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Die Madelung'sche Deformität des Handgelenkes (Carpus valgus)

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XV.

Die Madelung'sche Deformit t des Handgelenkes (Carpus valgus).

V o n

Dr. Peter Berg.

Mit 4 Abbi ldungen ~uf Tafel I und I[ .

Am 13. April 1878 hielt M a d e l u n g auf dem VII. Kongress der Deutsuhen Gesellschaft fiir Chirurgie einen Vortrag fiber eine seltene, bisher nur sehr wenig bekannte Erkrankung des ttandgelenks. Da M a d e l u n g als der erste tiber -~tioiogie etc. ausfiihrlich berichtete im Anschluss an 12 yon ihm selbst beobachtete F~ilte, so warde yon dieser Zeit an diese Erkrankung des Hand- gelenks als ,,Madelung~suhe Deformit~it des Handgelenks': bezeichnet.

Bei dieser Erkrankung ist nach M a d e l u n g die ganze untere Epiphyse des Radius der betreffenden Seite nach tier Vola zu abwiirts gebogen: w~ihread (lie Ulna nach der dorsalen Seite sta.rk vorspringt: so dass man deren Gelenk- fliiehe, wie auch den Processus styloideus deutlich abtasten kann. Diesc +Neigung naeh der volaren Seite ist sogar so stark, dass M a d e l u n g anfangs glaubte, eine Luxation vor sich zu haben, bis er dutch die anatomische IJ~tter- s~chung eines solchen I:alles sich iiberzeugen musste: dass die Ulna zwar ihre Verbindung mit Radius und Karpalknochen vollst[indig aufgegeben hatte, dtts I{adiokarpalgelenk dagegen ~Sllig intakt war. Als Charakteristikum der Er- krankung fiihr~ er an, dass sic in langsamer Weise spontan entsteht, ohne irgend ein Zeichen von vorangegangener Eutz~'mdung, ohne nachweisbares Trauma und fast aus~chliesslich im Entwickelungsalter in der Zeit yon 12 bis 20 Jahren. Mit u wird das weibliche Geschtecht befallen yen der Et'krankung. (Von M a d e 1 u n g's 12 F~llen waren 8 weiblichen Geschlechtes.) Der Effekt der Erkrankung ist eine FunktionsstSrung im Sinne der Dorsal- flexion, welche stark behindert ist. Volarflexion ist eher vermehrt.

Was die Ursache der Erkrankung anlangt, so rechnet sie M a d e l u n g zu den ,,WachstumsstSrungen der Gelenke" nach Y o l k m a n n . V o l k m a n n fasst unter dieser Gruppe jene Deformit~ten zusammen: die nur bei Kindern und jugendlichen Individuen entstehen und abh~ngig sind yon allm~hlichen Umformungen der zuvor wohlgebildeten artikulierenden Fl~ichen durch mecha- nische Einfliisse, die das normale Knocimnwacbstum alterieren. Von diesen mechanischen Eintiiissen ist das wichtigste das KSrpergewicht und Repr~sen- tauten dieser Gruppe Skoliose, Pes valets, Genu valgum. Was bei der unteren Extremit~tt das KSrpergewicht, das ist bei der oberen der Beruf, die schwere kSrperliche Arbeit. Da aber viele Personen, die in ihrer Jugend

Arch, f. Orthop., Meehanoth. u. Unf.-Chh'. ~.II , -i. 2 ~

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scbwer arbeiten miissen, die Erkrankung nicht bekommen, w~hrend andere, die noch vielleicht viel weniger schwer arbeiten, davon befallen werden, so nimmt M a d e l u n g zur Erkl~rung eine gewisse Disposition zur Erkrankung an, einen ,prim~ren Schw~chezustand der Knochen".

Seit M a d e l u n g ist nun bis heute eine grosse Anzah] yon Autoren m~t Beobachtungen dieser Erkrankung an die 0ffen[lichkeit getreten und fast jeder nimmt eine andere Entstehungsursache als Erkl~rung fiir sich in An- spruch. Manche lassen die Frage ganz often und berichten nur ihren Fall.

C. O. W e b e r bemerkt fiber einen selbst beobachteten Fall ,,offenbar durch .~Iuskelkontraktion bewirkt". W. B u s c h , der den gleichen Fall beob- achtet hat, erw~hnt nichts fiber die Entstehungsursache. Ebenso R e d a r d in seinem Falle. P o u l s e n , der mehrere der~rtige Erkrankungen beob- achtet hat, nennt den Prozess rarefizierende Ostitis. P e l s - L e u s d e n nimmt eine verkehrte Knorpelanlage an. Von Erblichkeit sprechen M a l f u s o n , D e l k e y s e r , G u ~ p i n und V o l k m a n n . Fiir angeboren halten die Er- krankung J e a n A r d u i n und Ewald . Eine grosse Anzahl nimmt Rachitis (Sp~trachitis) als Krankheitsursache an.

In j[ingster Zeit sind nun zwei ausffihrliche Arbeiten erschienen yon B r a n d e s und S p r i n g e r . B r a n d e s steJlt sich auf E w a l d ' s Seite und sieht die Erkrankung mit P e 1 s- L e u s d e n in einer verkehrten Knorpelanlage, S p r i n g e r fasst sich mehr allgemein und h~.lt den Prozess ffir eine Erkran- kung des Skelettsystems.

S p r i n g e r ' s Auffassung scheint mir die richtige zu sein. Ich mSchte aber noch etwas weiter gehen und sagen: Die M ad e 1 u n g 'sche Deformit~t ist eine Erl~rankung des Skeletts, wie wir sie bei Rachitis sehen und daher als Kranl~heitsursache Spatrachitis annehmen. Denn sie kann den meisten hn- spruch auf Richtigkeit machen aus folgenden Grfinden:

Alle Autoren geben auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen unumwunden zu, dass die Krankheit ausschliesslich oder doch fast ausschliesslich im Ent- wickelun~alter entsteht. Nut in 11 F~llen trat sie fr~iher auf und davon in 7 vor dem neunten Jahre (1 S a u e r , 2 V o l k m a n n , 1 S c h u l z e , 1 v. F r a n k e , 1 B r a n d e s , 1 S p r i n g e r ) . In der Anamnese aller dieser FSlle heisst es: ,,Niemals Schmerzen". Eine t)atientin yon G a u g e l e gab sogar an~ die De- formit~t seit ihrer frfihesten Kindheit zu haben.

Auffallend ist, dass yon den in der Kindheit entstandenen F~.llen fast alle noch andere Knochenerkrankungen aufweisen als da sind Cubitus valgus, Pes valgus, Trichterbrust etc., so dass wir fast yon selbst auf Rachitis hin- gelenkt werden.

Ffir Rachitis spricht ferner der Umstand, dass die Krankheit ,,in lang- ~mer Weise spontan entsteht". (GewShnlich werden 1--2 Jahre als die Zeit bis zur vollstiindigen Entwickelung angegeben.) Ich halte dieses in langsamer Weise spontane Entstehen mit M a d e 1 u n g sozusagen ffr einen Prtifstein auf die Richtigkeit des Krankheitsbildes und wilI daher alle traumatischen F~lle ausgeschaltet wissen. Ich komme dadurch allerclings mit verschiedenen Autoren in Konflikt, besonders mit Dr. E w a l d . Dieser verSffentlichte eine Reihe yon

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F~illen, die nach aussen hin das Bild der Made lung ' schen Deformitiit so ziemlich haben, aber durch Traumen hervorgerufen wurden, einige sogar dutch typische Radiusbriiche und bemerkt dazu : ,Meiner Ansicht nach geben sie (die traumatischen Fiille) in mancher Beziehung Aufkliirung zum mindesten fiber den mSglichen Sitz der Erkrankung, sowie fiber die klinischen Symptome." Ich sage gerade das Gegenteil, wollen wir Klarheit fiber die Erkrankung be- kommen, so mfissen wir uns unbedingt auf M a d e l u n g ' s S t a n d p u n k t stellen und alle traumatischen F~lle yon vornherein ausschalten. H~itte marl alle tranmatischen F~ille, die iiusserlich das Bild der M a d e l u n g ' s c h e n De- formit~it geben, verSffentlicht, so wiire sicher die Zahl der FMle mehrmals grSsser. Bereits auf dem Kongress, auf dem M a d e l u n g seine Erkrankung bescbrieb, forderte er strikte jede Ausschaltung des Traumas auf eine dies- beziigliche Anfrage in der Diskussion. Und diesen Standpunkt miissen wir notwendigerweise innehaJten, wenn wir uns nicht yon vornherein in Wider- spruch setzen wollen mit M a d e l u n g .

Eine weitere wichtige Tatsaehe, die die Diagnose Rachitis stfitzen diirfte, sind die yon fast allen hutoren erw~hnten u Verkrfimmungen und Verkiirzungen des Radius oder die Verbreiterung seines unteren Endes. Von Radiusverkriimmungen sprechen: P o u l s e n , B e n n e k e , S a u e r , B a r t h ~ s , C n o p f , P e l s - L e u s d e n , F r a n k e , D e l k e y s e r , A b a d i e , D e l b e t , R e d a r d , S c h u l z e , S i e g r i s t , V o l k m a n n , G a u g e l e (letzterer hat auch F~lle ohne Verkriimmung). S p r i n g e r beschreibt eine doppelte Kriimmung, eine einfaehe volarkonkave Abbiegung und eine konkave Kriimmnng gegen die Ulna Eine Verkfirzung des Radius oder Verbreiterung seines unteren Endes erw~.hnen: P o u l s e n , B e n n e k e , S a u e r , F r a n k e , R e d a r d , V o l k m a n n .

Wir haben also eine Knochenerkrankung vor uns. die yon selbst, ohne Trauma, schleichend innerhalb 1--2 Jahren sich entwickelt mit mehr oder weniger grossen Schmerzen, ohne jedes Zeichen yon Entzfindung, die den Knochen erweicht oder doch weniger widerstandsf~hig maeht. Begreiflich, wenn F r a n k e angesichts dieser Tatsaehen bemerkt: ,Die Rachitis stimmt in der oft schleichenden, oft auch die Knochen elektiv befallenden Art wie keine andere Erkrankung mit dem spontanen meist schmerzlosen Entstehen der Deformit~t iiberein."

Noch wahrscheinlicher wird die Diagnose auf Rachitis, wenn wir sehen, dass die Pat. mit der Made lung ' schen Deformitit noch andere K.nochen- erkrankungen aufweisen, und zwar rachitischer Art. Es ist das nieht immer der Fall aber doeh verhi~Itnismiissig oft.

G e v a e r t erwiihnt bei seinem Fall Skoliose und doppetseitiges Genu valgum. Inv ie rF~l len(be iDuplay , M a l f u s o n , K i r m i s s o n und A r d u i n ) finden wir eine Skoliose. S a u e r ' s Patient hat eine Trichterbrust, ein anderer Patient yon S a n e r hat ,,beiderseits Plattfuss m~sigen Grades und beider- seits Genu valg'um". F r a n k e beschreibt einen Patienten, der direkt im An- schluss an Rachitis ,,diese Gelenke" bekommen haben soll. S i e g r i s t's Patient zeigt folgende Knochenveriiaaderungen: ,Die Schneideziihne zeigen deutliche rachitische Yeri~nderungen, leichten Rippenbuckel links, leichte Skoliose der

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Brustwirbels~ule nach links, Lumbalskoliose nach rechts, beiderseits Plattfuss, rechts geringgradiger Pes valgus." Bei einem anderen Patienten yon S i e g r i s t wird auch Skoliose der Brustwirbelsi~ule und kompensatorische Skoliose der Lendenwirbels~ule erw~hnt. Ein Miidchen yon 14 Jahren ( S i e g r i s t ) hat beiderseits leichten Plattfuss, Skoliose, Thorax ausgesprochen rachitisch. Zwei F~lle yon Prof. de Q u e r v a i n hatten Skoliose, rachitischen Thorax, Plattfuss.

Dass nicht noch mehr Autoren derartige Knochenver~nderungen er- w~hnen, mag vielleicht darin seinen Grund haben, dass nicht alle Autoren (besonders die friiheren) auf solche ,,zuf~llige" Erscheinungen achteten, anderer- seits manche, z. B. E w a l d , prinzlpiell Rachitis ablehnen und daher auch rachitische Ver~nderungen nicht erwiihnen. Allerdings berichten auch manche Autoren bei ihren Fs ,,keine Zeichen yon Rachitis", was aber meiner An- sicht nach nicht gegen Sps spricht.

In der Tat haben sich auch eine Reihe yon Autoren fiir Rachitis bzw. Sp~trachitis ausgesprochen. A b a d i e , L 6 n o r m e n t , K i r m i s s o n sprechen yon einer Rachitis tarda. D e l b e t , M a l f u s o n , D e k e y s e r , G e v a e r t , D u p l a y , B e n n e k e , S a u e r und S c h u l z e setzen an Stelle M a d e l u n g ' s primiiren Schw~chezustand der Knochen Rachitis. S a u e r sagt: ,Seitdem ~ I i c u l i c z in seiner ausfiihrlichen Monographie fiber die seitlichen Ver- kriimmungen des Kniegelenks iiberzeugend nachgewiesen hat, dass die beim Genu valgum adulescentium in der Epiphysenlinie gefundenen Yer'Xnderungen im Prinzip sich nicht von der infantilen rachitischen Erkrankung des Epi- physenknorpels unterscheiden, hat meines Erachtens, wenn man schon yon der friihrachitischen EntstehungsmSglichkeit iiberzeugt ist, der Analogieschluss, dass auch die zur Zeit der Pubert~t auftretende Erkrankung auf rachitischer Basis beruht, volle Berechtigung." Ebenso halten die Erkrankung fiir eine rachitische: V o l k m a n n (wahrscheinlich), S i e g r i s t , G a u g e l e und F r a n k e . ,Oft genug, so bemerkt letzterer, werden bei den in der Literatur angefiihr~en F~llen auch an anderen KSrperstellen Verbiegungen an den Knochen erwiihnt, die fiir Rachitis typisch sind. Were1 man also die F~]le abzieht, in denen die J/~tiologie bewiesen ist, besonders die traumatischen und die durch Entziindungs- prozesse der Gelenke selbst hervorgerufenen, so muss man fiir die iibrigen-- und das ist die weitaus grSsste M e h r z a h l - einen Erwcichungszustand der Knochen annehmen, wie er durch Rachitis geschaffen ist."

Einige Autoren sind auch anderer Ansicht, so besonders E w a l d , der meint, Rachitis sei yon der M a delung'schen Deformit~it scharf zu trennen. Die erwlihnten Verkriimmungen des Radiusschaftes h/ilt auch er fiir rachitische Prozesse. Die Ansichten der fihrigen Autoren, die nicht Rachitis annehmen, sind eingangs beriicksichtigt.

Es eriibrigt mir nun noch, zweier F~lle zu gedenlCen, die in der Lite- ratur einzig dastehen, niimlich eines Falies yon K ir m is son und eines yon S t e t t e n. Beide zeigen das Bild tier Mad elung'schen DeformitKt, aber gerade umgekehrt. Die Hand ist nicht nach der votaren Seite herabgesunken, sondern nach der dorsalen Seite geriickt. Die Ulna ragt nach der volaren Seite hervor start nach der dorsalen. Der Radius zeigt deutliche Verl~riimmungen, diesmal

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aber nach der dorsalen Seite bin. Nach meiner Ansicht liegt auch hier Rachitis vor. Unwillkiirlich denkt man bei diesen zwei F~llen an Genu varum und valgum. Und in diesem Sinne mSchte ich auch diese zwei FS, lle ansprechen. Die Ursache der Erkrankung ist Rachitis, die das eine Mal, und das ist das GewShnliche, zu einer ,.~ianus valga" fiihrt, in seltenen Fiillen dagegen (Ur- sache unbekannt vielleicht eine besondere Besch~ftigung) zu einer ,,Manus yarn" analog dem Genu valgum und Genu varum.

Ein weiterer strittiger Punkt der Madelung'schen Deformitiit betrifft den S i t z der E r k r a n k u n g . Als solchen hat man bereits alles ange- nommen, was nut einigermassen mSglich war. Den ganzen Radius, die Mitre desselben, sein unteres Drittel, die Epiphyse und die Epiphysenlinie. HSren wir, welche Ansichlen die einzelnen Autoren vertreten !

M a d e l u n g sagt: ,,Die ganze untere Epiphyse des Radius der defor- mierten Seite ist etwas nach der Vola zu nach abwSrts gebogen." Genaueren Aufschlu~s kann M a d e l u n g troLz einer anatomischen Untersuchung nicht geben. Denn ger~de yon dem Schnitte, der uns Aufschluss geben kSnnte, iiber den Sitz der Erkrankung, bemerkt er (~[adelung) , dass bei diesem Durchschnitt der Radius ganz nahe seiner ulnarw~rts gerichteten Fliiche, zum Tell bereits die Incisura semilunaris yon der S-iige getroffen ist, so dass die bei weiterer Untersuchung hervortretende Neigung der Radiusepi- physe nach tier u zu in diesem Bilde nicht zu erkennen sein kann.

Die neueren Beobachter lassen sich in zwei Gruppen scheiden. Die franzSsischen Autoren (besonders D e l b e t und D u p l e y ) nehmen als Sitz der Erkrankung den ganzen Radius an und fiihren alle Erscheinungen auf Radiusverkriimmung zuriick. Daher die yon ihnen angewandte Bezeichnung Carpus curvus, Radius curvus. Hauptsiiehlich deutsche Vertreter halten Ver- iinderungea in der Radiusepiphyse als Ausgangspunkt der Erkrankung. Zwischen diesen Gruppen stehen einige, die mehr vermittelnden Standpunkt einnehmen.

D u p l a y und D e l b e t sprechen yon einer Kriimmung des ganzen Radius aber besonders im unteren Drittel. Den gleichen Standpunkt nehmen ein B e n n e k e , S c h u l z e , L 4 n o r m e n t , A b a d i e und D e k e y s e r , P o u l s e n : Die Kriimmung beschrankt sich nicht auf die Umgebung der Epiphyse, sondern befiillt den Knochen in seiner ganzen Liinge. G a n g o l p h e findet eine Zer- stSrung des Epiphysenknorpeis am ulnaren Rand des Radius. B a r t h ~ s spricht ~on einer volaren Verbiegung des unteren Radiusrandes. P e l s - L e u s d e n verlegt den Sitz der Erkrankung in den Epiphysenknorpel, C n o p f beschreibt eine leichte Kriimmung nach vorn der unteren zwei Drittel und eine starke des untersten Absehnittes. S a u e r erwiihnt eine abnorm starke Konkavitiit in der Mitre gegen die Volarseite, eine deutliche Kriimmung der distalen Radiusepiphyse und eine erhebliche Neigung ihrer Gelenkfl~che nach derselben Seite. In einem anderen Fall eine Verk~irzung auf Grund einer volaren Verkriimmung des unteren Radiusrandes. F r a n k e beobachtet nahe dem Gelenkende eine starke, volarkonkave Kriimmung des Radius und glaubt das Primiire sei eine WacbstumsstSrung des Epiphysenknorpels, die Deformitiit

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selber aber komme zustande durch Verkriimmung der Epiphyse selbst. S t e t t e n und K i r m i s s o n beschreiben eine starke Kriimmung des Radius nach dem Dorsum, die dem dista]en Ende angehSrt, K i r m i s s o n erw~hnt ausserdem noch eine konkave Biegung gegen die Ulna. E w a l d behauptet nun, die Be- obachter h~tten ~fibereiustimmend ~ dargetan, dass die M a d elung~sche De- formit~t des Handgelenkes durch eine Verkriimmung der Epiphyse zustande komme und nicht des Schaftes. Dass dem nicht so ist, diirfte aus dem oben Angefiihrten znr Gen~ige hervorgehen. Sitz der Erkrankung ist nach E wald die Radiusepiphyse und deren Gelenkfl:~ehe. S i e g r i s t erw~hnt bei ver- schiedenen F~llen eine Kriimmung des ganzen Radius und in zwei F~llen war das Maximum der Kr~immung sogar in der Mitte der Diaphyse des Radius und nicht ]m unteren Drittel. V o l k m a n n beobachtet auch eine erhebliche Verbiegung des ganzea Radius im unteren Drittel. S p r i n g e r berichtet das gleiche. Nur erw~hnt er ausser dieser gew5hnlichen volarkonkaven Kri~mmung noch eine nlnarkonkave. Die Ansichten sind also sehr geteilt, und die n a c h E w a l d erschienenen Berichte kSnnen seine Behauptuag ebensowenig bestS, tigen. F r a n k e verlangt, es m~issten erst D e lbe ts Be- funde und Erkl~rungen dutch neue F~lle best.~tigt werden. Einstweilen m[~sse man sie als wenig wahrseinlich ablehnen und daran festhalten, dass die Deformit~t zustande kommt durch eine Verkriimmung der Epiphyse selbst. Dieser Standpunkt ist wohl schwer haltbar. Denn man kann doch nicht ohne weiteres einer Reihe yon Autoren Ungenauigkeiten oder zu wenig Sorgfalt in ihrer Beobachtung vor~verfen, zumal viele zu ihren Untersuchungen das RSntgenbild herangezogen haben und D e l b e t selbst sogar ein anatomisches Pr~parat zur Verfiigung stand.

Nach meiner Ansicht ist der Ausgangspunkt der Erkrankung die Epi- physenlinie und alle Verbiegungen etc., die beobachtet wurden, sei es nun in der Mitre oder im unteren Drittel etc., sind nut als notwendige Folgezust~nde aufzufassen. Das geht auch aus Versuehen yon t t e l f e r i c h u n d E n d e r l e n sowie yon J. R i e d i n g e r hervor, welche gezeigt haben, dass jede kiinstlich hervorgerufene Sch~d]gung im Bereich tier Epiphysenlinie mit Verbiegung des ganzen Radius reagiert (am jungen Tier). Wenn nun bei unserer Erkrankung Verbiegungen bald in tier Mitre, bald mehr im unteren Drittel beobachtet wurden, so sind das keineswegs Widersprfiche, sondern sie erkl~ren sich aus den verschiedenen Stadien des Knochenwachstums in der Jugend. W~hrend n~mlich in der Jugend und besonders in der Kindheit das Knochenwachstum in gleicher Weise veto Periost und der Epiphysenlinie ausgeht, verS, ndert si'oh dieses spS, ter immer mehr zugunsten der Epiphysenlinie auf Kosten des Periostes.

Eine weitere strittige Frage ist die des E n t s t e h u n g s m e c h a n i s m u s . Mad e l u n g erkl~.rt dies durch das b~bergewicht der Flexoren gegeniiber den Extensoreu. Die gewShnliche t~gliche Arbeit wird in der Regel mit Beuge- stellung der Hand ausgefiihrt. Bei jeder starken Flexion, meint nun Made- l u n g , driicken die Extensorensehnen auf das untere Radiusende und bringen so eine Kriimmung in diesen Sinne zustaade, b~ach D e lb et ist die Verbiegung

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des Radius die zuerst eintretende VerSnderung. Die Folge dieser Verbiegung ist die Ver~.nderung der Richtung der GelenkflSche nach vorn. Da nun die Karpalknochen unter sich fester verbunden sind wie mit der Ulna, so geben sie die Yerbindung mit letzterer auf und die Ulna erscheint also luxiert. G a u g e l e glaubt, Radius und Ulna seien zu Lockerungen disponiert. Er begriindet dies mit der Anatomie des Handgelenks. Die Bandverbindungen zwischen Radius and Carpus seien sehr gut, zwischen Ulna und Radius und Ulna und Carpus dagegen sehr schwach. Das Wichtigste ist nach ihm eine LTberdrehung des Bandapparates. P o u l s e n stellt sich auf M a d e l u n g ' s Seite. S a n e r meint das mechanische Moment ks erst in zweiter Linie in Betracht, zumal bei einer Reihe yon Fiillen anstrengende Handarbeit nicht ~'orausgegangen wi~re. E w a l d sagt: ,,Der Wahrheit am n~chsten, weil am unbestimmtesten und daher einer eigentlichen Erkl~irung anl entferntesten bleiben jene vor- sichtigen Leute, die welter nichts sagen, als dass die Deformit'~t spontan oder idiopathisch entsteht." Damit kommt man allerdings nicht welt. F ~ l i x fiihrt die Erkrankung auf krankhafte Reizzust~nde des Riickenmarks zuriick. Ihn widerlegt V o l k m a n n und erkl~rt das Prim~ire sei Rachitis (wahrscheinlich). Diese ffihre zu einer Schw~che des Radius und zu einer Biegung desselben durch den Zug der Flexoren. S i e g r i s t berichtet in der Deutschen Zeitschrift ffir Chirurgie ausffihrlich fiber Pathogenese. Nach ihm ist das Verhalten der Ulna ein passives, sie w~tchst dahin, wo sie den geringsten Widerstand findet. Das ist die DorsMseite, well fast alle Streck- muskelsehnen fiber den Radius verlaufen. Beim Radius liegt die Sache anders. Die Hauptursache tier Gelenkver~ndertmgen ist die Volarneigung der Radiusgeienkfli~che um eine quere Achse. Das kann entstehen durch Ver- .krfimmung des ganzen Radius oder dutch ungleiches Wachstum in tier Epi- physenlinie. Die Formiinderung des Redius kommt nach ihm zustande durch den Zug der Flexoren. S p r i n g e r erkl~rt seine vorlarkonkave und ulnar- konkave Radiuskriimmung folgendermassen: ~ormalerweise findet die Pronation ihr Ende, sobald der Radius auf die Ulna zu liegen kommt. Eine weitere Pronation wird dureh die Festigkeit der Knochen verhindert. Ist nun aber der Radius welch oder doch weniger fest, so geht die Pronation noch welter, der Radiuu legt sich allmiihlir der Uln~ immer mehr an oder wie Spr inge r sagt: ,,Der Radius rollt sicb an der Ulna auf und verbirgt sich in diesem Sinne." Die Lockerung des Bandapparates des Ulnaendes mit der Hand- wurzel und dem Radius ist nach ihm sekund~r infolge tier Krfimmung des Radius, der sich yon der Ulna entfernt hat.

Wir schtiessen uns denen an, die in der Erkrankung eine Belastungs- deformit~t sehen, am niichsten S p r i n g e r . Das Prim~re ist eine Erkrankung der Epiphysenlinie. In der Epiphysenlinie wird nur osteoides Gewebe gebildet, das aber nicht wie (oder nieht in) normaler Weise verkalkt. Die Folge davon ist eine geringere Tragf~thigkeit und die weitere Folge eine Verkiirzung und Verkriimmung. Die Krfimmung erld~rt sich durch einfache Muskelwirkung und die fast st~ndige Pronationsstel]ung der Hand. Die meisten unserer Be- wegungen werden n~mlich in Beugung und Pronation ausgefiihrt. W~hrend

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nun, wie S p r i n g e r richtig betont, bei normaler Knochenfestigkeit die Pronation ihr Ende erreicht, wenn Radius und Ulna sich beriihren, ist das bei Erkrankung der Epiphysenlinie nicht der Fall, da der Radius nachgiebig ist. Und so kommt es, um mit S p r i n g e r zu reden, dass sich der Radius gleichsam an der Ulna aufrollt. Die Krfimmung kommt also rein mechanisch zustande. (Ein Analogon zu dieser Radiusverkrfimmung ist das X-Bein, das, wie allgemein anerkannt, auf mangelhafte Kalkablagerung im Bereiche der Epiphysenlinie zurfiekzuftihren ist.) Da nun der Bandapparat zwischen Karpus und Radius ein sehr guter ist, zwischen Karpalknochen und l_~na aber ein schlechter und ausserdem jeder Widerstand, der die Hand trifft, sieh fast ausschliesslich auf den Radius fortpflanzt, so wird uns ausser tier volar- konkaven und ulnar-konkaven Kriimmung auch das dorsale Ausweichen tier Ulna verstandlich, das nur eine Folge der Krihnmung des Radius also rein sekundbLrer Natur ist.

Was den Namen der Erkrankung anlangt, so ist man schon lunge be- mfiht, die FSlle yon ,,echtem" M a d e l u n g yon den unechten zu trennen. Das ist aber gerade so unmSgIich, als wenn man eine Unterscheidung machen wollte zwischen echtem und unechtem X-Bein. Die Franzosen schlugen Carpus curvus, Radius curvus vor, B a r t h ~ s unterscheidet zwischen spontanenjugend- lichen Fitllen und solchen im Anschluss an Traumen. G a u g e l e schliigt Manus valga vet und will damit die Erkrankung bezeichnet wissen, gleich- giiltig welcher J~.tiologie. Eine neuere Bezeichnung yon S p r i n g e r ist Gabel- hand (Marius furca), und zwar fiir nile stufenfSrmigen Absetzungen der Hand im Bereich des Handgelenks, sei es dorsal oder velar. Unterabteilungen: Gabel- hand nach oben .~Ianus furca in dorsum flexa, nach unten Manus furca in velum flexa, bei radialer Ablenkung Marius furca valga, bei u]narer Manus furca yarn.

Die klassische Deformit~t wfirde nach S p r i n g e r bezeichnet werden : Manus furca yarn in velum flexa.

Je nach der "~tiologie kSnnte man nach seiner Ansicht noch hinzusetzen: post fr-~cturam, post osteomyelitis radii etc.

Ob sich dieser Vorsch]ag bei der L~nge der Bezeichnungen einbiirgern wird, kann nur die Zukunft entscheiden.

Wenn auch ich auf Grund einer Anregamg yon Herrn Prof. R i e d in g e r einen Vorschlag machen dtirfte, so wSre ich fiir C a r p u s v a l g u s , eine Be- zeichnung, die den Vorteil hat, auch ftir andere Zust~nde anwendbar zu sein. Man k6nnte also mit Carpus valgus alles bezeichnen, was ausserlich das Bild der M a d e lu n g 'schen Deformitat darbietet, gleichgfiltig welcher ~tiologie. Alle jene F:s aber, die sich ~tiologisch mit der yon M a d e l u n g beschriebenen Krankheit deeken, wiirde ich als Carpus valgus rachiticus (Spatrachitis) bezeich- hen. Zu diesem Beiwort ffihle ich mich aus den angeffihrten Griinden berechtigt.

Wenn ich nun zum Schluss meinen Standpunkt fiber die M a d el un g'sche Deformit~it pr~.zisiere, so ist meine Ansicht die:

1. Die Made]ung ' sche Deformit~t ist keine Erkrankung sui generis, sondern nur ein Krankheitssymptom (gerade wie Skoliose, Plattfuss etc.) typisch fiir lokalisierte Sp~,trachitis, wenn sie spontan auftritt.

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2. Sie gehSrt in die Reihe der Verkriimmungen bei Adoleszenten. 3. Sie ist streng zu unterscheiden yon Verkriimmungen dureh Traumen,

Entziindungen etc. 4. Ein gemeinsamer Name t'iir 2 und 3, n/~mlich Made lung ' s che De-

formit~t, ist unmSglich. 5. Ein solcher aber wird m5glich durch die Bezeichnnng der Deformitgt,

ohne sie zun/iehst als sui generis aufzufassen. 6. Diesen Anforderungen geniigt die vorgeschlagene Bezeichnung ,,Carpus

valgus". Im folgenden ffihre ieh 2 Fglle an, die in der Privatklinik yon Herrn

Prof. Dr. J. R i e d i n g e r beobachtet and in liebenswiirdiger Weise mir yon Herrn Prof. Dr. R i e d i n g e r zur VerfSgung gestellt wurden.

Der erste Fall betrifft ein 19j~hriges Dienstm~tdehen, das Herr Prof. Ri e d in g e r am 10. IH. 1910 fiir eine Invalidit~tsversieherungsanstalt zu unter- suehen hatte. Sie gab folgendes an:

Frtiher war sie stets gesuad. Sie fiihlt sich auch jetzt nieht krank ausser am linken Vorderarm. Die Eltern und 9 Geschwister sind ebenfalls gesund. Verkriimmungen sind in d~r F~milie nicht bekannt. Vor einem Jahre spiirto sie zum ersten Male Schmerzen an der Beugeseite des unteren Ab- schnittes des linken Vorderarmes naeh sehwerer Arbeit, die allm~.hlieh un- mSglieh wurde. Ausserlich war niehts Besonderes zu sehen. In der Ruhe waren keine Besehwerden vorhanden. Im Januar 1909 befand sie sich 8 Tage lang im Spital ihres Aufenthaltsortes. ES trat Besserung ein und die Pat. konnte wieder arbeiten, ohne dass Heilung eingetreten war. Im November musste sie wieder ins Spiral eintreten und befand sieh dort bis Ende des Jahres. Die Besserung war gering, es war ihr nicht mehr mSglich einen Dienst anzutreten. Zurzeit ist wieder Besserung eingetreten. Anstrengen kann sie die Hand noch nicht.

Die Untersuchung ergab folgendes: Die Pat. ist innerlieh gesund, yon gutem Aussehen und einem Knochen-

bau, der ausser am linken Vorderarm keine Ver~.nderungen erkennen l~isst. Zeichen yon englischer Krankheit sind nicht vorhanden. Der untere Ab- schnitt des linken Vorderarms auf der Seite des Radius ist leieht verdickt und bei Druck leicht schmerzhaft. Die Verdickung ist diffus und gut siehtbar und fiihlbar. Sic erstreckt sich nur auf den unteren Abschnitt des Radius auf die Epiphyse. Die Weiehteile sind weder geschwollen noch sonstwie ver- ~ndert. Entziindliche Erscheinungen fehlen vollkommen. Auch die Farbe der

Or t " Haut ist nicht verS, ndert. Das Handgelenk ist in seiner Bewe=imhkelt um die HS, lfte beschrankt, weil die Epiphyse etwas verdickt ist. Die Umfangmasse betragen in der Mitre des rechten Vorderarms 24~/~, des linken 23~/~ cm, im oberen Drittel des reehten Vorderarms 231/~ cm, des linken 221/~ cm.

Das R5ntgenbild zeigt folgenden Befund: Die Pat. steht noch im Wachs- tumsalter; deshalb sind die Epiphysen yon den Diaphysen noch durch Knorpel- fugen getrennt. Bei dem Vergleich sieht man einen deutlichen Unterschied zwischen beiden Knorpelfugen Die am unteren Abschnitt des rechten l~adius

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zeigt eine krankhafte Ver~tnderung. Sie ist deutlich und gut das Doppelte verbreitert und in der Mitte stark ausgebuchtet. Ausserdem ist der ganze Knochenschatten am unteren Radiusende breiter wie links, und zeichnet sich durch eine auffillende Helligkeit aus.

Das Ganze deutet auf eine Knochenerkrankung hin, die vermutlich mit dem AufhSren des Knochenwachstums ihr Ende erreicht und wahrschein- ]ich als J~usserung einer Sp~tform der englischen Krankheit (Rachitis tarda) aufzufassen ist. Da die Hand unbedingt der Schonung bedarf, so ist sie vor- lii.ufig als erwerbsunfi~hig zu betrachten. Urn die Hand ruhig zu stellen, wurde eine Lederhiilse angefertigt, die einen Gipsverband ersetzt. ])'ieber ist nicht vorhanden, der Urin ist frei yon Eiweiss und Zucker. Auch sonst sind nirgends Zeichen einer organischen Krankheit zu finden.

Ein halbes Jahr spSter wurde Pat. wieder zur Untersuchung beordert. Die Beschwerden waren die gleichen. Die Verdickung war noch deutlicher geworden und es zeigte sich mm auch ein zwar geringes aber doch deutliches Vortreten des Capitulum ulnae.

Die RSntgenbilder (Fig. 1 u. 2, Fall I, Bilder 2) zeigen auch jetzt einen nicht zu verkennenden Unterschied in der Breite der Epiphysenfugen. Es scheint sogar als w~re dieselbe etwas breiter geworden, besonders an der Aussenseite des Radius (nicht gegen die Ulna bin). Der starke Schatten der Knorpelknochen ist aus tier volaren Neigung derselben zu erkl~ren, wodurch auf dem Bild die Knochen ineinander geschoben erscheinen. Vom Abweichen tier Ulna ist nicht viel zu sehen (vielleicht eine Andeutung), da ja die Hand in dorsovolarer Richtung aufgenommen ist. Ausserdem zeigen die Knochen der ganzen Handgelenksgegend einen mi~ssigen Grad yon Schwund der Kalk- salze. Dieser Zustand zeigt abet einen Unterschied darin, dass die Knochen- konturen scharf ausgezeichnet sind.

Am 3. III. 1912 wurde die Pat. nachuntersucht. Das untere Ende des Radius ist an einer Stelle angeblich etwas druckempfindlich. Die Bewegungen der Hand sind nieht schmerzhaft. Die untere Epiphyse ist etwas mehr ver- dickt. Der Umfang des kranken Handgelenks misst 1/,, cm mehr im Vergleich zu dem gesunden. Der Vorderarm dagegen ist s/4 cm schw~cher ats der des gesunden Armes. Die Pat. arbeitet im Feld. Die Hand kann sie nicht an- strengen, sonst besteht keine Schmerzhaftigkeit. Der Radius ist in seiner unteren Hii.lfte im Sinne der Pronation verkriimmt. Supination ist in geringem Grade beschr~nkt. Entziindliche Erscheinungen sind keine vorhanden, ebenso besteht keine Schwellung tier Weichteile. Das Capitulum ulna ragt in typischer Weise hervor nach der dorsalen Seite. Die typische Deformiti~t ist also vorhanden.

Die Pat. befindet sich jetzt im Stadium der Heilung, wie aus dem RSntgenbilde (Fall I, Fig. 3 u. 4) ersiehtlich. Dasselbe zeigt im Bereiche der Epiphysenfuge gegeniiber der letzten Aufnahme wesentliche Ver~nderungen. Auf den ersten Btick f~llt die geringe Breite der Epiphysenfuge auf, die nunmehr die Breite der linken Seite erreichf~ hat und beiderseits nur mehr angedeutet ist. Die starke Ausbuchtung der kranken Seite ist vollstiindig

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verschwunden. Die Verbreiterung des Knochenschattens und die etwas plumpe Gestalt des rechten Radiusendes ist deutlicher geworden. Die volare Ver- kriimmung des Radius ist bei der dorsovolaren Aut~nahme nicht zu sehen. Ebenso nicht das Abgewichensein der Ulna aus dem gleichen Grunde. Die Ursache des Ineinandergeschobenseins der Karp~'~lknochen auf dem Bilde ist oben erwShnt worden.

Es handelt sich bei der Pat. wohl um Sp~trachitis. Dafiir sprechen: 1. [)as Fehlen sonstiger rachitischer Erscheiuungen. 2. Das Alter (der Aduleszenten), das hier allerdings etwas sp's ist fiir

die Erkrankung, aber doch ein Alter ist, in dem Plattfuss und Genu valgum noch auftreten kSnnen.

3. Das Fehlea yon Entziindung und Trauma. 4. Die Verdickungen, die die gleichen sind wie bei tier Rachitis. Die

geringe Schmerzhaffigkeit, die nur tibertrieben wurde aus sozialen Griinden.

5. Das RSntgenbild, das ffir Rachitis charakteristisch ist. 6. Die Verkriimmung des Radius in volarer Richtung (volarkonkav). Besondere Bedeutung hat unser Fall dadurch, dass er zu den wenigen

gehSrt, wenn er nicht der einzige ist, der am Beginn der Erkrankung his zur vollst~ndigen Entwickelung beobachtet werden konnte. Dann aber auch da- durch, dass er als Beispiel fiir die Richtigkeit der Rachitis bzw. Sp~trachitis als Krankheitsursache angefiihrt werden kann.

Der zweite Fall ist yore begutaehtenden Standpunkt aus interessant. Er wurde in den Akten einer Versicheruugsgesellschaft als ~'eraltete Luxation betrachtet, bis die Untersuchung mit RSntgenstrahlen den Nachwois lieferte, class keine Luxation vorliegt.

Ein Postbeamter erlitt einen Sturz yore Rad. .Nach der Verletzung wurde eine frische Luxation diagnostiziert, ,Verschiebung des rechten Hand- gelenks" und die Reposition vorgenommeu, darauf verbunden. Nach Ab- nahme des Verbandes 8 Tage sp~tter war die angebliehe Luxation wieder da. Patient kam hierauf in das Krankenhaus seiner Heimat. Hier wurde wieder Luxation diagnostiziert und die Reposition vorgenommen. Ein Bericht be- sagt, dass die Hand sofort wieder in Luxationsstellung zuriickkehrte. Der Patient bekam dann eine Bandage, die er jahrelang trug. Er bezog yon der Eisenbahnverwaltung, t~rotzdem er alle Arbeiten verrichten konnte, eine Rente, well das rechte Handgelenk luxiert sein sollte. Dureh Erkundigungen bei der Milit~rverwaltung erfuhr man sp's auch, dass Patient bereits mit 20 Jahren eine ,Verschiebung" im Handgelenk besass und dass er deretwegen yore Mil- t~rdienst befreit wurde.

Von dem Fall wurden drei Bilder gemacht, die folgendes erkennen lassen: Die Photographie tier Hand und des Vorderarms (yon der radialen Seite photographiert) 15sst ausser der deutlichen dorsalen Prominenz des Ulna- endes wohl wenig erkennen. (Vielleicht noch eine kleine Neiglmg der Hand nach der volaren Seite.) Die beiden RSntgenbilder lassen wesentlich mehr er- kennen. Die erste Aufnahme (in dorsovolarer Richtung, Vola marius auf der

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3~.6 Petor Borg,

Platte) zeigt eine deutliche Verbreiterung des unteren Radiusendes und eine deutliche Verbreiterung der Epiphysenlinie. Ferner scheinen die Metakarpal- knochen gleichsam zusammengeschoben, was abet dadurch zu erkl~iren ist. dass die Hand nach der Vola za gesunken ist, was sich in de,n RSntgenbilde als ein Zusammengeschobensein darbietet. Der Schatten der Ulna erscheint gegeniiber dem des Radius etwas heller, was seinen Grund darin hat, dass die Ulna weiter yon der Platte entfernt war als der Radius. An der radio- ulnaren Gelenkfl~che bemerkt man einen st~rkeren Scbatten ira Vergleich zum iibrigen Teil des Radius, was auf einem st~rkeren Kalkgehalt (Heilungsvor- g~nge) zurilckzufiibren sein dfirfte.

An dem zweiten RSntgenbilde (Aufnabme in radioulnarer Richtung) sieht man deutlicb die Neigung des unteren Radiusendes nach tier volaren Seite, andererseits aber auch, dass eine Luxation im Radio-Karpalgelenk keineswegs besteht, sondern dasselbe vSllig intakt ist und die Karpalknochen dutch die volute Neigung des unteren Radiusendes nut in dieser Richtung verschoben sind. Ebenso erkeunt man deutlich das dorsale Abweichen der Ulna. Vergleiche fiber Kalkgehalt etc. tier anderen Seite anzustellen, sind unmSglich bei dem Mangel einer Abbildung der gesunden Seite.

Offenbar handelt es sich auch bier um die yon M a d e l u n g beschriebene Det'ormit~t, die tier Patient bereits mit 20 Jahren hatte. Der Sturz yore Rad im Alter yon "26 Jahren gab ihm dann willkommene Gelegenheit, eine Rente zu erlangen, w~hrend es sich dabei hSchstens um eine Verstauchung handelte. Die besagte ,Einrichtung" bestand nach meir.er Ansicht in nichts Weiterem als in der Uberwindung des Widerstandes der Flexoren, weshalb .~elbstverst{indlich nach LSsung des Verbandes oder schon gleich beim Nach- lassen des Zuges die Hand in die alte Stellung zurfickkehrte.

Einen dritten Fall anzuffihren ist mir mSglich durch die Liebenswiirdig- keit yon Herrn Geh.-Rat Prof. Dr. E n d er 1 e n, an dessert chirurgischer Klinik er zur Beobachtung am 9. Februar 1912 learn.

Die Krankengeschichte berichtet: Es handelt sich um ein 16j'2hriges Bauernmiidchen, das friiher angeblich hie krank war, keine englische Krank- heir hatte. Familienanamnese o. B. Vor zwei Jahren bekam Patientin bei strenger Arbeit leichte Scbmerzen in der rechten Handgelenksgegend, vor allem auf der ulnaren Seite. Zugleich be,nerkte sie eine abnorme Stellung der Hand im Handgelenk. Die Handstellung und die Schmerzen wurden mit der Zeit scblimmer. Jetzt klagt Patientin auc}l fiber Beschwerden, Schmerzen, aber nut w~hrend der Arbeit. Eine innerliche Fa'krankung ist nicht nachzuweisen. Urin frei yon Eiweiss und Zucker. Sonst fiihlt sich Patientin nicht krank.

D ~ M~idchen ist grazil gebaut, aber gut gen~hrt. Schleimh~iute etwas blass. Lungen o.B. Rechter Arm: Die Hand wlrd im Handgelenk leicht volar flektiert ( ~ yon etwa 150 ~ und ganz leicht abduziert gehalten. Es besteht eine Luxationsstellung der Hand nach der volaren Seite, und zw~r so, dass auf dem Handrficken das distale Ulnaende deutlich abzutasten ist. Das distMe P~diusende ist nicht oder nur wenig zu ffihlen. Seitenverschiebung besteht nicht. Beweglichkeit: Volreflexion gut mSglich, Dorsalflexion beschriinkt.

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Die Madelung'sehe Deformit~it des Handgelenkea (Carpus valgus). 337

Am 10. Februar 1912 Reposition und Eingipsen in Narkose durch den Abteilungsarzt. ,Da die Gelenkkapsel ziemlich schlaff ist, gelingt die Re- position leieht, die Hand geht abet sofort wieder in die pathologische Stelhmg zuriick." RSntgenbild: .,Stellung im Gipsverband gut."

Am 19. Februar 1912. Patientin kommt wieder. Stellung ist schlecht naeh Entfernung des Gipses. Reposition in Narkose. Neuer Clipsverband. Soweit die Krankengeschichte.

Bei der Patientin war ein Hervorstehen der Ulna nach der dorsalen Seite deutlich zu sehen (bei der Vorstellung in der Klinik). An den RSntgen- bildern, die mir zur Verfiigung standen, ist folgendes zu erkennen. Man sieht auf der radioulnaren Aui'nahme (cf. Abbildung yon Fall III), dass eine Luxation zwischen Radius und Karpalknochen nieht besteht, sondern die normale Verbindung erhalten ist. Infolgedessen kann eigentlich yon Reposition keine Rede sein. Denn das }Ierabgesunkensein naeh der ~olaren Seite riihrt nieht yon einer Ver~inderung der Verbindung zwisehen Radius und Karpal- knochen, sondern yon der volarkonkaven I,:rtimmung des Radius, die auch auf dem Bild deutlieh zu erkennen ist. (Die LageverSnderung der Ulna sight man deutlieh.) Es handelte sieh wohl mebr um ein Uberwinden der Flexoren (Anziehen und leichte I)orsalflexion), so dass also nunmehr die Hand allerdings weniger herabgesunken ersehien (cf. RSntgenbild mit Gipsverband). Deutlich ist aber noch die volare Kriimmung des Radius, denn diese auszugIeichen ist ja unmSglieh. Ebenso sieht man das dorsale Abgewichensein der Ulna.

Auf einer dorsovolaren Aufnahme bemerkt man noch eine deutlieh aus- gesproehene ulnarkonkave Kriimmung des I/adius, also genau wie sie yon S p r i n g e r besehrieben wurde. Die Epiphysenlinie ist deutlieh ~'erbreitert und unregelmS~ssig. Ebenso erscheinen die Karpalknoehen zusammengesehoben. Vergleiche iiber Breite der Knochensehatten beider I~adiusenden anzustellen war unmSglieh, da eine Abbildung der gesunden Seite fehlte. (Leider ist es mir unmSglich, diese Aufnahme beizulegen, da einige Zeit nach der Be- arbeitung des Falles, als ieh Abziige yon den Abbildungen maehen lassen wollte, letztere versehwunden waren, bis auf die eine, die beigelegt ist. Un- gtiicklicherweise ist aber gerade auf dieser (die bessere ist auch nicht mehr da) die volare Neigung des Radius weniger deutlich zu sehen, d'~ in dem Biid ohne Gipsverband nut ein ldeiner Tell yon Radius und Ulna zu sehen ist.

Es handelt sich aueh hier ohne Zweifel um die gteiehe Erkra.nkung, wie sie yon Mad e lun g besehrieben wurde. Die Ursaehe derselben diirfte aueh hier Raehitis sein bzw. Sp~trachitis. Dafiir sprechen das Alter der Patientin, das langsame, spontane Entstehen, das Fehlen yon Trauma oder Entziindungs- erscheinungen, die typi~ehe Funktionsbehinderung, Verkriimmungen des Radius, die Stellung der Hand und vor allem die I/Sntgenbilder.

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3,~8 P e t e r Borg , Die Madelung'sche Deformit~t des Handgelenkes (Carpus valgus).

L i t e r a t u r a n g ~ b e (im Or ig ina l benutz t ) .

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Archly f. O~thop~idie, Mechanother~9~ic u. Unf~Hlchirur~i~, ~KII, 4. T;ffet [.

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Peter I~er~.

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Archiv f. Orthop~idie, Mechanotherapie u. Unfatlchi~urgie, XI[, 4. Tafel

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