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Die Rezeption der Lukàcsschen Romantheorie in Taiwan -Zur Kontroverse zwischen Realismus und Moderne Fang-hsiung Dscheng (National Taiwan University) Georg Lukàcs realistische Romantheorie kam erst am Anfang der 80er Jahre auf die Tagesordnung der Literaturforschung in Taiwan, im Vergleich zu China und Japan zwar etwas spät, erweckte aber dafür ein um so größeres Interesse moderner Autoren und Kritiker im Land. Diese sahen im Begriff der Widerspiegelung sozialer Realität zum Ausdruck einer bestimmten Ideologie nicht nur eine theoretische Gebärde, sondern eine ganz aktuelle Möglichkeit, die einheimische Literatur zu interpretieren. Dabei wurden die Ansprüche auf den “Typus” und die “Totalität”, die Lukàcs aus der Charakteristik der Romane des europäischen Realismus hervorhob, manchmal als interpretatorische Kriterien angewandt. 1) Interessant ist die Art und Weise, wie die Lukàcssche Theorie hier aufgenommen und zum eigenen Zweck fruchtbar gemacht wurde. Die unvermeidbar unterschiedliche Lesart hängt selbst verständlich mit den eigentümlichen politischen und kulturhistorischen Hintergründen Taiwans zusammen. Jedoch zeigt sich ein gemeinsamer Realismus schon in der antifeudalen Lebenstendenz des europäischen Bürgertums, im Kampf gegen die Entfremdung des Menschen durch den Kapitalismus einerseits, und im antikolonialisierenden Aufstreben des taiwanesischen Volkes gegen die 1) Mit Bezug auf die Lukàcssche Widerspiegelungstheorie des Romans interpretiert Lü, Zheng-hui in “Roman und Gesellschaft”taiwanesische Romane, indem er u. a. den Mangel an typischen Gestalten und typischen Situationen bei Li, Ang sowie den inner-monologischen Stil bei Wang, Wen-xing kritisiert. S. “Roman und Gesellschaft”. Taipei 1988. S. 20-23, S. 169, 182.

Die Rezeption der Lukácsssche Romantheorie in Taiwan

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  • Die Rezeption der Lukcsschen Romantheorie in Taiwan-Zur Kontroverse zwischen Realismus und Moderne

    Fang-hsiung Dscheng (National Taiwan University)

    Georg Lukcs realistische Romantheorie kam erst am Anfang der 80er Jahre auf die Tagesordnung der Literaturforschung in Taiwan, im Vergleich zu China und Japan zwar etwas spt, erweckte aber dafr ein um so greres Interesse moderner Autoren und Kritiker im Land. Diese sahen im Begriff der Widerspiegelung sozialer Realitt zum Ausdruck einer bestimmten Ideologie nicht nur eine theoretische Gebrde, sondern eine ganz aktuelle Mglichkeit, die einheimische Literatur zu interpretieren. Dabei wurden die Ansprche auf den Typus und die Totalitt, die Lukcs aus der Charakteristik der Romane des europischen Realismus hervorhob, manchmal als interpretatorische Kriterien angewandt.1) Interessant ist die Art und Weise, wie die Lukcssche Theorie hier aufgenommen und zum eigenen Zweck fruchtbar gemacht wurde. Die unvermeidbar unterschiedliche Lesart hngt selbst verstndlich mit den eigentmlichen politischen und kulturhistorischen Hintergrnden Taiwans zusammen.Jedoch zeigt sich ein gemeinsamer Realismus schon in der antifeudalen

    Lebenstendenz des europischen Brgertums, im Kampf gegen die Entfremdung des Menschen durch den Kapitalismus einerseits, und im antikolonialisierenden Aufstreben des taiwanesischen Volkes gegen die

    1) Mit Bezug auf die Lukcssche Widerspiegelungstheorie des Romans interpretiert L, Zheng-hui in Roman und Gesellschafttaiwanesische Romane, indem er u. a. den Mangel an typischen Gestalten und typischen Situationen bei Li, Ang sowie den inner-monologischen Stil bei Wang, Wen-xing kritisiert. S. Roman und Gesellschaft. Taipei 1988. S. 20-23, S. 169, 182.

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    Unterdrckung durch die Kolonialherrschaften von Japan vor 1945 und der frheren Kuo-Min-Tang (Partei) Nationalchinas andererseits, was in den modernen Romanen als Kampf eines Individuums um eine Existenz gegen eine entfremdete ungerechte Gesellschaft thematisiert wird. Lukcs bezeichnet all dies als Voraussetzung fr die typische, realistische Wider- spiegelung. Besonders merkwrdig erscheint in der Aufnahme seiner Romantheorie

    im Lande die Betonung der Kontroverse zwischen Realismus und Moderne aus der Konsequenz der Expressionismusdebatte. Lukcs Festhalten an der alten Erzhlform des vergangenen Realismus sowie seine Ablehnung der avantgardistischen Experimente von Montage und innerem Monolog, die er als inhaltlos, wirklichkeitsfremd und vom groen Strom der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung abgerissen bezeichnet,2) wurde von den modernen Autoren als dogmatisch kritisiert. Brecht fand es, trotz seiner positiven Haltung zu dem von Hegel und Marx geprgten Realismus Lukcs, aus der dialektischen Sicht der Verfremdung ebenfalls allzu formalistisch und unfhig, die sozialistische Wahrheit zur nderung der Welt darzustellen. Von einem gleichen Standpunkt aus versuchten die taiwanesischen Schriftsteller der 70- und 80er Jahre den Romanschreibern, die in Taiwan immer noch an die vergangene fremde festlandchinesische Realitt anknpften, eine auf die eigene Lebenserfahrung fuende Heimatliteratur gegenberzustellen, die ihre gegenwrtige Existenz- wirklichkeit darzustellen vermgen sollte. Es wre interessant, im folgenden die Parallele dieser Kontroverse aus einer komparatistischen Sicht zu betrachten.Mag der Realismus von Lukcs auch heute mit dem Mastab der

    modernen und postmodernen Kulturauffassung schon konservativ und berholt sein, so galt Lukcs ohne Zweifel als einer der bedeutendsten

    2) G. Lukcs: Es geht um Realismus. In: Essays ber Realismus. Luchterhand Berlin 1977, S. 333.

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    Denker und Literaturkritiker unseres Jahrhunderts, ohne dessen marxistische Literatur- und Kulturtheorie die ganze westliche Entwicklung von Realismus, Modernismus bis zum Postmodernismus kaum denkbar, oder mit L, Zheng-hui, einem Kritiker aus Taiwan zu sagen, lckenhaft gewesen wre. Jameson, der als der erste amerikanische Kritiker die marxistische Kritik in die Tradition westlicher Kultur- und Literatur- interpretationen einfhrte, hat in einem Vortrag in Taipeh Schriftstellern in Taiwan geraten, sich nicht an einen beschrnkten Realismus zu halten, am besten soll sich dieser nicht zu jenem russischen oder dem damaligen Realismus des 19. Jahrhunderts entwickeln.3) Abgesehen von der Frage, ob sich ein aus der europischen Kultur- und Formgeschichte herrhrender Epochenbegriff auf die Literatur eines asiatischen Kultur- bereiches anwenden lt, zeigt sich hier auerdem eine kritische Anspielung auf die Schreibweise der groen Meister des russischen und franzsischen Realismus, nmlich Tolstoi und Balzac, auf die Lukcs seine Romantheorie sttzte. Die Anspielung verrt schon die Kontroverse zwischen dem konventionellen und modernen Realismus, bzw. zwischen der Technik des 19. Jahrhunderts und dem gegenwrtigen Entwicklungsstand der Kultur und Literatur. Jamesons postmodern distanzierte Beobachtung entspricht im Grunde der scharfen Kritik, die Brecht schon 1938, infolge einer literarischen Debatte, an Lukcs Romantheorie gebt hatte: Erschlagt die jungen Leute nicht mit den alten Namen! Lat nicht bis 1900 eine Entwicklung der Technik in der Kunst zu und ab da nicht mehr.4)

    Brechts Kritik geht von einem allgemeinen Entwicklungsprinzip moderner Kultur und Literatur aus, die im Anspruch auf einen neuen Realismus zur Widerspiegelung der gegenwrtigen Wirklichkeit der Konvention gegen-

    3) Nach der chinesischen bertragung des am 15.7.1987 gegebenen Vortrags ber postmoderne Kulturprobleme. In: Monatsschrift Wenxing(), vol. 110, Taipei 1987, S.89.

    4) B. Brecht, Praktisches ber die Expressionismusdebatte. In: Brecht, gesammelte Werke. Frankfurt:Suhrkamp 1968, Bd. 19, S. 294.

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    bersteht. In mancher Hinsicht gleicht sie jeder Kritik an der absoluten Kanonik der klassischen Tradition unter dem Argument der Fort- schrittsidee, die sich nicht nur in der sthetischen Geschichte Europas, sondern auch in der jedes Kulturbereiches immer wiederholt. In Taiwan war das gleiche Thema schon der Streitgegenstand in der sogenannten Heimatliteraturdebatte zwischen dem taiwanesischen und chinesischen Realismus in den 70er Jahren: Die in Taiwan geborenen Autoren suchten ausschlielich die heimatliche Lebenswirklichkeit mit ihrer sozialhistorischen Kausalitt darzustellen, wobei eine taiwanesische Ideologie gegen die politische Unterdrckung unter der damaligen nationalchinesischen Herr- schaft der KMT-Partei widergespiegelt wird, whrend die Romanschreiber der zweiten festlandchinesischen Generation, der Ein-China-Politik der Regierung entgegenkommend, sich in Form und Inhalt stets an die vergangene Konvention der fremden festlandchinesischen Realitt halten. Die Parallele zeugt von einer gewissen Allgemeinheit eines Literatur-

    streits in bezug auf seine Thematik sowie auf seine hnlichen entstehungsgeschichtlichen sozialpolitischen Hintergrnde: nmlich die politische Unterdrckung. Sie erklrt auch die Tatsache, warum in der Rezeption der Lukcsschen Romantheorie in Taiwan seit der ersten, 1981 verffentlichten Forschungsarbeit ber Lukcs Die Avantgardismusdebatte der 30er Jahre in Europa5) die Kontroverse von Realismus und Moderne hufig mit besonderer Akzentuierung bertragen und aufgenommen wurde. Das heit, die Expressionismusdebatte stand bisher stets im Vordergrund der Lukcs-Vermittlung. Das taiwanesische Leserpublikum erfuhr von diesem realistischen Theoretiker oft im Diskurs mit den modernen Argumenten. Es schien aus diesen Anklnge bei der Heimatliteraturdebatte Taiwans herauszulesen. So ist die Lukcs-Aufnahme im Land um eine

    5) Zheng, Shu-sheng, Avantgardismusdebatte der 30er Jahre in Europa. In: Literaturtheorien und vergleichende Literatur., Taipei, 1982, pp. 113-150. Zum ersten Mal verffentlicht in Chung-Wai Literature Monthly, No. 5, Vol. 10, Taipei, 1981.

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    eigentmlich taiwanesische Lesart erweitert. Diesbezglich zu erwhnen wre der vielseitige Literaturkritiker L, Zheng-hui, ein links eingestellter Lukcs-Rezensent und bersetzungsherausgeber mancher Lukcs-Essays ber den Realismus.6) Im Anschlu an Zhengs Studie ber die Avantgardismusdebatte hat L wesentliche Gedanken und Kriterien der Lukcsschen Romantheorie ganz konkret erlutert, wobei der literarische Streit zwischen Brecht und Lukcs stets in erster Linie anschaulich dargestellt wird. Nicht zuletzt ist die marxistische Kritik von L so weit aufgenommen, da er versucht, in Anwendung der von Lukcs bernommenen Begriffe von Totalitt und Typus taiwanesische Romane zu interpretieren. Wie fruchtbar die Lukcs-Forschung gemacht wird, ersieht man aus seinem Versuch, im Geist jener europischen Realismus- und Modernedebatte den kulturpolitischen Hintergrund der Heimat- literaturdebatte Taiwans deutlich zu machen. Der rettungslose Untersttzer des Realismus,7) wie L sich aus Begeisterung fr die marxistische Kritik ironisch nennt, bemht sich als gebrtiger Taiwanese, gegen die vorherrschende Stellung der Heimatliteratur kmpfend, an den vergangenen konventionellen Realismus Chinas anzuknpfen. Brechts Kritik an Lukcs Romantheorie, die in Brechts 1937-1941

    verfaten Essays ber den Realismus8) vertreten ist, geht auf die sogenannte Expressionismusdebatte zurck, die damals unter den in Ruland im Exil lebenden Schriftstellern und Knstlern des linken Flgels, vor allem Lukcs, Ernst Bloch, und Brecht entfacht worden war. Darber wurde in den letzten eineinhalb Jahrzehnten in zahlreichen literatur- wissenschaftlichen Artikeln diskutiert. Man betrachtet diese Debatte als eine groe Literaturerscheinung, erst seit der Brecht-Ausgabe (1967) durch den Suhrkamp Verlag, in der die in Brechts Nachla entdeckten, damals sicher

    6) L, Zheng-hui (Herausgeber): Lukcs Essays ber Realismus (in chinesischer bersetzung). Taipei 1988.

    7) L, Zheng-hui, Romane und Gesellschaft. Taipei: Lian Jing, 1988, s. Vorwort S. 4. 8) B. Brecht: Gesammelte Werke. Suhrkamp Vlg. Frankfurt 1967, Bd., 19, S. 287-382

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    aus einem politischen Grund unterdrckten Argumente gegen Lukcs Realismus herauskamen. Die scharf kritischen Anstze erweckten, wie L erlutert, in Europa und USA erneut das Interesse an der schon ver- schollenen Expressionismusdebatte9) und somit an der Romantheorie Lukcs. Der Diskurs gab den westlichen Autoren weitere Anregungen zur Erforschung der marxistisch-sozialistischen Kultur- und Literaturkritik. Denn diese sollte eingeholt werden, um die Mangelerscheinungen wie, um es in Lukcs Worten zu sagen, die Verdinglichung10) und Entfremdung des Menschen durch den Kapitalismus erklren zu knnen. Auerdem wollte man eine Befreiung der Avantgarde von dem Persnlichkeitskult und dem durch Montage und inneren Monolog hervorgerufenen phantastischen Urwald der Leere11) in die Einheit und Totalitt der Gesellschaft erreichen.Die in den 30er Jahren durch die Expressionismusdebatte angeregten

    Reflexionen ber Realismus und Moderne bekamen durch die am Ende der 60er Jahre fast gleichzeitig erschienene Lukcs-Ausgabe im Luchterhand Verlag und die Brecht-Ausgabe in Suhrkamp einen neuen Impuls und erlebten ber die Vermittlung und Entwicklung durch den franzsischen Literatursoziologen Lucien Goldmann, und durch den englischen und den amerikanischen Kritiker T. Eagleton und F. Jameson einen internationalen Aufschwung. In den spten 80er Jahren wurde in diversen taiwanesischen Zeitschriften darber berichtet12). Da in Taiwan die Aufnahme des nicht-

    9) Vgl. L, Zheng-hui: Brechts Urteil ber Lukcs. In: Zeitschrift Dang-Dai (Contemporary Literature), Heft 85, Taipei 1993, S. 41.

    10) Verdinglichung und Entfremdung sind Schlsselwrter der marxistischen Kritik, s. Lukcs: Die Verdinglichung und das Bewutsein des Proletariats. In: Geschichte und das Klassenbewutsein (entstanden 1923). Luchterhand Berlin 1977, 2. Aufl., S. 257-397

    11) Lukcs: Es geht um Realismus, Essays ber Realismus. Luchterhand Berlin 1971. S. 320.

    12) Allein in Heft 109, Jahrgang 1987 der Zeitschrift Der Literarische Stern () erschienen fnf Artikel und Berichte ber Lukcs, darunter sind L, Zheng-hui:

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    englischsprachigen Schrifttums nach wie vor auf die Vermittlung durch die englischen oder amerikanischen Autoren und ihr Leserpublikum angewiesen ist, erklrt sich die versptete bertragung der Lukcsschen Kritiktheorie durch taiwanesische Autoren. Zu diesem Themenbereich hat Zheng, Shu-shen schon 1981 mit seiner inhaltsschweren Arbeit ber die Expressionismusdebatte bereits einen bahnbrechenden Beitrag geleistet, indem die wesentlichen Gedanken ber die realistische Theorie von Lukcs, die avantgardistischen Argumente von Bloch, Brecht bis zu Adorno, und zwar mit einem Rckblick auf den damaligen sozialpolitischen Hintergrund dargestellt werden. Auch hier sind die Materialien aus der englischen Sekundrliteratur bertragen. Die gleiche Bearbeitungsweise zeigt sich bei Liu, Chang-yuan in seiner Lukcsrezension und -monographie13), whrend L, Zheng-hui ber die Verwertung englischer Quellen hinaus auf in China herausgegebene chinesische bersetzungen zurckgreift. Im Vergleich zu China, wo Lukcs Werke zur Frderung marxistischer Ideologie und sthetik systematischer bersetzt wurden, bleibt die Forschung in Taiwan leider auf die Expressionismus- und Realismusdebatte beschrnkt. Trotz der bersetzung von Geschichte und Klassenbewutsein blieben die frheren, auf der Basis der deutschen idealistischen sthetik geschriebenen Werke wie "Die Seele und die Formen"(1911), Die Theorie des Romans (1916) und Die Heidelberger sthetik (1916-1918) unbercksichtigt. Die Akzentuierung der "Debatte" und des Lukcsschen Realismus nach 1930, wie L es betont14), resultiert im Verlust eines allgemeinen berblickes ber die ganze Entwicklung der Lukcsschen Kunstanschauung vom

    Lukcs Literaturkritik, und Shen, Qi-yu: Der Aufschwung der Lukcs-Forschung in der Gegenwart. Im Heft Mai, 1993 der Contemporary befinden sich vier Rezensionen, darunter L, Zheng-hui: Brechts Urteil ber Lukcs.

    13) Liu, Chang-yuan: Lukcs Theorie der Widerspiegelung im Roman, in: Chung-Wai Literature Monthly, No. 8, Vol. 17, Taipei 1989. Derselbe: Lukcs und seine literarischen und philosophischen Gedanken. Taipei, 1991.

    14) L, Zheng-hui: Lukcs Literaturkritik, in Roman und Gesellschaft Ebenda, S. 264

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    metaphysischen idealistischen Begriff einer immanenten Totalitt, wie diese sich in der Theorie des Romans, Die Seele und die Formen und anderen sthetischen Bchern vor 1918 zeigt, bis zur Totalitt der sozialpolitischen Wirklichkeit. Wir wissen, da Lukcs sich in einer Art berchtigter Selbstkritik zur Falschheit der Fundamente von frheren Werken bis zur Geschichte und Klassenbewutsein bekannte15), wohl weniger freiwillig als aus realistischer Rcksicht auf den offiziell anerkannten sozialistischen Realismus, den die Sowjetunion unter Stalin mit dem roten Terror durchsetzte. Das erinnert einen taiwanesischen Leser an den weien Terror, den gleichen politischen Hintergrund der Entstehung der Heimatliteratur unter der Tschiang-Herrschaft.Kritiker L, Zheng-hui, der, wie er bekennt, aus dem Standpunkt des

    westlichen Marxismus und in Verwendung der Lukcsschen Kriterien 16) negativ zum europischen Avantgardismus Stellung nimmt, hat in seinem Artikel ber den Avantgardismus in Taiwan darauf hingewiesen, da den Avantgardisten, den Autoren der Heimatliteratur Taiwans unter der Herr- schaft des weien Terror der KMT-Partei (Kuo-Min-Tang) verboten wurde, in Form und Inhalt der sozialistisch geprgten chinesischen Literatur der sogenannten Fnf-Vier-Bewegung zu schreiben. Andererseits wurde die Heimatliteratur von der Partei und festlandchinesischen Autoren als chinafremd und separatistisch diskriminiert. Den modernen Autoren seien nach L die soziale Wirklichkeit und die konventionelle Kultur entzogen. Am Beispiel einer Kafka-Bearbeitung von Cung, Su, eines taiwanesischen Autors, interpretiert L: Wie knnte ein Intellektueller eine Bedeutung in seiner eigenen Existenzwirklichkeit finden, so lange er gezwungen ist, sich von seinem Land17) und Volk, von seiner Geschichte

    15) Vorwort zu Geschichte und Klassenbewutsein. S. 40.16) L, Zheng-hui: Avantgardismus in Taiwan - eine Betrachtung aus der

    literatursoziologischen Perspektive. In: Taiwanesische Literatur in den letzten 20 Jahren (1978-1998). Hrsg. von Li, Rui-teng. Taipei: Jiu-ge, 1998, S. 121-158.

    17) L identifiziert hier dieses Land nicht mit Heimat Taiwan, sondern mit jenem China.

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    und Kultur zu isolieren?18) So htten die modernen Autoren Probleme mit ihrer eigenen Existenz. Sie flohen vor der entfremdeten Gesellschaft in die innere Welt. Sie htten in diesen Verhltnissen, wie L einen anderen gleichgesinnten Autor zitiert, weniger Lust, in ihren Schriften die sozialpolitische Wirklichkeit widerzuspiegeln, als vielmehr in der schlichten Schnheit der Sprache zu schwelgen. Sehen sie sich im Notfall gezwungen, etwas Wirkliches zu schreiben, so verwenden sie in bunter Flle avantgardistische Stilmittel von Ironie und Anspielung, um Angst und Unruhe des isolierten Ich zum Ausdruck zu bringen.19) In diesen Worten ist fast das Gleiche gesagt, was Lukcs in Kritik an Expressionismus , Surrealismus und Naturalismus gesagt hat. Sie knnten als eine Erweiterung der marxistischen Kritik am Avantgardismus betrachtet werden, wie Lukcs die Flaubertsche wirklichkeitsfremde Milieuschilderung bemngelt, eine Illusion, eine Selbsttuschung, in den meisten Fllen jedoch die Flucht vor den groen Fragen des Lebens und der Kunst.20) Lukcs Festhalten an der vergangenen Tradition des groen Realismus von Tolstoi und Balzac hnelt der Stellungnahme der festlandchinesischen Autoren und Kritiker in Taiwan, die aus einer gewissen Nostalgie heraus die gegenwrtige Realitt stets an die vergangene chinesische Tradition anzuschlieen versuchten. Man kann diesbezglich entweder von einer parallelen Literatur-

    erscheinung oder von einem Einflu von Lukcs sprechen. Der Name Lukcs sowie seine Werke waren aber bis 1977, als schon vereinzelte Rezensionen ber Lukcs erschienen waren, in Taiwan noch unbekannt. Im Vergleich zu seinem jngeren Genossen des sozialistischen Realismus,

    18) L, Zheng-hui: Advangardismus in Taiwan. Ebenda S. 135.19) Ebenda S. 153, Anmerkung 11. L zitiert aus Lis Artikel Avantgardismus und

    Romantik in der taiwanesischen Literatur aus dem Buch Geschichte der modernen taiwanesischen Literatur, Universitt Liau-ling, China 1987.

    20) Lukcs, Einfhrung in die sthetischen Schriften von Marx und Engels. Ebenda, S. 233.

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    dessen Theaterstcke wie Der gute Mensch von Sezuan und Der kaukasische Kreidekreis in Taiwan wie in USA und Europa aufgefhrt wurden, und dessen Werke und Theorie des epischen Theaters seit den 60er Jahren dem Studium an vielen Universitten angegliedert sind, war Lukcs Wirkung am Anfang viel unbedeutender. Als Grnde fr Brechts Popularitt fhrt ein chinesischer Kritiker die Studentenbewegungen und die gesteigerte politische Tendenz von Intellektuellen und Akademikern in den 60er Jahren an, die zu einer gewissen Begeisterungmode fr Brechts Werke fhrte.21) Als der wichtigste und einflureichste Theaterdichter des 20. Jahrhunderts22) war Brecht von vornherein anerkannt. Sein schlichter, ironisch humorvoller Stil mit dem kritischen Appell an die ideal- sozialistische Humanitt spricht auch heute das breite Leserpublikum an. Die Expressionismusdebatte wurde dadurch bekannt und interessant gemacht, da Brecht als der grte Dichter des linken Flgels23), und Lukcs, der wichtigste marxistische Literaturtheoretiker unseres Jahrhunderts24) daran beteiligt waren, beide gegeneinander argumentierend.Aus welchem Grund sind die deutschen Autoren mit gleicher sozialis-

    tischer Ideologie zu einem literarischen Streit gekommen? Zu dieser Frage versucht die Forschung in Taiwan allerlei mgliche Informationen zu liefern, jedoch ohne den Anla zur Expressionismusdebatte auf den sozialpolitischen Hintergrund zu begrnden. Vielmehr wird die Frage rein literarisch betrachtet, was dem sozialistischen Postulat des Lukcsschen Realismus nicht ganz entspricht. Selbst der chinesische Germanist Zhang, Li, der mit der bersetzungsausgabe der Beitrge zur Expressionismus-

    21) Zhang, Li: Vorwort zu Die Expressionismusdebatte, Beitrge zur Expressionis- musdebatte in chinesischer bersetzung. Shanghai, 1992. S.4.

    22) Reinhold Grimm: Der katholische Einstein, Brechts Dramen und Theatertheorie. In: Neue Interpretationen. Hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1984, S.11.

    23) L, Zheng-hui: Einleitung zu Lukcs Essays ber Realismus (in chinesischer bersetzung). Taipei 1988, S. 3.

    24) Ebenda

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    debatte dem taiwanesischen Publikum einige interessante Materialien liefert, hat die Hauptthemen der Debatte ganz unpolitisch erklrt: Es handelt sich um zwei Fragen: Erstens, wie soll man die literarische Erbschaft, vor allem die Erbschaft dieser Zeit (nach Bloch) behandeln. Mit der Erbschaft dieser Zeit gemeint sind die in Europa und USA erschienenen avantgardistischen Strmungen und Tendenzen, die mit dem Expressionismus verwandt sind. Zweitens, wie versteht man in der literarischen Schpfung und Kritik die Theorie des Realismus25) Ganz schn literarisch und harmlos wird hier also der Hintergrund vermittelt. Da der Realismus hier den von der Sowjetunion 1934 erlassenen sozialistischen Realismus bedeutet, der den russischen Formalismus grausam unterdrckte, dem sich Lukcs literaturtheoretisch revisionistisch unterwarf, und da Brechts gute Freunde wie Tretjakow umkamen, wird hier vllig verschwiegen.Wie bei jedem literarischen Text, der nach Lukcs realistischer sthetik

    die ganze soziale Realitt widerspiegeln26) und notwendigerweise auf die sozialpolitische Bedeutung hinweisen soll, lt sich eine Kontroverse, sei es eine Debatte des deutschen Expressionismus oder eine der taiwanesischen Heimatliteratur, mehr oder weniger im Zusammenhang mit einer politischen Manahme lesen. Lukcs sucht sich in der Debatte, ganz offen auf die marxistische Ideologie hinweisend, mit Bloch zu verstndigen: Unter Marxisten - und Bloch hat sich in seinem letzten Buch zum Marxismus bekannt - drfte darber kein Streit sein. Marx sagt: Die Produktions- verhltnisse jeder Gesellschaft bilden ein Ganzes.27) So begrndet Lukcs theoretisch die moderne Kunstentwicklung auf die marxistische Welt- anschauung, was den Eindruck macht, als mte der politischen Ideologie

    25) Zhang, Li: Expressionismusdebatte (Beitragssammlung in chinesischer bersetzung). Shanghai 1992, Einleitung, S. 5.

    26) Lukcs: Es geht um den Realismus. In: Essays ber Realismus. Luchterhand Berlin 1971, S. 316f.

    27) Ebenda, S. 316.

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    im Verzicht auf Kunstformen gehuldigt werden. Indem Lukcs sich um den Willen der politischen Macht der marxistischen Widerspiegelungslehre nhert, sozialisiert, revidiert und verengt er seinen Totalittsbegriff, den er bis vor 1918 in seiner sthetik- und Romantheorie sowohl im Sinne des deutschen Idealismus von Kant, Schiller, Hegel und Dilthey als auch am Beispiel der griechischen Welt empirisch-mystisch als den unendlichen Begriff des flieenden Lebens28) erlutert. Und eben diese Ent- wicklunglinie wurde in der bisherigen Forschung in Taiwan nicht bercksichtigt. Sie hat zwar darauf hingewiesen, da Lukcs die Geschichte der sthetik um eine breite marxistische Kritik erweitert. Jedoch fehlt ihr im Allgemeinen eine kritische Einsicht, wie jene von Lutz: Ein wirklich zusammenhngendes und im Sinne seiner Voraussetzungen widerspruch- loses System einer sthetik hat Lukcs bisher noch nicht vorgelegt.29) Mit dem Augenmerk einseitig auf die Kontroverse zwischen Realismus

    und Moderne gerichtet, vermochte die bisherige Lukcs-Forschung in Taiwan nicht eine Diskrepanz zwischen politischer Ideologie und knstlerischem Formalanspruch zu erkennen. Nach Lukcs Realismus- auffassung soll eine groe Kunst die Totalitt des Menschen, den ganzen Menschen im Ganzen der gesellschaftlichen Welt darstellen30), indem sie sich auf den ganzen eng verwobenen Gesamtproze in typischen Gestalten und typischen Situationen konzentriert31). Die klassische Idee, im Einzelnen das Ganze anzuschauen, hat Goethe schon hufig verwendet, bevor Schiller sie ihm im Brief bewut machte: Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um ber das Einzelne Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer

    28) Peter Lutz: Marxismus und Literatur, eine kritische Einfhrung in das Werk von Georg Lukcs. In: G. Lukcs Schriften zur Literatursoziologie. Ullstein Frankfurt 1985, S. 53

    29) Ebenda S.23.30) Ebenda S. 243.31) Lukcs, Einfhrung in die sthetischen Schriften von Marx und Engels. Ebenda S.

    233,.

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    Erscheinungsarten suchen Sie den Erklrungsgrund fr das Individuum auf.32) E. Bloch, der mit Lukcs in Heidelberg bei Simmel sthetik studiert hat, erblickt im Denken seines Freundes, vor allem in dieser zusammenhngenden Wirklichkeit nur ein berbleibsel der Systeme des klassischen Idealismus.33) Und eine solche Kunst zur Huldigung der Totalitt sei nach LukcsAnsicht nur in der Technik des Realismus des 19. Jahrhunderts, vor allem in den Romanen von Balzac und Tolstoi zu suchen. Eben diesen realistischen Formendogmatismus lehnt Brecht ab, und zwar mit einer stichhaltigen Entgegnung: Die Methoden verbrauchen sich, die Reize versagen. Neue Probleme tauchen auf und erfordern neue Mittel. Es verndert sich die Wirklichkeit; um sie darzustellen, mu die Darstellungs- art sich ndern. Unser Kampf gegen Formalismus wrde sehr schnell selber zu hoffnungslosem Formalismus, wenn wir uns auf bestimmte (historische, vergngliche) Formen beschrnken.34) Rezensenten in Taiwan freuen sich, aus Brechts Essays solche schlagfertigen geistvollen Argumente zu zitieren, um die marxistische sthetik in einer anschaulichen Form der Kontroverse erscheinen zu lassen. Leider vermochten sie nicht durch eine genaue Textanalyse jenes revolutionre Pathos wahrzunehmen, mit dem Brecht als Proletarierdichter und marxistischer Dialektiker gegen die Unterdrckung des amtlich erteilten sozialistischen Realismus sowie gegen die diktatorische Macht des dogmatischen Erbverwalters Lukcs gekmpft hat. Wohl eher aus Erwgung von sozialistischer Solidaritt als, wie Zheng, Shu-sheng erwhnt,35) mit Rcksicht auf eine vereinigte Front gegen Hitler hat Brecht als Redakteur der Zeitschrift Das Wort seine umfangreichen, besonders gegen Lukcs gerichteten Essays ber den Realismus nicht herausgegeben. Aus redegewandten Argumenten ist ein

    32) Schillers Brief vom 23. 8. 1794. In: Briefe an Goethe Hamburger Ausgabe. DTV Mnchen 1982, S. 165.

    33) Lukcs: Es geht um den Realismus. Ebenda S. 315.34) Brecht, ber den Realismus. Gesammelte Werke, ebenda, Bd. 19, S. 315.35) Zheng, Shu-sheng, ebenda S.127.

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    innerer Monolog geworden. Die Lukcs-Forschung in Taiwan war auf keinen Fall eine vollstndige,

    weil sie bisher auf die nach 1930 erschienenen Essays des marxistischen Kritikers, vor allem auf das Themengebiet der Kontroverse von Realismus und Moderne beschrnkt blieb. Inzwischen sind auch nur vereinzelte Werke von Lukcs bersetzt worden.36) Es fehlt ein berschauender Blick, von dem heraus die ganze sthetik von Lukcs und Brecht in bezug auf das Problem des sozialistischen Realismus erlutert wird. Wie dem auch sei, die taiwanesischen Autoren haben in der europischen Avantgardismus- debatte das Problem der Heimatliteratur gesehen und versucht, diese mit den Lukcsschen Kriterien zu definieren und interpretieren. So meint L im gleichen Ton wie Jameson, da Taiwan eine Literatur des Realismus braucht, um die Wirklichkeit der Gesellschaft widerzuspiegeln.37)

    -

    Fang-hsiung Dscheng (National Taiwan University)

    30 . .

    36) Bisher in Taiwan erschienen sind die chinesischen bersetzungen: Geschichte und das Klassenbewutsein(1989 bers. ), Erzhlen oder beschreiben, Die intellektuelle Physiognomie des knstlerischen Gestaltens, Ideologie des Avantgardismus (in

    Lukcs Essays ber Realismus, 1988 hrsg. von L, Zheng-hui).37) L, Zheng-hui: Romane und Gesellschaft. Ebenda S. 5.

  • Fang-hsiung Dscheng

    . . , 70 . . .

    . . .