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Aus der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie Universitätsspital Basel (Prof.Dr.med. Dr.med.dent. Dr.h.c. H.-F. Zeilhofer) Die myofunktionelle Therapie (MFT) von den Gründerjahren bis Heute – Nachgehackt Publikation als Erstautorin im Magazin für Myozentrik und interdisziplinäre Kooperation (myobyte 5/2013, S.13-26, 62 ISBN 978-3-9812738-6-1) MASTERARBEIT Zur Erlangung des akademischen Grades Master of Advanced Studies (MAS) in Cranio Facial Kinetic Science Vorgelegt der Medizinischen Fakultät der Universität Basel von Susanne Codoni Allschwil unter der Leitung von Prof.Dr.med. Dr.med.dent. Dr.h.c. H.-F. Zeilhofer 15.11.2013

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Aus der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie Universitätsspital Basel

(Prof.Dr.med. Dr.med.dent. Dr.h.c. H.-F. Zeilhofer)

Die myofunktionelle Therapie (MFT) von den Gründerjahren bis Heute – Nachgehackt

Publikation als Erstautorin im Magazin für Myozentrik und interdisziplinäre Kooperation

(myobyte 5/2013, S.13-26, 62 ISBN 978-3-9812738-6-1)

MASTERARBEIT Zur Erlangung des akademischen Grades

Master of Advanced Studies (MAS) in Cranio Facial Kinetic Science

Vorgelegt der Medizinischen Fakultät der Universität Basel

von

Susanne Codoni Allschwil

unter der Leitung von Prof.Dr.med. Dr.med.dent. Dr.h.c. H.-F. Zeilhofer

15.11.2013    

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Myofunktionelle Therapie (MFT)

wird oft als Umdressieren der Zunge mit Gummiringen und viel Üben bei fraglichem

Ergebnis (miss-) verstanden.

Susanne CodoniKatja Schwenzer-Zimmerer

von den Gründerjahren bis heute

Im Brennpunkt dieses Artikels stehen Ge-schichte und Wandel der Myofunktionel-len !erapie über die letzten Jahrzehnte, die Anwendungsbereiche, sowie exempla-risch einige Konzepte und Wegbereiter mit ihren Beiträgen. Dabei erhebt die Aufzäh-lung nicht den Anspruch auf Vollständig-keit. Als geschichtliche Grundlage dient die Diplomarbeit „Geschichte und Wandel der „Myofunctional !erapy“ (11) von Mathys und Suter. Die Diplomarbeit von Baschnagel „Myofunktionelle !erapie: Ausgewählte !erapiekonzepte und thera-peutische Hilfsmittel - Bestandesaufnah-me und Relevanz in der Deutschschweizer Praxis“ (1) wird für praxisrelevante Infor-mationen beigezogen.

„Myofunctional !erapy“ ist eine der äl-testen und bekanntesten Bezeichnungen für die !erapie orofazialer Dysfunkti-onen. Das Au"reten von statischen und dynamischen Dysbalancen und Dystoni-en im Bereich der orofazialen Muskulatur beschä"igt seit Jahrzehnten in regelmäßig wiederkehrenden Interessensphasen die verschiedensten Disziplinen. Seit gut ei-nem Jahrhundert wird sie vorwiegend in der Kieferorthopädie und Logopädie the-matisiert. Zahnärzte, Kieferorthopäden und Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgen

nehmen dabei eine Schlüsselfunktion ein.Erkenntnisse über den Ein#uss von orofa-zialen Dyskinesien auf die Entstehung und den Ausprägungsgrad von Dysgnathien werden immer wieder thematisiert. Al-lerdings scheinen diese Erkenntnisse nur wenig Ein#uss auf gesundheitspolitische Weichenstellungen im Rahmen von kie-ferorthopädischen Präventionskonzepten, der Behandlung beim Erwachsenen und der Planung und Versorgung durch Zahn-prothetik zu haben. Im Gegensatz zu kari-espräventiven Prophylaxe spielt die kiefer-orthopädische Frühbehandlung wie auch die myofunktionelle !erapie noch immer eine untergeordnete und kontrovers disku-tierte Rolle in der Zahnmedizin (4).

Myofunktionelle !erapie war in den An-fängen in Deutschland und in der Schweiz die Domäne einer kleinen Gruppe von Kie-ferorthopäden und Zahnärzten, die sich um Garliner gruppierten. Einer breiteren Ö$entlichkeit wurde sie schließlich durch die Logopäden zugänglich und vielfach als „eine mit Gummiringen umzudressieren-de Zungentherapie mit vielen Übungen und fraglichem Ergebnis“ (miss-) verstan-den. Von Seiten der Orthodontie wurde sie o" belächelt, selten ernst genommen und selbst in der logopädischen !erapeuten-welt eingeschränkt als „!erapie rund um den Mund - vielfach mit fragwürdigem Erfolg“ de%niert, verstanden und dem ent-sprechend auch praktiziert.

Problemstellung und Grundlage zur MFT

Der Mund, als Zentrum des orofazialen Systems, als Ort des spontanen persönli-chen Ausdruckes und als “Tor zur Welt“ erfüllt die unterschiedlichsten Funktio-nen. Metaphern wie „große Töne spucken“, „den Mund zu voll nehmen“, „die Zähne zusammenbeißen“, „nicht auf den Mund

gefallen zu sein“, „kein Blatt vor den Mund nehmen“, „Zähne zeigen“, „verbissen sein“, „Plappermäulchen“, „alles hinunterschlu-cken“, „das Wort im Halse stecken bleiben“, oder „auf der Zunge zergehen lassen“, „auf dem Zahn#eisch gehen“, lassen den so An-gesprochenen für den Moment stocken.

Der Lällekönig,

Wahrzeichen der Stadt Basel.

Die MFT

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Nach Welling (15) erhalten wir damit eine Idee davon, wie die „orofaziale Semantik“ des Volkes den „Schau-platz Mund“ (7) mit den Erlebnisqualitä-ten des Menschen zusammenführt: „solche Metaphern bringen die Einheit von Physis und Psyche zum Ausdruck: organische und anatomische Gegebenheiten auf der einen, soziale und psychische auf der anderen Sei-te – immer gebunden an „mundmotorische“ Bewegung als System, wovon der orofaziale Komplex ein Teil ist, der wiederum ein Teil-system der Gesamtbewegung“.

Modi%ziert nach Hahn (8) ist „die Kenntnis über die normale Reifung der Mundfunktionen mit richtigem Saugern, physiologischem Schlucken, dem zeitgemäßen Abbau früher Re#exe, dem Wachstum und der Stellung der Zähne, krä"igem Kauen, gesunder Nasenatmung…“ vorrangig und geht von der Annahme aus, dass Auslö-ser meist nicht neurologische Schädigungen, sondern allgemeine Reifungsde%zite oder Entwicklungsrück-

stände sind. Es handle sich eher um Fehlsteuerungen der Primärfunktionen oder des perioralen und intra-

oralen Muskelgleichgewichtes. Grabowski (6), die sich auf Fränkel bezieht, vertritt die Meinung, „…dass sich mit dem Au#ösen der frühkindlichen Funktionseinheit Unter-lippe-Unterkiefer-Zunge… die Ringmuskel-funktion des musculus orbicularis oris ent-wickeln kann.“

Muskelinsu&zienzen im Gesichtsbereich zeigen in allen Altersklassen Auswirkungen, nicht nur auf mögliche Fehlstellungen der

Zähne (oder in der weiteren Konsequenz o" auch des Beckens), sie können den Menschen in seiner gesamten körperlichen Funktionstüchtigkeit beein#ussen. Fach-kreise sind sich einig, dass ursächliche Zusammenhänge zwischen der Funktion und der die Form und die oralen Strukturen umgebenden Weichteile interdisziplinär zu analysieren sind.

Myofunktion des orofazialen Systems – Diagnose und Zusammenhänge

Bei der Diagnostik und Behandlung von Störungen im orofazialen Raum waren und sind eine Vielzahl von Fachpersonen beteiligt. Die interdisziplinäre Diagnostik ist eine unabdingbaren Voraussetzung, bei der Allge-meinmedizin, Pädiatrie, Logopädie, Chirurgie, HNO/Phoniatrie, Kieferorthopädie, Zahnheilkunde, Orthopädie und Physiotherapie zusam-menarbeiten. Nur so können diese komplexen Krankheits-bilder vollständig erfasst und langfristig wirksam behandelt werden.

Die komplexen Funktionen und di$erenzierten Leis-tungen fordern die entspre-chenden Disziplinen in der wissenscha"lichen Grundla-genforschung, der klinischen Forschung und in der Diagno-se und !erapie heraus. Orale Fehlfunktionen beein#ussen Sprechen, Atmung, Schlucken und Körperhaltung, aber eben-so den Zahnhalteapparat. Mus-kelinsu&zienzen im Gesichts-bereich zeigen Auswirkungen nicht nur auf die gesamte Körperstatik, sondern sekundär auch auf die Konzent-

ration und das Lernverhalten. Nicht zuletzt können sie für die Betro$enen auch zu einem ästhetischen Problem werden und die persönliche Be%ndlichkeit und soziale Akzeptanz erheblich beeinträchtigen.

Beobachtungen in der tägli-chen Praxis machen deutlich, dass bei der Mehrheit der sprechbehinderten Kinder ora-le Muskeldysfunktionen, z.B. Kompensationsbewegungen, eine wesentliche Rolle spielen. Bei funktionell bedingten Arti-kulationsstörungen werden als Begleitsymptome u.a. unruhi-ge Mitbewegungen im ganzen Körper, sowie eine Haltungs-schwäche sichtbar. Viele dieser Kinder gehen auf den Zehen-spitzen und zeigen weder ein korrektes Abrollen der Füße noch einen stabilen Fußkon-takt auf dem Boden.

Ein schla$er Gesichtsaus-druck hängende Schultern, dieser Habitus %ndet sich nicht

selten bei Kindern mit Sprachstörungen. Betrachten wir die gesamte Körperhaltung zum Beispiel unserer

Formfollows

function!

Gesamtkörperliche Auswirkungen myofunktioneller Störungen

�� Fehlhaltungen und Fehlspannungen im Schulter-Nackenbereich durch die basale Zungenlage: die Verbindung zur HWS besteht über das Hyoid.

�� Fehlhaltungen und Fehlspannungen im Schulter-Nackenbereich wirken sich auf die gesamte Rückenmuskulatur aus: die Pati-enten zeigen oft eine gesamtkörperlich eher hypotone Spannung, welche bei motorischen Leistungsanforderungen durch eine hypertone Spannung kompensiert wird.

�� Zahnfehlstellungen, insbesondere Kreuzbisse, gehen oft mit Beckenschiefstellungen in entge-gengesetzter Richtung zum Kreuzbiss einher.

�� Beckenschiefstellungen begünstigen Beinlängendifferenzen.

�� Gesamtkörperliche Fehlhaltungen/Fehlspan-nungen gehen oft mit Fehlbelastungen / Fehlstellungen der Füße einher.

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„Lutschzwerge“ oder „Lispler“, stellen wir häu%g fest: Sie bewegen sich instabil, sie schlurfen oder gehen auf Zehenspitzen statt die Füße abzurollen. Insgesamt sind sie eher hypoton und antriebsarm (4).

Fallen Menschen im Becken- und Flankenbereich in sich zusammen, kollabieren sie auch im oberen Bereich und der Mund geht auf. Meist neigt sich der Kopf zurück und der Hals knickt ab, wodurch sich die Atlasposition verändert. Die Folgen: Zungenbein und Zunge sinken ab, häu%g besteht eine o$ene Mundhaltung, der Unter-kiefer wird zurückverlagert, die Lautbildung ist beeinträchtigt.

O" sind eine o$ene Mundhal-tung mit basaler Zungenlage, sowie Sigmatismen/Schetismen die ersten sichtbaren Zeichen ei-ner myofunktionellen Störung. Zahnfehlstellungen und Kiefer-fehlentwicklungen werden dann später durch Kieferorthopäden diagnostiziert. Die fehlende Nasenatmung führt zu rezi-divierenden Infekten, die Kopfvorhaltung zu Kopf-, Na-

cken- oder Rückenschmerzen. Ein Mundschluss wird über kompensative Muster erreicht, die der Patient ge-speichert hat. Bei jeder motorischen Leistungsanforde-rung im orofazialen Bereich werden sie aktiviert, denn neuronale Netzwerke haben eine Musterkennung (12). Die Reorganisation der Myofunktionen besteht darin, dem Patienten neue Muster zu ermöglichen.

Grabowsky, Rostock, hat an 3041 Kindergartenkindern gesamtkörperliche Auswirkungen der o$enen Mund-haltung untersucht. Dabei wurde gefunden, dass „die

o$ene Mundhaltung sich als all-gemeine ganzkörperliche Hal-tungsschwäche im Milchgebiss etabliert und zunehmend auf das Wechselgebiss überträgt“ (6). Es wurde angeregt, den Terminus „o$ene Mundhaltung“ durch den Begri$ der „allgemeinen Hal-tungsschwäche“ zu ersetzen, um so auszudrücken, dass eine or-thopädische Diagnostik und ent-

sprechende physiotherapeutische !erapie unerlässlich sind, wenn dem Patienten e$ektiv geholfen werden soll.

Beteiligte Fachdisziplinen:

�� Gesichts-, Mund-Kieferchirurgie�� HNO-Arzt/Pädaudiologe�� Orthopäde/Chiropraktor�� Zahnarzt/Kieferorthopäde�� Logopädie

(k-o-s-t® - und Myofunktions-Therapeuten)�� Physiotherapie/ Osteopathie

Der obere Zahnbogen hat sich nach der Zunge

mit ihrem anterioren Schub geformt: Schmal

mit anterior offenem Biss (links). Rechts:

Da der Mund habituell offen gehal-

ten wird, strengt der Lippenschluss,

wenn er dann erfolgt, sichtlich an.

Unten links ist ebenfalls ein anterior offener

Biss zu erkennen, diesmal asymmetrisch.

Das „kieferorthopädische Gerät“ ist trotz

Unschärfe im Bild schnell ausgemacht: Die

Zunge (mitte). Ein Lippenschluss kann nur

mit Mühe hergestellt werden (rechts).

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Statistische Erhebungen des Logopädischen Dienstes Basel-Stadt der Jahre 1991-1994 bei 1736 Kindern Kin-der im Vorschul- und Schulalter zeigten bei 57% neben den Sprach-/Sprechstörungen zusätzliche Parameter

wie z.B. au$ällige Bewegungsmuster, o$ene Mundhal-tung, generelle Reifungsverzögerung und Au$älligkei-ten bezüglich Händigkeit (4).

„Myofunctional !erapy“ und die Zeit davor

In diesem geschichtlichen Abschnitt werden Passagen aus der 2-bändigen Diplomarbeit von Mathys und Suter (11) zitiert und mit Seitenzahlen gekennzeichnet. De-tails zur dort zitierten Literatur sind bitte dem dortigen Literaturverzeichnis zu entnehmen.

„Anfangs des 20. Jahrhunderts taucht in den USA erst-mals der Begri$ „Myofunctional !erapy“ auf. Er be-zeichnet eine !erapieform, deren Ziel es ist, Fehlstel-lungen von Zähnen und/oder Kiefer rein funktionell oder funktionell ergänzend zur mechanischen, appa-rativen Behandlung zu korrigieren. Aus diesem Ansatz heraus haben sich im Laufe der Jahrzehnte weltweit eine Vielzahl von Konzepten entwickelt. Keinem dieser Kon-zepte ist jedoch bis heute der Durchbruch zu einer wis-senscha"lich begründeten !erapiemethode gelungen“ (S. 5).

„Zur Frage, wann die ersten Ideen zur !erapie funk-tionaler orofazialer Störungen au"auchen, lassen sich keine genauen Angaben machen. Norman Wahl (2005) bemerkt dazu, dass aus der Geschichte der Zahnmedi-zin bekannt ist, dass bereits die alten Ägypter sich mit Malokklusionen auseinander gesetzt haben sollen.“ (S.24 $).

Im späten 18. Jahrhundert wird der Einsatz von kiefer-orthopädischen Geräten populär, grundlegende Tech-niken sind bekannt und kommen zu Anwendung. Zu Beginn steht jedoch nicht das Erreichen einer stabilen Okklusion, sondern die ästhetische Regulation im Vor-dergrund. Die klassische Kieferorthopädie befasste sich vornehmlich mit der Remodellierung von Hartgewebe und versucht durch mechanische Maßnahmen Kiefer- und Zahnstellungsanomalien zu korrigieren.

Obwohl bereits einige Funktionen der Zunge und des umgebenden Weichgewebes beschrieben wurden, schenkte man diesem dynamischen Partner der Form kaum Beachtung. Tulley (1969) und andere Autoren sind der Ansicht, dass Edward Angle die Ehre gebührt, Ein#üsse funktioneller Komponenten erkannt zu ha-ben. Hahn (1988:89) schreibt, dass Angle : „… als einen ätiologischen Faktor von Kieferanomalien … die falsche Zungenlage, den schädlichen Ein#uss der orofazialen Muskulatur, der Finger- und Lutschgewohnheiten und der Mundatmung, …“ ansah.

In der Folge entbrannten Diskussionen zu Wechsel-wirkungen zwischen Form und Funktion bzw. welchen Ein#uss Behandlungen auf die Weiterentwicklung von Dysgnathien nehmen. Pierre Robin entwickelte den Monoblock um 1900 mit dem Ziel, Muskelfunktions-schwäche solange auszugleichen, bis der Körper die feh-lende Kra" selbst au'ringen kann. Dieses Gedankengut wurde dann Jahre später von Waltry als Grundlage sei-nes Konzeptes „physiotherapeutische Methoden“ (1942 dann „Funktionstherapie“ genannt) übernommen. Sein Ziel war es, fehlende oder mangelha"e Muskelfunktion anzuregen und Zahnstellungsanomalien so zu behe-ben. Andresen (1957) und Häupl arbeiteten später mit dem gleichen Gerät wie Waltry (nannten es jedoch Ak-tivator) mit dem Ziel, die Muskelkra" des Trägers zur Korrektur von Zahnstellungsanomalien zu nutzen. Bal-

Herbert DohmenZahntechnikermeister

Haus-Endt-Straße 16240593 DüsseldorfFon: 0211 - 99 63 94 6

www.dohmen-ztm.de [email protected]

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17Die MFT

ters (1960) entwickelt den Bionator zur Korrektur von Form- und Funktionsanomalien. Er bemüht sich auch, den inzwischen für Gewebeumbau verwendeten Begri$ „Funktion“ wieder seiner ursprünglichen Bedeutung zuzuordnen, der Korrektur von Hartgewebe über Tra-gen des Gerätes mittels funktioneller Weichgewebskräf-te durch Sprechen, Schlucken, und Mimik. Rolf Fränkel veränderte dieses Gerät schließlich zum Funktionsreg-ler, der bis heute Anwendung in der !erapie von Zahn-stellungs- und Kieferanomalien %ndet“ (S.25 $).

Überlegungen, durch eine Art gymnastische Übungen die orofaziale Muskulatur zu normalisieren, wurden be-reits zu Beginn des 20. Jahrhunderts angestellt. Als ihr Begründer wird der amerikanische Kieferorthopäde Al-fred Paul Rogers genannt (1918, 1936). In den Anfängen wurden die therapeutischen Konzepte also seitens der Kieferorthopädie entwickelt. Erst im Laufe der Zeit fan-

den auch sprachtherapeutische Aspekte Eingang in die !erapien. Der Arzt Gottfried Arnold (1943) beschreibt neben funktionellen Ursachen für Sigmatismen auch Zusammenhänge mit Dysgnathien (S.79 $).

Allgemein ist zu vermerken, dass das prozentuale Auf-treten von Dysgnathien und Lautfehlbildungen bei verschiedenen Autoren in Abhängigkeit der Proban-denzusammensetzung und der Charakterisierung von Dysgnathien und Lautfehlbildungen sehr stark variiert. Der Hals-Nasen-Ohrenarzt Max Nadoleczny beschäf-tigte sich Zeit seines Lebens mit Form und Funktion im orofazialen Raum. Er sah 1912 erstmals einen funktio-nellen Zusammenhang zwischen Zungenlage, Schla$-heit der Zungenmuskulatur, falscher Zungenbewegung und der Entstehung von Zahn- und Kieferanomalien sowie der gestörten Lautbildung „S“ (Bigenzahn 1995:1, S 30).

Wegbereiter der ersten Generation

Exemplarisch werden in der Folge kurze Übersichten über die Arbeiten von Straub, Barrett und Hanson, so-wie Garliner gegeben.

Der Amerikaner Walter Straub, der in Europa nur wenig bekannt ist, hat wesentliche Beiträge zur Entwicklung der myofunktionellen !erapie geleistet. Eine zentrale Stellung nahmen in seiner praktischen Arbeit das Ab-gewöhnen von schädlichen oralen „Habits“ (Daumen- und Fingerlutschen) sowie das „tongue-thrust swal-lowing“ (Zungenvorschubschlucken) ein.

Er entwickelte ein Übungsprogramm zur Korrektur des „tongue-thrust swallowing“, welches nach dem Abge-wöhnen dieser Habits einsetzen sollte. Er beschä"igte neben Anderen auch Sprachtherapeuten in seiner kie-ferorthopädischen Praxis. Sein besonderes Interesse galt der Säuglingsernährung, insbesodere der Flaschener-nährung, und er schrieb dazu „… the perverted swal-lowing habit seems to be the direct result from improper bottle feeding“ (Straub 1951, S. 36$)

Barrett und Hanson wiederum verstanden unter der Myofunctional !erapy „a rational psychophysiological approach aimed at establishing as routine those patterns of muscle movement employed in normal deglutition” (Barrett und Hanson 1978, 223).

Sie entwickelten das Konzept von Straub weiter und leg-ten Wert auf einen fachlichen Hintergrund, den sie als notwendige Grundlage für jeden „Oral Myologist“ be-trachteten. 1988 erschien eine überarbeitete Version sei-

ner „Fundamentals of Orofacial Myology“. Barrett und Hanson entwickelten ein eigenes therapeutisches Kon-zept zur Korrektur von „oral myofunctional disorders“ und betonten, dass dieses ein Programm zur Korrektur des falschen Schluckmusters sei („It is done by the pa-tient, not to the patient“). Hansons Programm fand in Europa wesentlich weniger Verbreitung als dasjenige von Garliner, welches etwa zur gleichen Zeit entstand.

Barrett und Hanson beschä"igten sich intensiv mit der Geschichte und dem Wandel und hielten fest, dass sich in den USA hauptsächlich Kieferorthopäden in einer pragmatischer Weise mit der !ematik auseinander-setzten. „Tongue-thrust swallowing“ wurde als schäd-liche Gewohnheit betrachtet, ohne den möglichen Rei-fungsprozess des Schluckens zu berücksichtigen (S.43). Nach dieser Sichtweise wollte man das störende Symp-tom abschalten, ohne die zugrundeliegenden Ursachen ausreichend zu beachten.

Garliner ist wohl die bekannteste, am meisten polarisie-rende und schillernste Persönlichkeit im Zusammen-hang mit „Myofunctional !erapy“. Er war vor allem als Praktiker tätig. Sein Institut, welches er zusammen mit dem Sprachtherapeuten Roy Langer in Florida gründe-te, hatte bis zu seiner schweren Erkrankung in den 90-er Jahren Bestand. Biogra%sch ist wenig über ihn bekannt, jedoch hat er zweifellos die Verbreitung der Myofunc-tional !erapy in Europa wesentlich geprägt.

Als gesichert gilt, dass er 1964 ein von ihm entwickeltes Programm herausgab (auf Rogers basierend) und es als

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„Myofunctional !erapy“ bezeichnet. (S 39 $) Sein Pro-gramm, das er 1971 in den USA verö$entlichte, war, wie das seiner meisten Zeitgenossen, motorisch ausgerichtet und beschränkte sich auf den orofazialen Raum. In der Diagnostik gri$ er jedoch weiter und sprach neben den Zahnärzten und Kieferorthopäden immer wieder die Zusammenarbeit mit Chiropraktoren und anderen !e-rapeuten an. Es war sein Bestreben, den Muskelfunkti-onstherapeuten als Teil eines interdisziplinären Teams in der Zahnmedizin zu etablieren.

Garliner führte Messgeräte wie den Myoscanner, die Payne Technik und auch die durch ihn entwickelte Kra"skala ein und macht sie zum Bestandteil seiner Myofunktionellen !erapie. Auch legte er großen Wert auf die Bilddokumentation. Er verö$entlichte eine Viel-zahl von Kurzpublikationen. Garliner bestand auf seinen Messungen und versuchte, auch seine Kursteilnehmer zum Kauf seiner verschiedenen Produkte zu zwingen, was ihm erhebliche Kritik einbrachte.

Er wurde in Deutschland sehr durch eine Gruppe von Zahnärzten und Kieferorthopäden (Dres. Hahn/Mün-chen, Helms/Hamburg, !iele/Kiel, u.a.) gefördert und unterrichtete über viele Jahre hinweg in deren Praxen. Etwas später weitete er seine Unterrichtstätigkeit auch in die Schweiz aus.

Die MFT hat unter Garliner sicher einen ihrer größten Aufschwünge erlebt. Der erste Europäische Kongress für Myofunktionelle !erapie fand 1981 in München statt, der zweite bereits ein Jahr später in Hamburg, der sechste im Jahre 2000 dann in Basel, mit dem Leitthema „HABITS“.

Es ist in diesem Artikel nicht möglich, auf alle Ein#üsse bedeutender Kieferorthopäden und Zahnärzte einzuge-hen, die wesentlich zum Verständnis und der MF-Ent-wicklung beigetragen haben. Jedoch sind Namen wie Angle, Zickefoose, Balters, Fränkl, Schöttl, Sergl und Tränckmann nicht wegzudenken.

Schwerpunkte> spezielle Embryologie, angeborene

Fehlbildungen, kraniofaziale Fehlbildun-gen, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und deren klinische Einordnung

> Medizinische Grundlagen, Morphologie, Physiologie, Pathophysiologie des stomatognathen Systems, Krankheitsbil-der Erwachsener, spezielle Anatomie

des kraniofazialen und stomatognathen Systems

> Funktionelle Bewegungslehre (FBL) > Techniken bei der Ernährung ernährungs-

schwieriger Säuglinge, gesunde Ernäh-rung bei Kindern, Unverträglichkeiten

> Das Prinzip der körperorientierten Sprachtherapie k-o-s-t nach S. Codoni® und orofaziales System

> das 5 Phasenmodell der myofunktionellen Therapie

> chirurgische Behandlungs- und Operati-onstechniken

> sprechmotorische Störungen beim LKG-Kind und verbale Entwicklungsdys-praxien bei Syndromen

> Therapeutische Behandlungstechniken (inkl. Hilfsmittel)

> Theorie und Praxis der sensomotorischen Koordination

> Strategien des motorischen Lernens> Ethik> Neurowissenschaften> Praxismanagement

Studienleitung

Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr.h.c. Hans-Florian ZeilhoferChefarzt und Leiter Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichts-chirurgie, Sprecher des fakultären Forschungs-schwerpunkts CMBE

(Clinical Morphology & Biomedical Engineer-ing) des Universitätsspitals Basel

PD Dr. med. Dr. med. dent.Katja Schwenzer-ZimmererLeitende Ärztin Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichts-chirurgie, Fachärztin für Mund, Kiefer und Gesichts-chirurgie, Plastische Operationen, FEBOMS,

Leiterin des interdisziplinären Kompetenzzen-trums für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und verwandte Fehlbildungen

Dr.h.c. Susanne CodoniWissenschaftliche Mitarbei-terin Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirur-gie, Dipl. Logopädin EDK,zertifizierte Craniosacralthe-rapeutin und Myofunktions-therapeutin, NLP Trainerin in

Body Work, Health and Special Education der American Society of NLP, Mitarbeiterin im interdisziplinären Kompetenzzentrum für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und verwandte Fehlbildungen

MAS IN CRANIO FACIAL KINETIC SCIENCE (MCFKSc)

Zulassung Zugelassen werden Fachpersonen mit einem Hochschulabschluss aus den Bereichen Logo-pädie, Physiotherapie, Ergotherapie, Medizin, Psychologie, Sonderpädagogik, einem nach-träglich erworbenen Titel (NTE) oder ‹sur Dos-sier› mit einem Fachabschluss mit gleich zu haltenden Voraussetzungen (Berufserfahrung, Weiterbildung).

Kontakt und AnmeldungDr. h.c. Susanne Codoni Langmattweg 1 4123 Allschwil Tel.: +41 61 481 24 54 Fax: +41 61 481 34 30 [email protected] www.scodoni.ch

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19Die MFT

Generationenwechsel: Modi"zierungen und !erapiekonzepte aus der „Neu-Zeit“

Wiederum exemplarisch werden nachfolgend Arbeiten in Deutschland und der Schweiz dargestellt: Bolton, H. und V. Hahn, !iele, Schwitzer und Codoni.

Die in Deutschland wohnha"e Amerikanerin Mary Ann Bolton ist Sprachpathologin und eine Schülerin Garliners. Sie hat auf der Basis seines Programmes ein modi%ziertes !erapiekonzept entwickelt, dass sie in ih-rer Praxis umsetzt und an Interessierte in Kursen weiter-gibt. Ihr Konzept ist für Kinder ab dem 10. Lebensjahr gedacht, da sie gewisse kognitive Leistungen, Mitarbeit und Selbstverantwortung voraussetzt. (S. 61)

Große Verdienste um die Verbreitung und die Qualitäts-erhaltung der myofunktionellen !erapie gebührt dem münchener Ehepaar Hermann Hahn (Zahnarzt) und Vevi Hahn (Sprachheilpädagogin). Vevi Hahn beschrieb in ihrem Buch „Myofunktionelle !erapie - Ein Beitrag zur interdisziplinären Fundierung aus Sicht der Sprach-behindertenpädagogik“ (9) detailliert ihre fundierte Vorgehensweise bei der Durchführung der myofunk-tionellen !erapie (S.62). Eines ihrer wichtigen !era-pieelemente ist das Einüben der Primärfunktionen als Grundlage di$erenzierter oraler Bewegungsabläufe. Vevi Hahn unterrichtete an der LMU in München und befasste sich in mehreren Publikationen mit der Häu%g-keit myofunktioneller Störungen und deren Prävention. Sie fordert die Frühbehandlung orofazialer Dyskinesien. Sie gilt als Vorreiterin der MFT der „neuen Zeit“, gab zusammen mit ihrem Mann, der auch Garliners Buch (5) ins Deutsche übersetzt hatte, viele Kurse und war mit ihm zusammen sehr wesentlich an der Etablierung von Daniel Garliners MFT in Deutschland beteiligt. Das Ehepaar engagierte sich über viele Jahre hinweg mit bewundernswertem Einsatz im Arbeitskreis für myofunktionelle !erapie e.V. , als erster Vorsitzender, Beisitzer(in) und weiteren Chargen.

Erhard !iele, deutscher Zahnarzt aus Kiel, beschäf-tigte sich als Schüler Walter Schöttls bereits in den 60-er Jahren mit der zahnmedizinischen Funktionsthe-rapie und besuchte mit dem Aufschwung der MFT in Deutschland und in der Schweiz Garliners Kurse. In der Folge setzte sich !iele immer intensiver mit die-ser Methode auseinander. Auch er engagierte sich über viele Jahre im Arbeitskreis für myofunktionelle !erapie und verö$entlichte ein Trainingsprogramm für Kinder und Jugendliche zur Behandlung von Dysfunktionen der orofazialen Muskulatur „Vom Zungenkämpfer zum Schluckmeister“ (14). Später verö$entlicht er einen aus-führlichen Katalog von 150 Übungen zur neuromotori-schen Funktionsregulation.

Die deutsche Logopädin Anita Kittel entwickelte ein !erapieprogramm (10), beruhend auf Modi%kationen der Konzepte Garliner und Bolton. Ihre interdisziplinä-re Zusammenarbeit konzentriert sich vorwiegend auf die Zusammenarbeit mit der Zahnheilkunde. Sie führt eine eigene Praxis und bietet Weiterbildungskurse an.

Einen interessanten Ansatz vertritt der italienische Kie-ferorthopäde Mario Bondi, inspiriert durch Erkenntnis-se des Funktionskieferorthopäden Häupl und basierend auf eigenen Erfahrungen. Er beachtet nicht nur das loka-le Geschehen am und im Mundbereich, sondern dehnt seine Beobachtungen auf die Wechselwirkungen aus, die

Überblick über aktuelle Therapiekonzepte

�� Heidelberger Gruppenkonzept für myofunktionelle Störungen - GRUMS®

�� MFT nach dem Hannoveraner Konzept (HaKo)�� MFT nach Thiele (KÜnF, PmBK, ZK)�� Logopdisch orientierte Orofaziale Therapie

nach Hammerle (LOOFT)�� Myofunctional Therapy nach Bolton (MFTB)�� Myofunktionelle Therapie nach Hahn (MFTH)�� Myofunktionelle Therapie nach Codoni (MFTC)�� Myofunktionelle Therpaie nach Kittel (MFTK)�� Schweizerisches MFT-Übungsprogramm nach

Schwitzer (MFTS)�� Muskelfunktionsübungen im orofacialen

Bereich nach Curschellas (MFÜoB)�� Neurofunktionelle Reorganisation nach

Padovan (NFR)�� Orofaziale und craniocervikale Myotherapie

nach Bondi (OCMT)�� Muskelfunktionsübungen / Orofaziale Muskel-

funktionstherapie nach Clausnitzer (OMT)�� Myofunktionstherapie nach Fischer-Voosholz &

Spenthof (OMS)�� Die orofaziale Regulationstherapie nach

Castillo Morales�� Wiener Konzept zur Therapie orofazialer

Dysfunkitonen�� Körperorientierte Sprachtherapie und

orofaziales System nach Codoni (k-o-s-t®)�� 5 Phasenmodell der Myofunktionellen Therapie

nach Hörstel

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„die verschiedenen Teile des Schädels und der Halswir-belsäule auf die dynamische Pathologie des Mundes und des Kiefersystems erzeugen“. 1991 verö$entlichte er sein Buch „Mioterapia orofacciale craniocercicale“ in Itaien. Zwei Jahre später wurde es ins Deutsche übersetzt (2).

Das Ehepaar Volkmar und Renate Clausnitzer, ehemals in Halle ansässig, haben gemeinsam das Übungspro-gramm Orofaziale Muskelfunktionstherapie (OFM) zu-sammengestellt (3). Zusammen mit Erhard !iele ver-ö$entlichten Clausnitzers das Buch „Myofunktionelle !erapie aus sprechwissenscha"licher und kieferortho-pädischer Sicht (13).

Als pionierha"er Vertreter in der Schweiz ist Dr. R. Schwitzer, Olten, zu nennen. Er beschä"igte bereits 1983 in seiner Praxis eine Physiotherapeutin, die sich um die myofunktionellen Belange seiner Patienten be-mühte. Schwitzer führte 1990 in einem Referat aus, dass Dr. Rahm, Kieferorthopäde in Scha(ausen, das Ver-dienst zukommt, 1980 zusammen mit Mary Ann Bolton die MFT in die Schweiz gebracht zu haben.

Im Zuge der Zeit wurde Ende der 80-er Jahre die schwei-zerische Forschungsgruppe (Dr. R. Schwitzer, Olten und Mitstreiter) für orale Dyskinesien (SFOD) gegründet, mit dem Ziel, die Methoden der „Myofunctional !e-rapy“ wissenscha"lich kritisch zu prüfen und Grundla-genforschung auf dem Gebiet der Dyskinesie und der funktionskorrigierenden Maßnahmen zu betreiben. Die !erapie weitete sich zunehmend von Kindern zu Pati-enten mit Kiefergelenksbeschwerden aus. So wird laut Schwitzer auch deutlich, dass für die Behandlung dieser Fälle das Studium der Logopädie ungenügende Voraus-setzungen bietet (S 46).

Hemmend auf die Entwicklung und breitere Anerken-nung wirkte sich die negative Beurteilung und das ab-weisende Verhalten der vier Vorsteher der Universitäts-institute für Kieferorthopädie vom Mai 1987 aus.

Susanne Codoni, Schweizer Logopädin und langjähri-ge Leiterin des Logopädischen Dienstes Basel-Stadt hat schon früh in den 80-er Jahren begonnen - inspiriert durch die Schweizer Kolleginnen Cecile Curschellas und Marianne Campiche - sich mit der MFT zu befas-sen. Sie war auf der Suche nach e$ektiven Programmen zur Behandlung von funktionelle Artikulationsstörun-gen und lud Garliner in den späten 80-er und frühen 90-er Jahren wiederholt zu Kursen ein. Er unterrichtete in Basel im Wenkenhof in 5-tägigen Grund- und mehr-tägigen Au'aukursen das Gedankengut der MFT. Diese meist interdisziplinär besuchten Kurse wurden bekannt als „Wenkenhof-Seminare“, die von Codoni organisiert und übersetzt wurden. Durch diese enge Zusammen-arbeit erhielt sie vertie"e Einblicke in seine Arbeit. Co-doni modi%zierte Garliners Programm und entwickelte später daraus in langjähriger Arbeit das eigene Konzept der körperorientierten Sprachtherapie k-o-s-t®. Susanne Codoni war während vieler Jahre als aktives Mitglied im Arbeitskreis für myofunktionelle !erapie in enger Ko-operation mit dem Ehepaar Hahn aus München. Sie or-ganisierte 2000 auch den erwähnten Kongress in Basel.

Die nach der logopädischen Ausbildung verfügbaren Konzepte reichen bei der heutigen Anforderungsrealität und Breite des stark erweiterten Behandlungsfeldes mit MFT o" nicht mehr aus, um in einer akzeptablen Frist befriedigende rezidivfreie !erapieergebnisse zu erzie-len, weshalb sie sich bei der Etablierung eines Master Studienganges an der Universität Basel engagiert hat.

Der Therapeut (links) wird zum Moderator des therapeutischen Prozesses wählt jeweils passende Übungen aus

und weist in deren Durchführung ein. Das aktive tägliche Üben übernehmen nach Möglichkeit die Eltern.

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21Die MFT

!erapeutische Hilfsmittel in der MFT - integrierter und unverzichtbarer Bestandteil

Als Grundlage für den nächsten Abschnitt dient die Di-plomarbeit von Baschnagel (1). Darin setzt er sich zum einen mit !erapiekonzepten und zum anderen mit ei-ner Auswahl häu%g verwendeter Hilfsmittel auseinan-der. Die zur Auswertung verwendeten Fragebogen hat-ten eine e$ektive Rücklaufquote von 39.5%. Das erste im Anhang aufgelistete Kompendium präsentiert in einer di$erenzierten Übersicht insgesamt 16 verschiedene !erapiekonzepte, aufgelistet nach Urheber, Grund-

lage, Klientel, Grundsätze, Schwerpunkte, Programm und Bezug zur Behandlung von funktionellen Störun-gen. Ebenso wichtig für die diagnostisch-therapeutische Praxis ist das zweite Kompendium mit 18 ausgewähl-ten Hilfsmitteln (inkl. Myometer, Federwaage, Payne-Lampe) mit Angaben zur Indikation, Anwendung und Intensität. Der Anhang schließt mit einem Verzeichnis der Bezugsquellen. Eine Diplomarbeit mit erheblicher Relevanz für die tägliche Praxis!

Multitasking - Mögliche Wege aus der Sackgasse

Die Verbindung der „Körperorientierter Sprachtherapie k-o-s-t® und orofaziales System“ mit dem „5 Phasenmo-dell der myofunktionellen !erapie“ nach Hörstel:

Körperorientierte Sprachtherapie k-o-s-t® nach S. Codoni ist de%niert als ganzheitli-ches Konzept: die körperintegrierende Basistherapie, beruhend auf neurologischen, biologischen und phy-siologischen Grundlagen unter Berücksichtigung des individuellen Entwicklungsstandes. Sie steht für multi-disziplinäres Erfassen und interdisziplinäre Vorgehens-weise. Im Zentrum steht die umfassende, ganzheitliche (schulmedizinisch geprägte) Diagnostik.

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit führt zu einem Gesamtbild und einem darauf au'auenden Behand-lungskonzept mit Elementen aus Konzepten der (an-erkannten) Komplementärmedizin. Die Beschränkung auf Fachgrenzen ist aufgehoben und komplementärme-dizinische Konzepte werden ausdrücklich in den Auf-bauplan einbezogen.

Gestützt darauf ist das Ziel die Reorganisation der Myo-funktionen bezogen auf den gesamten Körper und be-steht darin, dem Patienten neue Muster überhaupt zu ermöglichen. Die „unreifen“ Muster hat der Patient ge-speichert. Bei jeder motorischen Leistungsanforderung werden diese auch im orofazialen Bereich aktiv, denn neuronale Netzwerke haben eine Musterkennung (Spit-zer, 2000, S. 31). Zu Beginn jeder !erapieeinheit wer-den funktionsstimulierende Massnahmen aus k-o-s-t® angewendet, um eine gesamtkörperliche Aufrichtung zu unterstützen und somit eine Vigilanz zu fördern.

Eine Reihe von medizinischen Hilfsmitteln wie z. B. Face Former®, BalloVent®, Position Trainer®, TENS®, Novafon® und andere mehr eignen sich außerordentlich gut als Ergänzung zu den k-o-s-t®-Stimulationen für das tägliche „Training“ zu Hause. Voraussetzung ist die genaue Kenntnis, wie sie eingesetzt werden und in der Folge die genaue Anleitung der Eltern, wann, wie, wie o" und weshalb deren Einsatz notwendig ist.

Die moderne myofunktionelle Therapie kennt neben dem klassischen Gummiring (links) noch

viele weitere Hilfsmittel, darunter auch das Ballovent®

(mitte) und den Faceformer®

(rechts).

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Das ganzheitliche neurophysiologisch orientierte Kon-zept ermöglicht durch seinen interdisziplinären Ansatz eine Verbindung zwischen Schulmedizin, Komple-mentärmedizin und therapeutischen Maßnahmen und scha) lösungsorientiert ein individuelles Behandeln.

Tragende Säule bildet die präzise Patientenbeobachtung, das Erfassen aller den Patienten beeinträchtigenden Fak-toren und eine ständige Kommunikation der multidszi-linär arbeitenden Ärzte/!erapeuten untereinander. Veränderungen des Patienten führen zu Änderungen des individuellen Behandlungsplanes. Ein komplexes interdisziplinäres Behandlungsnetz entsteht.

Die Rolle des !erapeuten und diejenige der Eltern verändern sich: er wird zum Moderator des therapeuti-schen Prozesses, gleichsam fachlicher Begleiter auf Zeit zu einem de%nierten Ziel. Die Eltern übernehmen im Rahmen der Möglichkeiten aktiv den täglichen Part zu Hause. Die neu gescha$enen Synergien verhelfen dem Patienten zu einer e$ektiven, ressourcenorientierten !erapie, seinen Angehörigen zur umfassenden Kennt-nis des Störungsbildes und damit zu mehr Möglichkei-

ten einer sinnvollen Unterstützung der Behandlung, sowie Ärzten und !erapeuten zur zielorientierten Ökonomie.

Dieses neue Rollenbild führt zu einer partnerscha"li-chen und respektvollen Zusammenarbeit. Zielgerichte-te Interventionen orientieren sich inhaltlich sowohl an den Ressourcen als auch an den De%ziten des Patienten. Koordinator ist die Logopädie. Der Patient steht im Mit-telpunkt eines Behandlungsprozesses, in welchem un-terschiedliche Fachrichtungen multidisziplinär auf ein gemeinsames Ziel hin arbeiten.

Der Paradigmenwechsel wird vollzogen, welchen Rein-hard Sprenger in seinem Buch „Mythos Motivation – Wege aus der Sackgasse“ (1997, 12) folgendermaßen beschreibt: „Wer zu neuen Ufern will, muss zunächst aus dem altvertrauten Milieu, dem Spiegelkabinett der Mo-tivierung gedanklich ausbrechen. Denn hier verstellen uns unsere eigenen Systeme auf Schritt und Tritt den Weg“. Es gilt, Visionen zu entwickeln und mutig neue Wege zu beschreiten.

Nur 2 1/2 Monate individuelles

(myo-) funktionelles Training

liegen zwischen den Aufnah-

men links und rechts.

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23Die MFT

Das 5-Phasen-Modellder myofunktionellen !erapie nach Ulrike Hörstel baut auf der „k-o-s-t® Arbeit auf. Es ist ein sehr strukturiertes, systematisch aufgebautes Konzept zur Durchführung der myofunktionellen !erapie, welches die Wünsche nach einer ganzheitlichen, individuellen und klienten-zentrierten Vorgehensweise und einem rückfallfreiem Abschluss mit dem somatisch korrekten Schluckmuster erfüllt.

Es beinhaltet u.a. verhaltenstherapeutisch orientierte Programme zum Abbau extraoraler Habits, therapeu-tische Maßnahmen zum Abbau oraler und intraoroaler Habits, Arbeitsblätter zur Durchführung der Übungen

und integriert die medizinischen Hilfsmittel BalloVent®-System in Verbindung mit dem PostionTrainer.

Damit wird die ursprünglich lange dauernde und stän-dig motivationseinbruchgefährdete MFT auf eine neue Basis gestellt, sie wird zu einem neuzeitlichen, öko-nomischen und e&zienten Behandlungskonzept. Die Verbindung dieser beiden Konzepte ist seit rund sieben Jahren auch integrierter Bestandteil der Behandlungen im interdisziplinären Kompetenzzentrum für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten in der Abteilung Mund-Ge-sichts-Kieferchirurgie im Universitätsspital Basel (www.lkg-info.ch).

Vieles kann auch schon

innerhalb von 20 Minuten

erreicht werden, wenn

das Training individuell

passend gestaltet wird.

Beckwith-Wiedemann-Syndrom, diagnostiziert im Dezember 2003 (rechts).

Unten: Tüchtiges Üben 2004 und 2005 (ganz unten). Rechts unten: Die Situation Anfang 2007.

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Es entsteht eine natürliche Selektion: die Quantität der Menschen, die mit symptom-orientierten !erapien mit wenig erfreulichen Ergebnissen ihre !erapiekarriere beenden versus eine Qualität mit Einbeziehung we-sentlicher Fachdisziplinen, die sich mit diesem Erschei-nungsbild „Mund“ befassen. Kooperation des Umfeldes

des Patienten sind dabei eine Voraussetzung. Logopädie und MFT im Wandel – eine Herausforderung angesichts der heutigen Wirtscha"slage mit dem notwendigen Trend zu mehr Ökonomie, E&zienz und Kostensen-kung.

Zusammenfassung

„…Eine Vielzahl an entstandenen „neuen“ Konzep-ten schließen das ursprüngliche Gedankengut und bestimmte Übungen der „Myofunctional !erapy“ in einer mehr oder minder modi%zierten Form noch mit ein. Ergänzend werden in Abhängigkeit vom fachlichen Hintergrund der !erapeuten, aber auch vom (interdis-ziplinären) Team, das an der Bedeutung der Patienten beteiligt ist, weitere Schwerpunkte gelegt. Die Bezeich-nung der Konzepte weisen auf deren Ursprünge oder die Schwerpunkte der therapeutischen Inhalte hin…“ (Ma-thys /Suter S 47/48)

Hahn (2007) beschreibt die Myofunktionelle !erapie (MFT) wie folgt: Die Myofunktionelle !erapie (MFT) ist ein in sich geschlossenes, eigenständiges sensomoto-risches !erapiekonzept bei funktionellen Störungen im orofazialen Bereich. Inhalt ist das Erlernen physiologi-scher oraler Praxien (v.a. des somatischen Schluckens, der physiologischen Zungenruhelage, der physiologi-schen Nasenatmung mit Mundschluss). Diese wirken sich positiv auf die Lauterzeugung und die Sprachwahr-nehmung aus. Der Zugang ist entwicklungsbezogen. Als Basistherapie wird die MFT vorbereitend, begleitend oder sichernd v.a. in der Logopädie und Kieferorthopä-die innerhalb eines individuell erstellten Behandlungs-planes eingesetzt. Ziel der Myofunktionellen !erapie ist eine vollständige Rehabilitation.

Die Situation ist komplex, stressbesetzt und eine grosse Herausforderung für alle Beteiligten. Diagnostik auf in-terdisziplinärer Ebene ist unabdingbare Voraussetzung. Erforderlich ist die fachübergreifende Zusammenar-beit zwischen Pädiatrie, Logopädie, HNO/Phoniatrie, Kieferorthopädie, Orthopädie und Physiotherapie. Sie führt zu einem Gesamtbild und wirkt sich entscheidend

auf das Einleiten geeigneter Maßnahmen aus. W. Bigen-zahn zeigte bereits 1955 anhand der Beziehungen und Wechselbeziehungen im stomatognathen System die Komplexität des Geschehens auf.

Der akute große Bedarf an nachhaltig wirksamer !e-rapie, die Entwicklung e&zienter Hilfsmittel und deren Einsatzmöglichkeit in der !erapie, die Veränderung des Blickwinkels auf ganzkörperliche Zusammenhänge, die enger werdende fachübergreifende Zusammenarbeit mit Partnerdisziplinen in der Diagnostik, das aktive Ein-beziehen der Eltern ins Geschehen – all diese Aspekte haben dazu geführt, die Ausbildung zu überdenken und neu zu konzipieren.

Die Myofunktionelle !erapie hat sich zu einer um-fassenden, ganzheitlichen und interdisziplinären !e-rapieform entwickelt. Sie wird damit zu einer echten Ergänzung, eine Unterstützung von prä- und/oder pos-torthodontischen/operativen Maßnahmen. Die komple-xen Funktionen und di$erenzierten Leistungen fordern die entsprechenden Disziplinen in der wissenscha"li-chen Grundlagenforschung, der klinischen Forschung, in der Diagnose und !erapie heraus.

Das Niveau der interdisziplinär durchgeführten Ausbil-dung muss qualitativ gehoben, den heutigen Gegeben-heiten angepasst, der auszubildende Personenkreis er-weitert und die Durchführung e$ektiv und ökonomisch werden. Dies sind Voraussetzungen um den großen Be-darf in dieser wirtscha"lich schwierigen Zeit attraktiv zu gestalten und in annähernd nützlicher Frist zu be-friedigen.

Literatur auf Seite 62

Video-Workshop mit Susanne Codoni„Myofunktionelle !erapie im Wandel“ Doppel-DVD

menügeführtLaufzeit ca. 170 Min.

# 40,-www.mediplus-shop.de

Disk 1: Einführung in die MFT, Erscheinungsbilder, ganzheitliche symptomorientierte Sichtweise, Zusammenhänge, Case Management.Disk 2: Stadien der MF-!erapie, Hilfsmittel, Fragen und Antworten

M PEDI LUS®

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25Die MFT

Der Editor fragt nach Nachgebohrt

RS: Die medizinische Fakultät der Universität Basel hat Ihnen vor kurzem die Ehrendoktorwürde verliehen, die man ja nicht gerade geschenkt bekommt, zumal von einer Schweizer Universität. Ihr Lebenswerk ist die Logopädie und die myofunktionelle !erapie im besonderen, ein Ge-biet also, das meist als „unwissenscha"lich“ gesehen wird. Wieso dann diese Ehrung von einem wissenscha"lichen Institut?

SC: Es ist eine große Wertschätzung, als !erapeutin von der medizinischen Fakultät der ältesten Universität der Schweiz diese Ehrung zu erhalten. Durch konsequente, jahrelange „Beweisführung“ ist es gelungen, Zusammen-hänge aufzuzeigen, mich als „Exotin“ durch Widerstände auch im eigenen Fachgebiet durchzuarbeiten, therapeuti-sche Ergebnisse von zufriedenen Patienten kontinuierlich einem breiteren Fachpublikum zu präsentieren, quasi als belächelter „Rufer in der Wüste“ einen exponierten Weg zu gehen, der zum Wohl des Patienten jetzt auch in der universitären Lehre zum Ziel geführt hat. Seitdem die Logopädie 2003 fester Bestandteil der universitären Spalt-sprechstunde in Basel wurde, werden die funktionsorien-tierten logopädischen Techniken verfeinert, systematisiert und wissenscha"lich überprü". Dieser mehr wissenscha"-liche Ansatz nach amerikanischem Vorbild geht auf meine Initiative zurück.Das Entwickeln des eigenen Konzeptes und das jahrelan-ge Arbeiten damit als Basis für die vielfach geschmähte MFT führten zur Konzipierung dieses ganzheitlichen interdisziplinären und lehrfähigen Studienganges der medizinischen Fakultät. Er bietet sowohl der schulmedi-zinischen Diagnostik als auch der therapeutischen Praxis neue Erkenntnisse, lässt der Verknüpfung den notwendi-gen Raum, fördert das gegenseitige Verständnis und baut Netzwerke auf. Er wurde in der medizinischen Fakultät einstimmig als Möglichkeit erkannt und befürwortet

RS: Warum, glauben Sie, tun sich gerade so viele Kie-ferorthopäden schwer damit, einen Sinn in der MFT zu sehen? Hält man die Zunge für nicht trainierbar oder glaubt man an „function follows form“?

SC: Sicher spielt zum Teil ein Informationsde#zit eine Rolle, ebenso, wie ein mechanistischer Denkansatz. Der Grundsatz „Form follows function“ ist vielerorts erkannt und akzeptiert. In unserer Klinik für Mund-Gesichts-Kieferchirurgie ist dieser Lehrsatz integrierter Bestandteil

der täglichen Arbeit der Chirurgie. Auch in vielen kiefer-orthopädischen und zahnärztlichen Praxen wird das so gesehen. Es stellt sich jedoch die Frage nach einer erfolg-bringenden, rezidivfreien !erapie, die, auch wenn vor-handen, (noch) nicht wisssenscha"lich belegt ist. Im wei-teren gilt es zu bedenken, dass die Quali#kation derer, die MFT ausüben, inhomogen ist. Die Negativerfahrungen überwiegen leider noch und basieren in vielen Fällen auf nicht gelungenen MF-!erapien und statt nach Ursachen wird dann nach Schuldigen gesucht.

RS: Kann es tatsächlich gelingen, die Zunge dazu zu trai-nieren, einen Raum, der sich anbietet - z. B. beim anterior o#enen Biss - NICHT einzunehmen?

SC: Ja.

RS: Liegt das mangelnde Vertrauen der Kieferorthopä-den dann also an einer o" suboptimalen Umsetzung der MFT?

SC: Genau. Die angebotene, meist suboptimale Aus- oder Weiterbildung führt zur inkonsequenten therapeutischen Ausführung. In vielen Fällen erfolgt keine sorgfältige in-terdisziplinären Indikationsstellung und es existiert auch kein Rahmen, der die konsequente Kooperation aller Beteiligten sicherstellt. Meist wird daher den e$ektiven Möglichkeiten und auch Grenzen der Durchführbarkeit/Machbarkeit zu wenig Rechnung getragen.

RS: Wo müsste man Ihrer Meinung nach ansetzen, um die Situation zu verbessern?

SC: Bei der Ausbildung und der konsequenten Durchfüh-rung. Myofunktionstherapie wird in vielen Fällen noch (miss-) verstanden als eine lokale !erapie, die mit mög-lichst vielen hintereinander folgenden Übungen im orofa-zialen Bereich zum Ziel führen soll. Dabei werden über-greifende Probleme wie fasziale Muskelketten außer Acht gelassen oder vergessen.

RS: Welche Faktoren werden bezüglich der oralen Weich-gewebsfunktion Ihrer Erfahrung nach am häu$gsten von Zahnärzten und Kieferorthopäden übersehen? Was wäre eine Minimaldiagnostik, mit der jeder vertraut sein soll-te?

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SC: Die falsche Zungenlage, ein falsches Schluckmuster, und eine habituell o!ene Mundhaltung. Einem in solchen Dingen unerfahrenen Zahnarzt könnte folgender Rat ge-geben werden:1. Den Patienten anschauen und das Gesicht genau beob-achten: Ist der Mund o!en oder zu? Sind die Lippen prod-trudiert, trocken, rissig, sind um den Mund herum rote Ränder, hängen die Schultern?2. Den Patienten Spucke sammeln lassen, dann die Lippen spreizen und schauen, ob man die Zunge an, respekti-ve zwischen den Zähnen sieht. Sieht man nichts, so kann man den Test mit einem Teelö!el voll Wasser wiederholen. Kann das Wasser nicht gehalten werden und läu" heraus, oder sieht man die Zunge beim Schlucken, so liegt eine Fehlfunktion vor. Wichtig dabei ist, dass der Patient steht und der Arzt sitzt und so von unten nach oben schauen kann.3. Fragen an die Begleitperson: kann das Kind (der Pati-ent) mit geschlossenem Mund essen? Schmatz er/sie o"?4. Einen Schluck Wasser trinken lassen und die aufge-nommene Trinkmenge beobachten. Die Flüssigkeit in die Wangen einspülen und Grimassen schneiden lassen: Kann sie gehalten werden oder spritzt sie heraus?5. Habits wie nägelbeißen, Sti"e kauen, Lippen lecken sind Zeichen für eine Zungenfehlfunktion im Sinne einer Mus-kelfunktionsstörung des gesamten orofazialen Bereiches.

RS: Sehen Sie Zusammenhänge zwischen myofunktionel-len Fehlentwicklungen und einer späteren Cranio-Man-dibulären Dysfunktion (CMD)?

SC: Ja. Myofunktionelle Fehlentwicklungen beschränken sich nicht auf den orofazialen Bereich, sie erstrecken sich über den gesamten Körper in geringer oder manifester Ausprägung. O" baut sich die Dysfunktion entlang der myofaszialen Ketten von den Füßen über eine diskrete Schiefstellung des Becken mit abweichender Längsachse bis hin zu den Schultern und in die HWS hinein auf, mit der Konsequenz, dass Brustkorb oder zervikale Wirbel blockieren und/oder translatieren. Auf den ersten Blick scheint „nur“ eine Kopfschief- oder -schräghaltung vorzu-liegen. Zur Zeit entsteht in Zusammenarbeit mit Physio-therapeuten eine breit abgestützte Au#istung von Patien-ten, die diese $ese untermauert.

RS: Lässt sich eigentlich beim Erwachsenen mit MFT noch etwas bewirken?

SC: Es ist schwieriger, jedoch möglich. Die Frage des per-sönlichen Leidensdruckes und der daraus entstehenden Motivation zu einer Veränderung spielt hier eine große Rolle. Schöne Erfolge sehen wir bei älteren Menschen mit schlecht sitzenden Prothesen. Durch konsequentes Üben kann eine Stabilisation erreicht werden, das Abbeißen vom Brot oder von einem Apfel wird wieder möglich.

RS: Kann man beim chronischen Mundatmer mit MFT etwas bewirken? Gibt es Unterschiede, wie man beim Kind und beim Erwachsenen vorgehen würde?

SC: Das ist abhängig von der Ursache und muss vorgängig jeglicher $erapie in jedem Fall auch otorhinolaryngolo-gisch abgeklärt werden.

RS: Wenn ein Zahnarzt erkannt hat, dass myofunktionel-le Störungen bei seinem Patienten eine bedeutende Rolle spielen, wie kann er dann einen geeigneten !erapeuten aus"ndig machen?

SC: Leider gibt es keine #ächendeckende Arbeitsgemein-scha" mehr, die sich diesem $ema widmet. Am besten ist es, wenn man ein Netzwerk mit anderen au%auen kann.

RS: Was empfehlen Sie denjenigen, die dieses !ema wei-ter vertiefen möchten?

SC: Das Literaturstudium. Neuerdings gibt es auch einen interidsziplinär konzipierten und unterrichteten und auf die Praxis ausgerichteten Masterstudienganges in Cranio Facial Kinetic Science wie er (einzigartig) durch die me-dizinische Fakultät der Universität Basel angeboten wird. Er dauert 2 Jahre und ist in 24 Modulen aufgebaut, mit 90 credits, den Normen der Bolognakriterien entsprechend. Im aktuellen Studiengang sind Absolventen aus den ver-schiedensten Fachdisziplinen dabei, so auch Zahnärzte und Kieferorthopäden. Details &ndet man unter http://www.uniweiterbildung.ch/studienangebot/kursdetails/, und in der Liste dann nach unten scrollen, bis zu „MAS in Cranio Facial Kinetic Science (MCFKSc)“, oder auf mei-ner Webseite unter http://www.scodoni.ch/spip/ .