren Blick fest. Nur

mit Mühe vermochte sie sich loszureißen. Er weckte

Page 95: Die Macht der Götter

Erinnerungen in ihr, uralte Dinge, die vor ihr erlebt

worden waren und die dennoch in ihr schlummerten.

Sie wußte, daß etwas vom gleichen Blut in seinen

Adern fließen mußte.

Plötzlich erwachte der Mann aus seinem starren

Brüten. Seine Aufmerksamkeit richtete sich nach

draußen, woher Geräusche durch die Fenster kamen.

Die Stimmen mehrerer Männer waren zu vernehmen.

Dann pochte jemand an das Tor.

Maratha kam völlig frei aus seinem unbewußten

Bann. Trümmer eines verfallenen Tempels prägten sich

ihr ein. Und ein Pferd, über dessen Sattel ein lebloser

Körper hing, während ein Dutzend Reiter Mühe

hatten, ihre Pferde zu beruhigen.

Das Tor tat sich auf. Zwei schwarzgekleidete

Männer mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen griffen

nach der schlaffen Gestalt auf dem Pferd und hoben sie

vorsichtig aus dem Sattel. Während das Klappern der

Hufe auf dem Pflaster in der Ferne verklang, trugen die

Männer ihre Last die Wendeltreppe hoch und in den

Raum, in dem noch immer der Mann saß. Er erhob

sich, als die beiden eintraten und ihre Last auf den

Tisch legten.

»Hier ist er, Meister«, sagte einer der Männer

ehrfürchtig.

Auch Maratha sah ihn, und ein stummer Aufschrei

entrang sich ihrem Geist.

Page 96: Die Macht der Götter

Auf dem Tisch lag niemand anderer als Dragon!

Und er schien tot zu sein ...

Nach einem Augenblick, als sich ihre

ungewöhnliche Sehkraft voll auf ihn richtete, erkannte

sie, daß er lebte. Er atmete. Sein Herz schlug.

»Bindet ihn fest!« befahl der, den sie Meister

genannt hatten.

Die Männer machten sich daran, den Bewußtlosen

festzubinden.

Maratha konzentrierte sich auf den »Meister«. Sie

versuchte zu erfahren, was in ihm vorging. Wofür er

sein Opfer auserkoren hatte. Aber ihre magischen

Sinne prallten vor einer unsichtbaren Wand zurück.

Die Drohung war wieder fühlbar. Die Drohung aus

den Träumen. Es war nichts Gutes, das dieser Mann

mit Dragon vorhatte. Sie mußte handeln.

Aber zwei Dinge hatten mit einemmal zu geschehen!

Ihre Lider zuckten. Ihre dunklen Augen schlossen

sich, als das innere Licht erlosch, die inneren Stimmen

verstummten.

Maratha erwachte.

Sie war älter geworden in diesen Augenblicken, wie

immer, wenn der Blick des Geistes an den Kräften ihres

Körpers zehrte. Altern war etwas, das sie ständig

Page 97: Die Macht der Götter

ertrug. In einer Stunde mochte sie vom blühenden

Geschöpf zu einer schlohweißen Greisin werden, wenn

der Zustand des inneren Blicks fast alle ihre Kräfte

kostete. Ruhte sie, dann kamen ihre Kräfte zurück und

ihre Jugend und Schönheit.

Aber für Ruhe war nun keine Zeit.

Ihr ältliches Aussehen erfüllte auch einen guten

Zweck. Sie brauchte ihre Gestalt nicht zu verändern,

was das Mädchen sicherlich sehr erschreckt hätte, denn

niemand würde in ihr Maratha wiedererkennen. Ein

wenig würde sich Tomara wahrscheinlich wundern,

daß ihre Herrin in dieser Nacht soviel älter geworden

war. Aber sie würde es der Erschöpfung zuschreiben

und dem Kind.

Sie erhob sich, und da sie sich mit Hilfe des inneren

Blicks ihre Umgebung genau eingeprägt hatte, fand sie

die Tür sicher wie eine Sehende.

Sie weckte Tomara.

»Kannst du reiten?«

»Ja. Herrin.«

»Gut. Besorge uns Pferde. Wir werden der Königin

einen Besuch abstatten.«

»Der Königin?« entfuhr es dem Mädchen. »Oh.

Herrin, nein, das kann ich nicht. Wie ich aussehen

würde unter all den feinen Leuten am Hof. Was sollte

sie von mir denken?«

»Daß ihre Bürger ordentliche, einfache Leute sind«,

Page 98: Die Macht der Götter

sagte Maratha lächelnd »... die ihr helfen, wenn sie in

Not ist.«

»Ist sie denn in Not?«

»Ja, seit heute nacht hat sie beträchtlichen

Kummer ...«

»Aber woher – wißt Ihr ...?«

»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Tomara. Bring

uns jetzt Pferde. Die Zeit drängt.«

»Jetzt gleich. Herrin? « fragte sie verwundert »Die

Sonne ist noch nicht einmal aufgegangen. Wird die

Königin denn wach sein zu dieser frühen Stunde?«

»Heute wird sie es sein. Nun mach schon.«

Während das Mädchen zu Melocs Karawanserei lief,

um zwei Pferde zu mieten, kleidete sich Maratha an.

Sie sah aus wie eine vornehme myranische Frau

mittleren Alters, die Witwe eines Offiziers.

Sie fütterte den kleinen Dragomar und brachte ihn

mit langsamen, gleichmäßigen, streichelnden

Bewegungen ihrer schlanken Hände zum Einschlafen.

Befriedigt legte sie ihn mit den Tüchern und Kissen in

einen Tragkorb. Den bedeckte sie mit weiteren

Tüchern, bis der Knabe nicht mehr zu sehen war. Sie

überzeugte sich, daß er auch genügend Luft bekam.

Ungeduldig wartete sie, daß das Mädchen mit den

Pferden kam. Es dauerte eine Weile. Als sie schließlich

kam, war sie außer Atem »Verzeiht. Herrin. Ich konnte

nicht ... ich habe mein schönstes Kleid angezogen.

Page 99: Die Macht der Götter

Ich ...«

Maratha unterdrückte ihren Ärger.

Sie sah in der Tat verwandelt aus in den bunten

weiten Röcken. Maratha sah es nicht, aber sie spürte es.

Sie lächelte. »Ich hoffe, die Königin weiß es zu

schätzen. Tomara.«

Das Mädchen errötete. »Verzeiht, es war nicht

Eitelkeit. Aber sicher hätte die Königin gedacht, ich

käme betteln zu ihr ...«

»In solchen Lumpen kommst du in mein Haus?«

fragte Maratha ironisch.

»Nein. Herrin. Für mich sind es nicht Lumpen, nur

die Kleider einer Magd. Aber in den Augen der

Königin ...«

»Die Königin ist auch nur eine Frau. Tomara.« stellte

Maratha fest.

»Ist sie schon?«

»Du wirst es sehen. Nimm den Korb. Bring mich zu

den Pferden!«

»Wo ist Dragomar?« fragte das Mädchen.

»Im Korb. Tomara. Du sorgst dafür, daß niemand

sieht, was unter den Tüchern liegt. Ich denke nicht, daß

er erwachen wird. Aber du läßt mir den Korb nicht aus

den Augen. Nicht einen winzigen Moment, und mag

die Königin dich auch noch so sehr beeindrucken. Hast

du mich verstanden?«

»Ja. Herrin. Seid Ihr wahrhaftig schon stark genug,

Page 100: Die Macht der Götter

um zu reiten?«

»Hab keine Angst um mich. Aber um dich, wenn du

nicht stets an meiner Seite bist.«

»Sorgt Euch nicht. Herrin. Ich werde immer da

sein.«

Maratha tastete nach dem Pferd. »Manchmal

verfluche ich meine Augen. Aber ich würde auch mit

keinem tauschen. Selbst mit der Königin nicht«,

murmelte sie.

Cherons Rat wurde befolgt. Niemand sollte vorerst

etwas vom Verschwinden des Königs erfahren.

Aber die ganze Stadt wußte, bei Morgengrauen, daß

etwas vorging. Das ließ sich nicht verbergen. Denn

Partho bestand darauf, jeden einzelnen Turm der Stadt

in Augenschein zu nehmen. Soldatentrupps

patrouillierten durch jede Straße. In Türme, die nicht

geöffnet wurden, wurde gewaltsam eingedrungen.

Viele erinnerte das an Zogors Zeiten, und sie fluchten

in ihre dunklen Bärte.

Es war ein mühsames und nutzloses Unterfangen.

Amee war müde und den Tränen nahe. Nur Cherons

Warnungen und Parthos Zuversicht hielten sie aufrecht

und ließen sie nach außen hin gelassen erscheinen,

wenn Boten und Stadtkommandanten zur Audienz

kamen. Das ging fast pausenlos den ganzen Morgen so.

Enttäuschende Nachrichten und Beschwerden. Nichts

Page 101: Die Macht der Götter

sonst. Auch von Yina nicht, die mit Parthos Trupp

unterwegs war, um Dragons Gedanken aufzuspüren,

wenn er noch am Leben war.

Die Hoffnung sank. Man mochte den König längst

aus der Stadt gebracht haben. Die Truppen hatten zwar

einen Ring um die Stadt geschlossen, durch den keine

Maus schlüpfen konnte, aber zu dem Zeitpunkt, da

dies geschehen war, mochte Dragon längst die Stadt

verlassen haben.

Nur eines wußte man sicher; kein Schiff hatte die

Küste in Stadtnähe verlassen, auch nicht der

Kauffahrer mit den gefangenen Katmahzari. Die

Kriegerinnen trafen noch am Morgen im Palast ein,

und die Wiedersehensfreude war groß, als man sie zu

Dajna brachte.

Die Schwäche all dieser Unternehmungen lag in der

Geheimhaltung. Die Männer wußten nicht genau,

wonach sie suchten. Nach Männern in schwarzen

Kapuzenmänteln, die diese längst abgelegt haben

mochten. Die Soldaten, die die Stadt eingeschlossen

hielten, hatten wenigstens eindeutigere Befehle:

niemanden durchzulassen, und wenn es der König

selbst wäre. Blieb noch abzuwarten, ob sie den König

wirklich aufzuhalten wagten, wenn dieser Augenblick

kam. Aber selbst wenn sie ihn nicht aufhielten, war

damit eine Spur gegeben.

Dann kam eine fremde Frau mit ihrer Dienerin in

Page 102: Die Macht der Götter

den Palast und bat um Audienz. Sie behauptete, die

Königin allein in ihren Gemächern sehen zu müssen.

Sie könne helfen.

Amee sagte in ihrer Verzweiflung sofort zu. Sie griff

nach jedem Strohhalm.

Es war rascher und einfacher gegangen, als Maratha

erwartet hatte. Sie stiegen, geführt von mehreren

Wachen, die Treppen zu den königlichen Gemächern

hinauf. Tomara mit großen, staunenden Augen. Sie war

noch nie zuvor im Palast gewesen, und so

beeindruckend das gewaltige Bauwerk von außen

wirkte, es stand im Innern um nichts nach – Teppiche,

polierte, spiegelnde Marmorwände, goldene Zier,

dazwischen die blühenden, grünenden Innenhöfe und

Terrassen, das Spiel von Sonnenlicht auf buntem Glas,

das rote Flecken an die Wände warf wie von Blut, oder

blaue von der Farbe des Spätnachmittagshimmels und

grüne von der Tiefe verwachsener Bäche.

Die Königin erwartete sie ungeduldig. Tomara

erschrak, als sie das bleiche, angsterfüllte Gesicht sah,

das sehr schön sein mußte, wenn es lächelte. Das

grüne, bodenlange Kleid, das sie trug, war nur ein

Abklatsch des Grüns ihrer Augen.

Maratha verneigte sich. Das Mädchen sank in die

Knie.

»Kommt«, sagte die Königin ungeduldig. »Setzt

Euch. Ihr sagt, Ihr könnt mir helfen? Wißt Ihr denn,

Page 103: Die Macht der Götter

was es ist, das mir fehlt?«

Maratha lauschte unmerklich. Amee schien sie nicht

zu erkennen. Die Erregung der Königin hatte andere

Ursachen.

Während der ersten Nächte in Myra hatte sich

Maratha mit Hilfe des inneren Blicks den Palast genau

eingeprägt, besonders die Königsgemächer.

Sie wußte jedes einzelne Möbelstück. Sie hätte durch

das Zimmer gehen können, ohne daß jemand erkannt

hätte, daß sie blind war. Zu ihrer Rechten vernahm sie

sanfte Babylaute. Dort mußte die kunstvoll geschnitzte

Wiege stehen. Ihre geschärften Sinne nahmen die

Königin nah vor sich wahr.

Maratha hob den Kopf, strich über ihre Stirn, als

wäre sie müde und sagte: »Was Euch fehlt, Königin?

Ein König, wenn mich meine Träume nicht täuschen,

und das tun sie selten.«

Sie hörte, wie Amee den Atem anhielt. »Ihr wißt, wo

er ist?«

»Ich habe ihn gesehen«, antwortete Maratha

ausweichend.

»Ihr habt ...«, entfuhr es Amee. »Wo, edle Frau ...

sagt mir, wo! Ich bitte Euch. Und ich will Euch reich

belohnen. Euch und Eure Dienerin!«

»Ich will keinen Lohn«, winkte Maratha ab. Sie

stützte die Stirn in die Hand. »Es genügt, wenn Ihr es

wissen laßt, daß die Träume Pheleas mehr wissen, als

Page 104: Die Macht der Götter

die Götter jedem zeigen.«

»Ja, das will ich gern tun«, stimmte Amee rasch zu.

»Sagt mir, wo er ist?«

Maratha zuckte die Achseln. »Das müßt Ihr

herausfinden. Ich kann Euch nur meinen Traum

erzählen ...«

»Nur einen Traum?« wiederholte die Königin

enttäuscht. Sie war ein wenig seltsam berührt von dem

unsteten Blick der Frau. Aber vielleicht hing das mit

ihren Träumen zusammen. Starke Träume mochten

Ruhelosigkeit bringen. »Erzählt den Traum«, bat sie

dann rasch.

Einen Moment blickte ihr die Frau direkt in die

Augen, und Amee glaubte, in einen Abgrund zu sehen.

Die Königin schrak zurück.

»Ich sehe eine Kammer«, begann Maratha halblaut,

aber deutlich verständlich. »Sie ist düster. Nur eine

Kerze brennt. Eine reglose Gestalt liegt auf einem

Tisch, mit schweren Eisen an Händen und Füßen ...«

»Dragon?« fragte die Königin hastig.

Maratha nickte. »Ja, es ist der König.«

»Ist er tot?«

»Nein. Aber er hat noch nicht erkannt, wo er sich

befindet, und was mit ihm geschehen soll ...«

»Was soll mit ihm geschehen?« Amee zitterte

unwillkürlich.

»Ich weiß es ebensowenig wie er. Darüber gab der

Page 105: Die Macht der Götter

Traum keine Auskunft. Vier Männer befinden sich bei

ihm. Sie tragen schwarze Kapuzen und Mäntel. Ihre

Gesichter sind im Schatten. Ich vermag sie nicht zu

sehen.«

»Männer in schwarzen Kapuzenmänteln«,

wiederholte Amee und sprang auf. »Euer Traum ist

wahr!« rief sie.

»Ja, er ist wahr«, bestätigte Maratha unbewegt.

»Was tun sie?«

»Drei haben dem König die Eisen angelegt. Sie

verlassen die Kammer. Der vierte ist ihr Anführer. Er

ist der stärkste; sein Blick ist der tiefste; seine Machtgier

die größte. Er sucht nach einem Geheimnis, das der

König kennt. Er sucht nach ...« Sie begann plötzlich zu

lachen.

»Wonach sucht er?« drängte Amee.

»Nach den Kräften, die Zamoc besaß, als er am Hof

von Myra weilte«, vollendete Maratha. »Und er glaubt,

daß der König der Schlüssel zum Geheimnis sei, weil

Dragon letztendlich Zamoc besiegt hat!«

»Zamocs Kräfte?«, wiederholte die Königin erregt.

»Aber Zamoc war längst tot. Es war ...« Sie preßte die

Hand vor den Mund.

»Es war Cnossos in seiner Gestalt.«

Amee sah die Frau erstaunt an. »Ihr wißt ...?«

»In meinen Träumen ist die Wahrheit«, erklärte

Maratha gleichmütig. »Arzan Shor hat ein wenig vom

Page 106: Die Macht der Götter

Blut der alten Götter in sich. Er kennt einige der

verlorengeglaubten Geheimnisse. Und er lechzt nach

den magischen Kräften des Gottes der vielen Namen.

Er hat nur einen Anhaltspunkt – den König, der selber

voller Geheimnisse ist.«

»Arzan Shor? Das ist kein myranischer Name.«

»Nein. Er ist ein schwarzhäutiger Mann aus dem

tiefen Süden.«

»Wenn er Cnossos findet ... wird er werden wie er?«

Maratha schüttelte den Kopf. »Abermals nein. Dazu

ist er zu klein. Er hat zu wenig Verstand und zu wenig

vom alten Blut. Er ist nur ein drittklassiger Magier.

Selbst meine Träume taugen mehr. Aber er mag dem

König wohl eine Gefahr sein – wenn er nämlich

herausfindet, daß die Dinge zu groß für ihn sind, nach

denen er greift. Wut führt oft eine rasche Klinge.«

Die Königin wurde bleich.

»Wo ist er?«

»Ich sehe nur einen Turm ...«

»Ja, das stimmt. Wir suchen den ganzen Morgen

schon in den Türmen der Stadt. Wo steht dieser Turm?

Wo?« Ihre Fäuste waren geballt.

»Ich weiß es nicht, Königin Amee. Aber ich sehe

einen verfallenen Tempel und enge Straßen und

Häuser zu seinen Füßen ...«

»Ein Tempel!« rief Amee. »Bitte, wartet. Ich will nur

rasch meinem Kommandanten Anweisung geben.

Page 107: Die Macht der Götter

Dann müßt Ihr mir mehr erzählen ...!«

Maratha nickte zustimmend.

Amee stürzte aus dem Raum.

»Wir haben sie ganz schön in Aufregung versetzt,

nicht wahr?« sagte sie zu Tomara.

»Ja, Herrin«, flüsterte das Mädchen. »Ist es wahr,

daß der König verschwunden ist? Und daß Ihr wißt,

wo er sich befindet?«

»Ja, es ist wahr. Aber nun rasch ... siehst du die

Wiege dort in der Ecke?«

»Ja, Herrin.«

»Der Sohn des Königs liegt in ihr. Bring ihn mir, ich

möchte ihn im Arm halten ...!«

»Herrin!« entfuhr es dem Mädchen. »Das würde die

Königin niemals dulden. Wenn sie uns sieht!«

»Maß dir nicht an, zu wissen, was die Königin tun

oder lassen würde. Sie ist mir zu Dank verpflichtet.

Und außerdem kannst du an der Tür wachen und

sehen, ob jemand kommt. Mach schon!«

Zögernd trat das Mädchen zu der Wiege. Einen

Moment wagte sie es nicht. Dann nahm sie rasch das

Kind heraus und lief damit zu Maratha. »Hier, Herrin!«

Sie legte es Maratha in die Arme und rannte zur Tür.

Noch kam niemand, aber das Mädchen zitterte. Sie sah

sich nicht um, was ihre Herrin tat, sie hatte nur Augen

für den Korridor.

Maratha zögerte keinen Augenblick. Kaum hielt sie

Page 108: Die Macht der Götter

Atlantor im Arm, tastete sie nach ihrem Korb und zog

ihn vor sich, so daß Tomara, sollte sie einen Blick zu ihr

her werfen, nicht erkennen konnte, was vorging.

Hastig zog sie den noch immer schlafenden Dragomar

aus den Tüchern und schob den erwachenden Atlantor

dazwischen. Er kreischte, aber Marathas Hand

beruhigte ihn, strich einschläfernd über seinen kleinen

Nacken. Und nicht einen Moment zu früh schob sie die

Tücher darüber.

Das Mädchen kam auf sie zugestürzt. »Eine Frau

kommt, Herrin!« Sie wollte Maratha das Kind aus den

Armen reißen, um es in die Wiege zurückzulegen, aber

Maratha hielt es fest. Nun war der geeignete

Augenblick, herauszufinden, wie gut der formende

Vorgang gelungen war, wie vollkommen sie ihr Kind

während der Geburt dem Amees nachzubilden

vermocht hatte. Es genügte nicht, daß sie es einfach

austauschte – sie mußten es auch als ihres anerkennen.

Nur so würde Dragomar das Erbe des Schlafenden

Gottes antreten können, das ihm zustand, als dem

Erstgezeugten Dragons.

Die Frau kam in den Raum, und Maratha fühlte, wie

sie erstarrte, als sie das königliche Kind in den Armen

der Fremden sah. Maratha wußte auch, wen sie vor

sich hatte, als sie die Stimme hörte. Es war Iwa, die

Amme und Vertraute Amees.

Sie stürzte auf Maratha zu und riß ihr das Kind aus

Page 109: Die Macht der Götter

den Armen. »Wer seid Ihr? Wie kommt Ihr dazu,

dieses Kind aus der Wiege zu nehmen? Wo ist die

Königin?«

Tomara brachte vor Schreck kein Wort hervor.

Maratha lächelte. Sie dachte, selbst wenn nun der echte

Atlantor im Korb zu schreien begann, würden sie nicht

mehr zu unterscheiden vermögen, welches Kind sie

nun im Arm hielten. Aber Atlantor regte sich nicht,

und auch Dragomar stimmte kein Protestgeschrei an,

als die fremde Frau ihn in das Bett legte.

»Weiß die Königin, daß Ihr hier seid?« fragte Iwa

barsch.

Maratha nickte. »Ja, sie weiß es. Sie wird gleich

zurückkommen ...«

»Aber bestimmt hat sie Euch nicht gestattet, das

Kind aus der Wiege zu nehmen!«

»Sie hat es auch nicht verboten«, erwiderte Maratha

ruhig.

»Nur weil sie nicht dachte, daß Ihr die Impertinenz

besitzt ...«

»Iwa!« rief Amee von der Tür her. »Wie sprichst du

mit dieser Frau? Was ist geschehen?«

»Sie hatte Atlantor am Arm, als ich hereinkam«, rief

Iwa aufgebracht darüber, daß die Königin offenbar die

Partei der Frau ergriff.

Der Schreck verschlug Amee das Wort. Wie hatte sie

den Knaben nur allein lassen können? Was hätte nicht

Page 110: Die Macht der Götter

alles geschehen können? Jemand hatte den König

entführt. Jemand mochte auch seinen Sohn entführen

oder gar töten, um den myranischen Thronerben zu

beseitigen!

»Verzeiht mir, Königin Amee«, sagte Maratha rasch.

»Ich konnte das Verlangen nicht unterdrücken, den

Sohn Dragons in den Armen zu halten. Ihr dürft nichts

Böses denken. Ich will ehrlich sein, ich hätte es mir als

Dank erbeten, ihn einmal zu halten, um die gewichtige

Zukunft zu fühlen, die die Götter sicherlich für ihn

bereithalten müssen.«

Amees Argwohn schwand angesichts solcher Worte.

»Es ist gut, Iwa. Wenn man Dragon in den nächsten

Stunden wiederfindet, dann verdanken wir es dieser

edlen Dame, die in ihren Träumen sah, wohin man ihn

brachte.«

»In ihren Träumen, so.« Das Mißtrauen schwand

nicht aus Iwas Stimme. »Was manche Leute so träumen

...!«

»Iwa«, rief Amee. »Du wirst dich sofort entschul-

digen ...!«

»Das ist nicht nötig«, sagte Maratha rasch, um die

Dinge nicht noch mehr zuzuspitzen. »Es ist in diesen

unsicheren Zeiten gut, jemanden mit wachen Augen

um sich zu haben. Verzeiht noch einmal meine

Unverschämtheit.«

»Ich bin es, die Euch danken muß«, rief Amee aus.

Page 111: Die Macht der Götter

»Partho ist unterwegs mit einigen Männern. Eine der

Palastwachen glaubt zu wissen, wo sich dieser alte

Tempel befindet. Er erinnert sich auch an den Turm.

Mögen die Götter geben, daß es der richtige ist!«

»Er ist es«, erklärte Maratha zuversichtlich. »Aber

nun müßt Ihr uns entschuldigen. Vielleicht bedürft Ihr

eines Tages wieder meiner Träume.«

»Ich bin sicher«, sagte Amee rasch. »Sagt mir, wo ich

Euch finden kann.«

Maratha erhob sich und lächelte. »Das ist nicht

nötig. Ich werde da sein. Ich werde es aus meinen

Träumen wissen, ob Ihr oder die Euren in Gefahr sind.

Die Götter wachen über dieses Kind«, fügte sie

kryptisch hinzu. »Und was den Lohn betrifft, so bin ich

schon belohnt. Es ist nicht allen Sterblichen vergönnt,

die Geschicke von Königen zu lenken. Lebt wohl.«

Erst als sie den Palast verlassen hatten, atmete sie

auf. Nun war der Plan erfüllt, ihre Aufgabe in Myra

beendet. Sie konnte zurückkehren an den Raxos ... nach

Hause. Mit Atlantor, der von nun an den Namen

Dragomar führen würde; auf den nun keine Reiche

mehr warteten und kein Thron.

Nur eine Hütte am Raxos und die Liebe einer nicht

ganz menschlichen Mutter.

8.

Page 112: Die Macht der Götter

Dragon erwachte durch die Berührung von kaltem

Eisen an seinen Handgelenken. Es währte eine Weile,

bis er in die Wirklichkeit fand. Währenddessen waren

dunkle Schatten um ihn emsig bemüht, ihn

festzuhalten.

Er konnte sich nicht bewegen!

Diese Erkenntnis brachte ihn rasch ein ganzes Stück

weiter zur Wahrnehmung der Umwelt. Aber noch

immer war der Wein schwer in seinem Kopf und

lähmte seine Überlegungen. Sein Blick war trüb. Das

Licht war spärlich. Er hatte das Gefühl, daß es nicht

viel zu sehen gab, auch wenn sein Blick sich geklärt

hatte. Und dann hatte er noch ein anderes Gefühl: daß

ihm das, was er sehen würde, nicht gefallen würde.

Was war geschehen?

Flüchtige Bilder huschten irgendwo in seinem

Innern vorbei, zu bedeutungslos, als daß er sie erfassen

konnte. Alle seine Erinnerungen, schienen solcherart

seinem Zugriff auszuweichen.

Er hatte getrunken. Das war etwas, das er wußte!

Das ihm einen Ankerplatz in seinen Überlegungen gab.

Von hier aus konnte er mit System grübeln.

System, was war das nur für ein seltsames Wort?

Eines, das er sicher noch nie aus urgoritischem oder

myranischem Mund vernommen hatte. Aber er

verstand es. Es bedeutete soviel wie Ordnung,

Page 113: Die Macht der Götter

Reihenfolge.

Der Wein schien ein paar seiner uralten

Erinnerungen zum Leben zu erwecken. Er fühlte eine

seltsame innere Freiheit, ein großes Loch, aus dem

jeden Augenblick etwas emportauchen konnte.

Das äußere Gefühl hatte weniger mit Freiheit zu tun.

Er sperrte die Augen weit auf.

Mehrere dunkelgekleidete, tief verhüllte Gestalten

machten sich an ihm zu schaffen. Irgendwo im

Hintergrund brannte eine einsame Kerze, die zu wenig

Licht spendete, als daß er die Männer genau erkennen

konnte.

Er versuchte sich herumzudrehen, sich

hochzurappeln. Es gefiel ihm nicht, so auf dem

Präsentierteller vor diesen Gestalten zu liegen. Er

erkannte, daß er weder Arme noch Beine bewegen

konnte.

Verdammter Wein!

Wie kam er hierher? Jemand hatte ihn also

schließlich doch unter den Tisch getrunken und ihn

samt dem Tisch hierhergebracht. Das mußte geklärt

werden! Bis in alle Einzelheiten. Wer war es nur

gewesen, der davon angefangen hatte, daß Zogor seine

Daikane unter den Tisch trank? Sklaverei abschaffen

konnte jeder und gelehrt von Zehnten und Steuern

reden auf dieser trockensten aller Ratssitzungen!

Was war das nur für ein König, der seine Daikane

Page 114: Die Macht der Götter

nicht unter den Tisch trank?

Dann kam ihm zu Bewußtsein, daß er nicht unter

dem Tisch lag, sondern darauf. Und wer hatte schon je

davon gehört, daß Betrunkene auf dem Tisch lagen?

Niemand mit einer ehrlichen Zunge! Beim Schrei

des Riesen!

Letztere bekräftigende Worte beschäftigten ihn eine

Weile. Die Erinnerung, die einen Moment lang

dagewesen war, heraufbeschworen wie von

Zauberhand aus dem tiefen Loch, das sich bei seinem

Erwachen aufgetan hatte, verschwand wieder, bevor er

ihre Bedeutung erfassen konnte. Zurück blieben nur

die Worte: Beim Schrei des Riesen.

Andererseits war nichts unnatürlich daran. Warum

sollten nicht auch Riesen schreien?

Zwei Augen näherten sich ihm bedenklich.

Wenigstens empfand er es so.

Er hatte plötzlich Furcht. Furcht, in dieses Loch zu

fallen, das sich aufgetan hatte, hineingestoßen zu

werden von diesen unerbittlichen Augen. Er begann zu

kämpfen. Und wurde wach!

Zum erstenmal nahm er seine Umgebung mit einer

Nüchternheit wahr, die ihn selbst überraschte. Er war

auf dem Tisch mit Eisen gefesselt an Händen und

Füßen. Die Idee, sich daraus selbst zu befreien, konnte

er begraben. Seine Chance konnte nur bei dem Mann

vor ihm liegen. Er starrte ihn an, aber die Kerze im

Page 115: Die Macht der Götter

Hintergrund gab zu wenig Licht. Er sah nur die im

Widerschein funkelnden Augen tief in der Kapuze.

»Wer bist du?« keuchte Dragon. Der andere gab

keine Antwort. Er betrachtete seinen Gefangenen nur

stumm.

Dragon sah an sich hinab. Sein Oberkörper war

nackt, und er trug noch die Beinkleider, mit denen er

ins Bett gefallen war. Er erinnerte sich plötzlich daran,

daß er zu Bett gegangen war. Dann an Kanos Versuche,

ihn aufzuwecken. Und schließlich an eine

Auseinandersetzung mit unbekannten Männern im

Korridor des Palastes. Er hatte einen erledigt ... dann

hörte irgendwie alles auf.

Man hatte ihn also niedergeschlagen und

hierhergeschafft, wo immer das auch war. Und nun

hing er hier wie ein Schaustück. Und seinem

Gegenüber hatte es die Rede verschlagen.

Wo war er hier?

In Mis‘ Tempel.

Mis‘ Tempel? Die Worte waren plötzlich in seinen

Gedanken gewesen – so als hätte er sie selbst gedacht.

Oder hatte sein lichtscheuer Freund gesprochen ...?

Wer war Mis? Keine myranische Gottheit, soviel ihm

bekannt war.

Die Göttin der Schlange.

Dragon schüttelte eine Benommenheit ab, die immer

mehr von ihm Besitz ergriff. Die Göttin der Schlange,

Page 116: Die Macht der Götter

also. Das weckte keine Erinnerung in ihm.

Sie ist alt, König. Älter als das myranische Reich.

Dragon schrak zusammen. Jemand war in seinen

Gedanken, einem Dämon gleich.

Der Dämon lachte, daß es in Dragons Schädel

widerhallte.

Ich bin Arzan Shor. Ein Magier. Du fühlst, ist nur ein

kleiner Teil meiner Macht.

»Was willst du?« fragte Dragon unwillkürlich laut.

Du brauchst nicht zu sprechen. Es genügt, wenn du

denkst. Ich kann deine Gedanken verstehen.

Was willst du? wiederholte Dragon.

Er kämpfte erneut gegen die Benommenheit an. Sie

hing mit der Macht zusammen, die der andere über

seinen Geist besaß. Beides wuchs stetig. Er spürte die

Nutzlosigkeit seines Widerstands, und es erfüllte ihn

mit Wut.

Ich will alles wissen, was du weißt, König. Danach

magst du gehen. Wenn du noch kannst! Spott schwang

mit den letzten Gedanken.

Warum fragst du nicht einfach? dachte der König

wütend.

Du würdest nicht alles sagen, stellte der Magier fest.

Auch will ich alles wissen, auch jene Dinge, die deiner

Erinnerung vielleicht gerade nicht gegenwärtig sind.

Meinen suchenden Gedanken bleibt nichts verborgen.

Auch nicht die unwichtigen Dinge. Die kleinen

Page 117: Die Macht der Götter

Freuden der Könige. Königin Amee, habe ich sagen

hören, ist von außergewöhnlicher Schönheit. Ich bin

sicher, deine Erinnerungen, König, werden mich

überzeugen. Und sie werden viele Dinge enthalten, die

nur der Liebhaber weiß ...

Dragon lachte. »Deshalb die Mühe, Magier?« sagte

er.

Zum erstenmal spürte er so etwas wie Wut in den

Gedanken des anderen, die dieser aus Dragons Geist

rasch zurückzog, als hätte er Angst, auch seine

geheimsten Absichten könnten sich in einem

unbewachten Augenblick seinem Gefangenen

mitteilen.

»Es gibt viele seltsame Vögel in einem großen Reich

wie Myranien«, fuhr der König fort. »Aber du

übertriffst sie alle. Ein Magier, der Könige entführt und

die alten Kräfte dazu benutzt, königliche

Bettgeheimnisse ...«

König, sei gewarnt! Die Gedanken peitschten wie

glühende Messer durch Dragons Kopf. Er wand sich

wild. Als er keuchend in seinen Fesseln hing, kamen

die Gedanken Arzan Shors ruhiger, aber noch immer

mit der Schärfe einer Klinge.

Du siehst, wie einfach es ist, Qual zu bereiten. Ein

Gedanke, und du würdest tausend Tode sterben. Spott,

so weise sollte ein König sein, ist immer ein Kind der

Situation. Und deine ist nicht die Lage zu spotten.

Page 118: Die Macht der Götter

Dragon verbiß sich einen Gedanken der

Erwiderung. Es war besser, diesen Narren nicht noch

mehr zu reizen.

Das ist die rechte Einstellung, mein Freund.

Freund? Der Schmerz hatte Dragon ernüchtert. Er

wußte plötzlich, daß er nicht allein auf der Welt war. Er

besaß Freunde. Aber wo blieben sie so lange? Hatte

keiner gesehen, daß er entführt worden war?

Das wohl. Aber keiner weiß, wo du bist. Lachen.

Dragon dachte an Yina, aber er verbarg den

Gedanken rasch. Das Bewußtsein aber, daß sie ihn

finden konnte, vielleicht als einzige, blieb. Yina?

Der Magier lachte, als Dragon seine Gedanken in

den Hintergrund drängte, sorgsam darauf bedacht, sie

vor ihm zu verbergen. Wir wollen es nicht länger

hinauszögern. Wir wollen sehen, ob mich dein

königlicher Geist bereichert. Du denkst an Zamoc. Du

weißt, wer Zamoc war. Du hast seinen Kräften

widerstanden. Du kennst seine Kräfte.

Monoton drangen die Fragen in sein Gehirn. Zamoc,

dachte er. Zamoc-Cnossos ... Cnossos?

Cnossos. Zamoc. Was wollte dieser verrückte

Magier? Etwas über Cnossos erfahren? Ein völlig

unwirkliches Gefühl zu lachen überkam ihn. Arzan

Shor sah in der Tat aus wie ein Ableger Cnossos! Es

wäre interessant zu erfahren, ob er blutete, wenn ihn

eine Klinge traf. Sein Gesicht jedenfalls war das eines

Page 119: Die Macht der Götter

Geiers, wenn das etwas zu bedeuten hatte.

Geier? Denk darüber nach. Du weißt mehr darüber.

Was bedeutet der Geier? Eine Bedrohung, dachte

Dragon und glitt tiefer unter den dirigierenden

Gedanken des Magiers. Eine Bedrohung ... ein altes

Übel, das irgendwie mit meiner Vergangenheit

zusammenhängt. Wenn ich mich nur erinnern könnte

...!

Die Wirklichkeit um ihn schwand. Er trieb auf dieses

Loch zu, diesen Schlund in seinem Innern. Aber nun

hatte er keine Furcht mehr. Nur Neugier, die ihn

vorwärtsstieß. Alles um ihn war taub. Es gab nirgends

eine Wirklichkeit, nirgends eine Oberfläche, an die man

emportauchen konnte. Die Gefahr lauerte nicht hier

unten. Sie wartete oben. Sie wartete, daß man

emportauchte mit einer Hand voll kostbarer

Erkenntnisse.

Er hing an einem Faden über dem Abgrund seines

eigenen Ichs. Er sah hinab in die unergründlichen

Tiefen von Jahrtausenden. Ein Schwindel erfaßte ihn.

Er suchte nach irgend etwas, an dem er sich

festklammern konnte am Rand dieses Abgrunds, in

dem das Feuer und der Glanz einer anderen Zeit, einer

anderen Welt loderten, die ihm vage vertraut waren

und doch so unermeßlich fremd.

Aber der Faden hielt ihn unerbittlich über dem

Nichts.

Page 120: Die Macht der Götter

Das Gesicht eines Mädchens tauchte empor, lächelte

ihm zu mit der Trauer der Ewigkeit in den Augen. Er

wußte, daß sie Mura hieß.

Dann waren die Sterne um ihn – nah und greifbar.

Er lag zwischen ihnen in einem seltsamen Boot, das

durch den Himmel fuhr, und die Abgründe um ihn

erfüllten ihn mit Schaudern.

Plötzlich aber wallte Feuer empor aus einer

unbekannten und doch vertrauten Stadt. Die Erde

brannte und wurde hochgeschleudert. Der ganze

Abgrund war ein Ofen, in dem das Feuer einer Welt

loderte, die in Flammen aufging. Und er zappelte

hilflos darüber.

Ein Schrei entrang sich ihm, erfüllt von einer

instinktiven Furcht, geboren aus den unbegreiflichen

Bildern fremdartiger Erinnerungen, über denen

Cnossos schwebte, Amyron gleich.

Die Bilder verlöschten, aber die Furcht blieb und

wallte hoch an diesem Faden, der ihn so erbarmungslos

hielt.

Jemand schrie, und es war nicht er selbst. In seinem

Gehirn war alles zu Asche geworden, Erinnerungen

und Gefühle gleichermaßen. Er öffnete die Augen.

Der Magier wich mit vor Entsetzen starren Augen

vor ihm zurück. Sein Mund war noch immer zum

Schrei geöffnet. Er hatte gesehen, was Dragon gesehen

hatte. Er hatte so wenig verstanden wie Dragon, was

Page 121: Die Macht der Götter

die Bilder bedeuteten. Aber das Entsetzen, das sie

auslösten, war in ihm ungleich stärker, weil er ein Kind

seiner barbarischen Welt war, ein Geschöpf ohne

Erinnerung an die Zeit der Götter ...

Und ihres Untergangs.

Etwas, das Dragon einst verstanden und nur

vergessen hatte.

Aus den Augenwinkeln sah Dragon, wie die Hand des

Magiers nach seinem Dolch im Gürtel griff.

»Hat dich der Mut verlassen, Arzan Shor?«

Der Schwarze zögerte, aber die Furcht wich keinen

Augenblick aus seinen Zügen.

»Du hast zuviel gesehen, nicht wahr? Mehr als du

ertragen kannst. Das ist nicht mehr die Macht, nach der

du greifen wolltest! Denkst du, ich bin der einzige, in

dem sie schlummert? Denkst du, du könntest sie tilgen

aus dieser Welt, indem du mir den Dolch in die Brust

stößt?«

»Vielleicht nicht für immer«, zischte der Magier in

einem kaum verständlichen Myranisch. »Aber

wenigstens für den Augenblick!«

»Und dann?« erwiderte Dragon ruhig, ungeachtet

des erhobenen Dolches.

Arzan Shor zögerte.

»Möchtest du solch eine Macht zum Feind?« sagte

der König drohend.

Page 122: Die Macht der Götter

Der Magier starrte ihn an. Sein schwarzes Gesicht

war fahl. Seine Kapuze war vom Kopf geglitten, und

sein kahler Schädel glänzte wie poliert.

So sah also der Tod aus, dachte Dragon.

Ein Tumult kam von draußen durch die leeren

Fensteröffnungen. Arzan Shor zuckte zusammen.

Dragon lauschte angestrengt. Einen Augenblick schien

es, als würde der Magier zustoßen, aber dann überwog

die Furcht.

Dragon verstand deutlich seine Gedanken: Das

Ende ... durch einen Feind wie diesen ... muß über alle

Maßen schrecklich sein. Ihr Götter ... ein Frevler steht ...

Sie erloschen, als Geräusche von unterhalb der

Kammer kamen. Stimmen. Kampflärm.

Parthos Stimme: »Ha, Haleb, diese schwarze Brut

ficht so armselig, daß ich mich frage, wie sie bei ihren

dunklen Machenschaften bis jetzt am Leben geblieben

ist!«

Schreie drangen hoch. Dann Yinas Stimme, und sie

erfüllte Dragon mit grenzenloser Erleichterung.

»Oben Partho. Er lebt!«

Der Magier wich an die Wand zurück. Hastige

Schritte näherten sich über steinerne Stiegen.

Der Magier löschte die Kerze. In der vollkommenen

Dunkelheit hielt Dragon den Atem an. Sein Körper

spannte sich in Erwartung des Dolches.

Fäuste und Körper schlugen gegen die schwere

Page 123: Die Macht der Götter

Bohlentür. Sie schwang auf und knallte gegen die

Wand.

Eine Fackel tauchte den Raum in flackerndes Licht.

Dragon sah sich hastig um.

In der Tür standen Partho und ein Fremder mit einer

blutigen Klinge in der Faust. Dahinter Yina mit großen,

ängstlichen Augen. Und hinter ihr Soldaten der

Palastwache.

Sonst war die Kammer leer.

Arzan Shor war verschwunden.

9.

»Wir sollten die Stadt nach ihm absuchen«, meinte

Partho, als sie im Palast zusammensaßen.

Dragon schüttelte den Kopf. »Nein, das würde nur

noch mehr Aufsehen erregen.«

»Aber die Stadt ist noch abgeriegelt. Er kann nicht

entkommen.«

»Nein, Partho. Er fürchtet mich mehr als den Tod. Er

würde alles eher wagen als mir noch einmal

gegenübertreten.«

»Wie ist das möglich?« Partho schüttelte verwundert

den Kopf.

»Es ist das alte Übel«, erklärte Dragon stirnrunzelnd,

Page 124: Die Macht der Götter

als wäre er sich selbst seiner Worte nicht sicher. »Es

hängt mit meiner Vergangenheit zusammen, mit

meinen verlorenen Erinnerungen. Irgendwie ... ist es

ihm gelungen, den Vorhang ein wenig beiseite

zuschieben. Wir sahen beide etwas, das wir nicht

verstanden ... eine ungeheure Macht ... irgendwo

zwischen den Sternen, die ein ganzes Land in Feuer

und Asche verwandelte. Ich fühle, nein, ich weiß, daß

es mit Cnossos zusammenhängt. Ich hatte Furcht ... wie

sie nur einen Mann überkommt, der sich etwas

gegenübergestellt sieht, das er nicht versteht. Aber es

erschreckte den Magier noch mehr.« Nachdenklich

fügte er hinzu: »Er war kein gewöhnlicher Mann. Er

konnte in meinen Gedanken lesen, wie manche eurer

Brüder und Schwestern, Cheron. Zweifellos war es

auch sein Werk, daß unsere Yina keine Gedanken von

El Dschafar auffangen konnte. Vielleicht wußte El

Dschafar nicht einmal, welchen Auftrag er hatte und

welches Risiko er einging ...«

Partho nickte. »Wir haben ihn befragt. Er gibt vor,

nichts zu wissen.«

»Ist es dann nicht gefährlich, diesen Arzan Shor

laufen zu lassen, wenn er solche Macht über die

Menschen hat, daß sie seine willigen Werkzeuge sind?«

warf Cheron ein.

»Sind nicht überall seinesgleichen, wohin wir

schauen?« erwiderte Dragon. »Wir müßten diese halbe

Page 125: Die Macht der Götter

blutrünstige Welt einsperren, wenn wir uns um jeden

kümmern wollten, der mit grausamer Hand über

andere herrscht. Oder hältst du Zogor für besser, nur

weil seine Macht vom Schwert abhängig war? War er

deshalb im Grunde weniger dämonisch?«Cheron

schwieg.

»Ja«, sagte Partho in die Stille. »Es ist besser, ihn

laufenzulassen. »Er grinste. »Ob er es will oder nicht, er

ist auf unserer Seite.«

Die Umsitzenden sahen ihn erstaunt an.

»Seht Ihr es nicht?«, meinte Partho. »Er wird in

Kreisen seinesgleichen vor dem König warnen und

davon berichten, was er gesehen hat. Wenn es sich weit

genug herumspricht, wird es keiner mehr wagen,

Hand an den großen König Myras zu legen.«

Cheron nickte zustimmend. Dragon lachte. »Wenn

ich ehrlich bin, Freunde, habe ich selber ein wenig

Angst vor mir.«

»Einer hat es nicht«, erklärte Amee. »So oft wir ihn

auch vernichtet glaubten – er kam immer wieder.«

»Wißt ihr denn«, fragte Cheron, »könnt ihr sicher

sein, daß es nur einer ist? Könnte es nicht auch von

seiner Art mehrere geben, vielleicht ein ganzes Volk?

Das von den Sternen kam, so wie du es in deiner

Erinnerung zu sehen glaubtest?«

Dragon nickte nachdenklich. »Warum hassen sie uns

nur?«

Page 126: Die Macht der Götter

»Wohl weil ihr beide aus der alten Zeit stammt«,

sann Cheron. »Es mag einen Krieg gegeben haben

zwischen euch, einen Krieg mit Waffen, die Feuer

speien konnten und die Erde aufreißen wie das

Donnerpulver, das dir so gute Dienste leistete. Du

trägst den Schlüssel in dir, König. Vielleicht werden

viele wie Arzan Shor noch herausfinden, daß es

gefährlich ist, einen Blick hinter diese Tür zu tun.«

»Eines Tages«, sagte Dragon zuversichtlich, »wird

sie sich öffnen. Ich fühle es.« Er ballte die Fäuste.

Dajna stand in einem der Palasttürme und starrte hinab

auf den Hafen, in dem geschäftiges Treiben herrschte.

Die meisten der großen Galeeren in den Docks und an

den Kais wurden ausgebessert, von Tang gereinigt, die

Segel bemalt. Das Wasser des breiten Hafenbeckens

war grünlichblau unter der prallen Mittagssonne.

Selbst hier in den Schatten von Stein und Marmor hoch

oben auf den Terrassen und Zinnen des Palastes war

der Gluthauch zu spüren. Nur der gelegentliche salzige

Wind vom Meer her, der deutlich erkennbar über die

Wimpel und Segel strich und die Wetterhähne auf den

Dächern hin und her wirbelte, spendete einen Hauch

erfrischender Kühle.

Dajna nahm das alles nur mit halbem Herzen wahr.

Sie war tief in Gedanken. Es gab etwas, das ihr Gemüt

beinahe schmerzlich berührte. Der Abschied.

Page 127: Die Macht der Götter

Zum erstenmal hatte sie längere Zeit unter Männern

gelebt, die sie nicht haßte, die ihre Gefährten waren,

nicht ihre Feinde. Es war nicht so, daß ihr Männer

fremd waren. Es gab sie in Kaleir, ihrer Heimatstadt, es

gab sie überall in Katmahzar – auf den Bauernhöfen, in

den Minen, in den Schmieden, auch in manchen

Bädern und Speisehäusern. Aber die wenigsten Frauen

kamen mit ihnen in Berührung, außer in den Zeiten der

Befruchtung. Zudem hatten sie wenig Kriegerisches an

sich, nichts, das ihnen in den Augen der

Katmahzari-Frauen Ansehen oder Persönlichkeit gab –

blasse Geschöpfe, die nur den einen Zweck erfüllten:

die Art zu erhalten.

Als Nichte der Königin genoß Dajna bereits früh

Rechte, die gewöhnlichen Kriegerinnen versagt

blieben. Sie kam weit herum und sah mehr als die

meisten. Sie ging in geheimer Mission an den

myranischen Hof, als Sklavin König Zogors. Sie kannte

die Begierden, Fehler und interessanten Eigenschaften

der Männer – der echten Männer, wie es sie in ganz

Katmahzar nicht gab.

Sie hatte noch nicht geboren, und trotzdem ihre

Jungfräulichkeit nicht bewahrt – ein Preis, den sie in

der Welt der Männer hatte bezahlen müssen, um ihre

Maske als Weib zu wahren.

Seltsamerweise war das eines der Dinge gewesen,

die sie am wenigsten berührt hatten. Sie hatte

Page 128: Die Macht der Götter

Katmahzari Frauen gesehen, die Schlimmeres mit

gefangenen Männern taten. Sie hatte gelernt, daß die

Grausamkeiten einzelner nicht für ein Volk oder eine

Art zählten.

Der Gedanke, Sklavin zu sein, entsetzte sie am

meisten. Die Zeit an Zogors Hof war nur schwer

erträglich gewesen, aber die Königin brauchte die

wichtigen Nachrichten. Sie mußte erfahren, ob Myra

einen Feldzug gegen Katmahzar plante. Die Pflicht

hatte sie es ertragen lassen.

Aber in all der Zeit hatte sie sich gewandelt, ohne

daß es ihr bewußt geworden war. Es gab Männer, zu

denen sie aufblickte, weil sie tapfere Krieger waren. Es

gab solche, die sie ob ihrer muskulösen Gestalt

bewunderte. Und obwohl sie erzogen worden war,

Liebe und zärtliche Zuneigung nur für das eigene

Geschlecht zu empfinden, gab es nun einen, der

seltsame Gefühle in ihr auslöste.

Diese Gefühle waren es, über die sie sich

klarzuwerden versuchte, als sie mit windverwehtem

schwarzen Haar und abwesendem Gesicht in den

Hafen hinabstarrte.

Vor allem spürte sie eine Einsamkeit, wenn sie an

ihre Rückkehr nach Kaleir dachte. Es war keine

körperliche Einsamkeit. Jede der übrigen

Katmahzari-Kriegerinnen hier am Hof hätte es als

große Ehre empfunden, mit der Nichte der Königin

Page 129: Die Macht der Götter

Zärtlichkeiten zu tauschen und die Sinne zu

befriedigen.

Es waren aber nicht ihre Sinne, die sie mit Verlangen

erfüllten, sondern ihre Seele, ihr Herz.

Ihr Herz sagte ihr, es wäre gut, mit Haleb zu reiten.

Ihr Verstand sagte, daß es falsch war, daß sie Kinder

zweier Welten waren, die einander niemals

vollkommen begreifen konnten, auch wenn sie es noch

so sehr versuchten.

War es so wichtig, dieses vollkommene

Verständnis? Verstanden Mann und Frau einander hier

so gut? Es sah nicht so aus.

Aber sie wußte, daß sie fest bleiben mußte, daß sie

zuviel verlor. Zuviel, einiger verwirrender Gefühle

wegen. Für den Bruchteil eines Augenblicks beneidete

sie diese myranischen Frauen in ihren seidenen

Kleidern, um die unvergleichliche Art, Sklavin zu sein

und doch frei, Untertan zu sein und doch zu nehmen,

weich zu sein ohne Scham.

»Matra!« sagte eine Stimme hinter ihr, was soviel

bedeutete wie »Heilige Mutter«, Dajna fuhr herum, ein

wenig bleich, weil sie sich in ihren beinah ketzerischen

Gedanken ertappt fühlte. Malija stand in der Tür. Sie

war die älteste der Kriegerinnen, die auf Nemors Schiff

gewesen waren.

»Kind, Ihr träumt«, sagte sie. »Wie viele Tage

werden noch vergehen, ehe wir wahrhaftig abreiten?

Page 130: Die Macht der Götter

Man könnte meinen, die Männer hätten es Euch

angetan.« Letzteres klang, als wäre es nicht ganz frei

von echten Zweifeln. Für Malija, die seit drei Dutzend

Jahren an den Grenzen Katmahzars ritt und die Welt

jenseits der Grenzen leidlich kannte, war es kein so

absurder Gedanke wie für jene im Herzen des

Amazonenreichs, die nie andere Männer als die

verweichlichten Söhne ihrer Mütter gesehen hatten.

Es war kein Geheimnis, daß es verachtete

Überläuferinnen gab, deren Schicksal man totschwieg.

Es kam ihr in den Sinn, wie leicht es im Grunde war.

Hatte man erst einmal die Verachtung überwunden,

dann brauchte es nicht viel, den Lockungen des

Fremdartigen zu erliegen.

»Es drängt dich, zurückzukehren?« fragte Dajna.

»Nicht mich allein, Dajna.«

»Wenn es nichts gibt, das euch hält, so reitet!«

»Ihr bleibt?« Es war eine mehr als forschende Frage.

»Ja«, sagte Dajna fest.

»Was sagen wir unseren Schwestern, wo Dajna, die

Nichte Asmyras geblieben ist?«

»Dort, wo es ihr gefällt, Malija. Es gibt so vieles, das

sich zu sehen lohnt im Reich unserer myranischen

Verbündeten, daß ...«

»Die myranischen Männer meint Ihr wohl?« warf

Malija spöttisch ein.

»Ist das euer Dank?« fuhr Dajna heftig auf. »Ihr

Page 131: Die Macht der Götter

wäret ohne mich bereits Sklavinnen am Hof eines

schwarzhäutigen Fürsten. Hast du das schon

vergessen, Malija?«

Die Frau erbleichte. »Verzeiht mir, Dajna.«

»Verstehst du es nicht, Malija? Es ist eine Welt, die

so ganz anders ist als unsere. Ich weiß nicht, ob ich in

ihr leben möchte. Aber eins möchte ich: sie

kennenlernen. Ihre Art zu leben ist nicht ohne Reiz ...«

»Eines Tages«, warnte die Ältere in versöhnlichem

Ton, »mag es sogar einen Mann geben, mit dem Ihr es

versuchen möchtet.«

Dajna zuckte die Achseln. »Es gefällt mir zu sehr

hier, um nun fortzugehen. Ich glaube, daß eine gute

Klinge hier gebraucht wird. Es hat in diesem Land viele

Vorteile, eine Frau zu sein, die sich zu wehren versteht.

Die Königin würde meine Anwesenheit am Hof sehr

schätzen. Und es gibt Männer hier, die ich achten

gelernt habe – und du auch, wenn du ehrlich genug

bist. Der König ist einer von ihnen. Hier ist der Puls der

Welt, Malija. Ich würde die Eintönigkeit am Hof

Asmyras nicht lange genug ertragen, um dort in

Frieden zu leben. Du hast des Königs Worte gehört. Ein

Haus soll hier für Abgesandte aus Katmahzar

eingerichtet werden. Das ist etwas, das mich reizt,

Schwester. Und wenn du mir eine gute Freundin sein

willst, wie ich es dir bin, dann berichtest du ohne Spott

in Kaleir von mir.«

Page 132: Die Macht der Götter

Die Kriegerin sank in die Knie und umfaßte ihr

Schwert. »Seid gewiß, daß ich es tun werde. Ich bin

auch sicher, daß die Mutter Königin nicht zögern wird,

die Gesandtschaft nach Myra zu entsenden. Jeder weiß,

wie sehr sie das Bündnis mit König Dragon achtet. Ihr

habt recht, er ist ein vernünftiger Mann.« Sie lächelte,

und es war aufrichtig gemeint, als sie sagte: »Lebt

wohl, Dajna, und mögen Euch Töchter beschieden

sein.«

Wenig später sah sie das kleine Häufchen der

Amazonen aus dem Palast reiten. Mehrere Soldaten

ritten mit ihnen. Die Gruppe nahm die nördliche Straße

und war bald hinter den Hügeln verschwunden.

Auch nach einer Stunde waren die Soldaten noch

nicht zurückgekommen, und Dajna hatte den leisen

Verdacht, daß sie der König oder die Königin als

Begleitschutz bis an die Grenzen befohlen hatte.

Sie lächelte bei dem Gedanken. Dieses Bündnis war

etwas, das tiefer schneiden würde, als sie alle ahnten.

Matras Töchter würden manches lernen müssen.

»Ah, El Haleb, Ihr seid mir der Rechte«, sagte Partho,

während sie den Audienzraum verließen, in dem

Dragon die Heerführer um sich versammelt hatte, um

mit ihnen zu beraten. »Der König gibt Euch ein Schiff,

das Euch zum Göver zurückbringt, was Euch einige

Tage im Sattel erspart. Und Ihr seht so unzufrieden

Page 133: Die Macht der Götter

aus, als hätte man Euch nichts Schlimmeres antun

können. Was ist es, das Euch bedrückt?«

El Haleb verzog sein Gesicht, als messe er der Sache

im Grunde wenig Bedeutung bei. Dann sah er die

ehrliche Anteilnahme in Parthos Zügen und sagte: »Es

ist eine Entscheidung, Kommandant, die ich fürchte.«

»Eine, die Ihr zu treffen habt?« fragte Partho.

El Haleb schüttelte den Kopf.

»So ist es eine, die die junge Kriegerin treffen

könnte?« riet Partho.

Die Züge des Silikers hellten sich auf. Lebhaft sagte

er: »Es gäbe nichts, das ich lieber an meiner Seite sähe

als Dajna. Sie ist ...« Er verstummte verlegen. Traurig

fügte er hinzu: »Aber ich weiß, daß Sie es ablehnen

würde ...«

Partho nickte langsam. »Es ist gegen ihre Natur. Sie

sind ein seltsames Volk, diese Amazonen. Aber ich

denke doch, daß Ihr mit Dajna irgendein Abkommen

treffen könnt, wenn sie es Euch wert ist, daß Ihr auch

ein paar Zugeständnisse macht, die Euer Leben

betreffen. Sie würde Euch niemals ein gutes Weib sein.

Und sie würde sich wohl niemals befehlen lassen.

Gebräuche und Erziehung lassen sich nicht

abschütteln. Nicht von heute auf morgen. Wir haben an

ihrer Seite gefochten und ihre Klinge schätzen gelernt,

wenn uns auch sonst manches mißfiel. Aber Dajna ist

anders.« Er lächelte. »Etwas gefällt ihr hier, sonst wäre

Page 134: Die Macht der Götter

sie nicht allein hiergeblieben, während ihre

Gefährtinnen vor geraumer Weile Myra verließen.«

»Sie ist geblieben?« rief der Siliker erfreut.

»Meinetwegen?«

»Das«, meinte Partho, »müßt Ihr wohl

herausfinden.«

Er fand sie auf dem Turm, wo sie noch immer aus dem

Fenster blickte, mit einem melancholischen Lächeln auf

den Lippen, das sie ihm verwirrend weiblich

erscheinen ließ.

Als sie ihn kommen hörte, wandte sie sich um, und

das Lächeln schwand aus ihren Zügen.

»Dajna«, sagte er unbeholfen. »Der König gab mir

ein Schiff für die Heimreise ...«

»Ja?« sagte sie. »Er ist ein dankbarer Mann ...«

»Ich würde lieber mit dir reiten, Dajna« sagte er mit

unsicherer Stimme.

»Wohin, Haleb? Zum Göverfluß? Zu deinen

Stämmen?«

»Wohin du willst«, sagte er leise.

Sie sah ihn lange an. »Es ist dein Ernst?«

Der Siliker nickte. Ja, es war sein Ernst.

»Seit ich hier oben bin, hoffte ich, du würdest

kommen ...«

»So erwiderst du meine Gefühle«, entfuhr es El

Haleb.

Page 135: Die Macht der Götter

»Wie könnte ich das, Haleb?« Sie sah seine

Enttäuschung und fuhr rasch fort: »Weißt du, wie die

Katmahzari-Kriegerinnen ihre Kinder zeugen?«

Er schüttelte stumm den Kopf.

»Wir haben einen Mond der Zeugung«, erklärte sie,

»in dem wir die Männer in unsere Hütten lassen oder

mit in unsere Häuser nehmen. Dort füllen wir unser

Geschlecht mit ihrem Samen. Es ist keine Liebe dabei,

keine Leidenschaft, nur die Notwendigkeit, zu

befruchten.« Sie sah ihn. »So hast du es dir nicht

vorgestellt, nicht wahr? Denkst du, daß es mit uns

anders sein würde?«

»Ja«, erwiderte er heftig. »Siehst du nicht den

Unterschied? Du hast keinen eurer Männer vor dir, die

ihr verachtet, und die euch hassen oder wenigstens

ebenso verachten. Ich will nicht behaupten, daß ich mir

vorstellen kann, was in einem Katmahzari-Mann

vorgeht. Aber eines ganz gewiß nicht. Er bringt euch

keine Liebe entgegen. Aber ich ... ich liebe dich, ganz

gleich, wie du es empfinden magst. Ich würde dich

lieben, selbst wenn ich dein Sklave wäre, Dajna. Und

du müßtest aus Stein sein, wenn du meine Leidenschaft

nicht fühlen könntest. Ich habe nicht den Eindruck, daß

du mich verachtest, daß du mich wie einen eurer

Männer siehst ...«

»Nein«, sagte sie rasch.

Erregt wollte er nach ihren Armen greifen, sah die

Page 136: Die Macht der Götter

Abwehr in ihrem Gesicht und unterdrückte das

Verlangen, sie zu berühren.

»Wenn nur ein wenig von dem Feuer dich erfaßt,

das in meinem Herzen für dich brennt, Dajna ...«

Sie sah ihn verwundert an. »Viele Frauen haben

mich geliebt, Haleb. Manche, weil sie ein Bedürfnis

nach Liebe hatten, andere, weil es eine Ehre für sie war,

mit der Nichte der Königin das Lager zu teilen, und

eine, weil sie mir von Herzen zugetan war. Aber keine

hat mit solchen Worten um meine Gunst geworben,

wie ... oh, Haleb ... dein Feuer ... es brennt sicher. Ich

weiß es. Ich fühlte es, seit wir uns wiedertrafen. Deine

Wange an

meiner ... in der Dunkelheit, als du mich festhieltest, da

war ich dir zugetan wie einer Geliebten. Und ich

verfluchte, daß etwas sich in mir sträubte, deine

Zärtlichkeit zu erwidern.«

Sie trat ganz nahe zu ihm. »Haleb, mein Liebster,

nimm mir das Schwert ab.«

Stumm griff er nach dem Gürtel ihres Gewandes,

öffnete ihn und ließ ihn mit dem Schwert zu Boden

gleiten. Als er sie in die Arme zog, war es einen

Moment, als bewegte er eine Statue von Eis. Aber sein

Feuer, das ihm soviel Zuversicht gab, schmolz ein

wenig davon ab; genug, daß er sie an sich ziehen

konnte und die Wärme ihres Körpers fühlte. Nach

einer langen Weile begannen ihre Hände seinen zu

Page 137: Die Macht der Götter

antworten. Ihr Mund war nicht länger hart und

verschlossen unter seinen Küssen.

Plötzlich machte sie sich frei. »Ich glaube an dein

Feuer, Haleb«, flüsterte sie. »Wenn du mir nur Zeit

läßt, es zu fühlen ... mich aufzuwärmen. Du wirst sehr

viel Geduld mit mir haben müssen!«

10.

Die letzten Tage waren sehr anstrengend gewesen.

Yina blickte verlangend auf das Meer hinab, das nun

ein Gemisch von Schwarz und Silber war in der

Abendsonne. Sie sehnte sich wieder ein wenig nach

Einsamkeit. Die gedankliche Überwachung des Königs,

um ihn vor heimlichen Mördern und Mißgünstigen zu

schützen, hatte ihr kaum Zeit gelassen, an Bodo zu

denken. Kein Augenblick war ihr geblieben, ihn zu

vermissen. Sie hatte Kapitäne und Heerführer auf ihre

Loyalität überprüft, sie war fast immer in der Nähe

Dragons gewesen, und mehr als einmal hatte sie die

Gefahr, die ihm drohte, rechtzeitig erkannt.

Aber heute abend wollte sie fort – zu ihrem

geliebten Ausflugsziel.

Die Bucht der Großen Steine. Das Meer und die

Page 138: Die Macht der Götter

Sterne und den Sand wollte sie um sich haben, und die

schmerzlichen Erinnerungen an Bodo.

Aber diesmal wollte sie sich nicht heimlich

fortschleichen aus dem Palast. Sie würde Tante Amee

von ihrem Vorhaben unterrichten und Iwa.

Dragon fühlte sich erschöpft. Arzan Shors Kräfte

hatten ihm mehr zugesetzt, als er erst geglaubt hatte.

Selbst jetzt, zwei Tage nach diesem Erlebnis, gab es

noch immer Augenblicke, da eine Müdigkeit über ihn

kam – so als wäre etwas tief in ihm am Erwachen und

brauchte Kräfte, um stärker zu werden. Bruchstücke

von Erinnerungen zogen durch seine rastlosen

Gedanken. Aber wenn er nach ihnen greifen wollte,

lösten sie sich auf wie Seifenblasen.

Schlafen schien das einzige Mittel gegen die

Müdigkeit. Es sah so aus, als hätte er endlich Zeit, sich

Ruhe zu gönnen. Das Reich war fest in seiner Hand.

Das Heer war stärker als je zuvor. Und seine Flotte

wuchs mit jedem sonnigen Tag. Nach Plänen eines

Zunter Schiffsbauers wuchsen neue Schiffe in den

Docks. Es galt, die wenige Zeit zur Ruhe zu nutzen, die

ihm die Regierungsgeschäfte ließen.

Es gelang Yina, Partho zu überreden, sie vor

Anbruch der Dunkelheit mit einem Schiff

hinauszufahren zur Bucht der Steine. Das würde ihr

den langen, beschwerlichen Weg ersparen. Partho, der

längst wußte, welcher Herzenskummer das Mädchen

Page 139: Die Macht der Götter

von Zeit zu Zeit in die Einsamkeit trieb, stimmte

zögernd zu. Er hatte ein ungutes Gefühl.

Beim letztenmal war sie von Piraten verschleppt

worden. Was diesmal geschehen mochte, war nicht

auszudenken. Deshalb befahl er den Männern, die Yina

hinausfuhren, daß sie in ihrer Nähe bleiben und sie

nicht aus den Augen lassen sollten – doch so, daß sie

nicht merkte, daß sie beobachtet wurde.

Wenig später starrten Kim und Kano von einem der

Palastfenster in den Hafen, aus dem ein kleines Boot

fuhr, in dessen einzigem Segel sich der Abendwind

fing und es hinausschob zwischen den geankerten

Galeeren. Sie waren verärgert und enttäuscht, denn sie

wären zu gern mitgefahren.

Aber Yina war aufs heftigste dagegen gewesen. Und

sie hatte von Partho Schützenhilfe bekommen. Drei

Jugendliche im Auge zu behalten, hätte mindestens die

vierfache Schiffsbesatzung erfordert. Außerdem war es

noch aus einem anderen Grund wichtig, daß die

Knaben im Palast blieben. Wenn nämlich Yina wider

Erwarten doch wieder etwas zustoßen sollte, dann

konnte sie mit Kim oder Kano im Palast

Gedankenkontakt aufnehmen, und Hilfe konnte

schnellstens in die Wege geleitet werden.

Als sie in dem noch warmen Sand lag, allein mit der

Natur und ihren Gedanken, dachte sie über Dragons

Liebe zu Amee nach, und über jene, die El Haleb, der

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Daikan der Siliker, für die Katmahzari-Kriegerin

empfand. Und sie verglich sie mit Bodos und ihren

Gefühlen.

Sie war tief in Gedanken, und sie sah die auf dem

flachen Wasser heranrasenden, delphingezogenen

Wellenbretter erst, als die geduckten Gestalten

abstiegen, drei an der Zahl, und durch das seichte

Wasser auf sie zukamen.

Sie erschrak furchtbar, aber gleich darauf vernahm

sie eine vertraute Gedankenstimme – die des

Tainu-Mädchens Issola, die Yina freudig begrüßte.

Wer die anderen beiden waren, ein Mädchen, das

keine zwanzig Sommer zählen konnte und sicherlich

nicht aus Myra stammte. Der andere war ein Junge,

nicht viel älter als das Mädchen.

Woher wußtest du, daß ich hier bin? fragte Yina,

und las in Issolas Gedanken: Ich habe dich mehrmals

gerufen, aber du hast mich nicht gehört.

Yina wurde merklich rot im Gesicht. Sie dachte, daß

Issola vielleicht ihre Gedanken über Bodo hatte lesen

können. Aber wenn es der Fall war, so hätte sie

sicherlich Anzeichen in Issolas Gedanken finden

müssen. Von hier aus, fuhr Issola fort, hätte ich dich

wieder gerufen. Du hättest mich auch im Palast gehört.

Wir wollten dann hier warten, bis jemand kam.

Laut sagte sie: »Das sind Wigor und Sela.«

Die beiden grüßten mit einem Kopfnicken. Yina

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grüßte zurück.

»Wir haben sie aus dem Meer gefischt, weitab von

jeder Küste, inmitten eines Sturms. Sie kamen von der

Schwarzen Wellenreiterin. Es sieht so aus, als wären sie

die einzigen Überlebenden, Sie waren Kapitän Jaggars

Gefangene ...«

Yina sah die beiden mit großen Augen an. Die

Erinnerungen tauchten wieder auf – an Jaggar, der sie

zu seiner Braut machen wollte.

»Aber im Gegensatz zu uns«, fuhr Issola fort,

»wissen sie nur Gutes von Jaggar zu berichten. Und sie

wissen noch sehr viel mehr, das den König

interessieren wird. Kannst du ihn rufen?«

Yina nickte. »Nicht direkt, wie du weißt, aber Kano

wird ihn sofort wecken. Ist es wirklich so dringend,

daß wir ihn noch jetzt in der Nacht wecken?«

Issola nickte und schüttelte ihr weißes,

schulterlanges Haar. Ernst sagte sie: »Wir haben eine

sehr wichtige Nachricht für König Dragon. Diese

beiden kommen von der Schlangeninsel, zu der Jaggar

uns bringen wollte.

König Jellis hat dort eine Flotte von dreihundert

Schiffen zusammengezogen. Sie bereiten sich auf einen

Angriff vor und sind wahrscheinlich schon unterwegs.

Wir haben Späher ausgeschickt, die das Meer

beobachten werden. Sag dem König, das Ziel dieser

Schiffe ist Myra.«

Page 142: Die Macht der Götter

Yina starrte die drei bleich an. Ihre Gedanken

überschlugen sich, als sie Kim und Kano die Botschaft

übermittelte, die sie an Dragon weiterleiteten.

Die Nacht hatte so still begonnen.

Aber heute würde keiner mehr ein Auge schließen

im Palast von Myra.

Nicht mit dreihundert feindlichen Schiffen im

Anzug, deren Segel morgen schon am Horizont

auftauchen mochten ...

ENDE

Weder für den Balamiter noch für den Atlanter laufen

die Dinge genau nach Plan. Dafür ist der Rahmen der

gegenwärtigen Auseinandersetzung zwischen den

beiden Kontrahenten zu weit gespannt.

Und so geschieht es, daß das Eingreifen anderer, die

bisher Nebenfiguren im großen Spiel zu sein schienen,

schicksalhafte Bedeutung erlangt. Das gilt besonders

für die Zeit, da die Schlacht um Myra droht ...

Mehr darüber schreibt Hugh Walker im nächsten

Dragon-Band. Der Roman erscheint unter dem Titel:

DIE BRUDERSCHAFT DES GROSSEN MEERES

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