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Masterarbeit Graz, 2015 zur Erlangung des akademischen Grades des Master of Arts (MA) an der Karl-Franzens-Universität Graz am Institut für Germanistik Begutachterin: Univ.-Prof. Dr. phil. Bettina Rabelhofer Christine Mader vorgelegt von Die Schwerkraft der Verhältnisse. Sprache & Bild, eine symbiotische Beziehung. Drei Lesarten einer Sprache-Bild-Kombination, vorgestellt an Magdalena Steiners visueller Umsetzung von Marianne FritzRoman „Die Schwerkraft der Verhältnisse“.

Die Schwerkraft der Verhältnisse. Sprache & Bild, eine

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Masterarbeit

Graz, 2015

zur Erlangung des akademischen Gradesdes Master of Arts (MA)

an der Karl-Franzens-Universität Graz

am Institut für GermanistikBegutachterin: Univ.-Prof. Dr. phil. Bettina Rabelhofer

Christine Mader

vorgelegt von

Die Schwerkraft der Verhältnisse. Sprache & Bild, eine symbiotische Beziehung.

Drei Lesarten einer Sprache-Bild-Kombination, vorgestellt an Magdalena Steiners visueller Umsetzung von Marianne Fritz’ Roman „Die Schwerkraft der Verhältnisse“.

Für alle meine Lieben,verstreut in dieser Weltund anderswo

i. Einleitung 7

1. Gliederung der Arbeit ................................................................................................................................... 7

II. Theoretische Hinführung 9

2. Grundüberlegungen zur vorliegenden Arbeit ........................................................................................... 9 2.1 Zielsetzung der Arbeit ................................................................................................................ 9 2.2 Vorgehensweise ........................................................................................................................... 9

3. Grundüberlegungen zu Sprache und Bild ................................................................................................ 12 3.1 Brauchen wir einen neuen Textbegriff? ....................................................................................... 12 3.2 Forschungsstand ........................................................................................................................ 13 3.3 Definitionen ............................................................................................................................... 15 3.3.1 Zum Textbegriff ........................................................................................................... 15 3.3.2 Zum Bildbegriff ........................................................................................................... 16 3.3.3 Zum Begriff der Sehfläche ........................................................................................... 17 3.4 Die Besonderheiten von Sprache und Bild ................................................................................. 18

4. Künstlerin, Autorin und ihre Werke ........................................................................................................ 22 4.1 Magdalena Steiner ..................................................................................................................... 22 4.2 Marianne Fritz ........................................................................................................................... 22 4.3 Die Schwerkraft der Verhältnisse ............................................................................................... 23

III. Praktische Ausführung 26

5. Analyse 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große .................................................................26 5.1.1 Textexterne Faktoren der Sehfläche ...............................................................................27 5.1.1.1 TextproduzentIn .............................................................................................27 5.1.1.2 TextrezipientInnen ..........................................................................................27 5.1.1.3 Medialer Rahmen ...........................................................................................28 5.1.1.4 Kommunikationsform ....................................................................................29 5.1.1.5 Handlungsbereich ...........................................................................................30 5.1.2 Textinterne Faktoren der Sehfläche ...............................................................................31 5.1.2.1 Kohärenz und Kohäsion ..................................................................................31 5.1.2.2 Bildfunktion(en): Bild-/Sprechakte ................................................................40 5.1.2.3 Thematische Entfaltung ..............................................................................54 5.1.2.4 Bildsorte .........................................................................................................54

5.2 Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen ........................................................57 5.2.1 Salience ....................................................................................................................... 58 5.2.2 Framing ........................................................................................................................ 60 5.2.3 Information Value ........................................................................................................ 65 5.2.3.1 The Information Value of left and right: Given-New ................................... 65 5.2.3.2 The Information Value of Real-Ideal ............................................................... 66

5.2.3.3 The Information Value of Center-Margin .................................................... 66 5.2.4 Reading Path: linear and non-linear compositions ....................................................... 74

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

5.3. Rezeptives Analysemodell nach Hans Jürgen Bucher ............................................................................ 77 5.3.1 Das Identifizierungs- oder Lokalisierungsproblem ........................................................ 79 5.3.2. Das Orientierungsproblem .......................................................................................... 80 5.3.3 Das Navigationsproblem ............................................................................................... 80 5.3.4 Das Hierarchisierungsproblem & das Rahmungsproblem ............................................. 83 5.3.4.1 Hierarchisierungsproblem .......................................................................... 83 5.3.4.2 Rahmungsproblem .................................................................................... 85

5.3.5 Das Sequenzierungs- und Einordnungsproblem ..................................................... 86

6. Synthese ................................................................................................................................................. 88

Bibliografie ................................................................................................................................................. 111

Abb. I Sprache-Bild-Kombination von Magdalena Steiner. Diese stellt den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit dar.

Quelle: Augustin 18(2012), H. 314, U4 URL: http://www.augustin.or.at/documents/article-docs/article-1899/augustin_314_fertigklein.pdf. S. 21 [05.05.2015].Im Folgenden zitiert als: Augustin, Sehfläche

I. Einleitung 7

I. Einleitung

„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.

Sagen Sie das mal mit einem Bild.“1

Sprache und Bild stellen zwei grundlegende Kommunikationsmittel unseres alltäglichen Lebens

dar. Beide Zeichensysteme haben auch als Forschungsgegenstand in verschiedensten Wissen-

schaftsdisziplinen Eingang gefunden. Als Werkzeug der Verständigung besitzen sowohl Sprache als

auch Bilder ihre spezifischen Stärken und Schwächen, eine besondere Ausdruckskraft entfalten sie

aber dort, wo sie gemeinsam in Erscheinung treten.

Die vorliegende Arbeit ist der Analyse einer solchen Sprache-Bild-Kombination gewidmet

(Abb. I). Diese stammt von der Wiener Künstlerin Magdalena Steiner. Mit ihren Darstellungen

rekurriert Steiner auf ausgesuchte Inhalte eines von Marianne Fritz geschriebenen Romans mit

dem Titel Die Schwerkraft der Verhältnisse.

Die vielfältigen Komponenten von Steiners Sprache-Bild-Komplex sollen in der vorliegenden

Arbeit möglichst umfassend beschrieben werden. Dabei soll auch gezeigt werden, wie effizient und

wirkungsvoll Sprache und Bild interagieren.

Ein solch praktisches Unterfangen bedarf einiger theoretischer Vorüberlegungen. Die Arbeit

setzt sich daher aus einem ersten theoretischen und einem folgenden praktischen Teil zusammen.

1. Gliederung der Arbeit

Der erste Teil, II. Theoretische Hinführung, soll den LeserInnen Informationen liefern, die

für das Verständnis der Arbeit als wichtig erachtet werden. Eingeleitet wird mit Grundüberlegungen

zur vorliegenden Arbeit. Diese sollen einerseits die Zielsetzung der Arbeit beschreiben, und anderer-

seits die damit korrelierende Vorgehensweise erläutern (Kap. 2).

Es folgen die zentralen Grundüberlegungen zu Sprache und Bild: Mit der Frage Brauchen wir

einen neuen Textbegriff? werden der unübersehbare Wandel aktueller kommunikativer Praktiken

thematisiert und damit einhergehende Anforderungen aufgezeigt.

Der Überblick über den aktuellen Forschungsstand zeigt, welche für die vorliegende Arbeit als

relevant betrachteten wissenschaftlichen Untersuchungen zu Sprache-Bild-Kombinationen bereits

vorliegen.

1 Das ursprüngliche Zitat des Texters Wilfried Bieleck lautet: „‚Ein Bild sagt mehr als tausend Worte‘? Sagen Sie das einmal mit einem Bild!“ Wilfried Salus Bieleck. URL: http://www.texter.net/Home.html [05.04.2015].

8 I. Einleitung

Die Auseinandersetzung mit den Definitionen soll die Grundbegriffe der Arbeit klären und

eventuellen Missverständnissen bezüglich mehrdeutiger Begriffe vorbeugen. Abschließend werden

die LeserInnen auf die Besonderheiten von Sprache und Bild aufmerksam gemacht. Dabei werden

die Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Potentiale beider Zeichensysteme ausführlich behandelt

(Kap. 3).

Die theoretische Hinführung wird mit der Besprechung von Künstlerin, Autorin und ihre[n]

Werke[n] abgerundet. Die LeserInnen erhalten einen Einblick in Leben und Werk der Künstlerin

Magdalena Steiner als Urheberin der Text-Bild-Kombination sowie der Autorin Marianne Fritz,

auf deren Roman (Die Schwerkraft der Verhältnisse) Steiners Darstellungen rekurrieren. Es

folgt eine prägnante Inhaltsangabe des Romans (Kap. 4).

Der zweite Teil, III. Praktische Ausführung, stellt den eigentlichen Kern der Analyse dar.

Für die Untersuchung von Steiners Sehfläche werden drei Analysemodelle herangezogen: Das

sprachwissenschaftliche Analysemodell nach Große2, das sozial-semiotische Analysemodell nach Kress/

van Leeuwen3 und das rezeptive Analysemodell nach Bucher4. Diese drei Analysemodelle eröffnen

verschiedene Zugänge zu Steiners Werk. Zudem ermöglichen die voneinander differierenden Ana-

lysekriterien, den vielfältigen Aspekten der Sprache-Bild-Kombination gerecht zu werden (Kap. 5).

Der Analyseteil wird mit einer Synthese der Erkenntnisse aller drei Analysemodelle beschlos-

sen, die den LeserInnen eine möglichst ganzheitliche Perspektive auf Steiners Sprache-Bild-Kom-

bination eröffnet (Kap. 6).

2 Franziska Große: Bild-Linguistik. Grundbegriffe und Methoden der linguistischen Bildanalyse in Text- und Diskursumgebungen. Frankfurt a. M. [u.a.]: Peter Lang 2010. Im Folgenden zitiert als Große, Bildlinguistik.

3 Gunther Kress; Theo van Leeuwen: Reading Images. The Grammar of Visual Design. London, New York: Routledge 2006. Im Folgenden zitiert als: Kress; van Leeuwen, Reading Images.

4 Hans-Jürgen Bucher: Textdesign und Multimodalität. Zur Semantik und Pragmatik medialer Gestaltungsformen. In: Textdesign und Textwirkung in der massenmedialen Kommunikation. Hrsg. von Sven Roth Kersten und Jürgen Spitzmüller. Konstanz: UVK-Verl. 2007. Im Folgenden zitiert als: Bucher, Textdesign.

II. Theoretische Hinführung | 2. Grundüberlegungen zur vorliegenden Arbeit 9

II. Theoretische Hinführung

2. Grundüberlegungen zur vorliegenden Arbeit

2.1 Zielsetzung der Arbeit

Die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit vereint drei unterschiedliche Aspekte: Erstens soll

die Analyse von Steiners Sprache-Bild-Kombination mittels drei unterschiedlicher Analysemodelle

eine möglichst umfassende und ganzheitliche Perspektive auf dieselbe eröffnen. Zweitens gilt es zu

verdeutlichen, welche der Komponenten Produktion/Rezeption, Sprache-Bild-Relationen und Seh-

flächen-externe Referenz mit welchem Analysemodell untersucht werden können. Im Zuge dessen

wird drittens intendiert zu zeigen, wie Sprache und Bild in Steiners Sehfläche zusammenarbeiten,

eine Botschaft generieren und durch ihr gemeinsames Wirken ein Verständnis der Sehfläche er-

möglichen. Der Fokus liegt stets auf der kommunikativen Funktion, die Sprache und Bild, und

im Besonderen deren Verknüpfung, als Mittel der Verständigung erfüllen.

2.2 Vorgehensweise

Für die Untersuchung der Sehfläche werden drei unterschiedliche Analysemodelle mit unter-

schiedlichen Zugängen zu Sprache-Bild-Kombinationen herangezogen.

Das erste Analysemodell, entwickelt von der Sprachwissenschafterin Franziska Große5, ist

genuin sprachwissenschaftlich ausgerichtet. Große greift auf etablierte Theorien der Linguistik

zurück, um diese modifiziert auf Text-Bild-Kombinationen zu übertragen. Ihre methodologischen

Grundlagen für das Erfassen und Beschreiben von Sehflächen erarbeitet sie dabei vorwiegend an-

hand von Beispielanalysen. Unter Berücksichtigung Großes methodischer Vorgaben wird die Ana-

lyse auf jene Kriterien beschränkt, die sinnvoll auf Steiners Sprache-Bild-Kombination angewendet

werden können.

Das zweite Analysemodell stammt von Kress und van Leeuwen6, zwei Vertretern der sozialen

Semiotik.7 In den Mittelpunkt ihrer Analyse stellen die beiden Autoren die Komposition verbaler

und visueller Elemente, denen aufgrund ihrer Gestaltung bestimmte, kulturell bedingte Bedeutun-

gen zugeschrieben werden.

Im dritten Analysemodell vertritt der Medienwissenschafter Hans Jürgen Bucher8 einen Nut-

zerInnen orientierten Ansatz. Seine Untersuchungskriterien basieren auf den Problemstellungen,

mit denen sich die RezipientInnen eines Kommunikationsangebots möglicherweise konfrontiert

5 Vgl. Große, Bildlinguistik.

6 Vgl. Kress; van Leeuwen, Reading Images.

7 Diese Einordnung (soziale Semiotik) stammt von Bucher: Bucher, Textdesign, S. 52.

8 Vgl. Bucher, Textdesign.

10 II. Theoretische Hinführung | 2. Grundüberlegungen zur vorliegenden Arbeit

sehen. Bucher stellt die Frage, welche Anforderungen eine Sehfläche zu erfüllen hat, um ein größt-

mögliches Verständnis der RezipientInnen zu ermöglichen.

Diese kurze Charakterisierung zeigt bereits, dass keines der drei Analysemodelle einer bestimm-

ten kanonisierten Literatur-/Sprachtheorie verhaftet ist.9 Die Analysemodelle reduzieren sich auch

weder auf rein äußerliche beobachtbare Faktoren, noch beschränken sie sich auf den Inhalt oder

nur die reine Form. Darüber hinaus werden typische Verfahrensweisen der Bildwissenschaften in

die Analysemodelle integriert, was angesichts des Untersuchungsgegenstands sowie der Zielsetzung

der Arbeit unabdingbar erscheint. Der interdisziplinäre Ansatz stellt einen der Gründe für die

Wahl der drei Analysemodelle dar. Weiters für diese spricht, dass sie:

1. Sinnvolle und umsetzbare Untersuchungskriterien bereitstellen.

2. Ihre Theorien und Hypothesen an praktischen Beispielen veranschaulichen und plausibilisieren.

3. Die beiden Zeichensysteme Sprache und Bild gleichwertig behandeln und den Fokus ihrer Untersuchung auf die Interaktion dieser beiden Kommunikationssysteme legen.

4. Verschiedene, interessante Zugänge zu Sprache und Bild haben.

5. Ein integratives Analysemodell für die Untersuchung einer Sehfläche bereitstellen, das eine adäquate Beschreibung des Zusammenspiels sprachlicher und bildlicher Elemente ermöglicht.

Jedes Analysemodell wird im Laufe der Arbeit vorgestellt, zentrale Begriffe und methodische

Grundannahmen werden erklärt. Diese Vorarbeit soll die Verständlichkeit, Nachvollziehbarkeit

und Transparenz der nachfolgenden Analyse anhand der Analysekriterien gewährleisten. Abschlie-

ßend werden die Analysemodelle bzw. die dadurch gewonnenen Erkenntnisse auf drei Aspekte hin

überprüft:

1. Inwieweit werden externe Faktoren der Produktion und Rezeption berücksichtigt? 2. Inwieweit werden Sprache-Bild-Relationen berücksichtigt? 3. Inwieweit kommt der Inhalt von Fritz’ Roman zum Tragen?

Diese Fragestellungen wurden gewählt, weil sie verschiedene Aspekte der Sprache-Bild-Kom-

bination aufgreifen, die für die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit als relevant und interessant

erachtet werden. Die Antworten auf diese drei Fragen geben in einem wertungsfreien Vergleich

Aufschluss darüber, welches Analysemodell sich für welche der erfragten Aspekte als zuständig er-

weist. Methodenkritik oder wertende Urteile über die Analysemodelle sind nicht Teil dieser Arbeit.

Nach Abschluss aller drei Analysen werden die gewonnenen Resultate zu einem großen, pers-

pektivenreichen Ganzen zusammengefasst.

9 Unter „kanonisierten Literaturtheorien“ werden jene Theorien verstanden, die z.B. in Einführungswerken zur Literaturtheorie überblicksmäßig dargestellt werden. Große greift zwar auf etablierte Theorien der Sprachwissenschaft zurück, zieht aber erstens nicht nur eine, sondern mehrere heran und modifiziert diese.

II. Theoretische Hinführung | 2. Grundüberlegungen zur vorliegenden Arbeit 11

Es soll an dieser Stelle noch auf zweierlei hingewiesen werden: Zum einen, dass trotz un-

terschiedlicher Herangehensweisen und Untersuchungskriterien mit allen drei Analysemodellen

teilweise dieselben Aspekte der Sprache-Bild-Kombination untersucht werden. Daraus entstehen

Wiederholungen. Diese werden aber grundsätzlich nicht abgekürzt, um den Untersuchungskrite-

rien Rechnung zu tragen.

Zum anderen, dass die Analyse von Steiners Sehfläche einen interpretativen Prozess darstellt.

Externe, beobachtbare Fakten sind zwar Teil der Untersuchungen, ein weitaus bedeutender Teil

setzt sich jedoch mit Fragen nach den Bedeutungen visueller und verbaler Elemente auseinander.

Dort, wo das Verstehen dieser Bedeutungen im Vordergrund steht, werden Erkenntnisse durch

Interpretation gewonnen.

Die Wahrnehmung einer Sprache-Bild-Kombination ist immer subjektiv und wird vor einem

individuellen Hintergrund interpretiert und verarbeitet.10 Besonders komplex gestaltete Sprache-

Bild-Kombinationen wie Steiners Werk zeichnen sich durch einen Bedeutungsüberschuss aus und

lassen unterschiedliche Interpretationen zu.

Zudem geben die Untersuchungskriterien der Analysemodelle zwar einen gewissen Interpre-

tationsrahmen vor, sie lassen aber zugleich einen relativ großen Spielraum. Beispielsweise bleibt es

den InterpretInnen überlassen, die Relevanz der Untersuchungskriterien für den eigenen Untersu-

chungsgegenstand einzuschätzen und ihnen dementsprechend mehr oder weniger Platz einzuräu-

men.

Die vorliegende Arbeit kann (und will) daher keinen allgemeingültigen, sondern einen in-

tersubjektiven Geltungsanspruch stellen. Dies bedeutet aber nicht, dass willkürlich vorgegangen

wird. Die Ziele der Arbeit sind klar formuliert, die Untersuchungskriterien werden offen gelegt,

der Prozess der Erkenntnisgewinnung wird so transparent und nachvollziehbar wie möglich argu-

mentiert.

Relevanz besitzen diese Überlegungen vor allem für den Analyseteil. Diesem voran gehen im

nächsten Kapitel einige wichtige Grundüberlegungen zu Sprache und Bild, die für das Verständnis

der vorliegenden Arbeit als bedeutsam erachtet werden.

10 Zur Subjektivität/subjektiven Wahrnehmung siehe: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Hrsg. von Reto Luzius Fetz; Roland Hagenbüchle; Peter Schulz. Berlin: De Gruyter [u. a.]: 1998 (= European Cultures. 11.)

12 II. Theoretische Hinführung | 3. Grundüberlegungen zu Sprache und Bild

3. Grundüberlegungen zu Sprache und Bild

3.1 Brauchen wir einen neuen Textbegriff?

Dieser Frage sind in dem gleichnamigen Sammelband11 eine beträchtliche Anzahl linguistisch

motivierter Beiträge gewidmet. Die AutorInnen reagieren damit auf den unübersehbaren Wandel

aktueller kommunikativer Praktiken, die mit neuen technischen Entwicklungen einhergehen.12

„Nie zuvor waren Bilder so präsent wie heute“13, konstatiert die Sprachwissenschafterin Franziska

Große. Wir leben in einem „Zeitalter des Visuellen und Audiovisuellen“14, stellen auch die beiden

Linguisten Michael Klemm und Hartmut Stöckl fest. Begriffe wie pictorial turn15, iconic turn16, gra-

phische Revolution17 und visuelle Zeitwende18 sind bezeichnend für einen turn, eine Wende unserer

Kommunikationsprozesse und verweisen auf die Relevanz von Bildern in diesem Zusammenhang.

Dabei sind Bilder als Untersuchungsgegenstand längst in das Interesse unterschiedlicher

Wissenschaftsdisziplinen gerückt und weitreichend untersucht.19 Ebenso die Sprache, die als For-

schungsgegenstand in einer langjährigen Tradition steht. Die Auseinandersetzung mit Sprache-

Bild-Kombinationen scheint sich allerdings noch nicht in dem gleichen Maße etabliert zu haben.

„Viele semiotische, philosophische und kommunikationswissenschaftliche Arbeiten vernachlässigen

die wichtige Tatsache, dass Bilder im kommunikativen Haushalt unserer Gesellschaft selten allein

stehen, sondern zumeist mit Sprache und anderen Zeichensystemen verknüpft vorkommen“20,

schreibt beispielsweise Stöckl in seinem Aufsatz Sprache-Bild-Texte lesen.

11 Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Antworten auf eine Preisfrage. Hrsg. von Ulla Fix [u.a.] Frankfurt a. M. [u.a.]: Peter Lang 2002 (= Forum Angewandte Linguistik. 40.)

12 Vgl. Kirsten Adamzik: Zum Problem des Textbegriffs. Rückblick auf eine Diskussion. In: Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Antworten auf eine Preisfrage. Hrsg. von Ulla Fix [u.a.] Frankfurt a. M. [u.a.]: Peter Lang 2002 (= Forum Angewandte Linguistik. 40.) S. 173ff. Im Folgenden zitiert als: Adamzik, Textbegriff.

13 Große, Bildlinguistik, S. 12.

14 Michael Klemm; Hartmut Stöckl: „Bildlinguistik“ – Standortbestimmung, Überblick, Forschungsdesiderate. In: Bildlinguistik. Theorien-Methoden-Fallbeispiele. Hrsg. von Hajo Diekmannshenke; Michael Klemm; Hartmut Stöckl. Berlin: Erich Schmidt 2011. S. 7. Im Folgenden zitiert als: Klemm; Stöckl, Bildlinguistik.

15 Vgl. William J. T. Mitchell: Der Pictorial Turn. In: Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Hrsg. von Christian Kravagna. Berlin: Edition ID-Archiv 1997. S. 15-40.

16 Vgl. Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder. In: Ders. Was ist ein Bild? München: Fink 1994. S. 11-38.

17 Neal Gabler: Das Leben, ein Film. Die Eroberung der Wirklichkeit durch das Entertainment. München: Goldmann Berlin 2001. S. 67.

18 Erich Straßner: Text-Bild-Kommunikation – Bild-Text-Kommunikation. Tübingen: Niemeyer 2002 (= Grundlagen der Medienkommunikation. 13.) S. 1.

19 Einen guten Überblick bietet hier Stöckl: Hartmut Stöckl: Die Sprache im Bild – Das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text. Konzepte · Theorien · Analysemethoden. Berlin, New York: De Gruyter 2004. S. 11-20/S. 47-86. Im Folgenden zitiert als: Stöckl, Sprache im Bild. Einen prägnanten Überblick über verschiedene existierende Bildbegriffe gibt Fix: Ulla Fix: Bilder wahrnehmen, ohne zu sehen? Bildlichkeit in der Audiodeskription von Hörfilm. In: Textsemiotik: Studien zu multimodalen Texten. Hrsg. von Eva Eckkrammer; Gudrun Held. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2006. S. 308ff.

20 Hartmut Stöckl: Sprache-Bild-Texte lesen. In: Bildlinguistik. Theorien-Methoden-Fallbeispiele. Hrsg. von Hajo Diekmannshenke; Michael Klemm; Hartmut Stöckl. Berlin: Erich Schmidt 2011. S. 46. Im Folgenden zitiert als: Stöckl, Bildlinguistik.

II. Theoretische Hinführung | 3. Grundüberlegungen zu Sprache und Bild 13

Stöckl ordnet Sprache-Bild-Kombinationen dem allgemeineren Begriff der Multimodalität

unter. Multimodalität bezeichnet die „Kopräsenz und wechselseitige Verknüpfung mehrerer Zei-

chenmodalitäten auf verschiedenen Ebenen (z.B. Semantik, Handlungsfunktion etc.) in einem

Gesamttext“21. Multimodalität meint also die gemeinsame Verwendung verschiedener Zeichensys-

teme wie Sprache, Bild, Ton, Gestik, Mimik usw.22

Die Frage „Brauchen wir einen neuen Textbegriff?“ zielt auf die Auseinandersetzung über die

Frage, ob der beobachtbare Wandel kommunikativer Praktiken und die beständig wachsende Zahl

multimodaler Kommunikationsangebote einen erweiterten Textbegriff erfordert, der nicht nur

Sprache, sondern auch andere Zeichenmodalitäten umfasst. Für die vorliegende Arbeit besitzt die-

se Überlegung zwei bedeutende Aspekte: Zum einen wird die wichtige Frage nach den Definitio-

nen aufgeworfen. Zum anderen zeigt sich das erwachte Interesse der Sprachwissenschaft an multi-

modaler Kommunikation und damit inbegriffen an Sprache-Bild-Kombinationen. Es gilt, sowohl

die Definitionsfrage als auch den Forschungsstand zu Sprache-Bild-Kombinationen im Folgenden

kurz zu erörtern.

3.2 Forschungsstand

Eine beträchtliche Anzahl von Arbeiten zu Sprache-Bild-Kombinationen ist sprachwissen-

schaftlich ausgerichtet: Manfred Muckenhaupt vertritt einen pragmatischen Ansatz und entwirft

eine Gebrauchstheorie von Sprache und Bild.23

Christian Doelker setzt sich detailliert mit einer Kode-orientierten Bildanalyse und Bildgestal-

tung auseinander und entwirft eine Bildgrammatik, indem er sprachwissenschaftliche Modelle auf

das visuelle Zeichensystem überträgt.24

In dem 2011 erschienenen Sammelband Bildlinguistik25 finden sich Beiträge unterschiedli-

cher AutorInnen, die Sprache-Bild-Kombinationen mittels linguistischer Konzepte untersuchen.

Michael Klemm beispielsweise setzt sich mit kommentierten Bildern von Spitzenpolitikern aus-

einander. Sein Fokus liegt dabei auf der Botschaft, die Sprache und Bild gemeinsam nach außen

kommunizieren.26 Ulrich Schmitz analysiert die Zusammenhänge von Sprache und Bild anhand

21 Ebda. S. 47.

22 Vgl. ebda. S. 45.

23 Vgl. Manfred Muckenhaupt: Text und Bild. Grundfragen der Beschreibung von Text-Bild Kommunikationen aus sprachwissenschaftlicher Sicht. Tübingen: Gunter Narr 1986 (= Tübinger Beiträge zur Linguistik. 271.)

24 Vgl. Christian Doelker: Ein Bild ist mehr als ein Bild. Visuelle Kompetenz in der Multimedia Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta 1997. Im Folgenden zitiert als: Doelker, ein Bild ist mehr.

25 Vgl. Bildlinguistik. Theorien-Methoden-Fallbeispiele. Hrsg. von Hajo Diekmannshenke; Michael Klemm; Hartmut Stöckl. Berlin: Erich Schmidt 2011.

26 Vgl. Michael Klemm: Bilder der Macht. Wie sich Spitzenpolitiker visuell inszenieren (lassen) – eine bildpragmatische Analyse. In: Bildlinguistik. Theorien-Methoden-Fallbeispiele. Hrsg. von Hajo Diekmannshenke; Michael Klemm; Hartmut Stöckl. Berlin: Erich Schmidt 2011. S. 187-210.

14 II. Theoretische Hinführung | 3. Grundüberlegungen zu Sprache und Bild

eines Nutella Döschens.27 Hartmut Stöckl erstellt Einen Katalog unterschiedlicher möglicher Ver-

knüpfungsmuster von Sprache und Bild.28

In seiner Publikation Die Sprache im Bild, das Bild in der Sprache29, setzt sich Stöckl auch

detailliert auf theoretischer wie praktischer Ebene mit Sprache, Bild und deren Verknüpfung in

massenmedialen Texten auseinander. Mit grundlegenden Aspekten des Sprache-Bild-Verstehens

anhand von Werbung beschäftigt sich Stöckl in Werbung in Wort und Bild.30

Ein weiteres Kompendium an Untersuchungen von Sprache-Bild-Komplexen stellt der Sam-

melband Textsemiotik: Studien zu multimodalen Texten31 dar. Die AutorInnen untersuchen

Verknüpfungsformen visueller und verbaler Kodes verschiedener Textsorten aus Print- und On-

linemedien. Isabella Wiederwohl beispielsweise überprüft, ob die Textualitätskriterien von Beau-

grande und Dressler auf Schokoladeverpackungen anwendbar sind.32

Eine umfassende Arbeit zu Sprache, Bild und Sprache-Bild-Verknüpfungen stellt Franziska

Großes Bild-Linguistik33 dar. Das Ziel der Sprachwissenschafterin besteht in der Erstellung eines

Beschreibungsapparates für Sprache-Bild-Kombinationen. Großes Fokus liegt dabei auf der Funk-

tion der Kommunikationsangebote.34

Nicht von Seiten der Sprachwissenschaft, sondern aus der Kunstgeschichte, kommt William

Mitchell, der Bilder untrennbar mit Sprache verknüpft sieht. In Bildtheorie35 setzt er sich mit

Fragen grundlegender Unterscheidungen von sprachlichen Ausdrücken und Bildern auseinander

sowie mit den jeweils zugrunde liegenden Werte- und Machtsystemen, welche die Antworten auf

diese Fragen bestimmen.36

Große Beachtung, besonders im Bezug auf den Begriff der Multimodalität, haben Gunther

Kress’ und Theo van Leeuwens Arbeiten gefunden. In den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stel-

len die beiden Autoren die Komposition. Kress und van Leeuwen zufolge generieren Auffälligkeit,

27 Vgl. Ulrich Schmitz: Sehflächenforschung. Eine Einführung. In: Bildlinguistik. Theorien-Methoden-Fallbeispiele. Hrsg. von Hajo Diekmannshenke; Michael Klemm; Hartmut Stöckl. Berlin: Erich Schmidt

2011. S. 23-42. Im Folgenden zitiert als: Schmitz, Bildlinguistik.

28 Vgl. Stöckl, Bildlinguistik, S. 43-70.

29 Vgl. Stöckl, Sprache im Bild.

30 Vgl. Hartmut Stöckl: Werbung in Wort und Bild. Textstil und Semiotik englischsprachiger Anzeigewerbung. Frankfurt a. M.: Peter Lang 1997.

31 Vgl. Textsemiotik: Studien zu multimodalen Texten. Hrsg. von Eva Eckkrammer; Gudrun Held. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2006.

32 Vgl. Isabella Wiederwohl: Verpackungen als multimodale Texte am Beispiel von Schokoladenschleifen. In: Textsemiotik: Studien zu multimodalen Texten. Hrsg. von Eva Eckkrammer; Gudrun Held. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2006. S. 83-106.

33 Vgl. Große, Bildlinguistik.

34 Vgl. ebda.

35 William J.T Mitchell: Bildtheorie. Hrsg. von Gustav Frank. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. Im Folgenden zitiert als: Mitchell, Bildtheorie.

36 Vgl. ebda.

II. Theoretische Hinführung | 3. Grundüberlegungen zu Sprache und Bild 15

Rahmung und Positionierung der Elemente entlang einer horizontalen bzw. vertikalen Achse kul-

turell bedingte Bedeutungen. Ihre Theorie untermauern die beiden Autoren mittels unterschiedli-

cher Beispielanalysen aus Print- und Onlinemedien.37

Aus dem Blickwinkel der NutzerInnen setzt sich Hans-Jürgen Bucher mit Sprache-Bild-Kom-

binationen auseinander. Er erstellt verschiedene Kriterien, die „gutes“ Textdesign zu erfüllen hat,

um den NutzerInnen zu einem größtmöglichen Verständnis zu verhelfen.38

Die angeführten Untersuchungen zeigen, dass die beiden Zeichensystem Sprache und Bild

nicht mehr nur als separate Untersuchungsgegenstände in den ihnen zugedachten Disziplinen be-

handelt werden. Die Wissenschaft, und hier im Besonderen die Linguistik, scheint auf die Entwick-

lung neuer Kommunikationstechniken und -angebote (Multimedia, Hypertexte usw.) zu reagieren

und Bilder als Forschungsgegenstand ihrer Disziplin anzuerkennen. Die entfachte Diskussion um

die Notwendigkeit eines neuen Textbegriffs scheint ein weiterer Schritt in diese Richtung. Sie im-

pliziert gleichzeitig die grundlegende Frage nach den Definitionen.

3.3 Definitionen

3.3.1 Zum Textbegriff

„Texte sind sehr komplexe Phänomene, die in unterschiedlichen Disziplinen und Forschungsansätzen unter den verschiedensten Aspekten untersucht werden. Eine für alle diese Kontexte einheitliche und eindeutige (operatio-nalisierbare) Definition des Begriffs existiert nicht und ist auch nicht erstrebenswert.“39

Mit diesen Worten resümiert Adamzik die Beiträge des Sammelbands Brauchen wir einen

neuen Textbegriff?. Text existiert allerdings auch als alltagssprachlicher Ausdruck. Die Merkmale

des „prototypischen Alltagskonzepts“40 charakterisiert Adamzik als ein „relativ komplexes

Sprachgebilde“41 mit einer „einheitlichen kommunikative[n] Intention“42, das für „mehrfache Re-

zeptionsprozesse gespeichert ist“43.

Adamzik sieht einen erweiterten Textbegriff aufgrund gewandelter Kommunikationsfor-

men, „und damit eine Abgrenzung vom alltagsweltlichen Konzept“44, nicht für notwendig. Um

multimodalen Kommunikationsformen gerecht zu werden, schlägt sie die Einführung zusätzlicher

37 Kress; van Leeuwen, Reading Images.

38 Bucher, Textdesign.

39 Adamzik, Textbegriff, S. 181. Einen guten Überblick über existierende Textualitätskriterien (und deren gleichzeitige Untergrabung) gibt Michael Klemm in seinem Beitrag „Wie hältst Du´s mit dem Textbegriff? Pragmatische Antworten auf eine Gretchenfrage der (Text-)Linguistik)“, im selben Sammelband (S. 143-159).

40 Adamzik, Textbegriff, S. 181.

41 Ebda.

42 Ebda.

43 Ebda.

44 Ebda.

16 II. Theoretische Hinführung | 3. Grundüberlegungen zu Sprache und Bild

Begriffe wie Kommunikat oder Diskurs vor. Mit dieser Ansicht steht sie in Opposition zu den

meisten AutorInnen, die versuchen, Sprache-Bild-Kombinationen mittels der Übertragung lingu-

istischer Konzepte zu analysieren. Die Subsumierung von Bildern unter dem Begriff Text in diesen

linguistischen Unternehmungen scheint nicht zuletzt die Vorgehensweise zu legitimieren, Konzep-

te eines bestimmten Zeichensystems auf ein anderes zu übertragen.

Ein solch erweiterter Textbegriff liegt zwei der drei Analysemodelle dieser Arbeit zugrunde:

Sowohl Große als auch Kress/van Leeuwen verstehen Bilder als Text. Bucher hingegen stellt seinen

Untersuchungen keine Textdefinition voran. Mit der Einführung seiner Bezeichnung Textdesign

deutet er allerdings auf eine Differenzierung zwischen einem sprachlichen und einem Design-

Aspekt in einer Sprache-Bild-Kombination hin.

In der vorliegenden Arbeit wird Text, außerhalb der Analysemodelle, in dem alltagssprachli-

chen Sinne aufgefasst wie ihn Adamzik beschreibt. Der Begriff tritt allerdings zugunsten des Aus-

drucks Sprache in den Hintergrund. Sprache wird verstanden als:

„Dem Menschen eigenes Kommunikationsmittel zum Austausch und Bewahren von Gedanken, Ideen und Infor-mationen, [...] als das Laut- und Zeichensystem einer bestimmten Menschengruppe, einer Sprachgemeinschaft, [...] als ein System von Zeichen für Begriffe und Gegenstände und ein System von Regeln für die Kombination dieser Zeichen. Längere sprachliche Äußerungen enthalten auf verschiedenen hierarchischen Stufen folgende Bildungselemente: 1. Phoneme, 2. Silben, 3. Morpheme, 4. Wörter, 5. Wortgruppen, 6. Sätze.“45

Diese Begriffsbestimmung beschränkt Sprache auf das sprachliche Zeichensystem, sei es in

mündlicher oder schriftlicher Form. Damit soll eine Abgrenzung der Bezeichnung Sprache vom

Begriff Bild ermöglicht und die Eigenständigkeit der beiden Zeichensysteme Sprache und Bild zum

Ausdruck gebracht werden. Bilder werden in der vorliegenden Arbeit als ein der Sprache gleich-

wertiges Kommunikationsmittel verstanden und daher nicht unter einem weit gefassten Text- bzw.

Sprachbegriff subsumiert. Zu klären bleibt, wie die Bezeichnung Bild zu verstehen ist.

3.3.2 Zum Bildbegriff

„Was ist ein Bild?“, fragt Mitchell in seinem Buch Bildtheorie46. Der Kunsthistoriker ver-

deutlicht, dass in verschiedensten Disziplinen die Frage nach dem Wesen des Bildes aufgeworfen

wurde (und wird) und die vielfältigen Betrachtungsweisen vielfältige Begriffsbestimmungen her-

vorgebracht haben. Eine allgemeingültige Bilddefinition gibt es nach Mitchell nicht und ist für den

Kunsthistoriker undenkbar. Um sich dennoch der Frage „Was ist ein Bild?“ zu nähern, erstellt er

analog zu einem Familienstammbaum ein Spektrum, das von grafischen über optische und perzep-

tuelle bis hin zu geistigen und sprachlichen Bildern reicht:

45 Wissen.de. URL: http://www.wissen.de/lexikon/sprache 2014-2015 [17.02.2015].

46 Vgl. Mitchell, Bildtheorie.

II. Theoretische Hinführung | 3. Grundüberlegungen zu Sprache und Bild 17

Mit Mitchell können die Bilder, die Steiner kreiert, als grafisch kategorisiert werden. Sie sind das,

was Mitchell nicht ohne Vorbehalt als Bilder im eigentlichen, wörtlichen Sinne bezeichnet.47 Es

handelt sich dabei um sogenannte materielle Bilder. Im Gegensatz zu jenen materiellen Bildern, die

das Abbild eines „realen“ Gegenstandes darstellen und auf Ähnlichkeit beruhen, besitzen Steiners

Bilder aber keine gegenständliche Vorlage. Steiners Quelle stellen Fritz’ sprachliche Beschreibun-

gen dar. Die Künstlerin setzt die Vorstellungsbilder, die Fritz’ Worte evozieren, auf dem Medium

Papier in materielle Bilder um. Da nicht Steiners Vorstellungsbilder, sondern nur ihre materiellen

Bilder in der vorliegenden Arbeit relevant sind, können diese hier beschrieben werden als:

„mit künstlerischen Mitteln auf einer Fläche Dargestelltes, Wiedergegebenes; Gemälde, Zeichnung o. Ä.“48

Bilder werden in der vorliegenden Arbeit somit als visuelle Zeichengebilde in Abgrenzung zu

sprachlichen Zeichen verstanden. Um die Gleichwertigkeit und Eigenständigkeit von Sprache und

Bild als Kommunikationsmittel in Sprache-Bild-Verknüpfungen zu betonen, wird hier eine weite-

re Begriffsbestimmung vorgenommen.

3.3.3 Zum Begriff der Sehfläche

Sprache-Bild-Kombinationen begegnen uns täglich in den verschiedensten Ausformungen als

Anzeigen, Inserate, Comics, Plakate, Websites u.v.m. In wissenschaftlichen Auseinandersetzungen

existieren für derartige Kommunikationsangebote unterschiedliche Bezeichnungen. Beispiele da-

für sind Kommunikat49, Textdesign50 oder auch Sprache-Bild-Texte51.

47 Vgl. Mitchell, Bildtheorie, S. 25. Mitchell versucht zu zeigen, dass „eigentliche Bilder, im Gegensatz zur gängigen Überzeugung, nicht stabil, statisch oder dauerhaft in irgendeinem metaphysischen Sinne sind.“ (S. 26).

48 Duden online. Erstellt 2013 URL: http://www.duden.de/rechtschreibung/Bild#Bedeutung1a [17.02.2015 ].

49 Adamzik, Textbegriff, S. 175.

50 Bucher, Textdesign, S. 49.

51 Große, Bildlinguistik, S. 133.

BildÄhnlichkeit

Ebenbild

Grafisch Optisch Perzeptuell Geistig SprachlichGemälde Spiegel Sinnesdaten Träume BeschreibungenZeichnungen Projektionen „Formen“ Ideen MetaphernStatuen Erscheinungen ErinnerungenPläne Vorstellungsbilder

Abb. II Bildbegriff nach Mitchell

Quelle: Mitchell, Bildtheorie, S. 26.

18 II. Theoretische Hinführung | 3. Grundüberlegungen zu Sprache und Bild

In der vorliegenden Arbeit wird die Bezeichnung Sehfläche von dem Linguisten Schmitz über-

nommen, da dieser Terminus „die integrative visuell-grafische Konstitution von Schrift und Bild

sowie deren holistische Kopräsenz in der Wahrnehmung von Text-Bild-Kommunikaten“52 betont.

Neben Sehfläche werden die Begriffe Inhalt/inhaltlich und grafisch wiederholt in der Analyse

verwendet. Mit Inhalt/inhaltlich ist die semantische Bedeutung, mit grafisch die Art und Weise der

sichtbaren Gestaltung gemeint.

Grafische und inhaltliche Aspekte spielen für Sehflächen eine konstitutive Rolle. Bevor die bei-

den Zeichensysteme aber in kombinierter Form betrachtet werden, sollen sie einzeln miteinander

verglichen und sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede aufgezeigt werden.

3.4 Die Besonderheiten von Sprache und Bild

Ähnlichkeiten zwischen Sprache und Bild gibt es in Herkunft, Aussehen und Funktion.

Herkunft

Bilder und schriftliche Sprache besitzen ähnliche Ursprünge. „Im Laufe der Geschichte haben

Menschen gelernt, Sinn zu kommunizieren, indem sie materiellen Gegebenheiten wiedererkenn-

bare Formen aufprägen.“53 Zu den ältesten Formen menschlicher Kommunikation zählen Mimik,

Gestik und gesprochene Sprache, die zwar wenig aufwändig, dafür aber situationsgebunden und

flüchtig sind. Beständigere Zeichen erfordern weitere materielle Grundlagen. So entwickelte sich

in allen Kulturen eine Vielfalt visueller Zeichen, angefangen bei sehr individuellen und vieldeuti-

gen Ausdrucksformen (z.B. frühe Kinderzeichnungen)54, bis hin zu „höchst konventionalisierten,

eindeutig festgelegten Bedeutungsträgern (z.B. Piktogrammen). Und überall dort, wo die Vorteile

grammatisch organisierter Sprache mit denen visueller Kommunikation verbunden werden sollten

und konnten, entstand Schrift.“55

Aussehen

Sowohl verschriftlichte Sprache als auch Bilder füllen Flächen. Schriftliche Sprachzeichen er-

schaffen immer ein Schriftbild. Schrift und Bild können auf einer Fläche auf unterschiedliche

Weise zueinander positioniert sein, sogar ineinander übergehen. Die Bildlichkeit schriftlicher

Sprachzeichen ist erklärter Gegenstand typografischen Gestaltens. Umgekehrt können auch Bilder

als Schrift verwendet werden wie beispielsweise in Hieroglyphen oder auch Bilderrätseln.56

52 Schmitz, Bildlinguistik, S. 21.

53 Ebda. S. 30.

54 Vgl. ebda.

55 Ebda.

56 Vgl. ebda.

II. Theoretische Hinführung | 3. Grundüberlegungen zu Sprache und Bild 19

Funktion

„Wie alle Zeichen schöpfen Bilder und Texte auch geistig aus einer gemeinsamen Quelle

symbolischer Kommunikation.“57 Sprache und Bilder dienen dazu, etwas auszudrücken, etwas

mitzuteilen. Bilder und Sprache haben beide ihre Wurzeln in unserer Vorstellungskraft, wir können

sie „geistig aufeinander beziehen“58. Die Sprache verfügt über „Bilder“ im übertragenen Sinn und

materielle Bilder können mittels Sprache „beschrieben“ werden.59

Neben diesen verbindenden Sachverhalten gibt es aber auch einige charakteristische Un-

terschiede zwischen Sprache und Bild. Diese betreffen einerseits „Art, Mittel und Zweck der

Repräsentation“60 und andererseits die Wahrnehmung und das Verständnis.

Art, Mittel und Zweck der Repräsentation

Sprache besitzt eine Grammatik, die konventionell geregelt ist. Ein Merkmal der Sprache ist

ihre zweifache Gliederung in kleinste bedeutungstragende und kleinste bedeutungsunterscheiden-

de Bestandteile. Im Gegensatz dazu gibt es bei prototypischen Bildern keine systematische Dif-

ferenzierung zwischen bedeutungstragenden und bedeutungsunterscheidenden Elementen. Wohl

entwickeln sich bestimmte Konventionen, Gewohnheiten und Stile, die aber nicht als verbindlich

gelten und „vor allem nicht – wie bei der Sprache – der Ökonomie der schnellen Formulierung

[dienen], die aus sinnlosem Material sinnvolle Aussagen macht“61. Während Sprache eher für das

Denken und Mitteilen geschaffen ist, dienen Bilder eher dem Zeigen und Schauen – Bilder ope-

rieren eher ikonisch, indem sie etwas abbilden oder vorstellen.62

Auch in der Art, wie wir Bilder und geschriebene Sprache wahrnehmen und verstehen, lassen

sich Unterschiede zeigen.

Wahrnehmung und Verständnis

Üblicherweise werden Bilder holistisch und simultan wahrgenommen, sie werden „vom Gan-

zen zu den Teilen hin erblickt“63: Typischerweise wird auf den ersten Blick das Bild als Ganzes

erfasst, „als optische[r] Eindruck des Ganzen als Gestalt“64. Folgende Blicke wandern auf der Bild-

fläche herum und fokussieren einzelne Teile.

57 Ebda.

58 Ebda. S. 31.

59 Ebda.

60 Ebda.

61 Ebda.

62 Vgl. ebda.

63 Ebda.

64 Ebda.

20 II. Theoretische Hinführung | 3. Grundüberlegungen zu Sprache und Bild

Dabei können Layout und Komposition, die Positionierung, Gewichtung, Farbe, Form usw.

der Bildelemente den Blick zu einem bestimmten Punkt bzw. von einem zum anderen leiten.65

Aufgrund der holistischen Wahrnehmung können Bilder vergleichsweise schnell und mühelos

wahrgenommen und verstanden werden.

Verschiedene Studien haben gezeigt, wie gut Bilder im Gedächtnis behalten und wieder abge-

rufen werden können. Da bei Bildern verschiedene Formaspekte wie Farbe, Linien, Schärfe usw.

in die Deutung mit eingehen, werden sie als semantisch dicht bezeichnet. Eine Folge dieser seman-

tischen Dichte ist ihr Bedeutungsüberschuss.66

Bilder sind polysemantisch, ihre Mehrdeutigkeit ermöglicht keine eindeutige Botschaft.67 Auf-

grund ihrer Wahrnehmungsnähe und ihres „Realität simulierenden Charakters“68 eignen sie sich

besonders „zur Präsentation und zum visuellen Erfahrbarmachen von merkmalsreichen Objekten

in Raum und Situation“69. Zudem sind Bilder direkt emotionsverbunden. Aufgrund ihrer seman-

tischen Dichte und ihrer „biophysikalischen Vernetzung mit dem Gefühl“70 können sie sehr gut

Emotionen evozieren.71

Geschriebene Sprache hingegen ist nicht direkt emotionsverbunden. Sie wird auch nicht ho-

listisch sondern „sukzessiv von Teilen ausgehend zu einem Ganzen hin erlesen“72, sie wird linear

entziffert. Von Zeichen zu Zeichen wird aus dem Einzelnen der Sinn des Ganzen erschlossen.

Sprache bedarf der „Umkodierung von wahrnehmungsfernen Zeichen (Phonem- oder Graphem-

folgen) in wahrnehmungsnahe“73 und wird daher vergleichsweise langsam verstanden. Im Unter-

schied zu Bildern ist die Bedeutung von Sprache aber fest verankert.74 Sie besitzt tendenziell einen

unbeschränkten semantischen Spielraum: Verneinung, Modalität (z.B. wollen, müssen, können),

abstrakte Referenz, Illokutionen und logische Verbindungen von Aussagen (z.B. weil, nachdem,

obwohl) sind möglich. Sprache erlaubt die zeitliche Darstellungen von Handlungen und Ereignis-

sen.75

65 Vgl. ebda. S. 31f.

66 Vgl. ebda.

67 Vgl. Stöckl, Bildlinguistik, S. 47.

68 Ebda.

69 Ebda. S. 50.

70 Ebda.

71 Vgl. ebda.

72 Schmitz, Bildlinguistik, S. 32.

73 Stöckl, Bildlinguistik, S. 49.

74 Dies ist eine synchrone Betrachtungsweise, historisch gesehen ändert sich die Bedeutung von Sprachzeichen. Zudem geht Schmitz von einem Zeichenmodell aus, das den Signifikanten an ein (konventionell festgelegtes) bestimmtes Signifikat knüpft.

75 Vgl. Stöckl. S. 50.

II. Theoretische Hinführung | 3. Grundüberlegungen zu Sprache und Bild 21

Eine gut geordnete Übersicht über die „dem Gebrauch zugrunde liegenden, generellen

Eigenschaften“76 der beiden Zeichensysteme Sprache und Bild gibt Stöckl in einem tabellarisch

geordneten Vergleich. Er untergliedert dabei vier Beschreibungsebenen: Semiotik, Perzeption/Ko-

gnition, Semantik und Pragmatik.

BILD SPRACHE

Semiotik(Zeichensystem)

kontinuierlicher Zeichenfluss diskrete, distinkte Einzelzeichen

Gestalten integrierende Grammatik Kombinationsgrammatik

räumliche Konfiguration lineare Einheiten (syntagmatisch)

Perzeption/ Kognition (Verstehen)

ikonisch (wahrnehmungsnah) arbiträr (wahrnehmungsfern)

simultane, ganzheitliche Wahrnehmung sukzessive, lineare Wahrnehmung

schnell langsam (vergleichsweise)

gedächtnis- und wirkungsstark gedächtnis- und wirkungsschwach

direkt emotionsverbunden nicht direkt emotionsverbunden

Semantik (Bedeutungs-potenzial)

Bedeutungsüberschuss (semantisch dicht) Bedeutung fest verankert (semantisch dünn)

vage und unterdeterminiert präzise und bestimmt (tendenziell)

beschränkter semantischer Spielraumz.B.: Verneinung, Modalität, abstrakte Referenz, Illokutionen, logische Verbindung von Aussagen

unbeschränkter semantischer Spielraum (tendenziell)

Pragmatik

Zeigen merkmalsreicher Objekte Handlungen/Ereignisse i.d. Zeit darstellen

Anzeigen der Lage von Objekten zueinander im Raum

logische Bezüge zwischen Elementen erklären

vorwiegend emotionale Appelle alle Illokutionen und Sprechakte möglich

Handlungsanweisungen

Aus diesem Vergleich von Sprache und Bild wird ersichtlich, dass beide Zeichensysteme ihr

eigenes Ausdruckspotenzial besitzen und in einer Sehfläche spezifische Aufgaben erfüllen.

Um die Aufgaben von Sprache und Bild in Steiners Sehfläche besser nachvollziehen zu kön-

nen, erhalten die LeserInnen im nächsten Kapitel einige wichtige Informationen. Einerseits betref-

fen diese die Künstlerin Magdalena Steiner, deren Sehfläche im Mittelpunkt dieser Arbeit steht.

Andererseits beziehen sie sich auf die Autorin Marianne Fritz und ihren Roman Die Schwerkraft

der Verhältnisse, auf den Steiner mit ihren Darstellungen referiert.

76 Ebda. S. 48f.

Tab. I: Eigenschaften von Sprache und Bild

Quelle: Stöckl, Bildlinguistik, S. 48f.

22 II. Theoretische Hinführung | 4. Künstlerin, Autorin und ihre Werke

4. Künstlerin, Autorin und ihre Werke 4.1 Magdalena Steiner

„Ich bin in meinen Bildern eine Suchende. Wünschen würde ich mir einige Menschen, die

sich in ihnen finden“78, schreibt Magdalena Steiner auf ihrer Homepage. Geboren wird die Künst-

lerin am 26. September 1965 in Wien. Sie besucht die Höhere Graphische Versuchsanstalt in

Wien, wobei Aktzeichnung im Zentrum ihres Interesses steht. Von 1985 - 1990 studiert sie Male-

rei an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien.

Steiner zufolge sind das Thema ihrer Kunst die Menschen. Dabei will sie sich nicht festlegen,

nicht einordnen lassen. „Meine Arbeiten sind zart oder hart, stark oder schwach, bunt oder farblos,

gut oder auch manchmal weniger gut – aber immer da – kontinuierlich – wechselnd überraschend

und suchend.“79

1987 - 2004 ist Steiner Obfrau der Vereinigung „Waldviertler Künstler“ und erhält 1990 den

Anerkennungspreis des Landes Niederösterreich. Von 1994 - 1997 studiert die Künstlerin Theolo-

gie an der Erzdiözese Wien. Bis heute ist Steiner künstlerisch tätig, hält Seminare und Workshops,

unterrichtet an Schulen, stellt ihre Bilder aus, malt und illustriert.80

Die Sehfläche, deren Analyse im Zentrum dieser Arbeit steht, entwirft Magdalena Steiner

2011 nach der Vorlage des Romans Die Schwerkraft der Verhältnisse von Marianne Fritz.

4.2 Marianne Fritz

Marianne Fritz wird am 14. Dezember 1948 in der Steiermark geboren. Sie zieht mit ihrer

Familie nach Vorarlberg, legt dort 1966 die Kaufmannsgehilfenprüfung ab und schlägt einen kauf-

männischen Berufsweg ein. 1972 holt sie die Matura nach und lebt bis zu ihrem Tod in Wien. Ihr

erster Roman Die Schwerkraft der Verhältnisse ist ein voller Erfolg und wird mit dem Robert-

Walser-Preis ausgezeichnet.

1981 erscheint Das Kind der Gewalt und die Sterne der Romani, eine Art Vorwerk zu ihrem

vierteiligen Romanzyklus betitelt mit Die Festung. Ende 1985 folgt das Werk Dessen Sprache du

nicht verstehst mit 3500 Seiten.

78 Magdalena Steiner URL: http://members.chello.at/maria-magdalena.steiner/start.html [10.03.2015].

79 Ebda.

80 Vgl. ebda. Vgl. Künstlergemeinschaft Westliches Weinviertel URL: http://www.kuenstlergemeinschaft.at/?page_id=165 [10.03.2015]. Vgl. Literaturhaus Wien URL: http://www.literaturhaus.at/index.php?id=7854&L=0%2Fadmin%2Ffilemanager. php%2Flogin.php [10.03.2015]. Vgl. Magdalena Steiner URL: https://mmsteiner.wordpress.com/biografie/ [10.03.2015].

II. Theoretische Hinführung | 4. Künstlerin, Autorin und ihre Werke 23

In diesem Opus deformiert Fritz „Sprachmaterial zum Zweck der Bewußtmachung [sic!] und

operier[t], indem sie die Grenzen herkömmlichen Lesens spreng[t], mit einer konsequenten, eli-

tären Überforderung des Publikums“81. Noch komplexer als Dessen Sprache du nicht verstehst

gestaltet Fritz dessen Fortsetzungen Naturgemäß I (1996) und Naturgemäß II (1998). Aufgrund

ihrer schweren Blutkrankheit gelingt es der Autorin nicht mehr, Naturgemäß III zu vollenden.

Marianne Fritz entzieht sich stets der Öffentlichkeit. Sie gibt weder Interviews, noch hält

sie Lesungen oder lässt sich fotografieren. Das einzige, was für sie Belang hat, ist das Schreiben.

„Sie konnte im Zwiegespräch sehr herzlich sein, immer wieder aber schlug Bitterkeit durch über

soziale Ungerechtigkeit, über den Gang der Geschichte und die Macht der Massenmedien.“82 So

beschreibt Wendelin Schmidt-Dengler die Autorin. Marianne Fritz erliegt am 01. Oktober 2007

im Allgemeinen Wiener Krankenhaus ihrer schweren Blutkrankheit.83

Zentral für die vorliegende Arbeit ist Fritz’ erster und wahrscheinlich erfolgreichster Roman:

Die Schwerkraft der Verhältnisse.

4.3 Die Schwerkraft der Verhältnisse

Marianne Fritz erzählt die Geschehnisse ihres Romans mit mehreren Rückblenden. In der

vorliegenden Arbeit wird der Handlungsverlauf zwecks der besseren Verständlichkeit allerdings

chronologisch dargestellt:

Im Jahr 1945 erfährt die schwangere Berta, dass der sanfte grüblerische Rudolf, Vater ihres un-

geborenen Kindes, im Krieg gefallen ist. Überbracht wird die Todesnachricht von Rudolfs Freund

Wilhelm. Diesem hat Rudolf noch auf dem Schlachtfeld das Versprechen abgenommen, sich im

Falle seines Todes um die schwangere Berta zu kümmern.

Der heimgekehrte Wilhelm hält sein Wort, er bleibt bei Berta und zeugt mit ihr Bertas zweites

Kind, ihre gemeinsame Tochter Klein-Berta.

Die Beziehung zwischen Berta und Wilhelm wird mit unverkennbarem Neid von Bertas

„Freundin“ Wilhelmine verfolgt, die sich gerne an Bertas Stelle gesehen hätte. Besonders Bertas

Kindererziehung bemüßigt Wilhelmine zu häufigem Tadel.

81 Nagel, Wolfgang: 2,8 Kilogramm Weltliteratur. In: Der Spiegel 39 (1985), H. 51, S. 150-156. URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13516423.html [10.03.2015]. Im Folgenden zitiert als: Nagel, Fritz.

82 Schmidt-Dengler, Wendelin: Ohne Kompromisse - Marianne Fritz gestorben. Erstellt am 01.10. 2007 URL: http://diepresse.com/home/kultur/literatur/333783/Ohne-Kompromisse-Marianne-Fritz-gestorben [10.03.2015]. Im Folgenden zitiert als: Schmidt-Dengler, Fritz.

83 Vgl. Fisch, Michael: Wortgewaltig: Zum Tod von Marianne Fritz. Wann erscheint endlich „Naturgemäß III“? Erstellt am: 07.03.08 URL http://www.berlinerliteraturkritik.de/detailseite/artikel/wortgewaltig-zum-tod-von-marianne-fritz.html [10.03.2015].

Vgl. Nagel, Fritz URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13516423.html [10.03.2015]. Vgl. Schmidt-Dengler, Fritz URL: http://diepresse.com/home/kultur/literatur/333783/Ohne-Kompromisse- Marianne-Fritz-gestorben [10.03.2015].

24 II. Theoretische Hinführung | 4. Künstlerin, Autorin und ihre Werke

Dabei setzt Berta alles daran, ihren Kindern eine gute Mutter zu sein. Sie erteilt ihnen Rat-

schläge und versucht immer wieder, ihren Nachwuchs aufzumuntern – besonders ihren erstgebo-

renen Sohn Rudolf. Rudolf ist Sonderschüler, Bettnässer und geprägt von seinem negativen Selbst-

bild. Tag für Tag kommt er mit hängenden Schultern von der Schule nach Hause, die Schultasche

am Boden hinter sich herziehend.

Rudolfs Schwester, Klein-Berta, hat anfänglich mit keinem dieser Probleme zu kämpfen. Sie

profiliert sich als sehr gute Schülerin, bis ihre Leistungen aus unerklärbaren Gründen abfallen

und auch sie zur Sonderschülerin herabgestuft wird. Für Berta bedeutet dies eine Hiobsbotschaft.

Wilhelm, der seinen Erfolg im Beruf als Chauffeur seinem anpassungsfähigen Lächeln verdankt,

erfährt vorerst nichts davon. Er chauffiert einen seiner Kunden zu dessen Ferienhaus, wo er einige

Zeit mit ihm zu verweilen gedenkt. Als sich Wilhelm schließlich telefonisch nach dem Befinden

seiner Familie erkundigt, versichert ihm Berta, es sei alles in Ordnung, obwohl dies keineswegs der

Wahrheit entspricht: Klein-Bertas Herabstufung zur Sonderschülerin löst eine tiefe Resignation

bei Bertas Kindern und ihrer Mutter aus. Berta ermahnt ihren Nachwuchs nicht mehr, die Schul-

taschen zu tragen statt am Boden zu schleifen. Sie erhebt auch keine Einwände, als Rudolf und

Klein-Berta den Schulbesuch ganz verweigern. Berta gesteht sich ihr Scheitern als Mutter ein, sie

hat der „Schwerkraft der Verhältnisse“, die sie für alles Leiden verantwortlich macht, nichts mehr

entgegen zu setzen.

In den Nächten plagen Berta schreckliche Albträume. In einem von ihnen hängt Rudolf am

Kreuz und muss Beschimpfungen kopfloser Gestalten über sich ergehen lassen, während Berta

selbst in einem Grab feststeckt und hilflos zusehen muss. In einem anderen Traum verwandeln

sich ihre Kinder in zerzauste, verwilderte Geschöpfe. Sie streunen durch die Straßen, raufen sich

mit einem Köter um einen Knochen und beginnen aus Hunger ihrer Mutter das Fleisch von den

Knochen zu nagen. Wilhelm nimmt in Bertas Traum von all dem keinerlei Notiz.

Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als Berta eines Tages ihre Tochter im Schlaf betrachtet und

eine unheimliche Ähnlichkeit zwischen Klein-Berta und der Madonna auf dem Bild über ihrem

Ehebett zu erkennen glaubt. Der Schlaf, so glaubt Berta, habe ihre Tochter der „Schwerkraft der

Verhältnisse“ entzogen. Kurze Zeit später betäubt Berta ihre Kinder und erdrosselt sie.

Als Wilhelm einer Ahnung folgend früher als geplant nach Hause zurückkehrt, findet er eine

Notiz mit den Worten „Ich habe meine misslungene Schöpfung beendet“84 auf dem Tisch und die

toten Kinder im Schlafzimmer.

84 Fritz, Schwerkraft, S. 87.

II. Theoretische Hinführung | 4. Künstlerin, Autorin und ihre Werke 25

Nach ihrer Tat wird Berta in eine Irrenanstalt gesperrt, Wilhelm und Wilhelmine heiraten.

Jahre später, am 13. Jänner 1963, beschließt Wilhelmine, Berta anlässlich ihres Geburtstags in der

Irrenanstalt zu besuchen. Wilhelm ahnt wohl, dass sich hinter dem vorgeschützten Freundschafts-

besuch seiner Frau eine unlautere Absicht verbirgt. Doch trotz seines Widerwillens hat er der Tat-

kraft seiner Frau nichts entgegenzusetzen.

Wilhelmine verfolgt ein klares Ziel: Sie will das goldene Kettchen mit dem Madonna Anhän-

ger, das Wilhelm Berta bei ihrer ersten Begegnung um den Hals gelegt hat. Dieses Kettchen besitzt

für beide Frauen eine besondere Bedeutung.

Im Krankenzimmer gelingt es Wilhelmine, Berta dazu zu bringen, ihr das Kleinod zu schen-

ken. Trotz seines Entsetzens unternimmt Wilhelm nichts. Doch mit dieser Kette fällt auch alle

„Zweifel- und Grübelsucht“85 von Berta ab. Sie anerkennt die Sinnlosigkeit ihrer Mordtat, und

dass sie „die Verliererin und das Leben mit seinen modellierenden Tatzen, die Schwerkraft der

Verhältnisse, der Sieger geblieben war“86. So schrecklich dieses Eingeständnis ist, so scheint es in

gewisser Weise eine reinigende Wirkung zu besitzen.

Auf zentrale Aspekte dieses Handlungsverlaufs rekurriert Magdalena Steiner mit den Darstel-

lungen ihrer Sehfläche. Diese wird im folgenden Teil analysiert.

85 Ebda. S. 107.

86 Ebda.

26 III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große

III. Praktische Ausführung

5. Analyse

5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große87

Große legt ihrem sprachwissenschaftlich ausgerichteten Analysemodell einen Textbegriff zu-

grunde, der auch visuelle Zeichensysteme aus semiotischer Sicht umfasst. Auf diese Weise plausi-

bilisiert sie ihre Vorgehensweise, Bilder aus textlinguistischer Sicht als Texte zu klassifizieren und

linguistische Methoden modifiziert auf visuelle Zeichensysteme zu übertragen.88 Große wählt den

semiotischen Textbegriff nach Posner:

„1. Er [der Text] ist ein Artefakt, d.h. er ist Ergebnis absichtlichen Verhaltens; 2. er [der Text] ist ein Instrument, d.h. er hat innerhalb einer Kultur (mindestens) eine Funktion und 3. er [der Text] ist kodiert, d.h. es werden ihm ein oder mehrere Signifikate zugeordnet.“89

Die Sprachwissenschafterin greift auf Ansätze der Linguistik zurück, „die die Analyse der Zwe-

cke, denen Bilder im Kontext von Sprache dienen in den Vordergrund stellen“90. Ihr Ziel besteht in

der Erarbeitung eines „konsistenten Beschreibungsapparates, mit dem Bildphänomene im Kontext

schriftlicher Texte erfasst und systematisch dargestellt werden können“91. Die Differenzen zwi-

schen Sprache und Bild billigen es aber nicht, sprachwissenschaftliche Modelle einfach auf Bilder/

Sehflächen zu übertragen, da diese Methoden keine angemessene Beschreibung leisten können

bzw. wollen. Große modifiziert daher die linguistischen Modelle anhand konkreter Beispiele, um

einen geeigneten Beschreibungsapparat zu entwickeln.92

Das Ziel einer linguistischen Bildanalyse sieht Große in der Transparentmachung der „Struk-

tur und kommunikativen Funktionen konkreter Bilder im Kontext von schriftlichen Texten“93

sowie in der systematischen Beschreibung der „allgemeinen Bedingungen und Regeln der

Bildkonstitution“94 und der Klärung ihrer Bedeutung für die Rezeption. Dabei sollte sich die

sprachwissenschaftliche Untersuchung auf jene Aspekte der Produktion und Rezeption von Seh-

flächen konzentrieren, die sich als wesentlich für „das kommunikative Handeln“95 mittels visueller

Darstellungen erweisen.96

87 Vgl. Große, Bildlinguistik.

88 Vgl. ebda. S. 19/S. 130.

89 Ebda. S. 19.

90 Ebda. S. 32.

91 Ebda. S. 21.

92 Vgl. ebda.

93 Ebda. S. 23.

94 Ebda.

95 Ebda.

96 Vgl. ebda.

III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große 27

Große vertritt somit einen funktional-pragmatischen Ansatz, der das Zusammenwirken ver-

baler und visueller Elemente im situativen Gebrauch im Fokus hat. Die Autorin betont, dass ihre

Klassifikationsmodelle nicht verallgemeinert werden können, da die Beschreibungsebenen in kon-

kreten Sehflächen selten „in dieser prototypischen Weise und Vollständigkeit realisiert [sind], die

im Klassifikationsmodell idealtypisch zusammengefasst werden“97. Großes Konzeption folgend

werden für Steiners Sehfläche nur jene Analysekriterien herangezogen, die sich als sinnvoll und

umsetzbar erweisen. Dazu zählen:

Textexterne FaktorenTextproduzentIn, TextrezipientIn, medialer Rahmen, Kommunikationsform, Handlungsbereich

Textinterne FaktorenKohäsion/Kohärenz, Bildfunktion, Thematische Entfaltung, Bildsorte

Großes Analysemodell sieht vor, mit der Untersuchung der textexternen Faktoren zu beginnen.

5.1.1 Textexterne Faktoren der Sehfläche

„Aktuelle Zeichen98 sind immer in einem konkreten Kontext eingebettet“99, schreibt die

Sprachwissenschafterin. Die Untersuchung der kontextuellen Komponenten konstituieren die ers-

te Analysestufe ihres Analysemodells. Die Kriterien, die sie in diesem Zusammenhang anführt,

sind: TextproduzentIn, TextrezipientIn, medialer Rahmen, Kommunikationsform und Handlungsbe-

reich.

5.1.1.1 TextproduzentIn

Die Frage nach der Textproduzentin bzw. dem Textproduzenten der Sehfläche ist rasch geklärt.

Es handelt sich dabei um die Künstlerin Magdalena Steiner, deren Biografie bereits wiedergegeben

wurde (Kap. 4.1 Magdalena Steiner). Die Urheberin der Sehfläche kann ohne große Anstrengun-

gen für die RezipientInnen ermittelt werden: Im Editorial der Zeitung, auf deren Umschlag-Rück-

seite die Sehfläche abgedruckt ist, finden sich erläuternde Informationen zu Steiner und ihrem

Werk. Zudem hat die Künstlerin die Sehfläche mit ihrer Signatur versehen.

Etwas komplexer erweist sich die Aufgabe, die RezipientInnen der Sehfläche zu ermitteln.

5.1.1.2 TextrezipientInnen

Die Sehfläche ist auf der Rückseite der Wiener Straßenzeitung Augustin aufgedruckt, folglich

handelt es sich bei den LeserInnen der Zeitung auch um die RezipientInnen der Sehfläche.

97 Ebda. S. 249.

98 Damit gemeint sind Zeichen im konkreten Gebrauch („token“).

99 Ebda. S. 142.

28 III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große

Einer Studie zufolge, welche die Augustin-Redaktion in Auftrag gab, lassen sich die LeserInnen des

Augustin folgendermaßen charakterisieren: „[...] kulturell interessiert, sozial engagiert, lesefreudig [...] höhere Schulbildung [...]. Die Reichweite des Augustin beträgt unter den Wiener_innen ab 14 Jahren rund 12% und über 15% in der Gruppe der 14 – bis 30-Jährigen“100.

Die künstlerische Anmutung der Sehfläche legt außerdem die Vermutung nahe, dass diese

besonders von kunst- bzw. kulturinteressierten Menschen eingehender rezipiert wird sowie von

jenen, die sich gerne von Sehflächen unterhalten lassen. Steiners Sprache-Bild-Kombination rich-

tet sich folglich an RezipientInnen, die der komplexen Gestaltung und vielschichtigen Bedeutung

der Sehfläche aufgrund ihrer Bildung mutmaßlich gewachsen sind und an einer eingehenderen

Betrachtung interessiert sein könnten.

Weiters wird die Sehfläche mit großer Wahrscheinlichkeit von Menschen betrachtet, die mit

dem Inhalt von Fritz’ Roman nicht vertraut sind. Das Kontextwissen um den Handlungsverlauf

von Die Schwerkraft der Verhältnisse wirkt sich aber maßgeblich auf die Rezeption der Sehflä-

che aus. Dies wird sich im Verlauf der Arbeit immer wieder zeigen. Dasselbe gilt für den medialen

Rahmen.

5.1.1.3 Medialer Rahmen

Große zufolge können die medialen Rahmenbedingungen für den situativen Kommunika-

tionszusammenhang, und somit für das Verständnis der Sehfläche, entscheidend sein. Sie führt

zwei Aspekte im Bezug auf den medialen Rahmen an: die Art der Modalität (mono- vs. multime-

dial, statisch vs. dynamisch) und das Trägermedium. Den Trägermedien sind oft bestimmte kom-

munikative Grundfunktionen inhärent, die von den RezipientInnen auch vorausgesetzt werden.

Beispielsweise wird einem Stoppschild kulturell bedingt die appellative Funktion „Stehenbleiben“

zugewiesen, während bei einem Wegweiser eine informative Funktion präsupponiert wird.

Bezüglich der Modalität kann Steiners Sehfläche als monomedial und statisch beschrieben wer-

den. Monomedial, weil die Sehfläche nur in einem einzigen Medium erschienen ist, nämlich der

Wiener Straßenzeitung Augustin; statisch, weil die Sehfläche nicht dafür gedacht ist, von den

RezipientInnen verändert zu werden.

Als Trägermedium fungiert die Straßenzeitung Augustin, die auf ihrer eigenen Website als die

„erste österreichische Boulevardzeitung“101 betitelt wird. Zudem wird der Augustin definiert als

100 Augustin URL: http://www.augustin.or.at/documents/article-docs/article-244/ma_augustin_2014.pdf [24.09.2014].

101 Augustin URL: http://www.augustin.or.at/ [24.09.2014].

III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große 29

„Stadtzeitung, auch mit unterhaltenden Elementen, andererseits als Forum radikaler Kritik aller

Formen sozialer Ungerechtigkeit und als Plattform der Marginalisierten“102. Zu den wichtigsten

Funktionen, welche die Augustin-LeserInnen daher von diesem Trägermedium präsupponieren,

zählen wahrscheinlich Information, Unterhaltung, Aufklärung oder auch Appell.

Nachdem bereits untersucht wurde, wer die Sehfläche rezipiert, kann der mediale Rahmen

nun Aufschluss darüber liefern, auf welche Art und Weise dies geschieht: Die LeserInnen rezipie-

ren Steiners Sehfläche (die Zeitung) mit der Erwartung, qualitativ hochwertige, möglicherweise

sozialkritische Informationen vorzufinden, informiert und unterhalten zu werden. Der Inhalt wird

i.d.R. als einseitige Botschaft verstanden, interaktive Möglichkeiten werden kaum je erwartet.103

Der mediale Rahmen steht in direkter Beziehung zur Kommunikationsform.

5.1.1.4 Kommunikationsform

Große zufolge besteht zwischen der Kommunikationsform von Bildern und verbalen Texten

große Ähnlichkeit. Sie greift hier auf den Linguisten Klaus Brinker zurück, überträgt dessen Aus-

führungen zur Kommunikationsform von Texten auf Sehflächen und gelangt zu folgender Über-

legung: Im Regelfall ist die Richtung der Kommunikation von Sehflächen monologisch und die

KommunikationspartnerInnen sind zeitlich und örtlich voneinander getrennt.

Diese Einschätzung trifft auch auf Steiners Sehfläche zu. Die Richtung der Kommunikation

ist monologisch, weil sie einseitig statt im Dialog verläuft. Steiners Botschaft wird üblicherweise

von den BetrachterInnen der Sehfläche rezipiert, ohne Kontakt zu der Künstlerin aufzunehmen.

Weiters wurde die Sehfläche an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit produziert als re-

zipiert. Insofern sind Produktion und Rezeption der Sehfläche örtlich und zeitlich voneinander

getrennt.

Die Kommunikationsform sollte von allen ProduzentInnen einer Sehfläche beachtet werden:

Liegt wie bei Steiners Sehfläche eine monologische, zeitlich und örtlich versetzte Kommunikation

vor, haben die RezipientInnen i.d.R. keine Möglichkeit, Verständnisprobleme zu klären. Das

Kommunikationsangebot sollte daher so konzipiert sein, dass die KommunikationspartnerInnen

dieses verstehen können. Gerade bei Steiners Sehfläche stellt dies eine Herausforderung dar, da

die Darstellungen sehr komplex sind und auf Inhalte von Fritz’ Roman referieren, deren Kenntnis

nicht vorausgesetzt werden kann.104 Dieses Problem wird durch die Erklärungen im Editorial des

102 Augustin URL: http://www.augustin.or.at/ueber-uns/die-idee.html [24.09.2014].

103 Dies ist beispielsweise bei einer Website anders, deren Konzeption es üblicherweise vorsieht, den UserInnen durch Interaktion (z.B. Anklicken eines Buttons) Veränderungen zu ermöglichen.

104 Im Kontext der Zeitung Augustin.

30 III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große

Augustin zur Künstlerin und ihrem Werk gemindert. Die eigentliche „Verständnisarbeit“ leistet

Steiner mit der Konzeption ihrer Sehfläche aber selbst, wie sich im Zuge der Untersuchung der

internen Analysekriterien zeigen wird.

Den letzten kontextuellen Aspekt, den Große aufzählt, stellt der Handlungsbereich dar.

5.1.1.5 Handlungsbereich

Auch im Bezug auf den Handlungsbereich referiert Große auf Brinker, der diesen als Teil der

Kommunikationssituation einordnet. Es handelt sich dabei um gesellschaftliche Bereiche, wie bei-

spielsweise die Welt der Wissenschaft, des Rechts, der Kunst, der Religion oder auch den Alltag,

„für die jeweils spezifische Handlungs- und Bewertungsnormen gelten“105. Brinker unterscheidet

drei Bereiche: den privaten, den offiziellen und den öffentlichen Handlungsbereich.

Der private Handlungsbereich betrifft private Personen und fokussiert auf die Bedeutung der

privaten ProduzentInnen bzw. RezipientInnen. Die Aktanten des offiziellen Handlungsbereichs

sind „Amtspersonen und Institutionen“106, im Fokus stehen hier die KommunikationspartnerIn-

nen in ihren offiziellen Funktionen. Der öffentliche Handlungsbereich „steht im Gegensatz zum

privaten“107 und überschneidet sich teilweise mit dem offiziellen.108 Große zählt hierzu vor allem

die Massenkommunikation (Print- und Onlinemedien).109

Welchem Bereich Kommunikationsangebote zugeordnet werden können, hängt von ihrem

Verwendungszusammenhang ab. Beispiele für den privaten Handlungsbereich sind Briefe oder

Fotografien. Kommunikationsangebote des offiziellen Handlungsbereichs übernehmen meist eine

symbolische Funktion. Große nennt hier beispielhaft Embleme oder Logos, „die aufgrund ihrer

Bildgestaltung und Einbettung in übergeordneten Sprach-Texten dazu beitragen, Privatbriefe von

Geschäfts- bzw. Behördenkorrespondenz zu unterscheiden und daher identitäts- und sinnstiftende

Funktionen übernehmen“110. Die Kommunikationsangebote des öffentlichen Handlungsbereichs

wiederum entstammen hauptsächlich den Massenmedien. Dazu zählen unter anderem Nachrich-

ten, Anzeigen, Kommentare usw.

105 Klaus Brinker: Linguistische Textanalyse: Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 5. Aufl. Berlin: Erich Schmidt. 2001. S. 139. Im Folgenden zitiert als: Brinker, Textanalyse.

106 Ebda.

107 Ebda.

108 Vgl. Gabriele Maria Diewald: Deixis und Textsorten im Deutschen. Tübingen: Niemeyer 1991 (= Reihe Germanistische Linguistik. 118.) S. 305.

109 Vgl. Große, Bildlinguistik, S. 143.

110 Ebda.

III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große 31

Steiners Sehfläche lässt sich folglich dem öffentlichen Handlungsbereich zuordnen: Der

Augustin zählt als Wiener Straßenzeitung zu den klassischen Printmedien und somit zu den Mas-

senmedien, die dem öffentlichen Handlungsbereich angehören.

Die externen Faktoren, die Große in ihrer Arbeit in aller Kürze abhandelt, wurden auch hier

rasch erläutert. Bedeutender im Bezug auf die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit erweisen sich

die internen Untersuchungskriterien. Diese werden daher ausführlicher besprochen.

5.1.2 Textinterne Faktoren der Sehfläche

Zu den textinternen Faktoren, die nachfolgend behandelt werden, zählen Bildfunktion, thema-

tische Entfaltung, Bildsorte und in einem ersten Schritt Kohäsion und Kohärenz.

5.1.2.1 Kohärenz und Kohäsion

Das Thema Kohärenz handelt Große nur theoretisch ab. Sie verweist dabei auf das textlingu-

istische Konzept der Generativen Grammatik, „das zwischen den wahrnehmbaren Strukturen der

Textoberfläche und den ihnen zugrunde liegenden, zu erschließenden Konzepten und Relationen

der Texttiefenstruktur unterscheidet. Kohärenz bezieht sich dabei auf die Tiefenstruktur und die

ihnen zugrunde liegenden semantischen und inhaltlichen Zusammenhänge und Relationen, die

vom Rezipienten erschlossen werden müssen“111.

In visuellen Zeichensystemen bzw. bei Sprache-Bild-Kombinationen kann Kohärenz mittels

„grammatisch-struktureller Verknüpfungsmittel“112 sowie durch „thematische und pragmatische

Konzepte“113 hergestellt werden. Große verzichtet allerdings darauf, diese Verknüpfungsmittel

bzw. Konzepte näher zu erklären oder zu exemplifizieren.

Auch mit Kohäsion setzt sich die Sprachwissenschafterin hauptsächlich theoretisch ausein-

ander. Im Gegensatz zu Kohärenz bezieht sich Kohäsion „auf die an der Oberfläche erkennbaren

grammatischen Abhängigkeiten und Relationen, die zwischen den Elementen der Zeichensysteme

eines Kommunikats an der Oberflächenstruktur bestehen“114. In Anlehnung an den Sprachwis-

senschafter Knut Hartmann nennt Große als Kohäsionsmittel in Sprache-Bild-Kombinationen

multimediale Substitution/Referenz, visuelle Rekurrenz und multimediale Querverweise.115

111 Ebda. S. 132.

112 Ebda. 113 Ebda. 114 Ebda. S. 134.

115 Vgl. ebda. S. 135. Vgl. Hartmann Knut: Text-Bild-Beziehungen in multimedialen Dokumenten: Eine Analyse aus Sicht von Wissensrepräsentation, Textstruktur und Visualisierung. Achen: Shaker Verl. 2002. S. 35.

32 III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große

Im Gegensatz zu Großes sonst umfangreich erklärten und an Beispielen vorgeführten Unter-

suchungskriterien erweisen sich ihre Ausführungen zu Kohärenz und Kohäsion als wenig geeignet

für die Analyse von Steiners Sehfläche. Ihre Überlegungen zur Kohärenz erscheinen für Steiners

Sprache-Bild-Koplex zu wage und theoretisch formuliert, um daraus Anhaltspunkte für eine Ana-

lyse gewinnen zu können. Die von Hartmann entlehnten Kohäsionsmittel ermöglichen hinsicht-

lich der Komplexität von Steiners Sehfläche ebenfalls keine sinngebende Anwendung.

Es wird aber mit Große übereingestimmt, dass Kohäsion und Kohärenz zwei zentrale und

fruchtbare Analysekriterien darstellen, die in einem sprachwissenschaftlichen Analysemodell nicht

fehlen sollten. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit für deren Untersuchung auf die

Ausführungen des Sprachwissenschafters Ulrich Schmitz zurückgegriffen.116

Schmitz’ Überlegungen erweisen sich als besonders relevant, weil er auf die spezifischen

Bedingungen von Sehflächen eingeht und gezielt darauf blickt, wie Kohärenz und Kohäsion in

Sprache-Bild-Kombinationen wirksam werden. In Folge stellt Schmitz sinnvolle und anwendbare

Untersuchungskriterien bereit.117 Der Sprachwissenschafter schreibt: „In Zeichengebilden jedwe-

der Art werden Teile auf zweierlei Weise zu Ganzheiten gefügt: Formale Verknüpfungsmittel (Ko-

häsion) unterstützen den semantisch-kognitiven Sinnzusammenhang (Kohärenz)“118. In verbalen

Texten wird Kohärenz vor allem durch Rekurrenz (sprachliche Wiederaufnahme), Proformen und

grammatische Mittel gestiftet, bei Bildern kommen andere Mittel zum Einsatz wie Farbe, Formen

und die Positionierung der einzelnen visuellen Elemente.119 „Auf Sehflächen geht es vor allem dar-

um, semantische Beziehungen zwischen Bild und Text mit formalen Mitteln zu unterstützen.“120

Schmitz nennt unterschiedliche Mittel, die hier wirksam werden:

116 Der Duktus von Große wird hier beibehalten, da Schmitz wie Große den Versuch unternimmt, sprachwissenschaftliche Methoden für Sehflächen zu modifizieren. Wie bei Große werden die Untersuchungskriterien für Kohäsion von einem anderen Sprachwissenschafter entlehnt. Es werden „nur“ die Konzepte ausgetauscht: Statt Hartmanns sind es Schmitz’ Überlegungen, auf die referiert wird. Im Bezug auf die Untersuchung der Kohärenzrelationen wird aufgrund des Mangels einer ausgearbeiteten Modifikation seitens Große ebenfalls auf Schmitz’ Überlegungen zurückgegriffen. Damit wird im Sinne Großes gehandelt, da sie die Analyse von Kohärenz und Kohäsion als wichtigen Beschreibungsaspekt in ihre Analyse aufnimmt.

117 Vgl. Schmitz, Bildlinguistik, S. 23-41.

118 Ebda. S. 34. Kohärenz stellt keine textinhärente Eigenschaft dar, sie muss erst von den BetrachterInnen hergestellt werden. Es handelt sich dabei um einen kognitiven Prozess, bei dem die Botschaft, die Kommunikationssituation und das Weltwissen der BetrachterInnen verknüpft werden. (Vgl.: Isabella Wiederwohl: Verpackungen als multimodale Texte am Beispiel von Schokoladenschleifen. In: „Textsemiotik: Studien zu multimodalen Texten. Hrsg. von Eva Eckkrammer; Gudrun Held. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2006. S. 96ff. Sowie: Große, Bildlinguistik, S. 133.)

119 Vgl. Schmitz, Bildlinguistik, S. 36.

120 Ebda.

III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große 33

Als das grundlegendste Mittel zur Kohärenzherstellung von Sprache und Bild auf einer Sehflä-

che nennt der Autor deren Platzierung auf der Fläche, das Layout. Die wichtigsten Elemente werden

meist zentral platziert, zusammengehörige stehen unmittelbar nebeneinander. Das nächst bedeu-

tende kohärenzstiftende Instrument entstammt ebenfalls dem Arsenal visueller und nicht verbaler

Kohäsionsmittel: „Design, also zielgerichtete Gestaltung von Farbe und Erscheinungsform.“121 Erst

diesen Mitteln zur Kohärenzherstellung nachgereiht, werden Schmitz zufolge sprachliche Kohäsi-

onsmittel relevant, die sich an die visuellen Erfordernisse anpassen. Häufig auf Sehflächen anzu-

treffen ist intermodale Wiederaufnahme (das Bild nimmt das Thema des verbalen Textes wieder auf

oder umgekehrt). „So können Textelemente in die flächig angeordnete Architektur (nicht: linear

sich entwickelnde Grammatik) des Gesamtbildes integriert werden und zur kohärenten Sinnbil-

dung beitragen.“122 Selten kommt auf Sehflächen innersprachliche Rekurrenz vor. Proformen (z.B.

Pronomina) gibt es in Bildern nicht, weil kein visuelles Äquivalent zu den Wortarten existiert. Alle

übrigen grammatischen Mittel sind ebenfalls hinfällig.123

Die Kohäsionsmittel, die Schmitz hier erwähnt, spielen auch in Steiners Sehfläche für die

Herstellung von Kohärenz eine wichtige Rolle.

Kohärenz und Kohäsion in Steiners Sehfläche

Kohärenzstiftung hängt in der Sehfläche von Magdalena Steiner wesentlich vom Vorwissen

der RezipientInnen ab. Ist der Inhalt von Fritz’ Roman bekannt, lassen sich die semantisch-kogni-

tiven Zusammenhänge der verbalen und visuellen Elemente von vornherein eindeutiger erschlie-

ßen. Die Sehfläche ist allerdings so konzipiert, dass auch ohne Kenntnis des Romans Kohärenz

hergestellt werden kann.

Um die semantischen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Elementen der Sehfläche auf-

zudecken, bedarf es eines Anhaltspunktes, von dem ausgegangen werden kann. Dieser Anhalts-

punkt stellt in der vorliegenden Arbeit die bildliche Darstellung der nackten Figur am Kreuz

dar, weil diese durch Positionierung, Größe und Form vermutlich als das zentralste Element der

Sehfläche aufgefasst wird.

Die Abbildung der Gestalt am Kreuz wird intermodal von dem sprachlichen Ko-Text „Rudolf

Hing am Kreuz“ wieder aufgenommen. Bereits hier zeigt sich die gemeinsame Funktionsweise von

Sprache und Bild: Der sprachliche Ko-Text legt die Bedeutung der grundsätzlich polysemanti-

schen bildlichen Darstellung fest; im Gegenzug wird durch visuelle Farb- und Formeindrücke eine

121 Ebda. 122 Ebda.

123 Vgl. ebda.

34 III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große

konkrete Vorstellung für den sprachlichen Ausdruck geliefert. Der sprachliche Ko-Text „Rudolf

hing am Kreuz“ ermöglicht es den RezipientInnen, die nackte Gestalt durch ihre Benennung als

Rudolf zu identifizieren. Weiters kann der bildlichen Darstellung mit oder ohne Kontextwissen die

eindeutige Bedeutung entnommen werden, dass Rudolf am Kreuz hängt.

Kohäsiv durch die räumlich nahe Platzierung mit der Abbildung Rudolfs verknüpft werden

die beiden Sprechblasen mit den sprachlichen Ko-Texten „Wo ist meine Mutter“ und „Warum häng

ich hier am Kreuz?“. Die beiden Sprechblasen sind außerdem eindeutig auf die bildliche Darstel-

lung Rudolfs gerichtet. Mit der Frage „Warum häng ich hier am Kreuz?“ stellt Steiner zusätzlich

einen semantischen Zusammenhang zu der Abbildung von Rudolf am Kreuz her. RezipientInnen

mit dem erforderlichen Weltwissen können die Sprechblasen als visuelle Indikatoren der direkten

Rede erkennen und ihren sprachlichen Inhalt als direkte Äußerungen Rudolfs interpretieren. Die

Proform „ich“ in „Warum häng ich hier am Kreuz?“ rekurriert unmissverständlich auf die Abbildung

Rudolfs. Das Zusammenspiel der bildlich dargestellten Sprechblase, ihres sprachlichen Inhalts und

der Abbildung von Rudolf am Kreuz vermitteln den Eindruck, die am Kreuz hängende Gestalt

würde sprechen, was den Darstellungen eine besondere Lebendigkeit verleiht.

Die Frage „Warum häng ich hier am Kreuz?“ nimmt außerdem, wie der sprachliche Ko-Text

„Rudolf hing am Kreuz“, die bildliche Darstellung Rudolfs am Kreuz intermodal wieder auf und

klärt die Situation, in der dieser sich befindet. Weitere semantisch-kognitive Zusammenhänge be-

stehen zwischen Rudolfs Frage „Warum häng ich hier am Kreuz?“ und deren mehrfacher sprachli-

cher Beantwortung:

„Du kannst kein Instrument spielen“„Du fällst immer hin“„Du kannst nicht rechtschreiben“„Du kannst nicht boxen“„Du bist feig“„Du bist ein Bettnässer“„Sonderschüler“„Du taugst für keinen Kampf“„Du hast immer nur Durchfall“„Du kannst dir keine Zahlen merken“„Du blutest aus der Nase“„Du kannst den Ball nicht auffangen“

Die Kohäsionsmittel Platzierung und Design stiften Kohärenz, indem sie die semantisch-ko-

gnitiven Zusammenhänge dieser verbalen Ko-Texte unterstützen: Steiner positioniert die sprach-

lichen Äußerungen („Du kannst kein Instrument spielen“, „Du fällst immer hin“, Du kannst nicht

rechtschreiben“ usw.) seitlich bzw. direkt unterhalb des abgebildeten Kreuzes. Durch diese grafisch

geschaffene Nähe erhalten die sprachlichen Ko-Texte einen Bezug zur Abbildung Rudolfs, und

können in Folge als Entsprechung auf dessen Frage „Warum häng ich hier am Kreuz?“ gelesen

III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große 35

werden. Das „Du“ in „Du kannst kein Instrument spielen“, „Du fällst immer hin“, „Du kannst nicht

Rechtschreiben“ etc. bezieht sich somit auf das „ich“ in „Warum häng ich hier am Kreuz?“ und

gleichzeitig auf den bildlich dargestellten Rudolf. Die typografische Ähnlichkeit (schwarze Schrift

vor weißem Hintergrund, gleiche Schriftart und Größe) fungiert hier zusätzlich als kohäsives Ver-

knüpfungsmittel.

Derselbe semantisch-kognitive sowie gestalterische Zusammenhang findet sich auch für den

sprachlichen Ko-Text „Du bist zu nichts zu gebrauchen“. Dieser ist wiederum in eine Sprechblase

eingebettet und dadurch sofort als direkte Rede klassifizierbar. Gerichtet, und damit als zugehörig

erkennbar, ist die Sprechblase auf die bildliche Darstellung eines blau ausgemalten Körpers, von

dem außer den Gliedmaßen nur ein Teil des Rumpfs dargestellt ist. Obwohl das Blau des kopflosen

Körpers eine distanzierende Wirkung zu den bräunlich, hautfarbenen Tönen der Rudolf-Darstel-

lung entfaltet, wird Kohärenz durch kohäsive Mittel zwischen diesen Elementen hergestellt: durch

die Ähnlichkeit der Form (zwei menschliche Körper) und durch die räumlich nahe Platzierung.

Kohärenzstiftend wirkt wiederum der semantisch-kognitive Bezug zwischen Frage und Antwort

(„Warum häng ich hier am Kreuz?“ - „Du bist zu nichts zu gebrauchen“).

Kohäsiv mit der bildlichen Darstellung von Rudolf am Kreuz verknüpft werden auch die

schwarzen Pfeile, direkt unterhalb des Kreuzes bzw. daneben. Ein Bezug wird hier durch die räum-

lich angrenzende Positionierung erwirkt. Durch die Einbettung der sprachlichen Ko-Texte in den

Schaft der schwarzen Pfeile werden diese verbalen Elemente zu einem Teil der visuellen. Es ist

fraglich, ob RezipientInnen ohne Vorwissen einen semantischen Zusammenhang zwischen den

schwarzen Pfeilen und den sprachlichen Ko-Texten in ihrem Inneren herstellen können. Wer Fritz’

Text gelesen hat, kann zu dem Schluss kommen, dass die Pfeile symbolisch für die „Schwerkraft

der Verhältnisse“ stehen, wobei die steil nach unten zielenden Spitzen die „Schwerkraft“ symbo-

lisieren, während die sprachlichen Ko-Texte im Schaft der Pfeile stellvertretend die „Verhältnisse“

illustrieren.

Komplex erweisen sich die Relationen zwischen den beiden sprachlichen Ko-Texten „Hilf mir

Mama, hilf mir“, „Wo ist meine Mutter?“, der Abbildung Rudolfs am Kreuz und der bildlichen Dar-

stellung der nackten Frauengestalt rechts neben Rudolf. Die Sprechblase mit der Frage „Wo ist mei-

ne Mutter?“ kann eindeutig Rudolf zugewiesen werden. Erkennbar wird dies einerseits durch die

grafische Platzierung direkt neben Rudolfs Kopf, andererseits durch die Ausrichtung der Sprech-

blase auf Rudolfs Mund. Sprache und Bild weisen Rudolf hier eindeutig als Emittenten einer Bot-

schaft aus. Die Proform „meine“ in „Wo ist meine Mutter?“ bezieht sich dabei unmissverständlich

36 III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große

auf Rudolf. Der Begriff „Mutter“ in derselben Frage knüpft hingegen einen semantisch-kognitiven

Zusammenhang zu der bildlich dargestellten Frauengestalt.

Das Thema „Mutter“ wird durch die abgebildete Frauengestalt intermodal wieder aufgenom-

men. Zugleich stellt das kohäsive Verknüpfungsmittel der nahen räumlichen Platzierung einen Be-

zug zwischen der Sprechblase samt sprachlichem Inhalt und der bildlichen Darstellung der nackten

Frauengestalt her.

Wirklich eindeutig werden diese Kohärenzrelationen aber erst durch den Begriff „Mutter“,

den Steiner direkt neben dem rechten Arm der Frauengestalt platziert und damit unmissverständ-

lich auf diese rekurriert. Anhand dieser grafischen und semantischen Zusammenhänge vermögen

es RezipientInnen der Sehfläche, die nackte Frauengestalt als Rudolfs Mutter zu identifizieren,

nach der ihr am Kreuz hängender Sohn fragt.

Aus diesem Kontext heraus kann auch der sprachliche Ko-Text „Hilf mir Mama, hilf mir“

eingeordnet werden: „Mama“ in „Hilf mir Mama, hilf mir“ rekurriert auf die bildlich dargestellte

Frauengestalt, die durch den Begriff „Mutter“ benannt und von Rudolf als „Mutter“ („Wo ist

meine Mutter?“) bezeichnet wird. „Hilf mir [Mama,] hilf mir“ bezieht sich auf Rudolfs unglückliche

Lage („Warum häng ich hier am Kreuz?“) und konnotiert die kulturelle Präsupposition, dass es zu

den Aufgaben einer Mutter gehört, ihrem Kind in schwierigen Lebenslagen beizustehen. Neben

diesem semantisch-kognitiven Zusammenhang wird auch ein (etwas schwächerer) grafischer Zu-

sammenhang durch die räumliche Platzierung hergestellt. Der sprachliche Ko-Text grenzt direkt

an den Schaft eines schwarzen Pfeils, der selbst wiederum an die Abbildung des Kreuzes angrenzt.

Dadurch erhalten beide Elemente einen Bezug zu der bildlichen Darstellung von Rudolf am Kreuz.

Zwischen Arm und Körper der bildlich dargestellten Frauengestalt platziert und grafisch durch

einen weiße Linie mit ihrem Auge verbunden, findet sich der sprachliche Ausdruck „Berta“. Ba-

sierend auf unserem Weltwissen kann dieser Begriff als Name und somit als Benennung der Frau-

endarstellung begriffen werden. In Folge kann diese sowohl als „Mutter“ als auch als „Berta“

identifiziert werden.

Der Leerraum zwischen den Buchstaben „T, T, E, R“ von „Mutter“ wird weiters durch die

sprachlichen Ko-Texte „Ich lebe noch“, „Ich komme“, „Warte noch“ gefüllt. Durch ihre unmittelbare

räumliche Nähe werden sie mit eben diesem Begriff kohäsiv verknüpft und in weiterer Folge auch

mit der bildlichen Darstellung Bertas. Obwohl hier eindeutige Hinweise auf eine direkte Rede

fehlen (z.B. Anführungszeichen, Sprechblase), kann ein semantisch-kognitiver Zusammenhang

hergestellt werden und Berta als Emittentin der Ko-Texte ausgemacht werden. „Ich lebe noch“, „Ich

komme“, „Warte noch“, kann in diesem Sinne als Antwort auf Rudolfs Frage „Wo ist meine Mutter?“

verstanden werden.

III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große 37

Ebenfalls kohäsiv verknüpft durch ihre räumlich nahe Platzierung mit der bildlichen Darstel-

lung Bertas sind die Abbildungen eines gitterförmigen Objekts, eines kleinen braunen Kreuzes

sowie die Ko-Texte „Versuch“ und „Es waren zwei Königskinder. Den prägenden, modellierenden

Tatzen des Lebens entzogen.“ Semantisch lassen sich allerdings, ohne das nötige Vorwissen, keinerlei

Bezüge herstellen.

Alle diese Elemente124 befinden sich vor einer halbkreisförmigen, braunen Hintergrundfläche,

die von einem schmalen weißen Streifen mit schwarzer Kontur umrandet wird. Besonders dieser

schwarz konturierte, weiße Streifen mit dem anschmiegsamen sprachlichen Ko-Text im Inneren

schafft einen Eindruck der Abgeschlossenheit der Elemente nach innen, bei einer gleichzeitigen

Abgrenzung nach außen zu den restlichen Elementen der Sehfläche.

Diese grafische Gestaltung (braune Hintergrundfläche, weißer umschließender Streifen mit

sprachlichem Ko-Text) nutzt Steiner als kohäsives Mittel, um durch die Ähnlichkeit von Farbe und

Form weitere Zusammenhänge zu schaffen: Direkt unter der bildlichen Darstellung Bertas, aber

durch eine blaue Hintergrundfläche davon getrennt, befindet sich eine weitere braune, halbkreis-

förmige Hintergrundfläche, die ebenfalls durch einen weißen Streifen mit sprachlichem Ko-Text

im Inneren begrenzt wird.

Im Vordergrund dieser braunen Fläche sind mittig zwei menschliche Körper abgebildet. Di-

rekt über ihren Köpfen befindet sich der sprachliche Ko-Text „Rudolf und Klein-Berta“. Unser

Weltwissen (Menschen tragen Namen) sowie die räumlich nahe Platzierung lassen den eindeutigen

Schluss zu, dass die beiden sprachlichen Ausdrücke „Rudolf“ und „Klein-Berta“ auf die menschli-

chen Abbildungen rekurrieren und diese somit benennen. Zwei weiße Kreuze direkt über „Rudolf“

und „Klein-Berta“ werden ebenfalls durch ihre angrenzende Platzierung kohäsiv mit den beiden

Namen, und im Folgenden mit den dazugehörigen menschlichen Abbildungen, verknüpft. Dassel-

be gilt für die schwarzen Pfeile, die direkt an die braune Fläche anschließen bzw. sogar mit dieser

verschmelzen. Die Spitzen der Pfeile richten sich auf den sprachlichen Ko-Text „Aber ich bin kein

schlechter ...“ und binden diesen dadurch grafisch an sich.

Neben den offensichtlichen kohäsiven Verknüpfungsmitteln, wie räumlich angrenzende Plat-

zierung und Ähnlichkeit der Formen, wird Kohärenz auch subtil durch semantische Bezüge ge-

stiftet: Die beiden sprachlichen Ko-Texte „Ich habe meine mißlungene Schöpfung beendet“ und „Es

waren zwei Königskinder“ beziehen sich auf die bildlichen Darstellungen von Rudolf und Klein-

124 Zu diesen Elementen zählen: die Abbildung Bertas, die beiden Begriffe „Berta“ und „Mutter“, das gitterförmige Objekt, das braune Kreuz, die sprachlichen Ko-Texte „Versuch“, „Es waren zwei Königskinder. Den prägenden, modellierenden Tatzen des Lebens entzogen“, „Ich lebe noch“, „Ich komme“, „Warte noch“.

38 III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große

Berta. Dabei werden diese einmal als „mißlungene Schöpfung“ und einmal als „zwei Königskinder“

beschrieben. Es ist allerdings fraglich, ob RezipientInnen, die Fritz’ Text nicht gelesen haben, diese

semantischen Zusammenhänge in Form der intermodalen Wiederaufnahme erschließen können.

Die Zugehörigkeit der Sprechblase mit dem sprachlichen Inhalt „Ich habe meine mißlungene

Schöpfung beendet“ lässt sich hingegen recht eindeutig feststellen. Zum einen durch deren Ausrich-

tung auf die bildliche Darstellung Bertas, zum anderen aufgrund ihrer räumlich nahen Platzierung.

Da die Sprechblase als Indikator der direkten Rede fungiert, kann Berta aufgrund unseres Weltwis-

sens und der kohäsiven Relationen als Emittentin dieser direkten Rede ausgemacht werden.

Weder einen eindeutig gestalterischen noch einen semantischen Bezug zu den restlichen Ele-

menten der Sehfläche besitzt hingegen der sprachliche Ko-Text „Verstünde ich den Krieg, dann

hätte ich ihn verhindert“. Nur wer Fritz’ Roman gelesen hat, kann diese Aussage eindeutig Berta

zuweisen.

Es finden sich noch andere Elemente auf der Sehfläche, die keinen eindeutigen semantisch-

kognitiven und/oder formalen Sinnzusammenhang zu den restlichen Elementen aufweisen. Dazu

zählen der ganz am linken Rand platzierte Ko-Text „Die Schwerkraft der Verhältnisse“, die oval

umrandeten Jahreszahlen „1945 - 1963“, die beiden Pfeile mit den sprachlichen Inhalten „Die

Schwerkraft der Ver[hältnisse]“ und „Das Leben ist doch ein böser Traum?“, die bildliche Darstel-

lung einer undefinierbaren Kontur mit klar erkennbaren Gesichtern im Inneren, der Schriftzug

„Marianne Fritz“ sowie der sprachliche Ko-Text „Marianne Steiner 2011“. Alle diese Elemente sind

bedeutungsoffen, wenn auch bestimmte Mutmaßungen möglich sind. So könnte beispielsweise

der Schriftzug „Marianne Fritz“ aufgrund seiner Gestaltung und Positionierung als Titel der Seh-

fläche aufgefasst werden. Die beiden Pfeile könnten aufgrund ihrer gleichartigen Gestaltung mit

den anderen Pfeilen in Beziehung gesetzt werden und der Schriftzug „M. Steiner 2011“ könnte

aufgrund seiner konventionellen Form als Signatur erkannt werden. Der tatsächliche Sinnzusam-

menhang kann aber nur von RezipientInnen entschlüsselt werden, die mit dem Inhalt von Fritz’

Roman vertraut sind.

Kohärenzstiftung hängt, wie bereits eingangs erwähnt, bei Steiners Sehfläche wesentlich vom

Vorwissen der RezipientInnen ab. Ist dieses gegeben, kann Kohärenz mit Rückgriff auf Fritz’ Ro-

man ohne Probleme hergestellt werden: Die bildliche Darstellung von Rudolf am Kreuz bezieht

sich auf Bertas Albtraum, in dem Rudolf hilflos am Kreuz hängt (Abbildung von Rudolf am

Kreuz, sprachliche Ko-Texte: „Rudolf hing am Kreuz“, „Warum häng ich hier am Kreuz?“). Rudolf

wird von einer Menschenmeute, die ihre Köpfe wie Helme unter dem Arm tragen (Abbildung der

blauen Gestalt sowie des Helms mit Gesichtern im Inneren) seiner Unzulänglichkeiten bezichtigt

III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große 39

(„Du kannst kein Instrument spielen“, „Du fällst immer hin“ usw.). Rudolf bittet seine Mutter um

Hilfe („Hilf mir Mama, hilf mir“, „Wo ist meine Mutter?“), doch Berta (Abbildung der Frauenge-

stalt) steckt in einem Grab fest (braune Hintergrundfläche, braunes Kreuz). Sie will ihrem Sohn

zu Hilfe kommen („Ich lebe noch“, „Ich komme“, „warte noch“), doch sie kann sich nicht aus ihrem

Grab befreien. Berta hat der „Schwerkraft der Verhältnisse“ (Abbildung der Pfeile) nichts entgegen

zu setzen. Als Berta eines Tages Klein-Berta im Schlaf betrachtet, glaubt sie, eine unheimliche Ähn-

lichkeit zwischen ihrer schlafenden Tochter und der Madonna auf einem Bild über ihrem Ehebett

zu erkennen (Abbildung Klein-Bertas in betender Haltung). Der Schlaf hat die Schwerkraft der

Verhältnisse außer Kraft gesetzt („den prägenden, modellierenden Tatzen des Lebens entzogen“). Um

ihre Kinder („Rudolf und Klein-Berta“, „Es waren zwei Königskinder“) dauerhaft vor den Grau-

samkeiten des Lebens zu bewahren („Versuch“), bringt Berta Rudolf und Klein-Berta ums Leben

(Abbildung von Rudolf und Klein-Berta, braune Hintergrundfläche, weiße Kreuze, sprachliche

Ko-Texte: „Ich habe meine mißlungene Schöpfung beendet“, „den prägenden, modellierenden Tatzen

des Lebens entzogen“). Berta kommt in eine Irrenanstalt (Abbildung gitterförmiges Objekt), wo

sich eine alte Frau ihrer annimmt („Das Leben ist doch ein böser Traum?“).

Wer Fritz’ Roman gelesen hat, kann auch die Metainformationen, die Steiner in ihrer Sehflä-

che mitliefert, richtig einordnen: „Marianne Fritz“ bezieht sich auf die Autorin des Romans „Die

Schwerkraft der Verhältnisse“, dessen Geschichte in den Jahren „1945-1963“ spielt. „Magdalena

Steiner 2011“ stellt die datierte Signatur der Künstlerin dar.

Es zeigt sich, dass die Relationen der Sehfläche, die mit kohäsiven Mitteln geknüpft werden,

von allen RezipientInnen unbesehen ihres Vorwissens erschlossen werden können. Die kohäsiven

Verknüpfungsmittel tragen wesentlich zur Herstellung von Kohärenz bei: Sie unterstützen die Er-

schließung der wesentlichen semantisch-kognitiven Zusammenhänge, die für ein grundlegendes

Verständnis der Sehfläche notwendig sind. Mit und auch ohne die Kenntnis von Fritz’ Roman

können drei grundlegende Thematiken der Sehfläche erfasst werden, die Steiner von Die Schwer-

kraft der Verhältnisse aufgreift: 1. Rudolf am Kreuz [bittet um Hilfe, wird seiner Unfähigkeiten

bezichtigt], 2. Die Mutter Berta, 3. [der Tod von]125 Rudolf und Klein-Berta. Um tatsächlich alle

Sinnzusammenhänge der Sehfläche erkennen und diese umfassend verstehen zu können, bedarf es

allerdings der Kenntnis des Inhalts von Fritz’ Roman.

Dies trifft in ganz ähnlicher Weise auch auf die Sprache-Bildfunktion(en) der Sehfläche zu.

125 Die weißen Kreuze, die nackten menschlichen Körper und die grabhügelartige braune Hintergrundfläche können eine Assoziation zum Thema Tod hervorrufen.

40 III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große

5.1.2.2 Bildfunktion(en): Bild- /Sprechakte

Die Bildfunktion definiert Große, mit Rückgriff auf den Semiotiker Umberto Eco, als Kom-

munikationsabsicht des Emittenten, die mit ganz bestimmten durch Konventionen verankerten

Mitteln ausgedrückt wird. Große betont, dass Bilder genau wie Sprache erst durch ihre konkrete

situative Verwendung eine kommunikative Funktion innehaben, diese also nicht von Natur aus

gegeben ist. Mit diesem Fokus auf die konkrete Verwendung von Sprache-Bild-Kombinationen in

einer bestimmten Situation vertritt Große einen pragmatischen Ansatz. Die Pragmatik untersucht,

„welchen Gebrauch die Sprachteilnehmer von den sprachlichen Zeichen machen“126. Die Prämis-

se, von der Große in diesem Zusammenhang ausgeht, lautet: Nicht nur mit Sprache, sondern auch

mit Bildern können Handlungen vollzogen werden.127

Für die Untersuchung der Bildfunktion greift die Autorin auf eine etablierte Theorie der

Pragmatik zurück: die Sprechakttheorie von John Searle, der auf den Erkenntnissen seines Lehrers

John Austin aufbaut. Nach Searle besteht ein Sprechakt aus vier Teilakten: dem Äußerungsakt, dem

propositionalen Akt, dem illokutionären Akt und dem perlokutionären Akt.128

Analog zu Searle unterscheidet auch Große im Bezug auf Bildhandlungen vier Teilakte: den Wahr-

nehmungsakt, den propositionalen Akt, den illokutionären Akt und den perlokutionären Akt.129

Searle stellt weiters fest, „dass ein und derselbe propositionale Gehalt in verschiedenen illoku-

tionären Einkleidungen auftauchen kann“130.

126 Peter Ernst: Germanistische Sprachwissenschaft. Wien: Facultas Verl. 2004. S. 231.

127 Vgl. Große, Bildlinguistik, S. 144.

128 Der Äußerungsakt bezeichnet die reine Äußerung von Wörtern. Der propositionale Akt setzt sich aus der Referenz und der Prädikation zusammen. Erstere bezeichnet die sprachliche Bezugnahme auf Personen, Dinge oder Sachverhalte durch die Verwendung referierender Ausdrücke, zweitere bedeutet das Zusprechen einer Eigenschaft. Der propositionale Akt ist Teil des illokutionären Aktes. Heike Kraxner beschreibt Searles illokutionären Akt als „die kleinste vollständige Einheit der sprachlichen Verständigung des Menschen [...], seine charakteristische Form ist der vollständige Satz.“ Der illokutionäre Akt ist die Handlung des Behauptens, Fragens, Befehlens, Versprechens usw. Der perlokutionäre Akt bezeichnet die Wirkung bzw. Folgen des illokutionären Aktes. Beispielsweise kann der illokutionäre Akt einer Bitte vorgebracht werden, die der Gesprächspartner in Folge erfüllt. Vgl. Heike Maria Kraxner: Entstehung und Entwicklung sprechakttheoretischer Ansätze aus sprachphilosophischer Perspektive. Graz, Univ., Dipl.-Arb. 2001. S. 82. Im Folgenden zitiert als: Kraxner, Sprechakttheorie Vgl. John R. Searle: Geist, Sprache und Gesellschaft. Philosophie in der wirklichen Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. S. 163. Im Folgenden zitiert als: Searle, Geist/Sprache/Gesellschaft. Vgl. John R. Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971. S. 142.

129 Der Wahrnehmungsakt bezeichnet die holistische Wahrnehmung des Bildes. Der propositionale Akt bezeichnet die Zuordnung von Eigenschaften zum Gegenstand. Der illokutionäre Akt bezeichnet die Beziehung, welche die Emittenten zu den RezipientInnen herstellen. Der perlokutionäre Akt bezeichnet die Wirkung auf die RezipientInnen. Vgl. Große, Bildlinguistik, S. 145.

130 Sven Staffeldt: Einführung in die Sprechakttheorie. Ein Leitfaden für den akademischen Unterricht. 2. Aufl. Tübigen: Stauffenburg Verl. 2009. S. 61.

III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große 41

Die Proposition und die Rolle der Illokution können mittels Indikatoren in der syntaktischen

Struktur des Satzes erkannt werden.131 Der Indikator der illokutionären Rolle gibt Aufschluss dar-

über, wie die geäußerte Proposition aufzufassen ist und welcher illokutionäre Akt somit vollzogen

wird. Allerdings sind nicht immer illokutionäre Indikatoren erforderlich, um zu erkennen, welche

Illokution vollzogen wird.132

Auch Bild-Systeme können Große zufolge „einen gleichen propositionalen Gehalt aufweisen,

der aber jeweils situativ aufgrund des Ko-Textes bzw. Kontextes in unterschiedlichen illokutiven

Akten realisiert sein kann“133. Sie zeigt dies am Beispiel von zwei Kamelzeichnungen.

Die Proposition beider Kamelzeichnungen stimmt überein und lautet Kamel. Die Illokution hin-

gegen variiert in beiden Fällen. Die erste Abbildung bezeichnet Große als illokutiven Akt „einer

beschreibenden Feststellung“134, die zweite ordnet sie als „illokutiven Akt der Aufforderung (‘we-

niger zu verbrauchen’)“135 ein.

Wie bei Sprach-Texten gibt es Große zufolge auch bei Bild-Texten Illokutionsindikatoren, die

Hinweise auf die zugrunde liegende kommunikative Funktion geben können. Beispielsweise me-

tagrafische Symbole wie Vektorlinien und Pfeile.136 Wie in der Sprache sind aber auch bei Bildern

keine illokutionären Indikatoren notwendig, um den Illokutionstyp zu erkennen.

Gerade aber der Illokutionstyp ist maßgebend für die Bestimmung der Bildfunktion und steht

daher sowohl in Großes wie auch in der vorliegenden Arbeit im Zentrum der Analyse.137

Große fasst die illokutive Komponente analog zur Sprechhandlung auf und greift wieder auf

Searle zurück, der fünf Illokutionstypen bei Sprechakten klassifiziert.

131 Beispiele für Illokutionsindikatoren sind performative Verben, Satztyp, Intonation, Modalpartikel usw.

132 Vgl. Kraxner, Sprechakttheorie, S. 83ff.

133 Große, Bildlinguistik, S. 145.

134 Ebda.

135 Ebda.

136 Vgl. ebda.

137 Vgl. ebda. S. 144.

Abb.III Kamelzeichnung

Quelle: Große, Bildlinguistik, S. 145. Quelle: Große, Bildlinguistik, S. 145.

Abb. IV Tetra Pak Werbeanzeige

42 III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große

a, Searles Klassifikation der Sprechakte

1. Der Assertiv

Der Assertiv dient dazu, „den Sprecher auf die Wahrheit der Proposition festzulegen“138. Bei-

spiele dafür sind Feststellungen, Beschreibungen, Klassifikationen und Erklärungen. Jeder Assertiv

ist auch der Ausdruck einer Überzeugung und kann wahr oder falsch sein.139

2. Der Direktiv

Der Direktiv soll den Hörer dazu bringen so zu agieren, dass sein Verhalten zum Gehalt des

Direktivs passt. Beispiele für Direktive sind Anordnungen, Befehle und Bitten. Jeder Direktiv ist

Ausdruck des Wunsches, dass der Hörer tut, was den Gehalt des Direktivs ausmacht. Direktive wie

Anordnungen und Bitten können ausgeführt werden oder nicht, befolgt oder missachtet werden

usw.140

3. Der Komissiv

Mit dem Komissiv „legt sich der Sprecher auf die Ausführung derjenigen Handlung fest, die

im propositionalen Gehalt repräsentiert ist“141. Dazu zählen Versprechen, Gelöbnisse, Zusiche-

rungen, Verträge, Garantien und Drohungen. Hinter jedem Komissiv steht der Ausdruck einer

Absicht, etwas zu tun. Komissive können eingehalten, gebrochen, ausgeführt usw. werden.142

4. Der Expressiv

Der Expressiv drückt die Aufrichtigkeitsbedingung des Sprechakts aus, wie Sich-Entschuldi-

gen, Danken, Gratulieren, Willkommen-heißen und Kondolieren.143

5. Die Deklaration

Die Deklaration bezweckt eine Veränderung in der Welt zu bewirken, indem sie „als in dieser

Weise verändert repräsentiert wird“144. Vor allem performative Deklarationen schaffen Sachverhal-

te, indem sie diese als geschaffen repräsentierten. Beispielsweise Äußerungen wie „Ich erkläre sie zu

Mann und Frau“, „Sie sind entlassen“, „Hiermit ist der Krieg erklärt“ usw.145

Große lehnt sich bei der Klassifizierung der Illokutionstypen bildlicher Darstellungen stark an

Searles Sprechakttheorie an, fügt aber mit Rekurs auf Adamzik eine weitere Funktion, die Unter-

haltungsfunktion, hinzu.

138 Searle, Geist/Sprache/Gesellschaft, S. 176.

139 Vgl. ebda.

140 Vgl. ebda. S. 177.

141 Ebda.

142 Vgl. ebda.

143 Vgl. ebda.

144 Ebda. S. 178.

145 Vgl. ebda.

III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große 43

b, Illokutionstypen bildlicher Darstellungen nach Große

1. Repräsentativa

„Beschreibung, Feststellung, Diagnose [...].“146 Repräsentativa kommen Große zufolge häufig

mit einem Begleittext vor. Ein konkretes Beispiel sind Anleitungen.147

2. Direktiva

„Weisung, Anordnung, Befehl, Empfehlung [...].“148 Direktiva kommen aufgrund ihrer Ein-

deutigkeit oft ohne Begleittext aus, wie beispielsweise Verkehrsschilder.149

3. Komissiva

„Versprechen, Werbung [...].“150 Zu den Komissiva zählen beispielsweise Werbeanzeigen. Ko-

missiva besitzen meistens einen erklärenden Begleittext.151

4. Expressiva

„Glückwünsche, Emotionsbekundungen [...].“152 Expressiva setzen vielfach ein bestimmtes

Weltwissen oder Vorwissen der InterpretInnen voraus. Sie werden häufig von einem verbalen Text

begleitet. Beispiele sind Geburtstags- oder Hochzeitskarten.153

5. Deklarativa

„Elemente des nonverbalen Zeichenrepertoires [...].“154 „Der illokutive Akt der Deklarati-

va schafft eine neue Realität, indem er einen bestimmten Sachverhalt neu definiert oder eine

bestimmte Bezeichnung neu einführt.“155 Große nennt hier als Beispiele die Straßenschilder einer

Eisenbahnstraße und einer Einbahnstraße.156

6. Unterhaltungsfunktion

„In Bilderwitzen, Cartoons, Comics [...].“157

Große betont, dass die kommunikative Funktion visueller wie verbaler Zeichensysteme als

das Ergebnis eines Vorgangs aufzufassen ist, an dem die ProduzentInnen und die RezipientInnen

146 Große, Bildlinguistik, S. 151.

147 Vgl. ebda.

148 Ebda.

149 Vgl. ebda.

150 Ebda.

151 Vgl. ebda.

152 Ebda.

153 Vgl. ebda. S. 155.

154 Ebda.

155 Ebda. S. 157.

156 Vgl. ebda.

157 Ebda. S. 141.

44 III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große

gleichermaßen beteiligt sind. Visuellen wie verbalen Zeichensystemen wohnt ihre kommunikative

Funktion nicht schon naturgemäß inne.158

„In Abhängigkeit von den konkreten Verwendungszwecken und Kommunikationssituationen wei-

sen visuelle Zeichen unterschiedliche illokutionäre Funktionen auf und können somit als Mittel

der kommunikativen Verständigung dienen.159

Abb. V Expressiv & Repräsentativ

Vor der Untersuchung der Bildfunktionen von Steiners Sehfläche gilt es, eine grundlegende

Überlegung anzustellen: Für die Analyse der kommunikativen Funktionen der Elemente einer

Sehfläche sind drei Ansätze denkbar, die davon abhängen, welche Rollen Sprache und Bild zuge-

standen werden.

In Schema 1 wird die gesamte Sehfläche als Bildakt bzw. Bildhandlung aufgefasst. Die

Sprechakt(e) bzw. Sprachhandlung(en) werden als nebengeordneter Teil davon verstanden, die

Funktion wird durch den Bildakt bestimmt. Der sprachliche Ko-Text wirkt unterstützend.

In Schema 2 wird die gesamte Sehfläche als Sprechakt aufgefasst. Die Sprachhandlung(en)

erfüllen eine bestimmte Funktion, die von den Bildern unterstützt wird, wobei Bilder als nebenge-

ordneter Teil des Sprechaktes bzw. der Sprechakte verstanden werden.

In Schema 3 wird die Sehfläche als Bild – – Sprechakt(e) aufgefasst. Bild und Sprache werden

dabei als gleichwertige Kommunikationsmittel mit einer gemeinsamen Funktion verstanden.

158 Vgl. ebda. S. 161.

159 Ebda.

Quelle: CoolPhotos.de URL: http://www.coolphotos.de/grusskarten/glueckwunsch-karten/geburtstagskarten_fuer_frauen-0703_06046_ro-sen_zum_geburtstag.html [15.05.2015]

Abb. V kann als expressiver illokutionärer Akt klassifiziert werden. Dieser erfüllt die Funktion positive Empfindungen wie Sympathie, Liebe, Freundschaft o. Ä. zu kommunizieren.Gleichzeitig hat die Sprache-Bild-Kombination eine repräsentative Funktion inne.

Bild – – SprechaktSprechakt

| Bildakt

Bildakt|

Sprechakt

Schema 1: Die Sehfläche wird als Bildakt verstanden.

Schema 2: Die Sehfläche wird als Sprechakt verstanden.

Schema 3: Die Sehfläche wird als Bild-/Sprechakt verstanden.

III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große 45

Wie geht Große vor?

Große bezeichnet eine Sehfläche als Bildakt bzw. als Bildhandlung (Abb. VI), wobei sie

für bildliche Darstellungen in Analogie zu Searles Sprechakttheorie verschiedene Illokutionsty-

pen klassifiziert. Gleichzeitig geht sie aber davon aus, dass Sprache und Bild zwei gleichwertige

Kommunikationsmittel darstellen und „die kommunikative Wirkung des ganzen Sprache-Bild-

Komplexes [...] dabei aus der Summe aller visuellen und verbalen Bestandteile“160 abgeleitet wird.

In ihren praktischen Beispielen führt sie auch vor, wie sprachliche Ko-Texte im Zusammenspiel

mit bildlichen Darstellungen eine gemeinsame Funktion erfüllen. Obwohl Große die Ausdrücke

Bildfunktion und Illokutionstypen bildlicher Darstellungen verwendet, behandelt sie die von ihr als

Bildakt bezeichneten Sehflächen wie Bild – – Sprechakte, die sich sowohl aus Bildakt(en) als auch

aus Sprechakt(en) konstituieren (Abb. VIII).

Es bleibt noch zu erwähnen, dass sich Großes praktische Beispiele durch ihre Simplizität aus-

zeichnen. Große vermag ihre Beispiele als singuläre Bildakte zu behandeln, deren visuelle und

sprachliche Elemente sich als singuläre illokutionäre Akte klassifizieren lassen. Diese illokutionären

Akte können in verschiedenen illokutionären Gewändern auftauchen.

Steiners Sehfläche ist hingegen sehr komplex konzipiert. Verkompliziert wird die Lage noch

durch die notwendige Unterscheidung in zwei Beschreibungsebenen: zum einen die Untersuchung

der isolierten Sehfläche mit der Beschränkung auf alle darauf wahrnehmbaren Elemente, zum an-

deren die Untersuchung der Sehfläche im Kontext von Fritz’ Roman, bei der das Wissen um den

Buchinhalt entscheidend ist.

In der folgenden Analyse wird sich zeigen, dass die Sehfläche sowohl als singulärer Bildakt

aufgefasst als auch in mehrere Bildakte unterteilt werden kann. Dabei können verschiedene Illoku-

tionstypen mit unterschiedlichen Funktionen klassifiziert werden.161

160 Ebda. S. 155.

161 Durch die Wahl simpel gestalteter Analysebeispiele, die sie als singulären Bildakt behandelt, entzieht sich Große einem Problem, das sich bei komplexeren Sehflächen stellt: Aus welchen visuellen Komponenten setzt sich ein Bildakt zusammen, und in Folge, aus wievielen Bildakten besteht die Sehfläche? Searle liefert eine klare Umgrenzung mit seiner Definition des illokutionären Aktes als „die kleinste vollständige Einheit der sprachlichen Verständigung des Menschen“, dessen charakteristische Form der vollständige Satz darstellt. (Searle, Geist/Sprache/Gesellschaft, S. 163). Bei Bildern lässt sich eine solche allgemeine Definition kaum bewerkstelligen, da sie sich aus Linien und Formen zusammensetzen und eine Einheit wie ein „vollständiger Satz“ nicht existiert. In Steiners Sehfläche wird dieses Problem wie folgt gelöst: Dort wo alle bildlichen (und sprachlichen) Elemente als singulärer illokutionärer Akt klassifizierbar sind, wird die Sehfläche als solcher behandelt. In weitere Bildakte wird die Sehfläche dort unterteilt, wo nicht alle Elemente der Sehfläche, sondern nur ein bestimmter Verbund als illokutionärer Akt mit einer bestimmten Funktion in Erscheinung tritt.

46 III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große

Analyse der Bildfunktion(en) in Steiners Sehfläche

Unterhaltungsfunktion

Mehrfach betont Große, dass visuelle wie verbale Zeichensysteme keine kommunikative

Funktion naturgemäß innehaben.162 Die illokutionären Funktionen von Bildern sind abhängig

vom Verwendungszweck und der jeweiligen Kommunikationssituation und werden dadurch zum

„Mittel der kommunikativen Verständigung“163. Auch bei Steiners Sehfläche spielt der Verwen-

dungszusammenhang im Hinblick auf die Bildfunktion(en)164 eine Rolle und soll an dieser Stelle

noch einmal in Erinnerung gerufen werden:

Die Sehfläche ist auf der Rückseite der Wiener Straßenzeitung Augustin aufgedruckt. In-

formation und Unterhaltung zählen zu den grundlegenden Erwartungen, die LeserInnen übli-

cherweise an eine Zeitung stellen, was der Kommunikationsabsicht der ProduzentInnen i.d.R.

entspricht. Eine wichtige Funktion von Steiners Sehfläche stellt somit die Unterhaltungsfunktion

dar. Die Sehfläche bietet umfangreichen Unterhaltungsstoff. Die Vielfalt an visuellen Elementen,

die Farben und Formen, die gestalterische und inhaltliche Konzeption der sprachlichen Elemente

und das Layout bedürfen mehr als eines Blickes, um erfasst und verstanden zu werden. Die Sehflä-

che versammelt eine Vielfalt unterhaltender Informationen auf einem einzelnen Blatt Papier und

vermag es durchaus, die Aufmerksamkeit gewillter BetrachterInnen eine Weile zu fesseln.

Repräsentativ

Weiters fungiert Steiners Sehfläche als repräsentativer illokutionärer Akt, im Sinne einer Be-

schreibung. Dabei macht es einen Unterschied, ob die Sehfläche im Kontext von Fritz’ Roman

betrachtet wird, oder nicht: Im Hinblick auf Die Schwerkraft der Verhältnisse fungiert der

Bildakt als Repräsentation des Romaninhalts – Bilder und Sprache beschreiben gemeinsam Ge-

schehnisse aus Fritz’ Buch und ermöglichen RezipientInnen ein Wiedererkennen des Gelesenen

(sofern diese über das nötige Wissen verfügen).

Als Produzentin des Bildakts kann Steiners Kommunikationsabsicht dahingehend aufgefasst

werden, bestimmte Themen bzw. Aspekte aus Fritz’ Roman aufzugreifen und zu beschreiben. Die

Künstlerin bietet mit ihren bildlichen Darstellungen eine konkrete Beschreibung der vormals rein

sprachlich verfassten Inhalte an. So repräsentiert die Abbildung von Rudolf am Kreuz auf der

Sehfläche den Rudolf von Fritz’ Roman, der in Bertas Albtraum am Kreuz hängt und nach seiner

162 Vgl. Große, Bildlinguistik, S. 161.

163 Ebda.

164 Der Begriff „Bildfunktion“ wird hier von Große übernommen, wobei mit der Sprachwissenschafterin übereingestimmt wird, dass Sprache und Bild gemeinsam eine Funktion erfüllen.

III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große 47

Mutter ruft.165 Mit der Abbildung der blauen, kopflosen Gestalt neben Rudolf bietet Steiner eine

prototypische Beschreibung der Menschen an, die sich in einer Menschentraube um Rudolf ver-

sammelt haben und ihn seiner Unzulänglichkeiten bezichtigen: „Du bist zu nichts zu gebrauchen“,

„Du kannst kein Instrument spielen“, „Du fällst immer hin“ usw.

Die braune Hintergrundfläche mit Kreuz, in deren Mitte die Abbildung Bertas platziert ist,

erinnert an das Grab, in dem Berta in ihrem Traum feststeckt. Die sprachlichen Ko-Texte „Ich lebe

noch“, „Ich komme“, „Warte noch“166 ruft Berta ihrem am Kreuz hängenden Sohn zu, während sie

vergebens versucht, ihrem Gefängnis zu entrinnen. Auch die bildlichen Darstellungen, die Bertas

Kinder beschreiben, sind vor einer braunen Fläche mit Kreuzen platziert. Im Kontext der Ge-

schehnisse von Fritz’ Roman können diese Darstellungen als Repräsentation der Ermordung von

Rudolf und Klein-Berta aufgefasst werden.167 Diese Interpretation lanciert Steiner besonders mit

ihrer visuellen Beschreibung Klein-Bertas. Die betende Haltung und die geschlossenen Augen von

Klein-Berta repräsentieren ein bestimmtes, bedeutungsschweres Ereignis in Fritz’ Roman: Als Ber-

ta ihre Tochter im Schlaf betrachtet, glaubt sie eine unheimliche Ähnlichkeit mit der Madonna auf

dem Bild über ihrem Ehebett feststellen zu können. Berta gelangt zu der Überzeugung, der Schlaf

entziehe ihre Kinder der „Schwerkraft der Verhältnisse“, ein Zustand, den die Mutter dauerhaft

herzustellen versucht.

Mit dem gitterförmigen Objekt beschreibt Steiner die Irrenanstalt, in der Berta nach der Er-

mordung ihrer Kinder einsitzt. Die schwarzen Pfeile, die steil nach unten gerichtet sind, können

als Repräsentation der „Schwerkraft der Verhältnisse“ aufgefasst werden, die Berta im Roman für

alle Leiden verantwortlich macht.168

Wird die Sehfläche isoliert betrachtet, also auf die sie konstituierenden Elemente beschränkt,

erfüllen verschiedene Abbildungen im Bezug auf die sprachlichen Ko-Texte ebenfalls eine reprä-

sentative Funktion: Der sprachliche Ko-Text „Rudolf hing am Kreuz“ wird durch die visuelle Dar-

stellung von Rudolf am Kreuz bildhaft beschrieben. Die beiden Begriffe „Mutter“ und „Berta“ wer-

den durch die Abbildung der Frauengestalt repräsentiert und die sprachlichen Ko-Texte „Rudolf“

und „Klein-Berta“ werden ebenfalls bildhaft durch die Abbildungen zweier menschlicher Körper

beschrieben. Auch der Pfeil mit dem sprachlichen Ko-Text „Die Schwerkraft der Ver[hältnisse]“

kann als Beschreibung eben dieses sprachlichen Elements aufgefasst werden.

165 In ihrer Interpretation von Fritz’ Roman erweitert Steiner gelegentlich dessen Inhalt nach eigenem Ermessen. Z.B. durch den sprachlichen Ko-Text „Hilf mir Mama, hilf mir“, der in Fritz’ Roman so nicht vorkommt.

166 Steiner gibt hier nicht den genauen Wortlaut aus Fritz’ Roman wieder. Dort ruft Berta: „Rudolf! Ich lebe noch! Ich komme! Warte nur! Hab Geduld! Ich werde dich herunterholen! Rudolf!“ (Fritz, Schwerkraft, S. 60.)

167 Steiner bildet hier die Geschehnisse in Fritz’ Roman im „übertragenen Sinn“ ab. Da in Fritz’ Text zwar erzählt wird, dass Berta ihre Kinder betäubt und erdrosselt, aber kein Begräbnis geschildert wird.

168 Bertas Albtraum wird in Fritz’ Roman auf S. 60-63 beschrieben.

48 III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große

Im Zuge dessen können auch alle anderen Pfeile als Beschreibung desselben sprachlichen

Ko-Textes verstanden werden. Wird die Sehfläche isoliert betrachtet, besteht Steiners Kommuni-

kationsabsicht nicht mehr darin, Repräsentationen für den Inhalt von Fritz’ Roman zu erschaffen,

sondern darin, den Inhalt sprachlicher Ko-Texte durch bildliche Darstellungen zu beschreiben.

Ob nun Inhalte aus Fritz’ Roman oder sprachliche Ko-Texte auf Steiners Sehfläche beschrie-

ben werden – stets zeigt sich, wie konstruktiv Bild und Sprache zusammenarbeiten: Die bildlichen

Darstellungen verleihen den virtuellen, durch die Sprache evozierten Vorstellungen eine materielle

Gestalt. Dabei konkretisieren Sprache und Bild gegenseitig ihre Bedeutung und erweitern durch

ihren Bezug aufeinander ihr gemeinsames Ausdruckspotenzial.

Expressiv

Steiners Sehfläche kann außerdem als expressiver illokutionärer Akt klassifiziert werden, wel-

chem die Funktion innewohnt, mittels Farbe, Form und sprachlicher Unterstützung Emotionen

zum Ausdruck zu bringen. Welche Empfindungen aus den Darstellungen herausgelesen werden,

hängt von den InterpretInnen ab. Allerdings kann aufgrund der Darstellungsweise davon ausge-

gangen werden, dass die wahrgenommenen Emotionen negativ konnotiert sind (z.B. Leiden, Ver-

zweiflung, Angst, Resignation o. Ä.). Zum Ausdruck gebracht wird diese negative Emotionalität

mit unterschiedlichen Mitteln:

Gestaltung der Figuren Langgezogene, tlw. unfertige Gliedmaßen; verkrümmte Körper; leidender Gesichtsausdruck.

Farbwahl Ungesättigte, trübe Farben; viel Braun, Schwarz und Blau; Schwarz-Weiß-Kontraste.

Bedeutungsschwere Symbole Kreuze; spitze, nach unten gerichtete Pfeile; gitterartiges Objekt.

Linienführung Scharfe Kanten; starke eingrenzende Konturen.

TypografieFette groß geschriebene Buchstaben; nach unten fallende Buchstaben.

Sprachliche Ko-Texte: Hilfegesuch („Hilf mir Mama, hilf mir“), Kränkungen („Du kannst nicht boxen“, „Du bist feig“, „Du bist ein Bettnässer“ usw.), Hilflosigkeitsbezeugung („Warum häng ich hier am Kreuz?“), Unheil („Ich habe meine mißlungene Schöpfung beendet“), Bedrückendes („Die Schwerkraft der Verhältnisse“).

Wer Die Schwerkraft der Verhältnisse gelesen hat, kann die negative Gefühlswelt, die er-

drückende Schwere, die Steiner mit ihren Darstellungen kommuniziert, in Bezug zu den Gescheh-

nissen des Romans setzen: Fritz thematisiert in ihrem Text Rudolfs geringes Selbstbewusstsein,

seine Selbstzweifel und die unzähligen Demütigungen, die er Tag für Tag über sich ergehen lassen

III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große 49

muss. Sie zeichnet Berta als schwache, grüblerische Persönlichkeit, die in ihrem Bestreben scheitert,

eine gute Mutter zu sein und ihre Kinder zu schützen. In eindrücklichen Worten beschreibt die

Autorin die verhängnisvolle, von Berta als Degradierung empfundene Rückstufung Klein-Bertas

zur Sonderschülerin und lässt die „Schwerkraft der Verhältnisse“, die über allem lastet, in Bertas

Mord an ihren Kindern kulminieren.

Doch selbst wenn das Wissen um die dramatischen Ereignisse in Fritz’ Roman nicht gegeben

ist, erfüllen Steiners Darstellungen unbestreitbar ihre Funktion, starke und negativ konnotierte

Emotionalität zu kommunizieren.

Direktiv & Komissiv

In der Beschreibung der bisherigen drei Illokutionstypen (Unterhaltungsfunktion, Reprä-

sentativ, Expressiv) wurde Großes Vorgehensweise adaptiert und Steiners Sehfläche als singulärer

Bildakt behandelt. Auf diese Art zu verfahren erscheint insofern gerechtfertigt, da alle bildhaften

Elemente mit Unterstützung der sprachlichen Ko-Texte eine gemeinsame Funktion innehaben: Sie

unterhalten, sie beschreiben, sie kommunizieren eine bestimmte Emotionalität.

Es lassen sich allerdings zwei weitere illokutionäre Akte klassifizieren, die jeweils nur einen be-

stimmten Verbund von sprachlichen und visuellen Elementen betreffen. Da diese beiden Element-

Komplexe eine eigene illokutionäre Rolle mit einer bestimmten Funktion innehaben, werden sie

als weitere eigenständige Bildakte behandelt.

Abb. VI Erster Bildakt - Direktiv Abb. VII Zweiter Bildakt - Komissiv

Quelle: Augustin, Sehfläche, S. 21.

50 III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große

Der erste Bildakt lässt sich als direktiver, der zweite als komissiver illokutionärer Akt klassifizieren.

Direktiv

Steiner verleiht der Abbildung Rudolfs eine Stimme. Sie lässt den am Kreuz Hängenden spre-

chen („Wo ist meine Mutter?“, „Warum häng ich hier am Kreuz?“, „Hilf mir Mama, hilf mir“) und

macht ihn so zum Emittenten einer Botschaft mit einer bestimmten Kommunikationsabsicht.

Unter dieser Perspektive lässt sich der Bildakt mit Rudolf am Kreuz als direktiver illokutionärer Akt

klassifizieren, der die Funktion innehat, eine Bitte um Hilfe auszudrücken. Rudolfs Hilferuf wird

explizit durch den direktiven Sprechakt „Hilf mir Mama, hilf mir“ kommuniziert. Als weitere Illo-

kutionsindikatoren fungieren die beiden direkten Reden „Warum häng ich hier am Kreuz?“, „Wo ist

meine Mutter?“, die Unfähigkeitsbezichtigungen „Du kannst nicht boxen“ usw. sowie die grafische

Gestaltung Rudolfs vor dem Hintergrund des Kreuzes. Alle diese Elemente tragen dazu bei, Rudolf

als Leidtragenden, Hilfesuchenden wahrnehmbar zu machen. Als einen Menschen, der sich nichts

sehnlicher wünscht als die Erlösung aus seiner hoffnungslosen Lage. Rudolfs Bitte um Hilfe richtet

sich an jene Person, zu deren ureigensten Aufgaben169 es zählt, ihm zu helfen: seine Mutter.

Komissiv

Steiner verleiht auch der Abbildung Bertas eine Stimme. Sie lässt die Mutter ihrem Sohn ant-

worten: „Ich lebe noch“, „Ich komme“, „Warte noch“. Auch Berta wird hier zur Emittentin einer

Botschaft. Ihre Kommunikationsabsicht besteht darin, ihrem Sohn ihre Hilfe zu versprechen. Der

Bildakt mit Berta im Zentrum kann somit als komissiver illokutionärer Akt klassifiziert werden mit

der Funktion, ein Versprechen auszudrücken. Veranschaulicht wird dieses Versprechen durch die

Abbildung Bertas, versprachlicht durch die Sprechakte. Besonders manifestiert sich Bertas Verspre-

chen in dem komissiven Sprechakt „Ich komme“.

Eine Rolle spielen mag hier auch unser Weltwissen, dass es zu den Aufgaben einer Mutter

gehört, ihre Kinder zu beschützen. Muttersein stellt nicht nur in Bertas Fall, sondern an sich ein

Versprechen dar170: das Versprechen, für die eigenen Kinder zu sorgen, alles für sie zu tun, „einen

schützenden Mantel um sie zu breiten“.

Die Darstellungen von Steiners Sehfläche erfüllen somit mehrere Funktionen, die in der fol-

genden Tabelle noch einmal überblicksmäßig dargestellt werden.

169 Ob gesellschaftlich oder biologisch bedingt sei dahingestellt.

170 „Mutter“, „Mutterschaft“ sind sehr besetzte Begriffe, die mit ganz bestimmten gesellschaftlichen Erwartungen einhergehen. Dies wird sich im Verlauf der Arbeit noch deutlicher zeigen.

III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große 51

Tab. II: Bildakte bzw. Bildfunktionen in Steiners Sehfläche

Bildakt illokutionäre Rolle Funktion EmittentIn AdressatIn

Gesamte Sehfläche

Unterhaltungsfunktion RezipientInnen unterhalten Steiner RezipientInnen

Repräsentativ Romaninhalte beschreiben Steiner RezipientInnen

Expressiv Emotionen ausdrücken Steiner RezipientInnen

Rufolf am Kreuz Direktiv Bitte um HilfeRudolf(Steiner)

Berta(RezipientInnen)

Mutter Berta Komissiv Versprechen zu helfenBerta(Steiner)

Rudolf(RezipientInnen)

Es zeigt sich, dass die Bildfunktion, wenn auch ein komplexes, so doch ein äußerst gewinnbrin-

gendes Untersuchungskriterium darstellt. Inwiefern dies auch auf die Analyse der thematischen

Entfaltung zutrifft, wird sich im nächsten Abschnitt erweisen.

5.1.2.3 Thematische Entfaltung

Als Thema bezeichnet Große den „Gegenstand eines Sprach-Textes bzw. Bild-Textes [...], den soge-

nannten Grund- oder Leitgedanken“171. Das Thema kann entweder über den sprachlichen Ko-Text

erschlossen, oder aufgrund des situativen Kontextes bestimmt werden. In Anlehnung an Brinker

geht Große von vier Möglichkeiten der thematischen Entfaltung aus:

1. die deskriptive, 2 . die narrative, 3. die explikative, 4. die argumentative Themenentfaltung.

a, Die deskriptive Themenentfaltung

Brinker zufolge liegt eine deskriptive Themenentfaltung vor, wenn „ein Thema in seinen Kom-

ponenten (Teilthemen) dargestellt, und in Raum und Zeit eingeordnet [wird]“172. Zentrale thema-

tische Kategorien sind Spezifizierung und Situierung.173 Zur deskriptiven Themenentfaltung einer

Sehfläche zählen laut Große:

„1. die Beschreibung eines einmaligen, historischen Ereignisses, 2. die Beschreibung eines regelhaft dargestellten (generalisierbaren) Vorganges, 3. die Beschreibung eines Lebewesens oder Gegenstandes.“174

Alle drei können als Zeichnungen oder Fotografie umgesetzt sein und beruhen auf dem Ähnlich-

keitsprinzip. Große gibt mehrere Beispiele: die Fotografie zweier Politiker (historisches Ereignis),

das Fotofinish eines 100-Meter Finales (einmaliges Ereignis), die visuellen Instruktionen korrekten

Ruderns (regelhaft dargestellter Vorgang), Dürers Rhinozeros (Beschreibung eines Lebewesens).175

171 Große, Bildlinguistik, S. 167.

172 Brinker, Textanalyse, S. 63.

173 Vgl. Große, Bildlinguistik, S. 168.

174 Ebda.

175 Vgl. ebda. S.169-172.

52 III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große

Die Übergänge zwischen der deskriptiven und narrativen Themenentfaltung sind fließend.

b, Die narrative Themenentfaltung

Brinker unterscheidet die narrative Themenentfaltung von der deskriptiven wie folgt:

„Das Thema wird durch ein abgeschlossenes, singuläres Ereignis repräsentiert, das gewisse ‘Minimalbedingungen von Ungewöhnlichkeit’ (U. M. Quasthoff ) bzw. ‘ein Interessantheitskriterium’ (T. A van Dijk) erfüllt und an dem der Erzähler in irgendeiner Weise beteiligt ist.“176

In Bildern und Sehflächen kommt narrative Themenentfaltung laut Große vor allem in se-

quenziellen Reihungen vor. Sie nennt hier als Beispiele Fotostrecken, Comiczeichnungen, realisti-

sche Fotografien und Zeichnungen.177 Zu den wesentlichen thematischen Kategorien der narrati-

ven Themenentfaltung zählt Brinker die Komplikation (ungewöhnliches Ereignis), die Resolution

(Auflösung in positiver oder negativer Hinsicht), die Evaluation (emotionale Einschätzung), die

Orientierung (situative Bedingungen zu Ort und Zeit) und die Koda (Zukunftsorientierung).178

Beispiel: Urlaubsfoto „Dieses denotiert ein persönliches Urlaubserlebnis der Autorin (Komplikation) aus dem Jahr 2003 in der Toskana (Orientierung), das als schön empfunden wurde (Resolution) und entsprechend positiv emotiv zu bewerten ist (Evaluation), sodass die individuell gestützte Koda abgeleitet werden kann, dass ein solcher Aufenthalt angenehm und, wenn möglich, zu wiederholen sei.“179

c, Die explikative Themenentfaltung

Für die explikative Themenentfaltung zieht Große das wissenschaftliche Erklärungsmodell

von Hempel und Oppenheim heran, „nach dem ein Sachverhalt („Explanandum“) durch die lo-

gische Ableitung aus anderen Sachverhalten („Explanans“), die sich wiederum aus Anfangs- oder

176 Brinker, Textanalyse, S. 68.

177 Vgl. Große, Bildlinguistik, S. 174.

178 Vgl. Brinker, Textanalyse, S. 68.

179 Große, Bildlinguistik, S. 174.

Abb. X Korrektes RudernAbb. VIII Politiker Abb. IX Fotofinish Abb. XI Dürers Rhinozeros

Abb. XII Urlaubsfoto

Quelle: Große, Bildlinguistik, S. 169-172.

Quelle: Große, Bildlinguistik, S. 173.

III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große 53

Randbedingungen (A) und den allgemeinen Gesetzesaussagen (G) zusammensetzen, erklärt

wird.“180 Die explikative Themenentfaltung kommt in Bildern/Sehflächen vor allem in wissen-

schaftlichen Ausführungen vor, die den Wissensstand erweitern sollen, „indem sie die neu einge-

führten Vorgänge oder Sachverhalte verdeutlichen“181. Auch in der Werbung finden sich Bilder/

Sehflächen mit explikativer Themenentfaltung.

Beispiel: Werbeanzeige Audi A4 mit Fünfzylindertechnik. Hier wird anhand von tauziehenden Männern visuell erklärt, dass fünf Männer stärker sind als vier. In Analogie dazu haben auch fünf Zylinder mehr Kraft als vier.

Die explikative Themenentfaltung ist oft schwer von der argumentativen zu unterscheiden.

d, Die argumentative Themenentfaltung

Für die argumentative Themenentfaltung greift Große auf Toulmins Argumentationsmodell

bzw. dessen modifizierte Form von Brinker zurück. Dabei „bilden These (‚claim‘) und Argumente

(‚data‘) die Grundlage des (Sprache-)Bild-Textes, die durch allgemeine Rahmenbedingungen und

stützende Angaben spezifiziert werden“182. Brinker gebraucht hier die Bezeichnungen Schlussregel

(„warrent“), Stützung der Schlussregel („backing“), Modaloperator („qualifier“) und Ausnahmebe-

dingungen („rebuttal“).183

Beispiel: BWM X3 Werbeanzeige „These: Mit dem BMW X3 fährt man besser um Kurven bzw. auch enge Kurven sind mit dem BMW X3 leichter zu befahren (visuell: Gebotsschild, typographisch: „Nur Mut“). 1. Argument: Der BMX X3 hat ein neues Allradantriebsystem (verbal: Sprach-Text). 2. Argument: Durch das Allradantriebsystem wird ein Über- oder Untersteuern vermieden. Schlussregel: Wenn ein PKW ein Allradsystem hat, lässt er sich besser in Kurven steuern (visuell: Gebotsschild und typographisch: „Nur Mut“). Stützung: Das Allradsystem verteilt im Vergleich zu einem PKW ohne Allradsystem die Antriebskraft schneller auf die Achse (verbal: Sprach-Text). Wertbasis: Wenn eine technische Entwicklung notwendig bzw. vorteilhaft und erfolgreich ist, dann ist sie auch positiv zu bewerten.“184

180 Große, Bildlinguistik, S. 174. sowie Brinker 1997, S. 68f.

181 Große, Bildlinguistik, S. 176.

182 Ebda.

183 Vgl. ebda.

184 Ebda. S. 178.

Abb. XIV Werbeanzeige

Quelle: Große, Bildlinguistik, S. 177.

Abb. XIII Tauziehen

Quelle: Große, Bildlinguistik, S. 175.

54 III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große

Welche Themenentfaltung bei Steiners Sehfläche vorliegt, soll im Folgenden mit Hilfe von

Großes Kriterien festgestellt werden.

Thematische Entfaltung bei Steiners Sehfläche

Eine argumentative sowie explikative Themenentfaltung kann ausgeschlossen werden. Es wer-

den weder neu eingeführte Vorgänge bzw. Sachverhalte mit dem Ziel der Wissenserweiterung

erläutert (explikative Themenentfaltung), noch bilden These und Argumente die Grundlage der

Darstellungen der Sehfläche (argumentative Themenentfaltung).

Hinsichtlich der deskriptiven Themenentfaltung fallen zwei der drei aufgezählten Möglich-

keiten weg: Steiners Sehfläche stellt weder die Beschreibung eines regelhaft dargestellten, gene-

ralisierbaren Vorganges dar, noch die Beschreibung eines historischen Ereignisses ( Fritz’ Roman

ist eine fiktive Erzählung). Als zutreffend erweist sich allerdings, dass in der Sehfläche Lebewe-

sen (Rudolf, Berta, Klein-Berta, kopflose Gestalt) und Gegenstände (Kreuze, Pfeile, Gitter, Helm

usw.) beschrieben werden.

Auch die Kriterien für die narrative Themenentfaltung werden erfüllt: Die Sehfläche be-

schreibt ungewöhnliche Ereignisse, die Fritz’ Roman entstammen (Komplikation). Eine Zeitanga-

be „1945-1963“ liegt vor (Orientierung). Emotionen wie Leiden und Verzweiflung werden zum

Ausdruck gebracht, und damit kommt es zu einer Auflösung in eher negativer Hinsicht (Resoluti-

on). Entsprechend bedrückend kann die Sehfläche bewertet werden (Evaluation). Eine von vielen

möglichen daraus ableitbaren Kodas (Zukunftsorientierung) könnte lauten: Die Darstellungen wir-

ken interessant, Fritz’ Roman scheint es wert, gelesen zu werden.

Es kann somit geschlussfolgert werden, dass die Sehfläche sowohl Kriterien für eine deskrip-

tive als auch für eine narrative Themenentfaltung erfüllt. Da Große betont, dass die Grenzen zwi-

schen diesen beiden thematischen Entfaltungsmöglichkeiten fließend sind, kann diese Erkenntnis

so stehen gelassen werden. Es bleibt, Großes letztes Untersuchungskriterium, die Bildsorte, auf die

Sehfläche anzuwenden.

5.1.2.4 Bildsorte

Die Klassifikation von Bildsorten beurteilt Große als kritisch, da weder für Sprach-Texte,

noch für Sehflächen eine „einheitliche Textsortentypologie“185 existiert. Als wesentlich für die Be-

stimmung der Bildsorte ermittelt die Sprachwissenschafterin die Kriterien Funktionalität, Situati-

onalität und Thematizität. Aufgrund der „kommunikativ-funktionalen Sichtweise“186, die Große

185 Ebda. S. 188.

186 Ebda. S. 190.

III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große 55

als wegweisend für ihre Arbeit bezeichnet, legt sie ihrer Bildsorten-Klassifikation Bildhandlungsty-

pen zugrunde und bestimmt folgende Bildsorten:187

„1. Bild-Texte der Information (z.B. Diagramme, Schaubilder, Fotografien), 2. Bilder des Appells (z.B. Verbots- und Gebotsschilder, Verkehrsschilder), 3. Bild-Texte der Obligation (z.B. Werbeanzeigen), 4. Bild-Texte des Kontakts (z.B. Einladungen und Glückwunschkarten), 5. Bild-Texte der Deklaration (Elemente des nonverbalen Zeichenrepertoires), 6. Bild-Texte der Unterhaltung (z.B. Zeichnungen, Cartoons, Comics).“188

Bildsorten-Klassifikation von Steiners Sehfläche

Unter Berücksichtigung der Kriterien, die Große in aller Prägnanz für die Klassifikation von

Bildsorten nennt, lassen sich bereits nach kurzer Überprüfung alle ausschließen, bis auf die Bild-

Texte der Information und die Bild-Texte der Unterhaltung. Bild-Texte der Information ordnet

Große aber eher dem Bereich der Wissenschaften zu. Die Sehfläche von Steiner ist daher als Bild-

Text der Unterhaltung zu klassifizieren. Für diese Einordnung spricht auch der Umstand, dass bei

der Untersuchung der Bildfunktion bereits eine Unterhaltungsfunktion festgestellt wurde.

Die Untersuchungen zeigen, dass mit Großes Analysemodell eine Vielfalt von Informationen

über Steiners Sehfläche gewonnen werden kann. Es gilt nun abschließend, die drei spezifischen

Fragestellungen zu beantworten.

1. Inwieweit werden externe Faktoren der Produktion und Rezeption berücksichtigt?2. Inwieweit werden Sprache-Bild-Relationen berücksichtigt?3. Inwieweit kommt der Inhalt von Fritz’ Roman zum Tragen?

Ad 1. Inwieweit werden externe Faktoren der Produktion und Rezeption berücksichtigt?

Die externen Faktoren von Steiners Sehfläche werden bei dem sprachwissenschaftlichen Ana-

lysemodell von Große ausführlich untersucht. Die Analysekriterien TextproduzentIn, Textrezipien-

tIn, medialer Rahmen, Kommunikationsform und Handlungsbereich berücksichtigen sowohl Fakto-

ren der Produktion wie der Rezeption. Als Textproduzentin kann die Künstlerin Magdalena Steiner

ausgemacht werden. Die RezipientInnen der Sehfläche sind zugleich die LeserInnen der Zeitung

Augustin und können als gebildet, kunst- bzw. kulturinteressiert, sozial engagiert und lesefreudig

charakterisiert werden. Zentral ist die Erkenntnis, dass die Sehfläche mutmaßlich besonders von

Menschen rezipiert wird, die mit dem Inhalt von Fritz’ Roman nicht vertraut sind.

187 Vgl. ebda.

188 Ebda.

Drei spezifische Fragen

56 III. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.1. Sprachwissenschaftliches Analysemodell nach Große

Das Kriterium des medialen Rahmens ermöglicht es, die Sehfläche als monomedial und sta-

tisch zu beschreiben. Als Trägermedium fungiert die Wiener Straßenzeitung Augustin, von der die

LeserInnen üblicherweise Information, Unterhaltung, Aufklärung oder auch Appell erwarten, aber

keine Interaktionsmöglichkeiten. Die Kommunikationsform der Sehfläche lässt sich als monologisch

beschreiben, deren Produktion und Rezeption findet örtlich und zeitlich versetzt statt. Dadurch

haben RezipientInnen i.d.R. keine Möglichkeit, Verständnisprobleme durch Nachfragen zu lösen.

Die Sehfläche lässt sich dem öffentlichen Handlungsbereich zuordnen: Der Augustin zählt zu

den klassischen Printmedien und somit zu den Massenmedien, die diesem Handlungsbereich an-

gehören.

Ad. 2. Inwieweit werden Sprache-Bild-Relationen berücksichtigt?

Auch für die Untersuchung der Sprache-Bild-Relationen stehen in der sprachwissenschaftli-

chen Analyse mittels Kohäsion und Kohärenz ausreichend erkenntnisbringende Mittel zur Verfü-

gung. Vor allem die Untersuchung der Platzierung, des Designs (Farbe und Form), aber auch der

Kohäsionsmittel wie die intermodale Wiederaufnahme helfen dabei, Kohärenz herzustellen. Es

zeigt sich, dass die wesentlichen semantisch-kognitiven Zusammenhänge, die für ein Verständnis

der Sehfläche von Bedeutung sind, mit und ohne Kenntnis von Fritz’ Roman erschlossen wer-

den können. Es finden sich allerdings vereinzelte Elemente, die ohne Kenntnis des Romans zwar

gestalterisch (Platzierung, Farbe, Form) zuordenbar sind, semantisch aber wenig Sinn ergeben.

Wer Fritz’ Text gelesen hat, verfügt hingegen über das nötige Kontextwissen, um alle semantisch-

kognitiven Sinnzusammenhänge zu verstehen.

Die Analysekriterien Kohärenz und Kohäsion ermöglichen es somit, die Sprache-Bild-Relati-

onen von Steiners Sehfläche auf formaler und semantisch-kognitiver Ebene ausreichend zu unter-

suchen. Keinen Aufschluss geben diese allerdings über die hierarchischen Strukturen und Werte

der Elemente.

Ad. 3. Inwieweit kommt der Inhalt von Fritz’ Roman zum Tragen?

Der Inhalt von Die Schwerkraft der Verhältnisse wird im Zuge der Untersuchung der

Bildfunktion thematisiert: Die Analyse der illokutionären Akte bringt die Auseinandersetzung mit

sich, welche Inhalte von Fritz’ Text wie in der Sehfläche beschrieben werden. Zentrale Themen des

Romans, Teile des Handlungsverlaufs und die psychische Verfassung der Hauptcharaktere werden

im Zuge der sprachwissenschaftlichen Analyse aufgedeckt.

Nach Abschluss des sprachwissenschaftlichen Analysemodells nach Große folgt im nächsten

Kapitel das sozial-semiotische Analysemodell nach Kress/van Leeuwen, in dem ein gänzlich ande-

rer Ansatz vertreten wird.

II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen 57

5.2 Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen189

Kress und van Leeuwens Herangehensweise an eine Sehfläche unterscheidet sich grundlegend

von Großes sprachwissenschaftlichem Ansatz. Die beiden Autoren setzen sich explizit davon ab:

„We have not imported the theories and methodologies of linguistics directly into the domain of

the visual, as has been done by others working in this field.“190

Kress und van Leeuwen begründen dies mit ihrer Überzeugung, visuelle und verbale Zei-

chensysteme seien gleichwertig zu behandeln.191 Sowohl Sprache als auch visuelle Kommunikation

brächten dasselbe fundamentale System von Bedeutungen hervor, wenn auch in der jeweils eigenen

spezifischen Form.192 Zudem seien alle Bilder, wie die Sprache, strukturiert, also codiert.193 Zu zei-

gen versuchen sie dies anhand eines Piktogramms, das einen sehr vereinfachten Baum darstellt. Die

Autoren bezeichnen dieses als ein „stylized and conventional, and quite clearly a coded image“194.

Im Zentrum von Kress’ und van Leeuwens Interesse steht die Komposition, da die Platzie-

rung der Elemente diese mit spezifischen „information values relative to each other“195 ausstatte.

Die Komposition nehme auch Einfluss darauf, wie viel Aufmerksamkeit die RezipientInnen den

jeweiligen Elementen schenken bzw. welche als zusammengehörig erkannt werden.196 Die Auto-

ren formulieren drei Kompositionsprinzipien, die sie für alle visuellen Kompositionen als gültig

deklarieren:

1. „Salience“197: Die Elemente einer Komposition (Farbe, Form, Größe, Kontrast usw.) beanspruchen die Aufmerksamkeit der RezipientInnen unterschiedlich stark.

2. „Framing“198: Die Existenz bzw. das Nicht-Vorhandensein einer rahmenden Anordnung trennt oder verbindet Elemente.199

3. „Information Value“200: Wird bestimmt durch die Platzierung der Elemente. Rechts - links; unten - oben.

189 Kress; van Leeuwen, Reading Images.

190 Ebda. S. 19.

191 Die beiden Autoren gehen davon aus, die Übertragung sprachwissenschaftlicher Methoden auf Bilder bedinge eine Auffassung von Bildern als inferiores Zeichensystem. Bei Große bestätigt sich dies nicht. Sie geht in ihrem sprachwissenschaftlichen Analysemodell von demselben Paradigma wie Kress/van Leeuwen aus: Mehrfach betont sie, Bilder und Sprache als gleichwertige Zeichensysteme aufzufassen.

192 Üblicherweise findet sich in der Literatur die Annahme, Sprache sei aufgrund ihrer zweifachen Gliederung codiert, während Bilder polysemantisch und nicht codiert seien, was in Konsequenz oftmals zu der Einschätzung führt, das Visuelle sei dem Verbalen unterlegen.

193 Vgl. Kress; van Leeuwen, Reading Images.

194 Ebda. S. 25.

195 Ebda. S. 176.

196 Vgl. ebda.

197 Ebda.

198 Ebda.

199 Vgl. ebda.

200 Ebda. S. 177.

58 II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen

Die verschiedenen Elemente, die eine Sehfläche konstituieren, sollen nicht einzeln, sondern

hinsichtlich ihres Zusammenwirkens und der Wirkung, welche sie aufeinander ausüben, betrach-

tet werden. „We seek to be able to look at the whole page as an integrated text“201, schreiben die

Autoren. Kress und van Leeuwen vertreten insofern (wie Große) einen breit gefassten Textbegriff,

der sowohl das Verbale als auch das Visuelle umfasst. Die verschiedenen semiotischen Codes einer

Sehfläche werden ihnen zufolge durch einen übergeordneten Code integriert. Dieser übergeordnete

Code schafft zwischen den verbalen und visuellen Elementen einen logischen Zusammenhang.202

Als Schlüsselelement, um diesen Zusammenhang zwischen Sprache und Bild zu erschließen, fun-

giert die Komposition. Entsprechend stellen die Untersuchungskriterien für Kress’ und van Leeu-

wens Analysemodell die drei Kompositionsprinzipien Salience, Framing und Information Value dar.

5.2.1 Salience

Salience kann sinngemäß als „Auffälligkeit“203 übersetzt werden und bezeichnet den Grad der

Aufmerksamkeit, den die einzelnen Elemente einer Sehfläche bei den RezipientInnen erzielen.

Salience kann eine Bedeutungshierarchie kreieren, indem gewisse Elemente als wichtiger und an-

dere als weniger wichtig wahrgenommen werden.204

Die BetrachterInnen einer räumlichen Komposition sind in der Lage, intuitiv die Bedeutsam-

keit der verschiedenen Elemente einer Komposition zu bewerten: je bedeutender, desto auffälliger.

Dabei kann Salience nicht objektiv gemessen werden, „but results from complex interaction, a

complex trading-off relationship“205. Mehrere Faktoren spielen für die Auffälligkeit der Elemente

einer Sehfläche eine Rolle: Größe, Farbe, Schärfe, Kontrast (hohe Kontraste z.B. schwarz-weiß

sind sehr auffällig), Platzierung (je weiter oben bzw. je weiter links desto auffälliger), Perspektive

(Objekte im Vordergrund sind auffälliger als im Hintergrund) und auch kulturelle Faktoren (eine

menschliche Figur bzw. andere bedeutungsgeladene Symbole wirken besonders auffällig).

Komposition bedeutet mehr als formale Ästhetik, ein Gefühl, oder Beeinflussung der LeserIn-

nen, schreiben Kress und van Leeuwen. Komposition ordnet bedeutungsvolle Elemente zu einem

kohärenten Text und folgt dabei den Anforderungen von „mode-specific structures“206, die ihrer-

seits Bedeutung hervorbringen.

201 Ebda.

202 Vgl. ebda.

203 Vgl. bab.la Wörterbuch URL: http://de.bab.la/woerterbuch/englisch-deutsch/salience [14.11.2014].

204 Vgl. Kress; van Leeuwen, Reading Images, S. 201.

205 Ebda.

206 Ebda.

II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen 59

Salience in Steiners Sehfläche

Überragende Salience besitzt auf Steiners Sehfläche die Abbildung einer nackten menschlichen

Gestalt vor dem Hintergrund eines Kreuzes. Dafür sprechen mehrere Gründe: Die Abbildung

stellt sowohl vertikal als auch horizontal das am zentralsten platzierte Element dar. Zudem besitzt

dieses eine überragende Größe. Sowohl die bildliche Darstellung des nackten Körpers als auch das

Kreuz stellen für sich genommen auffallende Formen dar – die Kombination beider Abbildungen

stattet diese zusätzlich mit einer gemeinsamen, tiefergehenden Bedeutung aus.207 Auch die farbliche

Gestaltung unterstützt die Salience der abgebildeten Figur am Kreuz. So hebt sich das helle Rosa

des Körpers vom dunkleren Braun des Kreuzes ab, wodurch ein auffälliger Farbkontrast entsteht.

Nicht zuletzt werden Bilder üblicherweise vor Sprache wahrgenommen.

Das zweite Element, das dem ersten in Auffälligkeit kaum nachsteht, ist die Abbildung einer

nackten Frauengestalt im oberen rechten Bildrand. Diese bildliche Darstellung zieht die Aufmerk-

samkeit der RezipientInnen aus denselben Gründen auf sich wie die Figur am Kreuz. Allerdings

ist die Frauengestalt wahrnehmbar dezentraler platziert und nicht mit einem weiteren bedeutungs-

trächtigen Symbol (Kreuz) kombiniert. Besonders die marginalere Platzierung der Frauengestalt

gibt den RezipientInnen intuitiv zu verstehen, dass diese weniger weight besitzt als die mittig plat-

zierte Abbildung der nackten Gestalt am Kreuz.

Das dritte Element, das deutlich ins Auge fällt, ist die Sprechblase mit dem sprachlichen Ko-

Text „Wo ist meine Mutter?“. Seine Salience erhält dieses sprachliche Element vor allem durch sei-

ne zentrale Platzierung und den starken Schwarz-Weiß-Kontrast: Die großen, dicken, schwarzen

Buchstaben stehen in einem starken Kontrast zu der weißen Hintergrundfläche der Sprechblase,

die zusätzlich mit einer kontrastverstärkenden, schwarzen Kontur hervorgehoben wird.

Zu den auffälligsten Elementen der Sehfläche zählen noch die bildlichen Darstellungen zweier

nackter menschlicher Figuren im unteren rechten Teil der Sehfläche. Auch sie ziehen die Aufmerk-

samkeit der RezipientInnen aufgrund ihrer Farbe und Form auf sich. Ihre Positionierung im unte-

ren Drittel der Sehfläche sowie die geringere Größe mindern allerdings ihre Salience.

Welche Elemente nach diesen fünf beschriebenen wahrgenommen werden, ist sehr schwierig

festzustellen und wird noch mehr von BetrachterIn zu BetrachterIn variieren. Das Auge kann an

verschiedenen Elementen hängen bleiben: Die Abbildung der blauen, kopflosen Gestalt zieht den

Blick aufgrund seiner Größe und Form auf sich. Gemindert wird deren Salience allerdings durch

die marginale Platzierung und die geringe Sättigung der blauen Farbe.

207 Die meisten RezipientInnen werden eine nackte Gestalt am Kreuz mit der Kreuzigung Jesus assoziieren.

60 II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen

Die sprachlichen Ko-Texte „Sonderschüler“, „1965-1963“ und „Berta“ wirken vor allem auf-

fällig durch ihren Schwarz-Weiß-Kontrast, verlieren aber an Salience durch ihre marginale Posi-

tionierung und geringere Größe. Der Begriff „Versuch“ hebt sich von anderen Elementen durch

seine Positionierung und Größe sowie durch den rötlichen Farbton vor weißem Hintergrund ab.

Der rot-weiß Kontrast bleibt aber hinter den Schwarz-Weiß-Kontrasten, die kleineren Buchstaben

bleiben hinter den größeren der Sehfläche zurück. Der Begriff „Mutter“ erregt durch seine größer

werdenden, schwarz konturierten Buchstaben Aufmerksamkeit, ist aber ganz am rechten Rand der

Sehfläche platziert. Die zentralere Platzierung, der Schwarz-Weiß-Kontrast und ihre konventiona-

lisierte Form, verleihen auch den beiden Sprechblasen mit den sprachlichen Ko-Texten „Warum

häng ich hier am Kreuz?“ und „Du bist zu nichts zu gebrauchen“ eine gewisse Auffälligkeit. Allerdings

verlieren diese Elemente durch ihre geringe Größe deutlich an weight. Der Schriftzug „Marianne

Fritz“ könnte ebenfalls aufgrund seiner Größe, Positionierung und konventionalisierten Gestal-

tung eines Titels vor anderen Elementen der Sehfläche wahrgenommen werden. Die ungesättigte

blaue Farbe lässt die Buchstaben allerdings etwas in den Hintergrund treten.

Alle restlichen Elemente der Sehfläche können aufgrund ihrer Platzierung, Größe sowie Farb-

und Formgestaltung als weniger auffällig eingestuft werden.

Die Wahrnehmung der Elemente einer Sehfläche wird aber nicht alleine durch deren Salience

bestimmt. Auch Framing vermag das Auge zu lenken.

5.2.2 Framing

Framing verbindet oder trennt die Elemente einer Komposition. Dabei können sich die Ver-

bindungen als fest oder lose erweisen. Framing kann auf die verschiedensten Arten bewirkt werden.

Trennungen beispielsweise können durch abgrenzende Linien, Weißraum zwischen den Elemen-

ten und Kontraste entstehen. Zusammengehörigkeit kann unter anderem durch verbindende Li-

nien, gleiche Farben und gleiche Formen hergestellt werden.208

Je stärker sich das Framing eines Elements erweist, umso mehr wird es als eine separate Infor-

mationseinheit wahrgenommen. „The absence of framing stresses group identity, its presence sig-

nifies individuality and differentiation.“209 Elemente, die unübersehbar zusammengehören, bilden

gemeinsam eine Informationseinheit.210

208 Kress und van Leeuwen verdeutlichen dies anhand der Doppelseite eines Magazins: In deren oberer Hälfte, auf der linken Seite, ist ein Foto platziert, das in einem leichten Winkel nach oben geneigt ist. Das Auge wird von links, dieser geneigten Linie entlang, auf die rechte Seite geführt. Zudem schafft die konsistente Verwendung der Farbe Gold auf der rechten und der linken Seite einen Zusammenhang (vgl. S. 203).

209 Kress; van Leeuwen, Reading Images, S. 203.

210 Vgl. ebda.

II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen 61

Framing in Steiners Sehfläche

Auf den ersten Blick vermittelt Steiners Sehfläche einen recht ungeordneten Eindruck. Bei

genauerer Betrachtung werden aber Verbindungen und Trennungen erkennbar, die durch Linien,

Farben und Formen geschaffen sind. Das Framing von Steiners Sehfläche bindet verschiedene

sprachliche und bildhafte Elemente eng aneinander und grenzt diese gleichzeitig wahrnehmbar

vom Rest der Sehfläche ab. Dadurch entstehen Verbunde von Elementen, die im Folgenden als

Element-Komplexe bezeichnet werden. Drei dieser Element-Komplexe lassen sich anhand von

Framing auf der Sehfläche unterscheiden:

Zum ersten Element-Komplex zählt die Abbildung der nackten Gestalt am Kreuz. Unver-

kennbar auf diese gerichtet, und dadurch mit ihr verknüpft, sind zwei Sprechblasen mit den

sprachlichen Ko-Texten „Warum häng ich hier am Kreuz“ und „Wo ist meine Mutter“.

Durch angrenzende Linien direkt mit dem Kreuz verbunden sind die länglichen schwarzen

Pfeile, in deren Inneren ebenfalls verbaler Text eingeschlossen ist. Diese sprachlichen Ko-Texte

Abb. XV 3 element-Komplexe

Die drei Element-Komplexe sind jeweils durch eine farbige Kontur gekennzeichnet:

Rudolf am Kreuz Berta Rudolf und Klein-Berta

Quelle: Augustin, Sehfläche, S. 21.

62 II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen

werden durch ihre Einbettung in den Schaft der Pfeile in erster Linie mit den Pfeilen selbst und in

Folge ebenfalls mit dem abgebildeten Kreuz verknüpft.

Auf seiner rechten Seite wird dieser erste Element-Komplex (Gestalt am Kreuz, Pfeile, Sprech-

blasen) recht deutlich von einer orangen, einer blauen und einer braunen Hintergrundfläche be-

grenzt. Der Verbund von Kreuz und Pfeilen wird weiters durch deren gerade Linienführung im

Gegensatz zu den runden Konturen der daneben platzierten Elemente kommuniziert. Die geraden

Linien vermitteln den Eindruck einer konsistenten Linienführung, die sich von den rund geführ-

ten Schwüngen der nebenan befindlichen Elemente unterscheidet und dadurch einen Zusammen-

halt nach innen, bei einer gleichzeitigen Abgrenzung nach außen, bewirkt.

Weiters werden die Elemente rechts neben dem ersten Element-Komplex durch Framing als ei-

gene Entitäten kenntlich gemacht211. Dadurch wird eine klare Trennung zwischen den Elementen

wahrnehmbar, die zum ersten Element-Komplex dazu bzw. nicht dazu gehören.

Auf der linken Hälfte der Sehfläche erweist sich das Framing als merklich schwächer. In Folge

ist es schwieriger festzustellen, ob bzw. welche Elemente links des ersten Element-Komplexes zu

den bereits genannten dieses Verbundes (Gestalt am Kreuz, Pfeile, Sprechblasen) zählen.212

So wird eine Verbindung zwischen der Abbildung der blauen, kopflosen Gestalt und der nack-

ten Gestalt am Kreuz durch die Ähnlichkeit der menschlichen Formen hergestellt, wobei gleich-

zeitig eine Trennung durch die unterschiedlichen Farben der beiden Abbildungen (Blau vs. Rosa)

bewirkt wird.

Eindeutig zugeordnet werden kann hingegen die Sprechblase mit dem sprachlichen Ko-Text

„Du bist zu nichts zu gebrauchen“, da diese sich unverkennbar auf die blaue, kopflose Gestalt rich-

tet. Dieselbe Sprechblase weist weiters eine Verbindung zu der in geringem Abstand über ihr plat-

zierten Sprechblase auf: einerseits durch die nahe Platzierung, andererseits (und vor allem) durch

deren gleichartige Gestaltung (weißer Hintergrund mit schwarzer Kontur, schwarze Großbuchsta-

ben desselben Schriftcharakters). Diese doppelte Verknüpfung durch die Ähnlichkeit der Formen

(1. kopflose Gestalt mit Gestalt am Kreuz, 2. Sprechblase mit Sprechblase) mag die trennende

Wirkung der Farben (Blau vs. Rosa) untergraben.

Ganz ähnlich verhält es sich mit den Pfeilen direkt unterhalb der blauen, kopflosen Gestalt.

Auch diese stehen durch die Ähnlichkeit der Form mit den Pfeilen, die an die Abbildung des Kreu-

zes grenzen, in einem Zusammenhang. Einen trennenden Effekt üben hier allerdings die weiße

211 Eine detaillierte Erklärung dazu folgt in der Untersuchung des zweiten Element-Komplexes.

212 Mit Framing werden nur die sichtbaren Strukturen der Sehfläche untersucht, die semantische Ebene bleibt ausgeklammert. Deshalb kann nicht wie bei Große im Zuge der Untersuchung von Kohäsion und Kohärenz ein eindeutiger semantischer Zusammenhang zwischen der blauen Gestalt mit Sprechblase und Rudolf am Kreuz hergestellt werden.

II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen 63

Hintergrundfläche und der Helm mit den Gesichtern im Inneren aus, da sie eine wahrnehmbare

Distanz zwischen den Pfeilen unter dem Kreuz sowie den Pfeilen unterhalb der blauen, kopflosen

Gestalt herstellen.

Im Gegensatz zum ersten werden alle Elemente des zweiten Element-Komplexes unverkenn-

bar durch Framing miteinander verknüpft und grenzen sich als Verbund sichtbar von den übrigen

Darstellungen der Sehfläche ab.

Teil des zweiten Element-Komplexes ist die Abbildung einer nackten Frauengestalt vor einer

oval-förmigen, braunen Hintergrundfläche. Mit dieser bildlichen Darstellung werden verschie-

dene Elemente durch angrenzende bzw. ineinander übergehende Linien und Flächen verknüpft:

einerseits die sprachliche Benennung „Berta“, die durch einen weißen Streifen direkt mit dem Auge

der Frauengestalt verbunden wird, andererseits ein gitterförmiges Objekt, dessen Form mit den

Armen der Frau verschmilzt. Drittens der Begriff „Mutter“, der sowohl an das gitterförmige Objekt

als auch an den Arm der abgebildeten Frauengestalt angrenzt.

Der sprachliche Ausdruck „Mutter“ und das gitterförmige Objekt werden zusätzlich durch den

gleichen blauen Farbton miteinander verbunden. Zwischen den Buchstaben von „Mutter“ einge-

schlossen, und dadurch mit diesem verknüpft, befinden sich die sprachlichen Ko-Texte „Ich lebe

noch“, „Ich komme“, „Warte noch“.

Alle diese Elemente werden von einem weißen Streifen mit schwarzer Kontur umfasst. Dieser

Streifen schließt die sprachlichen und visuellen Elemente in seinem Inneren zu einer wahrnehm-

baren Einheit zusammen und grenzt sie gleichzeitig nach außen vom Rest der Sehfläche ab. In den

Streifen eingebettet, und dadurch integriert, wird der sprachliche Ko-Text „Es waren zwei Königs-

kinder. Den prägenden modellierenden Tatzen des Lebens entzogen“.

Der Begriff „Versuch“ sowie die Abbildung eines kleinen braunen Kreuzes sind ebenfalls in

den weißen Streifen integriert und werden dadurch mit diesem verknüpft. Das Braun des Kreuzes

schafft zusätzlich eine Verbindung zu dem Braun der Hintergrundfläche.

Diese braune Hintergrundfläche, die die verbalen und visuellen Elemente des Element-Kom-

plexes unterlegt, stiftet zusätzlich Entität und bildet gleichzeitig einen Kontrast zu der blauen Hin-

tergrundfläche, die den ersten und zweiten Element-Komplex voneinander trennt.

Es findet sich noch ein Element, das trotz seiner separierten Platzierung außerhalb des weißen

umschließenden Streifens eindeutig zu den in dessen Inneren befindlichen Elementen gehört. Es

handelt sich dabei um eine Sprechblase mit dem sprachlichen Ko-Text „Ich habe meine mißlungene

Schöpfung beendet“. Diese richtet sich unverkennbar auf den zweiten Element-Komplex und wird

dadurch als diesem zugehörig markiert.

64 II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen

Der dritte Element-Komplex wird, wie der zweite, ebenfalls durch Framing erkennbar vom

Rest der Sehfläche abgegrenzt. Auch die ihm zugehörigen Elemente werden von einem weißen

Streifen umschlossen, der nach innen einen Zusammenhalt bewirkt und den Element-Komplex

nach außen abgrenzt. Umschlossen von diesem Streifen werden die Abbildungen zweier mensch-

licher Körper vor dem Hintergrund einer braunen Fläche. Diese geht ohne erkennbaren Rand in

schwarze Pfeile über, die auf den sprachlichen Ko-Text „Ich bin doch kein schlechter ...“ weisen. Alle

drei Elemente (braune Hintergrundfläche, schwarze Pfeile, sprachlicher Ko-Text) werden so wahr-

nehmbar zu einem Teil des dritten Element-Komplexes.

Unverkennbar mit diesem verbunden, durch die Einbettung in den weißen, umschließenden

Streifen, ist der verbale Ko-Text „Rudolf und Klein-Berta“. Direkt über diesen sprachlichen Benen-

nungen stehen zwei weiße Kreuze, die durch ihre angrenzende Platzierung bzw. Überlappung mit

dem weißen Streifen ebenfalls als zugehörig markiert werden.

Die Zusammengehörigkeit der sprachlichen und visuellen Elemente des dritten Element-

Komplexes wird noch deutlicher durch ihre markante Abgrenzung nach außen: oberhalb durch

eine blaue Hintergrundfläche; rechts durch den rechten Rand der Sehfläche; links durch die Kon-

tur eines schwarzen Pfeils, der zum ersten Element-Komplex gehört und die braune Hintergrund-

fläche des dritten begrenzt; unterhalb durch den unteren Rand der Sehfläche.

Obwohl jeder der drei beschriebenen Element-Komplexe für sich genommen eine wahrnehm-

bare Einheit darstellt, die sich von den übrigen erkennbar abgrenzt, kann zwischen ihnen auch

ein lockerer Zusammenhang festgestellt werden: Alle drei Element-Komplexe folgen dem glei-

chen Farbschema: Braun für die Hintergrundelemente, Rosa für die menschlichen Abbildungen,

Schwarz für den weiß hinterlegten, sprachlichen Ko-Text. Auch die Ähnlichkeit der menschlichen

Formen schafft eine gewisse Verbindung zwischen den vier abgebildeten Menschengestalten.

Der zweite und dritte Element-Komplex wird zudem etwas enger miteinander verbunden

durch die gleichartige Gestaltung der oval-förmigen, braunen Hintergrundfläche, die von einem

weißen Streifen mit sprachlichem Ko-Text im Inneren umschlossen wird.

Der dritte und erste Element-Komplex weisen eine zusätzliche Verknüpfung durch die schwar-

zen Pfeile auf.

Die bisher unerwähnt gebliebenen Elemente weisen keine so eindeutige Verbindung oder

Trennung zu den restlichen Elementen der Sehfläche auf. Sie stehen entweder zwischen mehreren

Elementen oder grenzen an diese, ohne dass hier durch Framing klar erkennbare Bezüge geschaffen

werden. Zu diesen Elementen zählt die Abbildung des Helms mit den Gesichtern im Inneren,

der vor dem Hintergrund einer weißen Fläche ohne nennenswerte Anknüpfungspunkte zwischen

zwei Pfeilen platziert ist. Dasselbe gilt für den sprachlichen Ko-Text „Verstünde ich den Krieg, dann

II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen 65

hätte ich ihn verhindert“, der zwischen dem ersten und dem zweiten Element-Komplex positioniert

ist. Der Schriftzug „Marianne Fritz“ wiederum zieht sich über die gesamte Breite der Sehfläche,

kommt dabei mit verschiedenen anderen Elementen in Berührung, wird aber mit keinem markant

verbunden. Auch der ganz am linken unteren Rand der Sehfläche befindliche sprachliche Ko-Text

„Die Schwerkraft der Verhältnisse“ wird in keiner Weise mit den anderen Elementen der Sehfläche

verknüpft oder markant von diesen getrennt. Besser lässt sich die Jahreszahl „1945-1963“ zuord-

nen, da sie direkt (und ausschließlich) an den Pfeil mit dem sprachlichen Ko-Text „Die Schwerkraft

der Verhältnisse“ angrenzt.

Ob die Elemente einer Sehfläche zusammengehören oder nicht (Framing) und wie auffällig

sie wirken (Salience) steht in einem engen Zusammenhang mit Kress’ und van Leeuwens drittem

Kompositionsprinzip, dem Information Value.

5.2.3 Information Value

Der Information Value besitzt drei mögliche Formen: Given-New, Real-Ideal, Center-Margin

und hängt von der Platzierung der Elemente auf einer Sehfläche ab.

5.2.3.1 The Information Value of left and right: Given-New

Im Zuge der Untersuchung verschiedener Sehflächen213 gelangen Kress und van Leeuwen zu

folgender Annahme: Sofern die Gestaltung einer Sehfläche eine horizontale Achse mit links und

rechts angeordneten Elementen aufweist, werden die links positionierten als Given präsentiert und

die rechts platzierten als New. Given bedeutet, dass ein Element den RezipientInnen bereits be-

kannt und vertraut ist. New impliziert, dass ein Element unbekannt ist, oder aber noch keine

Zustimmung gefunden hat und deshalb nach besonderer Aufmerksamkeit verlangt.214 „Broadly

speaking, the meaning of the New is therefore ‚problematic‘, ‚contestable‘, ‚the information at

issue‘, while the Given is presented as commonsensical, self-evident.“215

Die Struktur von Given-New bezeichnen die Autoren als ideologisch, „in the sense that it

may not correspond to what is the case either for the producer or for the consumer of the image

or layout“216. Wichtig erscheint den Autoren dabei, dass die Information präsentiert werde, als ob

sie diesen Status bzw. Wert für die RezipientInnen innehabe, und die Sehfläche folglich innerhalb

dieser Struktur zu rezipieren sei. Selbst wenn diese Hierarchisierung abgelehnt würde.217

213 Die Beispiele mit denen Kress/van Leeuwen ihr Theorie exemplifizieren sind ein Frauenmagazin, eine Malerei, eine Werbeanzeige, ein Diagramm, ein Interview im Fernsehen, ein Geografie-Schulbuch (S.180-185).

214 Vgl. ebda. S. 181.

215 Ebda.

216 Ebda.

217 Vgl. ebda.

66 II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen

5.2.3.2 The Information Value of top and bottom: Real-Ideal

Werden in einer Sehfläche Elemente, entlang einer erkennbaren vertikalen Achse, oben und

unten platziert, werden die oberen als Ideal und die unteren als Real präsentiert. Ideal bedeutet,

dass ein Element als „the idealized or generalized essence of the information“218 präsentiert wird.

Das Real ist dem Ideal entgegengesetzt durch spezifischere Informationen (z.B. Details), down-to-

earth Informationen (z.B. Fotografien als dokumentierende Indizien oder Karten), oder praktische

Informationen (z.B. Handlungsanweisungen).219

Zwischen Elementen, die vertikal getrennt sind (Ideal-Real) besteht normalerweise weni-

ger Zusammenhang als zwischen horizontal geteilten (Given-New). Stattdessen existiert eine Art

Kontrast, eine Opposition zwischen oben und unten. Der obere Teil tendiert zu einem „emotive

appeal“220, um zu zeigen, was sein könnte. Die untere Sektion tendiert dazu, informativer und

praktisch zu sein, zu zeigen, was ist. Die oben und unten platzierten Elemente können scharf ge-

trennt sein, oder auch einen Zusammenhang erhalten durch verbindende Gestaltungsmittel. Als

Beispiel führen die Autoren eine Website an, deren obere und untere Sektion zwar sichtbar geteilt

ist, aber durch das Farbschema wieder einen Zusammenhang erhält.

Die Ideal-Real-Struktur findet sich (wie Given-New) in diversen Sehflächen. Dabei weisen

viele Kompositionen sowohl eine horizontale als auch eine vertikale Strukturierung auf.221

Neben Ideal-Real und Given-New gibt es eine dritte Hierarchisierungsform: Center-Margin.

5.2.3.3 The Information Value of Center-Margin

Eine Komposition besitzt eine Centre-Margin-Struktur, wenn ein Element zentral in der Mitte

platziert ist (Center) und die anderen Elemente um dieses Zentrum herum angeordnet sind (Mar-

gins). Centered Compositions kommen in unserer westlichen Gesellschaft seltener vor, konstatieren

Kress und van Leeuwen. In anderen Kulturen, wie der asiatischen, stelle Zentrierung hingegen ein

fundamentales organisatorisches Prinzip der visuellen Semiotik dar. Die beiden Autoren vermuten

dahinter das konfuzianische Denken, das eine starke Betonung auf Hierarchisierung, Harmonie

und Kontinuität lege.222 Ein Element als Center zu präsentieren bedeutet, „that it is presented as

the nucleus of the information“223. Die anderen Elemente, die Kress und van Leeuwen als Margins

bezeichnen, sind dem Center untergeordnet und abhängig davon.

218 Ebda. S. 186.

219 Vgl. ebda.

220 Ebda.

221 Kress/van Leeuwen demonstrieren dies an: Website, Schulbuch, Malerei, Diagramm, Magazin (S. 186-194).

222 Vgl. ebda. S. 195.

223 Ebda. S. 196.

II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen 67

Nicht alle Randelemente sind gleichermaßen marginal. Beispielsweise kann eine Kreisstruktur

eine „gradual and graded distinction“224 zwischen Center und Margin bewirken, indem manche

Randelemente näher am Zentrum und andere weiter davon entfernt platziert sind. Wie marginal

die Margins sind, hängt auch von der Größe der Elemente ab und genereller gesagt von der Salience

des Centers.225

Kress und van Leeuwen messen der Positionierung der Elemente auf einer Sehfläche somit ei-

nen zentralen Stellenwert bei, da dieser die visuellen und verbalen Elemente mit einem bestimmten

Informationswert ausstattet. Bestimmte Positionen (rechts-links, oben-unten, Zentrum-Rand)

werden an bestimmte Bedeutungen geknüpft (Given-New, Ideal-Real, Center-Margin).226

Information Value in Steiners Sehfläche

In Steiners Sehfläche gibt es sowohl Center-Margin-Strukturen als auch eine vertikale Trennung.

Center-Margin

Steiners Sprache-Bild-Kombination besitzt drei voneinander unabhängige Centers, auf die sich

bestimmte grafisch bzw. semantisch abhängige Margins beziehen. Es mag nicht verwundern, dass

diese drei Centers mit den jeweilig dazu gehörigen Margins den drei Element-Komplexen entspre-

chen, die bereits in der Untersuchung von Framing besprochen wurden. Ebenso wenig mag es

überraschen, dass sich die drei Centers mit den Elementen der Sehfläche decken, die als most salient

charakterisiert wurden.227

Das auffälligste Center der Sehfläche stellt die Abbildung der nackten Gestalt am Kreuz dar, die

anhand des sprachlichen Ko-Textes „Rudolf hing am Kreuz“ als Rudolf identifiziert werden kann.

Neben ihrer zentralen Positionierung erhält diese Darstellung ihren Stellenwert als Center durch

ihre Salience228. Die Margins, die das Center umgeben, beziehen sich grafisch und/oder semantisch

darauf. Dazu zählen die Sprechblasen mit den sprachlichen Ko-Texten „Wo ist meine Mutter?“ und

„Warum häng ich hier am Kreuz?“; die schwarzen Pfeile mit eingebettetem Ko-Text („Du bist feig“

usw.), die an die Abbildung Rudolfs angrenzen; die Abbildung der blauen, kopflosen Figur mit der

ihr zugehörigen Sprechblase und der sprachliche Ko-Text „Rudolf hing am Kreuz“.

224 Ebda.

225 Vgl. ebda. S. 196-199.

226 Die beiden Autoren betonen, dass diese Bedeutungen kulturell abhängig sind und sich auf die westliche Kultur beschränken.

227 Die grafischen Bezüge zwischen den einzelnen Centers und ihren Margins entsprechen jenen, die im Zuge der Analyse von Framing bereits aufgedeckt wurden. Sie werden daher ohne weitere Erklärungen aufgeführt. Ausführlicher werden dafür noch ausständige Aspekte beschrieben.

228 Die Abbildung ist sowohl vertikal als auch horizontal am zentralsten platziert, besitzt eine überragende Größe, auffallende Formen, kontrastreiche farbliche Gestaltung (Details siehe unter: Salience in Steiners Sehfläche).

68 II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen

Zu den most salient Margins zählen dabei die Sprechblase mit dem

sprachlichen Ko-Text „Wo ist meine Mutter?“ sowie die Darstellung

der blauen, kopflosen Gestalt. Beide stehen durch ihre auffällige

Gestaltung hierarchisch über den anderen Margins.

Alle diese Margins werden, wie im Zuge von Framing bereits

beschrieben, anhand von verbindenden Linien, Flächen, der nahen

Platzierung, der Ähnlichkeit der Formen und/oder dem gleichen

Farbschema mit dem Center verknüpft. Neben diesen grafischen

Bezügen finden sich weitere semantische, die auch ohne Kenntnis

von Fritz’ Roman erschlossen werden können: Die Ko-Texte, die

in den Schaft der schwarzen Pfeile integriert sind, geben Antwort

auf Rudolfs Frage „Warum häng ich hier am Kreuz?“ – „Du kannst

kein Instrument spielen“, „Du fällst immer hin“, „Du kannst nicht

rechtschreiben“ usw. Wobei jedem dieser Ko-Texte das Pronomen

„Du“, das sich unmissverständlich auf Rudolf (Center) bezieht,

vorangestellt wird. Das Gleiche gilt für den sprachlichen Ko-Text „Du bist zu nichts zu gebrauchen“,

der sich in Form einer Sprechblase direkt auf die Abbildung der blauen, kopflosen Gestalt richtet.

Dadurch beziehen sich beide Elemente auf die Abbildung Rudolfs am Kreuz. Der sprachliche Ko-

Text „Rudolf hing am Kreuz“ wiederum bezieht sich in Form einer inhaltlichen Beschreibung des

Centers auf dasselbige.

Wer Fritz’ Roman gelesen hat, kann die semantischen Bezüge noch eindeutiger erschließen:

Die Darstellungen referieren auf Bertas Albtraum, in dem Rudolf am Kreuz hängt und nach sei-

ner Mutter ruft. Um ihn herum hat sich eine Menschentraube versammelt, die ihre Köpfe wie

Helme229 unter den Armen tragen und ihn seiner Unfähigkeiten bezichtigen („Du bist zu nichts zu

gebrauchen“ usw.)

Ihre centered Position macht die Abbildung von Rudolf am Kreuz somit nicht nur grafisch,

sondern auch thematisch zum Zentrum. Die Margins fungieren unterstützend bzw. ergänzend,

indem sie Rudolfs Leiden, seine Unfähigkeiten, sein Bedürfnis nach Hilfe und die „Schwerkraft

der Verhältnisse“ thematisieren.

229 KennerInnen des Romans können die blaue, kopflose Gestalt sowie den Helm als Bestandteile aus Bertas Traum wiedererkennen und einen eindeutigen Bezug zu der Abbildung von Rudolf am Kreuz herstellen.

Abb. XVI Center - Margin

Quelle: Augustin, Sehfläche, S. 21.

II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen 69

Das zweite Center stellt die Abbildung der nackten Frauengestalt dar, die anhand der sprachli-

chen Ko-Texte als „Berta“ und „Mutter“ identifiziert werden kann. Als Center zeichnet diese bildli-

che Darstellung ihre zentrale Positionierung sowie ihre Salience230 aus.

Zu den weiteren Margins, die sich auf die Frauengestalt bezie-

hen, zählen das gitterförmige Objekt, die sprachlichen Ko-Texte,

„Ich lebe noch“, „Ich komme“, „Warte noch“, „Versuch“, „Es waren

zwei Königskinder. Den prägenden, modellierenden Tatzen des Lebens

entzogen“, „Ich habe meine mißlungenen Schöpfung beendet“ und die

braune Hintergrundfläche. Die Frauengestalt stellt sowohl das grafi-

sche als auch das thematische Center dar. Die Margins, die um diese

herum gruppiert sind, übernehmen wiederum eine unterstützen-

de bzw. ergänzende Funktion. Besonders auffällig gestaltet ist der

sprachliche Ausdruck „Mutter“, der zugleich durch seine räumlich

nahe Positionierung eng mit der Frauengestalt verknüpft ist. Die hi-

erarchische Überordnung über die anderen Margins verleiht diesem

sprachlichen Ausdruck ein besonderes Gewicht und weist die Rezi-

pientInnen, auch ohne Vorkenntnis des Romans, auf die zentrale Thematik des Mutterseins hin.

Wer mit dem Inhalt von Die Schwerkraft der Verhältnisse vertraut ist, kann neben den gra-

fischen auch die semantischen Bezüge der restlichen Margins auf das Center entschlüsseln: Bertas

verzweifelte Versuche, ihrem Grab im Traum zu entkommen (braune Hintergrundfläche, Kreuz).

Das Versprechen, ihrem Sohn Rudolf zu helfen („Ich lebe noch“, „Ich komme“, „Warte noch“). Ihr

Versuch, ihre „Königskinder“ „den prägenden, modellierenden Tatzen des Lebens“ zu entziehen sowie

ihre Inhaftierung in der Irrenanstalt (gitterförmiges Objekt).

Das dritte Center auf Steiners Sehfläche stellen die Abbildungen der beiden verbliebenen

menschlichen Gestalten dar. Auch sie erhalten ihre Center-Stellung durch ihre zentrale Positio-

nierung und Salience231. Zu den Margins, die sich um dieses Center herum anordnen, gehören die

schwarzen Pfeile, die sprachlichen Ko-Texte „Rudolf und Klein-Berta“ und „Aber ich bin doch kein

schlechter ...“, die bildlichen Darstellungen der beiden weißen Kreuze sowie die braune Hinter-

grundfläche.

230 Die Abbildung besitzt eine überragende Größe, eine auffällige Form, auffällige Farbkontraste (für Details siehe: Salience in Steiners Sehfläche).

231 Für die Abbildungen von Rudolf und Klein-Berta gilt bezüglich Salience dasselbe wie für die Abbildung Bertas.

Abb. XVII Center - Margin

Quelle: Augustin, Sehfläche, S. 21.

70 II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen

Alle diese Margins sind recht unauffällig gestaltet, Hierarchien lassen sich

keine erkennen. Semantisch übernehmen die Margins allerdings eine bedeu-

tende Rolle: Der Ko-Text „Rudolf und Klein-Berta“ benennt die beiden zen-

tralen menschlichen Figuren. Die weißen Kreuze, die über den Namen und

ebenso über ihren Referenten platziert sind, konnotieren ihren Tod. Diese

Assoziation wird noch durch die braune, grabhügelartige Hintergrundfläche

unterstützt. Wer Fritz’ Text gelesen hat, kann darauf schließen, dass Steiner

hier die Ermordung von Rudolf und Klein-Berta thematisiert.

In Steiners Sehfläche finden sich aber nicht nur Center-Margin-Strukturen

sondern auch eine vertikale Trennung in Real-Ideal.

Real-Ideal

Im Zuge der Untersuchung von Framing wurden drei unterschiedliche

Element-Komplexe auf Steiners Sehfläche festgestellt. Der zweite und dritte

wird entlang einer vertikalen Achse232 in einen unteren und einen oberen

Teil, und damit in ein Real (unten) und ein Ideal (oben), gegliedert.

Diese Real-Ideal Struktur kann allerdings nur von RezipientInnen nach-

vollzogen werden, die mit Fritz’ Roman vertraut sind und die dargestell-

ten Elemente auf der Sehfläche in den Kontext von Die Schwerkraft der

Verhältnisse stellen können: Real ist die Ermordung von Rudolf und Klein-

Berta durch ihre Mutter Berta. Das heißt, mit den Darstellungen des unte-

ren Element-Komplexes referiert Steiner auf Geschehnisse in Fritz’ Roman,

die dort als reales Geschehen erzählt werden: Berta betrachtet eines Tages

ihre Tochter im Schlaf und glaubt eine unheimliche Ähnlichkeit zwischen

Klein-Berta und der Madonna auf dem Bild über ihrem Ehebett festzustel-

len. Der Schlaf, glaubt Berta, habe ihre Tochter der „Schwerkraft der Ver-

hältnisse“ entzogen.233 Diesen Zustand scheint Berta dauerhaft herstellen zu

wollen, denn sie betäubt ihre Kinder und erdrosselt sie.

Den Akt der Tötung stellt Steiner nicht dar. Ihre Darstellungen thematisieren eher den Zustand des

Todes: Die halbkreisförmige braune Hintergrundfläche mutet wie ein Grabhügel an in Kombinati-

on mit den beiden weißen Kreuzen, die für sich genommen als Todessymbol interpretiert werden

können. Über dem „Grabhügel“ stehen, wie auf einem Grabstein, die Namen der Verstorbenen

232 Diese Achse ist merklich schief gebogen, stellt aber eine eindeutige vertikale Trennung dar.

233 Diese Szene visualisiert Steiner mit der Darstellung der betenden Klein-Berta mit geschlossenen Augen.

Abb. XIX Ideal - Real

Abb. XVIII Center - Margin

Quelle: Augustin, Sehfläche, S. 21.

II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen 71

geschrieben. Darunter, wie in der braunen Erde vergraben, befinden sich die Körper der Kinder.

Hinzu kommt der verkrümmt daliegend abgebildete Körper mit den verrenkten Gliedmaßen und

dem verzweifelten Gesichtsausdruck, der problemlos mit Rudolf, dem Sonderschüler, Bettnässer

und Versager assoziiert werden kann. Nicht zuletzt hinterlassen die lang gezogenen Pfeile, die dicht

aneinander gedrängt mit ihren schwarzen Spitzen nach unten zeigen, ein Gefühl der Schwere und

Unausweichlichkeit. Naheliegend scheint, dass diese Pfeile für die „Schwerkraft der Verhältnisse“

stehen, die Berta für alles Leiden verantwortlich macht.

Dem unteren Element-Komplex mit Rudolf und Klein-Berta im Zentrum kann somit augen-

scheinlich der Information Value „Real“ zugesprochen werden.

Komplexer verhält es sich mit dem Ideal, das mit Kress und van Leeuwen im oberen (zweiten)

Element-Komplex verortet werden kann. Auf den ersten Blick scheint es hier allerdings keine Ent-

sprechung zu einem Ideal zu geben, da die Elemente – und hier besonders die Abbildung Bertas –

einen eher düsteren, bedrückenden Eindruck hinterlassen234. Bei einer tiefergehenden Betrachtung

zeigt sich aber, dass das Ideal in Opposition zum Real auf der Sehfläche in Erscheinung tritt.

Um das Ideal zu erfassen, bedarf es einer Auseinandersetzung mit dem Handlungsverlauf von

Fritz’ Roman, genauer: mit Bertas Mutter-Sein. Fritz zeichnet ihre Hauptfigur als eher schwachen

Charakter, nichts desto trotz zeigt sich Berta bestrebt einer „guten“ Mutter zu entsprechen:

„Berta Schrei war dankbar für jede Stunde, in der ihr die Kinder zum Erziehen blieben. Sie erzog mit inniger Hin-gabe, ständiger Aufmerksamkeit, hielt eine Stunde, in der sie ihren beiden Sprößlingen nicht eine wichtige Lehre fürs Leben erteilt hatte, für eine für immer versäumte Gelegenheit, die es zu betrauern galt; klagte, haderte und schalt sich selbst eine schlechte Mutter, schwor sich Besserung bis zur nächsten unverzeihlichen Nachlässigkeit, die sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit wieder gutzumachen trachtete. So erzog sie ihren Nachwuchs mit Eifer bis zum Jahr 1958.“235

Im Jahr 1958 verliert Berta diesen Eifer. Auslöser dafür ist Klein-Bertas als Degradierung emp-

fundene Einstufung zur Sonderschülerin. Bereits zuvor wird klar, dass Berta mit der Erziehung

ihrer Kinder oft überfordert ist. Ihre zweifelhafte Freundin Wilhelmine bezichtigt sie ganz direkt

der Unfähigkeit, ihre Kinder zu erziehen, und betrachtet als Auslöser dafür Bertas „Zweifel- und

Grübelsucht“236. Die Kinder selbst zeigen wenig Respekt vor ihrer Mutter. „Die hat wohl nicht

alle“237, darin sind sie sich einig. Alle Versuche Bertas, ihre Kinder aufzuheitern, scheitern. Jeden

Tag kommen sie aus der Schule nach Hause geschlichen. Die Schultaschen am Boden hinter sich

herziehend verkriechen sie sich in ihr Schlafzimmer und in undurchdringliches Schweigen.

234 Bertas offener Mund, die mageren verzogenen Glieder vermitteln den Eindruck negativer Emotionalität. Die Striche vor ihrem Auge konnotieren Blindheit/Eingesperrt-Sein. Dazu kommt das gitterartige Objekt, das mit Bertas viel zu langen Armen zu verschmelzen scheint.

235 Fritz, Schwerkraft, S. 32.

236 Ebda. S. 30.

237 Ebda. S. 66.

72 II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen

Einen Kulminationspunkt stellen Bertas Albträume dar. In einem von ihnen hängt Rudolf am

Kreuz, während Berta selbst in einem Grab gefangen ist und ihrem Sohn nicht zu Hilfe eilen kann.

Sowohl im Traum wie im wirklichen Leben fühlt sich Berta machtlos gegen die „Schwerkraft der

Verhältnisse“. Sie sieht nur mehr einen Weg, ihre Kinder vor den „prägenden und modellierenden

Tatzen des Lebens“238 in Sicherheit zu bringen: Sie bringt sie ums Leben.

In diesem Handlungsverlauf treffen zwei wesentliche Aspekte aufeinander: Die Realität von

Bertas Versagen als Mutter und ihr Streben danach, ihren Kindern eine „gute“ Mutter zu sein, sie

zu beschützen und vor den Grausamkeiten des Lebens zu bewahren. Ein konkretes Mutter-Ideal

kommt in Fritz’ Roman durch ein Bild ins Spiel, das über Bertas Ehebett hängt und die Abbildung

einer Madonna zeigt. Zu Bertas persönlichem Mutter-Ideal, das ihrer Mutterliebe entspringen

mag, tritt mit dem Bild der Madonna ein kulturell gewachsenes, gesellschaftliches Mutter-Ideal

hinzu.239 Die Faszination, die für Berta von der Madonna ausgeht, mag in ihrer Sehnsucht bedingt

sein, einem Mutter-Ideal zu entsprechen, das für sie (und für alle anderen sterblichen Frauen) un-

erreichbar ist und bleibt.

Die Madonna verkörpert in- und auch außerhalb von Fritz’ Roman ureigenst Liebe und

Schutz.240 Nur ihr kann gelingen, was Berta vergebens versucht: ihre Kinder vor der „Schwerkraft

der Verhältnisse“ zu bewahren.241

Der Begriff „Mutter“ zählt zu den auffälligsten Elementen des oberen Element-Komplexes. Steiner

visualisiert dieses Wort auf sehr interessante Weise. Die Leserichtung der Buchstaben verläuft von

oben nach unten, indes die grafischen Zeichen immer größer werden. Dadurch wird den Schrift-

zeichen eine zusätzliche Bedeutung verliehen: Die Buchstaben scheinen wie von der Schwerkraft

nach unten gezogen zu werden, die Steigerung ihrer Größe kann mit Gewicht und Lautstärke

assoziiert werden. Je näher die Buchstaben räumlich der Darstellung von Bertas toten Kindern

kommen, umso lauter werden sie und umso größer erscheint ihr Gewicht. „Mutter“ wirkt mit

jedem Buchstaben bedeutungsschwerer.

Tatsächlich ist „Mutter“ ein reich mit Nebenbedeutungen besetzter Begriff, an den sich indivi-

duelle und gesellschaftliche Erwartungen, Wertungen und Normen knüpfen. Bis heute obliegt es

traditioneller Weise der Mutter, ihre Kinder zu erziehen und verantwortungsvoll durchs Leben zu

führen, bis diese selbst für sich sorgen können.

238 Ebda. S. 42/S. 54/S. 88.

239 Ob das eine ein Produkt des anderen darstellt, wäre interessant zu untersuchen.

240 In unserem westlichen, christlichen Kulturkreis.

241 Berta stellt eine Verbindung her zwischen der Ähnlichkeit von Klein-Berta im Schlaf mit der Madonna und der Erlösung von der „Schwerkraft der Verhältnisse“.

II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen 73

Dies ist der Punkt, an dem das Ideal im oberen Element-Komplex in Erscheinung tritt: Es knüpft

sich an den Ausdruck „Mutter“, an die idealistische Nebenbedeutung dieses Begriffs. Das Ideal um-

fasst dabei sowohl die persönlichen idealistischen Vorstellungen Bertas von einer „guten“ Mutter

als auch gesellschaftliche ideelle Mutter-Konzepte242, wie sie durch die Madonna repräsentiert wer-

den. Bertas Worte „Ich leben noch“, „Ich komme“, „Warte noch“, die Steiner demonstrativ zwischen

den Buchstaben von „Mutter“ platziert, und damit eng an diesen Begriff knüpft, verleihen Bertas

Willen, ihrem Bestreben, ihrer Sehnsucht Ausdruck, ihre Kinder, wie von einer „guten“ Mutter

erwartet, zu schützen und vor den Grausamkeiten des Lebens zu bewahren. Selbst im Traum bleibt

dies allerdings ein „Versuch“, es bleibt ideal.

Der Handlungsverlauf in Fritz’ Roman kann auch als Warnung seitens der Autorin vor solchen

ideellen Bildern und Konzepten gelesen werden. Denn die tragischen Ereignisse scheinen durch

Bertas Beobachtung ins Rollen gebracht zu werden, dass ihre Tochter im Schlaf eine unheimliche

Ähnlichkeit mit der Madonna auf dem Bild über ihrem Ehebett aufweist. Für Berta drückt die-

se „Madonnenhaftigkeit“ einen Idealzustand aus, der allerdings nur anhält, solange Klein-Berta

durch den Schlaf der „Schwerkraft der Verhältnisse“ entzogen ist. Schockiert muss Berta nach ihrer

Tat feststellen, dass der ewige Schlaf (der Tod) weder ihrer Klein-Berta dauerhaft Ähnlichkeit mit

der Madonna verliehen, noch den toten Rudolf in ein Ebenbild des Jesuskindes verwandelt hat.

Diese gescheiterte, zur Mörderin statt zur Beschützerin gewordene Mutter Berta visualisiert

Steiner mit der Abbildung der nackten Frauengestalt im oberen Element-Komplex. Diese Dar-

stellung und auch die Darstellung der toten Kinder im unteren Element-Komplex stehen als reale

Geschehnisse in Fritz’ Roman in Opposition zum Ideal der „guten“ Mutter, das vor allem durch

den Begriff „Mutter“, aber auch durch die sprachlichen Ko-Texte „Ich lebe noch“, „Ich komme“,

„Warte noch“ transportiert wird.

242 Besonders im 19. Jahrhundert, mit der Entstehung der Kleinfamilie und der bürgerlichen Familienideologie, kommt es zu einer Verherrlichung der Frau als Mutter. Die Kulturanthropologin Heidi Rosenbaum weist darauf hin, dass das bürgerliche Familienideal eine Ideologie jenseits der sozialen Realität darstellt. Das Idealbild der bürgerlichen Frau wies diese ganz dem häuslichen Bereich zu: der Erziehung und Behütung ihrer Kinder. Die Vorstellung, eine Frau könnte ihr eigenes Kind ermorden, wird in dieser Zeit zu einem Tabu, das sich auch in der Literatur niederschlägt. Obwohl diese „alten“ gesellschaftlichen Idealvorstellungen und Konzepte von Mutterschaft heutzutage nicht mehr so offensichtlich präsent sind, wirken sie neben anderen „moderneren“ doch weiter fort. Die kulturanthropologische Frauenforschung bzw. Jugend- und Lebensstilforschung haben sich intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt. Sie weisen auf die inneren Konflikte hin, welche solche aufeinander prallenden „alten und neuen“ Konzepte vom idealen Frau- und Mutter-Sein, besonders bei jungen Frauen, bewirken können Vgl. Heidi Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982, S. 258. Vgl. Helga Bilden; Angelika Diezinger: Historische Konstitution und besondere Gestalt weiblicher Jugend – Mädchen im Blick der Jugendforschung. In: Handbuch Jugendforschung. Hrsg. von Krüger Heinz-Hermann. Opladen 1993. Vgl. Elisabeth Badinter: Der Konflikt. Die Frau und die Mutter. München: C.H. Beck 2010).

74 II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen

Es kann somit resümiert werden, dass Steiners Sehfläche tatsächlich eine Real-Ideal-Struktur

aufweist, wobei das Ideal nur als Teil des oberen Element-Komplexes in Erscheinung tritt.

Neben der Frage, welche Bedeutungen die Komposition einer Sehfläche hervorbringt, setzen

sich Kress und van Leeuwen auch damit auseinander, wie Kompositionen „gelesen“ werden.

5.2.4 Reading Path: Linear and non-Linear Compositions

Kress und van Leeuwen unterscheiden sprachliche Texte bzw. Sehflächen, die linear gelesen

werden müssen - von links nach rechts, Zeile um Zeile (lineare Komposition) und sprachliche

Texte bzw. Sehflächen, bei denen keine strikte Leserichtung vorgegeben ist. Ein typisches Beispiel

für solche Sehflächen sind Webseiten (nicht-lineare Komposition).

Die beiden Autoren betonen, es gebe bei Kompositionen, die keine strikt codierte Lesart vo-

raussetzen, verschiedene mögliche Lesarten. „Different readers may follow differnt paths.“243 Der

Reading Path wird sowohl von den RezipientInnen bestimmt als auch (und vor allem) von der

Struktur des sprachlichen Textes bzw. der Sehfläche. Salience und Framing spielen dabei eine we-

sentliche Rolle. So nehmen manche sprachlichen Texte bzw. Sehflächen die RezipientInnen regel-

recht an die Hand und führen das Auge von einer Stelle zur anderen. Andere wiederum geben kei-

nerlei Hinweise, sie lassen es völlig offen, wo das „Seh-Lesen“ begonnen, fortgesetzt und beendet

wird.244

Ein möglicher Reading Path von Steiners Sehfläche

Steiners Sehfläche stellt eine nicht-lineare Komposition dar. Das bedeutet, die Konzeption der

Sehfläche erzwingt kein „Seh-Lesen“, das sich von links nach rechts richtet. Es kann daher nur ein

möglichst plausibler Reading Path ausgemacht werden. Eine unverzichtbare Hilfestellung bieten

hierbei die Untersuchungen zu Salience und Framing. Diese geben Aufschluss über die Hierarchien

und Zusammenhänge der Elemente und liefern damit Hinweise, welche Elemente die größte Auf-

merksamkeit erregen und wie das Auge von einem zum anderen gelangt.

Die größte Aufmerksamkeit zieht vermutlich die Abbildung der nackten Gestalt am Kreuz auf-

grund ihrer Salience auf sich. Von dort wird das Auge über die Sprechblase und den sprachlichen

Ko-Text „Wo ist meine Mutter?“ weiter geführt zu der Abbildung der nackten Frauengestalt und den

beiden sprachlichen Begriffen „Berta“ und „Mutter“, die durch Framing direkt mit dieser verbun-

den sind. Die Abbildungen der beiden menschlichen nackten Figuren unterhalb der dargestellten

Frauengestalt werden den Blick aufgrund ihrer Salience als nächstes auf sich ziehen.

243 Ebda. S. 205.

244 Vgl. ebda. S. 206.

II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen 75

Wohin die Augen fortan wandern ist schwierig zu sagen, da weder Salience noch Framing eine

bestimmte Richtung vorgeben. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass der weitere Reading Path

von RezipientIn zu RezipientIn deutlich variiert.

Denkbar wäre es, dass der Blick auf die schwarzen Pfeile unterhalb des Kreuzes als nächst platzierte

Elemente fällt, von dort aus zurück zu der Gestalt am Kreuz wandert und weiter zu der kopflosen

blauen Figur. Er könnte weiter über die Sprechblase mit dem sprachlichen Ko-Text „Du bist zu

nicht zu gebrauchen“ zu der Sprechblase „Warum häng ich hier am Kreuz?“ gelangen und von dort

zu dem sprachlichen Ko-Text „Marianne Fritz“ geleitet werden.

Genauso möglich wäre es, dass der Blick von der Abbildung der beiden nackten Gestalten direkt zu

der blauen kopflosen Figur springt und von dort nach unten zu den Pfeilen mit dem sprachlichen

Ko-Text „Die Schwerkraft der Verhältnisse“ und „Das Leben ist doch ein böser Traum“ gelenkt wird,

worauf er, über den Helm mit den Gesichtern im Inneren, zu den schwarzen Pfeilen unterhalb des

Kreuzes wandert. Andere Varianten sind ebenso plausibel.245

Nach Abschluss der Analyse gilt es, die drei spezifischen Fragestellungen zu beantworten.

1. Inwieweit werden externe Faktoren der Produktion und Rezeption berücksichtigt?2. Inwieweit werden Sprache-Bild-Relationen berücksichtigt?3. Inwieweit kommt der Inhalt von Fritz’ Roman zum Tragen?

Ad 1. Inwieweit werden externe Faktoren der Produktion und Rezeption berücksichtigt?

Externe Faktoren werden bei Kress und van Leeuwen ganz außer Acht gelassen.

Ad 2. Inwieweit werden Sprache-Bild-Relationen berücksichtigt?

Mit Salience und Framing werden sowohl die grafischen Zusammenhänge zwischen den ein-

zelnen Elementen einer Sehfläche betrachtet als auch deren hierarchische Strukturen. Salience

zeigt, welche Elemente besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und damit als bedeutungsvoll

wahrgenommen werden bzw. welche Elemente als eher unscheinbar und dadurch nebensächlicher

empfunden werden. Framing wiederum deckt die sichtbaren Beziehungen zwischen den Elemen-

ten auf und kann zeigen, mit welchen Mitteln Verbindungen und Trennungen auf einer Sehfläche

geschaffen werden. Beide können darüber Aufschluss geben, wie der Blick der Betrachterin bzw.

des Betrachters über die Sehfläche wandert, und ermöglichen es somit, einen plausiblen Reading-

Path festzustellen.

245 Mit Hilfe von Eye-Tracking ließen sich hier genauere Aussagen treffen.

Drei spezifische Fragen

76 II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.2. Sozial-semiotisches Analysemodell nach Kress/van Leeuwen

Von den sprachwissenschaftlichen Untersuchungskriterien Kohärenz und Kohäsion unterschei-

den sich Kress und van Leeuwens Kriterien Salience und Framing einerseits durch ihren Fokus auf

die sichtbaren Relationen (semantische Zusammenhänge werden außer Acht gelassen). Anderer-

seits wird gezielt versucht, hierarchische Strukturen der Sehfläche aufzudecken.

Ad 2. Inwieweit kommt der Inhalt von Fritz’ Roman zum Tragen?

Für die Analyse des Information Value erweist es sich als unabdingbar, den Inhalt von Fritz’

Roman in die Untersuchungen mit einzubeziehen. Besonders trifft dies auf die Analyse der

Real-Ideal-Struktur zu. Diese kann nur im Bezug auf die Ereignisse entschlüsselt werden, die in

Fritz’ Roman erzählt werden. Für das Erfassen des Real in Steiners Sehfläche bedarf es der Ausei-

nandersetzung mit Bertas Mord an ihren Kindern, für das Ideal hingegen ist die Erörterung von

Bertas Mutterrolle bzw. der Mutter-Ideale ausschlaggebend. Mit der Untersuchung von Real-Ideal

werden somit Aspekte aus Fritz’ Roman vertiefend betrachtet, die zu den Dreh- und Angelpunkten

der Erzählung gehören.

Auch die Center-Margin-Strukturen der Sehfläche können in ihrer ganzen Bedeutung nur

mit Rückgriff auf den Handlungsverlauf von Die Schwerkraft der Verhältnisse erfasst werden,

da hier die semantischen Bezüge zwischen Center und Margin eine tragende Rolle spielen. Diese

können aber nur mit dem Wissen um die Geschehnisse in Fritz’ Roman umfassend verstanden

werden. Dabei werden verschiedene Themen aus Die Schwerkraft der Verhältnisse aufgezeigt:

Bertas Rolle als Mutter, ihre Bestrebungen, ihre Kinder vor der „Schwerkraft der Verhältnisse“ zu

schützen, ihr Traum von Rudolf am Kreuz, Rudolfs Leiden, Bertas Scheitern, der Mord an Rudolf

und Klein-Berta, Bertas Inhaftierung in der Irrenanstalt.

Das letzte Untersuchungsmodell, das in dieser Arbeit vorgestellt wird, stellt das rezeptive

Analysemodell des Medienwissenschafters Hans Jürgen Bucher dar. Interessant ist Buchers Zugang

zu Sprache-Bild-Kombinationen. Der Medienwissenschafter vertritt einen pragmatischen Ansatz

und wendet sich vor allem den NutzerInnen von Sehflächen zu. Er stützt sich dabei auf die empi-

rische Rezeptionsforschung.

II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.3. Rezeptionsästhetisches Analysemodell nach Bucher 77

5.3. Rezeptives Analysemodell nach Hans Jürgen Bucher246

Bucher führt den Begriff Textdesign für Bild-Sprache-Kombinationen ein. Der Medienwis-

senschafter äußert sich nicht explizit zu seinem Text- bzw. Bildverständnis, sein Begriff Textdesign

deutet aber darauf hin, dass er wie Große, Kress und van Leeuwen einen weit gefassten Textbegriff

vertritt, der sowohl sprachliche als auch visuelle Elemente umfasst.

Bucher zufolge kann Textdesign Kontexte und Kohärenz schaffen, indem dieses als Mittel dazu

von den RezipientInnen verstanden wird. Somit fungiert Textdesign als Werkzeug, mit dessen

Hilfe der Kommunikator den AdressatInnen zu verstehen gibt, in welcher Weise er bzw. sie diese

zu beeinflussen beabsichtigt.247 „Löst ein Gestaltungselement beim Rezipienten keine Assoziation

mit einer kommunikativen Absicht aus, so war das Textdesign nicht erfolgreich und kann gege-

benenfalls zu Missverständnissen und Verstehensproblemen führen.“248 Bucher vertritt also den

funktionalen Grundgedanken, jedes gute Design besitze eine erkennbare Funktion.

Der Medienwissenschafter unterteilt Kommunikationsangebote in lineare und non-lineare249,

wobei letztere auf zwei unterschiedliche Weisen genutzt werden können: „[...] die ungerichtete

Rezeption beim so genannten Flanieren (Activity Mode) und die gerichtete Rezeption beim ziel-

orientierten Suchen und Recherchieren (Goal Mode).“250 Im Goal Mode bestimmt die Nutzungs-

intention darüber, welche Elemente rezipiert werden. Im Activity Mode hingegen sind die optisch

herausstechenden Gestaltungselemente ausschlaggebend für die Rezeption. Bucher schlussfolgert,

dass non-lineare Kommunikationsangebote keine bestimmte Bedeutung haben, diese wird erst

durch die NutzerInnen generiert.251 „Die Interpretation eines non-linearen Angebotes ist deshalb

nicht ein Entschlüsseln von komplexen Zeichen, sondern eine Sequenz von Aneignungshandlun-

gen, die mit bestimmten Intentionen vollzogen werden. Intentionalität wird auch dem Design des

Angebots selbst unterstellt.“252

In semiotischer Hinsicht wird der Sinn eines Zeichens, ob sprachlich, typografisch oder visu-

ell, nicht aus diesem selbst abgeleitet, er ergibt sich erst Schritt für Schritt „aus der Rekonstruktion

seiner kommunikativen Einbettung“253.

246 Bucher, Textdesign.

247 Vgl. ebda. S. 62.

248 Ebda. S. 63.

249 Diese Unterscheidung entspricht derjenigen von Kress un van Leeuwen in linear und non-linear compositions und kann dort nachgelesen werden (siehe: 5.2.4 Reading Path).

250 Bucher, Textdesign, S. 68.

251 Vgl. ebda.

252 Ebda.

253 Ebda.

78 II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.3. Rezeptionsästhetisches Analysemodell nach Bucher

Bei linearen Kommunikationen stehen die RezipientInnen vor der Aufgabe, den Zusammen-

hang zwischen Beitrag A und B zu verstehen. In non-linearen Kommunikationen muss erst gesehen

werden, dass es überhaupt einen Zusammenhang gibt.254 „Die Indizierung dieser Zusammenhänge

übernimmt das Design der Kommunikation oder der Text. Nicht-lineare Kommunikationsfor-

men erweitern damit das Verstehensproblem.“255 In non-linearen wie in linearen Kommunikati-

onsangeboten wird Kohärenz interaktiv hergestellt und ist auf der RezipientInnen-Seite „sowohl

angebots- als auch nutzergesteuert“256. Bucher vertritt daher die Meinung, „eine Semantik und

Pragmatik medialer Präsentationsformen sowie eine Klärung multimodaler Kommunikationszu-

sammenhänge sollte [...] nicht auf einer Zeichentheorie, sondern auf einer Theorie des kommuni-

kativen Handelns aufbauen“257.

Die Basis seines Untersuchungsmodells stellen Bucher zufolge die Funktionen, also die Po-

tentiale und Verwendungsmöglichkeiten verbaler und visueller Elemente einer Sehfläche dar. Der

Medienwissenschafter geht davon aus, Textdesign liege „ein soziales Handeln [zugrunde], mit dem

die Kommunikatoren den Lesern eine bestimmte Anordnung und Struktur zu verstehen geben

wollen“258. In Folge geht es ihm darum, bestimmte kommunikative Handlungen zu verstehen,

worauf er seine Analysekriterien mit einem spezifischen Zugang entwickelt: Bucher versetzt sich

in die Lage der NutzerInnen eines Kommunikationsangebots und eruiert aus deren Blickwin-

kel die Verständnisprobleme, mit denen sie bei der Rezeption konfrontiert sein könnten. Diese

Problemstellungen stellt er als Analysekriterien für die Untersuchung einer Sehfläche vor. Bucher

unterscheidet sechs Problemtypen, die aus der Sicht der RezipientInnen relevant sind und die sein

Untersuchungsmodell konstituieren:

„1. Das Identifizierungs- oder Lokalisierungsproblem: Wer ist der Kommunikationspartner? Mit welchem Kommunikationsangebot habe ich es zu tun?Typische Mittel: Senderkennungen, Logos, Titel, Signalfarben, Typografie etc.

2. Das Orientierungsproblem: Was ist der Kommunikationsstand? An welcher Stelle im Kommunikationsangebot befinde ich mich?Typische Mittel: Inhaltsverzeichnisse, Sitemaps, Zeit- und Sendungseinblendungen, Ressorttitel, Seitenzahlen, Logos, Farbleitsysteme.

3. Das Hierarchisierungsproblem: Welche Unter-, Über- und Nebenordnungen bestehen zwischen den verschiedenen Elementen der Kommunikation?Typische Mittel: Typografie, Platzierung, Bebilderung, druckgrafische Auszeichnungen, Weißraum, Textsorten- und Rubrikenbezeichnungen.

254 Vgl. ebda. S. 73.

255 Ebda.

256 Ebda. S. 74.

257 Ebda.

258 Ebda.

II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.3. Rezeptionsästhetisches Analysemodell nach Bucher 79

4. Das Navigationsproblem: Wie gelange ich von einem Element zu einem damit zusammenhängenden anderen? Typische Mittel: Verweise und Seitenhinweise, Links, Programmhinweise, Navigationsleisten, Inhaltsverzeichnisse, Sitemaps, Suchhilfen.

5. Das Rahmungsproblem: Was gehört - enger oder weiter - zusammen? Was steht im Vordergrund. Was im Hintergrund? Was ist aktuell relevant und was ist latent?Typische Mittel: Seitenlayout, Platzierung, Rubriken, Übergangs- und Abtrennungsmarkierungen (optisch, verbal, oder akustisch).

6. Das Sequenzierungs- und Einordnungsproblem: Wie hängen die verschiedenen - relevanten - Elemente einer Kommunikation untereinander zusammen? (Funktional, strategisch, thematisch). Typische Mittel: Links mit Tags, Clustervorspanntext, Textsortenangaben, explizite sprachliche Verweise auf weiterführende oder vergangene Beiträge, Seiten- und Beitragskennzeichnungen.“259

Diese Analysekriterien sollen im Folgenden auf Steiners Sehfläche angewandt werden.

5.3.1 Das Identifizierungs- oder Lokalisierungsproblem

Die Frage nach dem Kommunikationspartner bzw. der Kommunikationspartnerin ist leicht

zu ermitteln, wie bereits in der sprachwissenschaftlichen Analyse festgestellt wurde. Da Bucher von

der NutzerInnenseite ausgeht, zielt sein Untersuchungskriterium darauf ab, die UrheberInnen des

Kommunikationsangebots in Erfahrung zu bringen. Bei Steiners Sehfläche handelt es sich dabei

im engeren Sinne um die Künstlerin Magdalena Steiner selbst. Auf die Urheberin der Sehfläche

können die BetrachterInnen einerseits durch ihre Signatur am unteren rechten Rand der Sehfläche

schließen. Andererseits gibt der Journalist Reinhold Schachner im Editorial einige Informationen

über die Künstlerin preis. Im weiteren Sinne existieren weitere KommunikationspartnerInnen für

die LeserInnen des Augustin, da die Sehfläche als Kommunikationsangebot einen Teil des über-

geordneten Kommunikationsangebots Augustin darstellt. Die KommunikationspartnerInnen im

weiteren Sinne sind die ProduzentInnen der Wiener Zeitung.260

Die Frage, um welches Kommunikationsangebot es sich handelt, lässt sich im Falle der Stra-

ßenzeitung Augustin anhand verschiedener Hinweise beantworten: Durch ihre konventionali-

sierte Form ist die Zeitung als solche identifizierbar. Titel, Logo und Corporate Design verleihen

dem Augustin seine unverwechselbare Identität. Steiners Sehfläche mag von den BetrachterInnen

aufgrund ihres Erscheinungsbildes je nach Weltwissen unterschiedlich eingeordnet werden. Rein-

hold Schachner bezeichnet sie als Graphic Novel bzw. Comic261, mögliche Bezeichnungen dafür wä-

ren aber auch Illustration, Grafik usw. - in der vorliegenden Arbeit wurde sie als Sehfläche definiert.

259 Ebda. S. 61f.

260 Die ProduzentInnen sind auf deren Website zu finden: URL: http://www.augustin.or.at/ueber-uns/team/

261 Augustin 18(2012), H. 314, Editorial. URL: http://www.augustin.or.at/documents/article-docs/article-1899/ augustin_314_fertigklein.pdf. Editorial [05.05.2015].

80 II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.3. Rezeptionsästhetisches Analysemodell nach Bucher

Hier wird ersichtlich, dass manche Kommunikationsangebote problemlos eingeordnet wer-

den können, während für andere außerhalb bestimmter Fachkreise keine eindeutige Festlegung

existiert. Stellen sich die BetrachterInnen von Steiners Sehfläche tatsächlich die Frage, welches

Kommunikationsangebot vor ihnen liegt, können sie auf einen Blick erkennen, dass dieses eine

künstlerische Anmutung besitzt sowie eine Kombination aus sprachlichen und bildlichen Elemen-

ten darstellt. Zu welcher Einordnung sie aufgrund dieser Hinweise kommen, kann jedoch von

RezipientIn zu RezipientIn aufgrund der individuell gewählten Klassifikationskriterien variieren.

Die Einordnung des Augustin als Zeitung wird hingegen mit größter Wahrscheinlichkeit überein-

stimmend ausfallen.

Wie beim Identifizierungs-/Lokalisierungsproblem erweist es sich auch für die Untersuchung des

Orientierungsproblems als zielführend, die Sehfläche in einen größeren Kontext zu stellen.

5.3.2. Das Orientierungsproblem

Die Frage, wo sich die RezipientInnen im Kommunikationsangebot befinden, erscheint nur

sinnvoll, wird die Sehfläche im übergeordneten Kontext des Kommunikationsangebots Zeitung

betrachtet. Orientieren können sich die LeserInnen des Augustin grundsätzlich an der Struktur

und Gestaltung der Zeitung. Das Inhaltsverzeichnis gibt Aufschluss über den Inhalt der Zeitung,

die Seitenzahl, Rubrik sowie das Farbleitsystem dienen ebenfalls der Orientierung. Die Sehflä-

che selbst befindet sich auf der U4 - eine Bezeichnung für die hintere Seite des Umschlags einer

Zeitung: Das U steht für Umschlag. U4 bedeutet, es handelt sich um die hintere, vierte Seite des

Umschlags.

Wieder auf das Kommunikationsangebot selbst fokussiert Buchers Navigationsproblem.

5.3.3 Das Navigationsproblem

Das Navigationsproblem dient der Untersuchung, wie die RezipientInnen einer Sehfläche von

einem Element zu einem anderen zusammengehörigen gelangen. Als typische Mittel nennt Bucher

hier Verweise und Seitenhinweise, Links, Programmhinweise, Navigationsleisten, Inhaltsverzeich-

nisse, Sitemaps und Suchhilfen.

In Steiners Sehfläche findet sich keines dieser typischen Mittel, die besonders bei interaktiven

Kommunikationsangeboten wie Webseiten Verwendung finden. Dennoch ist das Navigationspro-

blem für die Analyse der Sehfläche relevant, da auch hier die RezipientInnen von einem Element

zu einem anderen zusammengehörigen gelangen sollten. In Steiners Sehfläche werden diese Bezüge

durch grafische und/oder semantische Verknüpfungsmittel geschaffen. Diese können mit Buchers

Navigationsproblem untersucht werden, um aufzudecken, wie die Aufmerksamkeit der Rezipien-

tInnen von einem Element der Sehfläche zum nächsten zusammengehörigen gelenkt wird.

II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.3. Rezeptionsästhetisches Analysemodell nach Bucher 81

Diese grafischen und semantischen Zusammenhänge wurden allerdings bereits ausführlich in

der sprachwissenschaftlichen Untersuchung von Kohärenz und Kohäsion (5.1.2.1 Kohärenz und

Kohäsion) analysiert. Auch im sozial-semiotischen Analysemodell von Kress/van Leeuwen wur-

den diese mittels Framing (5.2.2 Framing) und Center-Margin (5.2.3.3 The Information Value of

Center-Margin) beschrieben.

Statt diese Inhalte schlicht zu repetieren, wird hier eine Ergänzung vorgenommen: Die gra-

fischen und/oder semantischen Verknüpfungen werden in eine visualisierte Form gebracht (Abb.

XX Navigationsproblem). Der komplexe Aufbau der Sehfläche wird auf geordnetere, übersicht-

lichere und vor allem vereinfachte Strukturen heruntergebrochen.262 Mit Hilfe grafischer Mittel

wird dargestellt, welche Elemente auf Steiners Sehfläche zusammengehören (z.B. die Abbildung

von Rudolf am Kreuz und die Abbildung der Pfeile) und durch welche Mittel die RezipientInnen

von einem Element zu einem anderen zusammengehörigen gelangen (z.B. durch deren nahe Plat-

zierung).

Es wird dabei davon ausgegangen, dass die RezipientInnen die Abbildung von Rudolf am

Kreuz, als das am auffallendsten bewertete Element der Sehfläche, als erstes in den Blick nehmen

und von dort zu den anderen zusammengehörigen Elementen gelangen.

Vorausgesetzt wird, dass die NutzerInnen der Sehfläche ohne Kenntnis des Romaninhalts auf

dieser „navigieren“ und sich zurechtfinden müssen.

Diese Vorgehensweise steht im Einklang mit der Zielsetzung der Arbeit, eine möglichst viel-

seitige Perspektive auf Steiners Sehfläche zu eröffnen. Zudem wird mit dem visualisierten Schema

ein weiteres Mal deutlich, wie gewinnbringend Sprache und Bild als Kommunikationsmittel ge-

meinsam genutzt werden können.

262 Das Potenzial eines solchen Schemas, Strukturen klar und vereinfacht darzustellen, kann auch als Schwachpunkt gesehen werden, da der Komplexität der Sehfläche keine Rechnung getragen wird. Der Komplexität der Sehfläche wird aber die sprachliche Beschreibung der Zusammenhänge im Zuge der sprachwissenschaftlichen Analyse von Kohäsion und Kohärenz (5.1.6.1 Kohärenz und Kohäsion) gerecht.

82 II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.3. Rezeptionsästhetisches Analysemodell nach Bucher

Abb. XX Navigationsproblem

Legende:

gleiches Farbschema

Ähnlichkeit der Form

Integration

räumlich nahe Platzierung

Ausrichtung der Sprechblase

ein Element verweist auf das andere

G: Farbe

G: Form

G: Integration

G: Platzierung

G: Sprechblase

G: Verweis

Bild wird sprachlich benannt

Frage wird beantwortet

Sprachlicher Ko-Text nimmt das Bild wieder auf bzw. umgekehrt.

S: Benennung

S: Frage - Antwort

S: Wiederaufnahme

„Du kannst kein Instrument spielen“„Du fällst immer hin“„Du kannst nicht rechtschreiben“„Du kannst nicht boxen“„Du bist feig“„Du bist ein Bettnässer“„Sonderschüler“„Du taugst für keinen Kampf“„Du hast immer nur Durchfall“„Du kannst dir keine Zahlen merken“„Du blutest aus der Nase“„Du kannst den Ball nicht au�angen“„Hilf mir Mama, hilf mir“

Rudolf am Kreuz

Pfeile

blaue,kop�ose Gestalt

schwarz kontrurierte Pfeile

Frauengestalt

brauneHintergrund�ächeumschließender,weißer Streifen

brauneHintergrund�ächeumschließender,weißer Streifenweiße Kreuze

schwarze Pfeile

Rudolf undKlein-Berta

„Aber ich bin doch kein schlechter ...“

„Ich habe meinemißlungene Schöpfung beendet“

„Es waren zwei Königskinder.Den prägenden,modellierendenTatzen des Lebensentzogen.“

braunesKreuz

gitterförmigesObjekt

„Wo ist meine Mutter?“

„Ich lebe noch“,„Ich komme“,„Warte noch“

„Warum häng ich hier am Kreuz?“

„Du bist zu nichts zu gebrauchen“

„Das Leben ist doch ein böser Traum?“

„Rudolf hing am Kreuz“

„Mutter“

„Die Schwerkraftder Ver[hältnisse]“

„Versuch“

„Berta“

„Rudolf und Klein-Berta“

II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.3. Rezeptionsästhetisches Analysemodell nach Bucher 83

Ähnliches gilt für das Hierarchisierungsproblem und das Rahmungsproblem.

5.3.4 Das Hierarchisierungsproblem & das Rahmungsproblem

Auch diese beiden Untersuchungskriterien wurden im Zuge der beiden vorhergehenden Ana-

lysemodelle bereits hinreichend betrachtet. Buchers Hierarchisierungsproblem dient der Untersu-

chung der hierarchischen Strukturen, der Über-, Unter- und Nebenordnungen einer Sehfläche.

Diese hierarchischen Strukturen wurden mit dem Untersuchungskriterium Salience (5.2.1 Sali-

ence) sowie dem Information Value von Center-Margin (5.2.3.3 The Information Value of Center-

Margin) im sozial-semiotischen Analysemodell nach Kress/van Leeuwen analysiert.

Buchers Rahmungsproblem zielt auf die Untersuchung ab, welche Elemente enger bzw. weniger

eng zusammen gehören und welche Elemente im Vordergrund bzw. im Hintergrund stehen. Auch

diese Aspekte wurden im Zuge der sprachwissenschaftlichen Analyse von Kohärenz und Kohäsion

(5.1.2.1 Kohärenz und Kohäsion) sowie im Analysemodell nach Kress/van Leeuwen mittels Sa-

lience (5.2.1 Salience), Framing (5.2.2 Framing) und dem Information Value von Center-Margin

(5.2.3.3 The Information Value of Center-Margin) ausführlich besprochen.

Statt dieselben Inhalte erneut paraphrasiert wiederzugeben, wird wie beim Navigationsproblem

eine als fruchtbar betrachtete Ergänzung mittels einer visualisierten Darstellung vorgestellt.

5.3.4.1 Hierarchisierungsproblem

Das Schema (Abb. XXI Hierarchisierungsproblem) veranschaulicht die hierarchischen Struk-

turen der Elemente auf Steiners Sehfläche, die sich auf deren grafische Gestaltung gründet. Das

oberste Element ist allen anderen übergeordnet, die Elemente auf der untersten Ebene sind allen

anderen untergeordnet.

Die Art der grafischen Auszeichnung, die ein Element den anderen über- oder unterordnet,

wird in dem Schema durch einen gepunkteten grauen Kasten markiert.

Die Elemente, die in einer Reihe nebeneinander angeordnet sind, sind auch in Steiners Sehflä-

che einander nebengeordnet.263

263 Es soll hier noch einmal daran erinnert werden, dass sich auch diese schematische Darstellung auf etablierte Gestaltungsprinzipien beruft und nur eine von mehreren möglichen Interpretationen darstellt.

84 II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.3. Rezeptionsästhetisches Analysemodell nach Bucher

Abb. XXI Hierarchisierungsproblem

* Die Frauengestalt ist zentral platziert, aber dezentraler als Rudolf am Kreuz und daher dieser Abbildung untergeordnet.

Legende:

Auszeichnung:

Bildliche Darstellungen: Rudolf am Kreuz Direkte Rede: „Wo ist meine Mutter?“Sprachlicher Ko-Text: „Rudolf hing am Kreuz“

Platzierung Kontrast, Platzierung Kontrast, Platzierung

Grafische Symbole:

Bezeichnet die Art der grafischen Auszeichnung durch:(zentrale) Platzierung, (überragende) Größe, (auffällige) Farbe, (Farb-)Kontrast, (bedeutende) Form:

Rudolf am Kreuz

Pfeile

blaue, kop�oseGestalt

„Wo ist meine Mutter?“

„Warum häng ich hier am Kreuz?“

„Du bist zu nichtszu gebrauchen“

„Rudolf hing am Kreuz“

Frauengestalt

„Ich habe meinemißlungene Schöpfung beendet“

„Es waren zwei Königskinder. Denprägenden, modellierendenTatzen des Lebens entzogen“

braunes Kreuz

weiße Kreuze

Helm

gitterförmigesObjekt

„Ich lebe noch“,„Ich komme“,„Warte noch“

„Mutter“ „Versuch“„Berta“

„Verstünde ich den Krieg, dann hätte ich ihn verhindert.“

„Du kannst kein Instrument spielen“ Etc.

„Rudolf und Klein-Berta“

Die Schwerkraft der Verhältnissebraune Hintergrund�ächeumschließender, weißer Streifen

Pfeile 3.Element-Komplex

Rudolf undKlein-Berta

„Aber ich bin doch kein schlechter ...“

„Das Leben ist doch ein böser Traum?“

„Die Schwerkraftder Ver[hältnisse]“

II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.3. Rezeptionsästhetisches Analysemodell nach Bucher 85

5.3.4.2 Rahmungsproblem

Das Schema (Abb. XXII) veranschaulicht welche Elemente der Sehfläche enger bzw. weniger

eng zusammengehören: Je näher die Elemente der Grafik zueinander platziert sind, desto enger ge-

hören sie grafisch und/oder semantisch zusammen. Wo sich die Elemente in der Grafik überschnei-

den, wird in der Sehfläche ein Element in das andere integriert. Die Elemente auf den konzentri-

schen Kreisen beziehen sich außerdem auf das zentrale Element in deren Mittelpunkt. Je größer

die Elemente dargestellt sind, desto auffälliger sind sie gestaltet und stehen mehr im Vordergrund.

Abb. XXII Rahmungsproblem

brauneFläche

brauneFläche

braunes Kreuz

blaueFläche

gitterförmigesObjekt

86 II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.3. Rezeptionsästhetisches Analysemodell nach Bucher

Buchers letztes Kriterium stellt das Sequenzierungs- und Einordnungsproblem dar.

5.3.5 Das Sequenzierungs- und Einordnungsproblem

Das Sequenzierungs- bzw. Einordnungsproblem dient der Betrachtung der Zusammenhänge des

Kommunikationsangebots in einem größeren Kontext. Im Bezug auf dieses Untersuchungskriteri-

um lassen sich zwei Aspekte anführen:

Zum einen kann Steiners Sehfläche in dem größeren Kontext von Fritz’ Roman betrachtet

werden. In diesem Kontext kommunizieren die Darstellungen über ihre eigene intrinsiche Be-

deutung hinaus, Bedeutungen, die Fritz mit ihren Erzählungen evoziert. Steiner selbst gibt einen

Hinweis zu dem größeren Kontext von Fritz’ Roman, indem sie den Titel „Die Schwerkraft der

Verhältnisse“ und den Namen der Autorin „Marianne Fritz“ in der Sehfläche nennt.

Zum anderen wird die Sehfläche durch ihren Platz im übergeordneten Kommunikationsange-

bot „Zeitung“ in einen größeren Kontext eingebettet. Die einleitenden Worte zu Marianne Fritz

und ihren Roman sowie zu Magdalena Steiner dienen weiters dazu, den LeserInnen des Augustin

den Kontext zu erläutern, indem die Sehfläche entstanden ist.

Abschließend gilt es, auch an Buchers Analysemodell die drei spezifischen Fragen zu stellen.

1. Inwieweit werden externe Faktoren der Produktion und Rezeption berücksichtigt?2. Inwieweit werden Sprache-Bild-Relationen berücksichtigt?3. Inwieweit kommt der Inhalt von Fritz’ Roman zum Tragen?

Ad 1.: Inwieweit werden externe Faktoren der Produktion und Rezeption berücksichtigt?

Da Bucher von der Seite der NutzerInnen eines Kommunikationsangebots ausgeht, wird die

Frage nach der Produktion einer Sehfläche detailliert betrachtet. Nicht nur Steiners Sehfläche

selbst, sondern auch der größere Kontext der Zeitung Augustin wird in die Untersuchung mit

einbezogen. Weiters stellt Bucher die Frage nach der Art des Kommunikationsangebots. Sein spezi-

fischer Ansatz bedingt allerdings auch, dass die Frage nach den RezipientInnen der Sehfläche nicht

aufgeworfen wird.

Ad 2.: Inwieweit werden Sprache-Bild-Relationen berücksichtigt?

Die Zusammenhänge zwischen Sprache und Bild werden äußerst detailliert betrachtet. Aller-

dings fokussiert Bucher nicht speziell auf die Bezüge zwischen Sprache und Bild, sondern nimmt

die Relationen der Elemente einer Sehfläche allgemein in den Blick. Untersucht werden Un-

ter-, Über- und Nebenordnungen (Hierarchisierungsproblem), wie eng bzw. weniger eng sich die

Drei spezifische Fragen

II. Praktische Ausführung | 5. Analyse | 5.3. Rezeptionsästhetisches Analysemodell nach Bucher 87

Zusammenhänge gestalten und welche Elemente im Vorder- bzw. Hintergrund stehen (Rahmungs-

problem). Außerdem fragt er danach, wie die RezipientInnen von einem Element zum nächsten

gelangen (Navigationsproblem) und wie die über das Kommunikationsangebot hinausreichenden

Zusammenhänge beschaffen sind (Sequenzierungs- und Einordnungsproblem).

Ad 3.: Inwieweit kommt der Inhalt von Fritz’ Roman zum Tragen?

Die Betrachtung der Relationen der Elemente, die vielfach semantischer Art sind, fordert auch

bei Bucher das Einbeziehen des Inhalts von Fritz’ Roman. Die zentrale Themen und Geschehnisse

von Die Schwerkraft der Verhältnisse kommen dadurch zur Sprache. Allerdings haben die se-

mantischen Aspekte einen eher nebengeordneten Stellenwert, da Buchers Fokus hauptsächlich auf

den Relationen zwischen den Elementen liegt. Ein Einblick in die Geschehnisse von Fritz’ Roman

wird allerdings geboten.

Abschließende Bemerkung zu den drei Analysemodellen

Es zählt nicht zu den Zielen dieser Arbeit, darüber zu urteilen, welches der drei Analysemo-

delle „besser“ oder „schlechter“ sein könnte. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass jedes für

sich wertvolle Erkenntnisse liefern kann. Es zeigten sich einige Unterschiede, vielfach wurden aber

auch dieselben Aspekte untersucht, was für die Relevanz dieser Analysekriterien sprechen mag.

Im Folgenden soll das Ziel der Arbeit verfolgt werden, wozu die einzelnen Analysen wegbereitend

wirkten: Alle Ergebnisse werden zu einem großen Ganzen zusammengefasst, um eine möglichst

umfassende Perspektive auf Steiners Sehfläche zu eröffnen. Im Hintergrund steht dabei stets die

Absicht zu zeigen, wie effektiv Sprache und Bild auf einer Sehfläche zusammenarbeiten und ge-

meinsam eine Botschaft generieren.

88 II. Praktische Ausführung | 6. Synthese

6. Synthese

In der folgenden Synthese wird bewusst eine Vielfalt verdichteter Informationen geboten. Die

Resultate der drei Analysemodelle werden miteinander verknüpft und zueinander in Beziehung

gesetzt, um einen möglichst ganzheitlichen Blick auf Steiners Sehfläche zu ermöglichen.264

Signiert ist die Sehfläche von Magdalena Steiner. Sie ist die Produzentin der Sehfläche und

aus Sicht der RezipientInnen die Kommunikationspartnerin im engeren Sinne. Das Kommunika-

tionsangebot, das Steiner erschafft, stellt eine Sprache-Bild-Kombination dar, die je nach Klassifi-

kationskriterien als Graphic Novel, Comic, Illustration, Sehfläche o. Ä. bezeichnet werden kann.

Erschienen ist die Sehfläche in der Wiener Straßenzeitung Augustin, genauer: sie wurde auf der

U4 - der Rückseite des Umschlags abgedruckt. Die Sehfläche ist daher monomedial (in einem einzi-

gen Medium erschienen) und statisch (nicht für interaktive Tätigkeiten konzipiert). Sie ist Teil des

übergeordneten Kommunikationsangebots Zeitung. Aus Sicht der RezipientInnen existiert daher

im weiteren Sinne als weitere KommunikationspartnerInnen das Team, das die Wiener Zeitung

produziert.

Die Straßenzeitung Augustin fungiert als Trägermedium der Sehfläche. Die Zeitung selbst ist

durch unser Weltwissen und ihre konventionalisierte Form (Deckblatt, Innenseiten, Inhaltsver-

zeichnis usw.) als solche identifizierbar. Die Gestaltung und Struktur der Zeitung befähigt die Lese-

rInnen, sich mittels Inhaltsverzeichnis, Seitenzahl, Rubrik sowie dem Farbleitsystem zu orientieren.

Weiters versorgt das Editorial der Ausgabe die LeserInnen mit einigen wichtigen Informationen

zur Sehfläche und zu der Künstlerin Magdalena Steiner.

Seine unverwechselbare Identität in Abgrenzung zu anderen Zeitungen erhält der Augustin

visuell durch Titel, Logo und Corporate Design. Als ein öffentlich zugängliches Medium und Teil

der Massenmedien kann dieser dem öffentlichen Handlungsbereich zugeordnet werden.

Inhaltlich charakterisiert wird der Augustin von seinen ProduzentInnen als „Stadtzeitung,

auch mit unterhaltenden Elementen, andererseits als Forum radikaler Kritik aller Formen sozialer

Ungerechtigkeit und als Plattform der Marginalisierten“265. An diese Ausrichtung knüpfen sich

bestimmte Erwartungshaltungen der LeserInnen: Sie präsupponieren wahrscheinlich vor allem

Information, Unterhaltung, Aufklärung oder auch Appell. Entsprechend werden die LeserInnen

den Augustin größtenteils mit der Erwartung rezipieren, qualitativ hochwertige, möglicherweise

sozialkritische Texte vorzufinden, informiert und unterhalten zu werden.

264 Unvermeidbar verloren geht dabei die Trennung einzelner Analysekriterien voneinander und damit wohl auch eine gewisse Systematik. Eine systematische Untersuchung wurde aber bereits im Zuge der drei Analysemodelle geleistet und kann in den jeweiligen Kapiteln nachvollzogen werden.

265 Augustin URL: http://www.augustin.or.at/ueber-uns/die-idee.html [24.09.2014].

II. Praktische Ausführung | 6. Synthese 89

Die Unterhaltungsfunktion zählt auch zu den wichtigsten Funktionen, welche die Darstellun-

gen von Steiners Sehfläche innehaben. Die vielfältigen visuellen und sprachlichen Elemente bieten

umfangreichen Unterhaltungsstoff. Ein kurzer Blick genügt nicht, die Sehfläche verlangt nach

einer aufmerksamen Betrachtung, um sie in aller Detailliertheit erfassen und verstehen zu können.

Die Sehfläche kann somit auch als Bild-Text der Unterhaltung eingeordnet werden.

Die RezipientInnen der Sehfläche sind mit den LeserInnen der Zeitung ident. Laut einer Studie

der Augustin-Redaktion lassen sich diese folgendermaßen charakterisieren:

„[...] kulturell interessiert, sozial engagiert, lesefreudig [...] höhere Schulbildung [...]. Die Reichweite des Augustin beträgt unter den Wiener_innen ab 14 Jahren rund 12% und über 15% in der Gruppe der 14 - bis 30-Jährigen.“266

Die künstlerische Anmutung der Sehfläche impliziert weiters, dass diese vor allem von kunst-

bzw. kulturinteressierten Menschen eingehender betrachtet wird sowie von jenen, die sich gerne

von Sehflächen unterhalten lassen. Vermutlich sind die BetrachterInnen der Komplexität des Dar-

gestellten aufgrund ihres Intellekts gewachsen.

Die meisten LeserInnen des Augustin werden Fritz’ Roman nicht kennen. Dieser Aspekt spielt

für die Rezeption der Sehfläche, im Besonderen für das Verständnis der Zusammenhänge ihrer

konstitutiven Elemente, eine maßgebliche Rolle. Vor allem, weil bei Steiners Sehfläche eine mono-

logische sowie zeitlich und örtlich versetzte Kommunikationsform vorliegt, die es den RezipientInnen

nur schwerlich erlaubt, Verständnisprobleme zu klären. Steiners Sehfläche wirkt in dieser Hinsicht

sehr durchdacht konzipiert: Die Gestaltung ermöglicht es, wichtige Relationen und Thematiken

von Fritz’ Roman zu erschließen, selbst wenn dessen Inhalt nicht bekannt ist. Es erscheint sinnvoll

und intendiert von der Künstlerin, allen RezipientInnen, unabhängig von ihrem Vorwissen, einen

Zugang zur Sehfläche und damit zu den Themen von Fritz’ Roman zu ermöglichen.

Obwohl die Sehfläche auf den ersten Blick einen etwas verwirrenden Eindruck erwecken mag,

kann bei näherer Betrachtung eine spezifische Struktur sichtbar gemacht werden: Es lassen sich

drei Element-Komplexe differenzieren, deren Bestandteile mittels semantischer und grafischer

Verknüpfungsmittel zu einer Einheit verbunden sind. Die Bezüge zwischen den konstituierenden

Elementen einer Entität sind sehr eng beschaffen, während sich der grafische und/oder semanti-

sche Zusammenhang zwischen den einzelnen Element-Komplexen als wesentlich lockerer erweist.

Alle drei Element-Komplexe weisen eine Center-Margin Struktur auf. Das Center der beiden

auffälligeren Entitäten bildet jeweils die bildhafte Darstellung einer nackten menschlichen Gestalt,

das Center des dritten Element-Komplexes stellt die Abbildung zweier nackter menschlicher Ge-

stalten dar. Ihre centered Position erhalten diese Darstellungen durch ihre zentrale Positionierung267

266 Augustin URL: http://www.augustin.or.at/documents/article-docs/article-244/ma_augustin_2014.pdf [24.09.2014].

267 Die beiden Abbildungen der menschlichen Gestalten im unteren Drittel der Sehfläche ausgenommen.

90 II. Praktische Ausführung | 6. Synthese

sowie durch ihre auffällige Gestaltung. Positionierung und Auffälligkeit (Salience) signalisieren

zudem den besonderen Stellenwert dieser Elemente.

Umgeben wird das jeweilige Center eines Element-Komplexes von untergeordneten Margins

unterschiedlicher Auffälligkeit und somit Relevanz. Einen erkennbaren Zusammenhang zwischen

dem Center und den zugehörigen Margins generiert Steiner mit Hilfe unterschiedlicher Mittel:

durch die räumlich angrenzende Platzierung, verbindende bzw. gerichtete Linien, die Ähnlichkeit

der Farben und Formen sowie durch semantische Verknüpfungen. Gleichzeitig grenzt sie die so

entstandene Einheit von den restlichen Elementen der Sehfläche ab: grafisch durch trennende

Farbflächen und Linien, semantisch durch andere thematische Inhalte. Die Margins beziehen sich

inhaltlich und/oder grafisch auf ihr jeweiliges Center und versorgen die RezipientInnen mit zu-

sätzlichen, wichtigen Informationen. Während das Center den Kern der Thematik des Element-

Komplexes visuell repräsentiert, unterstützen, ergänzen und erläutern die Margins die jeweilige

Thematik, so dass die konstituierenden Elemente des Komplexes als eine Einheit wahrgenommen

und deren gemeinsamer Sinn erschlossen werden kann.

Element-Komplex I: Rudolf hing am Kreuz

Der auffälligste Element-Komplex verdankt seine überragende Sali-

ence seinem prägnanten Center. Es handelt sich dabei um die bildli-

che Darstellung eines nackten menschlichen Körpers vor dem Hin-

tergrund eines Kreuzes. Besonders auffällig wirkt diese Abbildung

durch ihre spezifische Gestaltung: Sie ist zentral positioniert, besitzt

eine überragende Größe, bedeutungsvolle Formen (menschliche

Gestalt, Kreuz) und einen hohen Farbkontrast (helle Hautfarbe vs.

dunkler Hintergrund).

Auch ohne Kenntnis von Fritz’ Roman kann die Gestalt am Kreuz

eindeutig als Rudolf identifiziert werden. Ermöglicht wird diese Zu-

ordnung durch die intermodale Wiederaufnahme der visuellen Dar-

stellung durch den verbalen Ko-Text „Rudolf hing am Kreuz“.

Sprache und Bild arbeiten hier effektiv zusammen und erfüllen dabei

ihre jeweils eigene wichtige Funktion: Der sprachliche Ko-Text „Rudolf hing am Kreuz“ legt die Be-

deutung der grundsätzlich polysemantischen bildlichen Darstellung fest und benennt diese sogar.

Im Gegenzug wird den RezipientInnen mittels Formen und Farben eine konkrete Vorstellung des

sprachlichen Ausdrucks vermittelt.

Die Abbildung Rudolfs und der sprachliche Ko-Text „Rudolf hing am Kreuz“ werden aber nicht

nur inhaltlich verknüpft.

Abb. XXIII Element-Komplex

Quelle: Augustin, Sehfläche, S.21.

II. Praktische Ausführung | 6. Synthese 91

Ihre Zusammengehörigkeit wird auch grafisch durch die

nahe Platzierung der beiden Elemente kenntlich gemacht.

Diese räumliche Nähe ermöglicht das Erfassen der Zu-

sammenhänge auf einen Blick und fördert das Verständ-

nis des Dargestellten.

Eindeutig dem Center (Rudolf am Kreuz) zugehörig sind

weiters die beiden, links und rechts davon angeordneten

Sprechblasen mit den sprachlichen Ko-Texten „Wo ist

meine Mutter“ und „Warum häng ich hier am Kreuz?“. Bei-

de Elemente sind unverkennbar auf die abgebildete Ge-

stalt Rudolfs gerichtet und räumlich nahe platziert. Die

Sprechblase mit dem Inhalt „Wo ist meine Mutter?“ zählt

zu den most salient und somit hierarchisch ganz oben ste-

henden Margins dieses Element-Komplexes. Ihre zentrale

Platzierung, ihre Größe und ihre auffällige Gestaltung

(große, fette, schwarze Buchstaben vor weißem Hinter-

grund mit dicker schwarzer Kontur) sichern diesem Ele-

ment einen hohen Aufmerksamkeitsgrad und kommuni-

zieren seine Bedeutsamkeit.

Mit der Form der Sprechblase wählt Steiner ein konventi-

onelles Kommunikationsmittel, das RezipientInnen mit dem nötigen Weltwissen, die direkte Rede

signalisiert. Die Ausrichtung der Sprechblase auf Rudolfs Mund gibt eindeutig zu verstehen, dass

die Worte „Wo ist meine Mutter?“ von Rudolf stammen. Die typografische Gestaltung verleiht

seiner Frage Lautstärke und Gewicht und kann verschiedene Assoziationen hervorrufen: Dring-

lichkeit, Notwendigkeit, Rufen, Schreien usw.

Die zweite auf Rudolf gerichtete Sprechblase mit dem sprachlichen Ko-Text „Warum häng ich

hier am Kreuz?“ gestaltet Steiner etwas weniger auffällig. Die Positionierung in der oberen linken

Hälfte der Sehfläche, ihre konventionalisierte Form und der Schwarz-Weiß-Kontrast verleihen

aber auch diesem Element Auffälligkeit und damit einen vorgeordneten Stellenwert über die rest-

lichen Margins des Element-Komplexes. Ein Zusammenhang mit dem Center wird sowohl durch

die Ausrichtung der Sprechblase darauf als auch durch den semantischen Gehalt geschaffen. So

stellt der sprachliche Ko-Text „Warum häng ich hier am Kreuz?“ in anderer medialer Form eine

Wiederaufnahme der bildhaften Darstellung Rudolfs dar.

Abb. XXIV Center-Margin: Rudolf

Legende

Grösse: je größer umso au�älliger

Position: je näher am Zentrum, desto enger der Bezug

Platzierung: je näher, desto enger der BezugÜberlappung: Integration eines Elementes i.d. andere

Center-Margin

92 II. Praktische Ausführung | 6. Synthese

Der Inhalt beider Sprechblasen („Wo ist meine Mutter?“, „Warum häng ich hier am Kreuz?“)

ermöglicht den RezipientInnen einen Einblick in die Gedankenwelt Rudolfs. Erneut arbeiten die

verbalen und visuellen Elemente wirkungsvoll zusammen: Die BetrachterInnen erhalten eine kon-

krete visuelle Vorstellung von Rudolfs physischer Gestalt und werden gleichzeitig mit Informatio-

nen zu seiner Psyche gespeist.

Die Sprechblase mit der Frage „Warum häng ich hier am Kreuz?“ fungiert zusätzlich als Ver-

bindungsglied, indem sie einen semantischen Bezug zu anderen Margins des Element-Komplexes

herstellt. Diese Margins geben Antwort auf Rudolfs Frage „Warum häng ich hier am Kreuz?“:

„Du kannst kein Instrument spielen“„Du fällst immer hin“„Du kannst nicht rechtschreiben“„Du kannst nicht boxen“„Du bist feig“„Du bist ein Bettnässer“„Sonderschüler“„Du taugst für keinen Kampf“„Du hast immer nur Durchfall“„Du kannst dir keine Zahlen merken“„Du blutest aus der Nase“„Du kannst den Ball nicht auffangen“

Neben dieser inhaltlich-logischen Verknüpfung werden diese sprachlichen Ko-Texte zusätz-

lich durch ihre nahe Platzierung mit ihrem Center verbunden. So grenzen die verbalen Elemente,

eingebettet in den Schaft der Pfeile, direkt an das Kreuz an. Durch die Integration dieser Ko-Texte

in die Pfeile wird auch ein enger Zusammenhang zwischen diesen beiden Elementen geschaffen.

Die Gestaltung der Pfeile, ihre schwarze Farbe sowie die steil nach unten weisenden Spitzen,

lässt die Assoziation von Schwere bzw. „Hinunter-gezogen-werden“ zu. Dieser Eindruck überträgt

sich auf die sprachlichen Ko-Texte durch deren Einbettung. Die Kombination von Sprache und

Bild verstärkt wahrnehmbar die negative Aussagekraft der sprachlichen Äußerungen.

Obwohl die Pfeile und die darin integrierten sprachlichen Ko-Texte einen engen grafischen

und semantischen Bezug zum Center aufweisen, nehmen sie aufgrund ihrer Gestaltung hierar-

chisch einen eher untergeordneten Stellenwert ein: Die Schriftgröße ist klein, der Platzanspruch

begrenzt und vor allem die Positionierung ordnet die Elemente sichtbar dem Kreuz unter.

Es finden sich noch weitere Margins am linken Rand der Sehfläche. Deren Bezüge sind allerdings

nicht so klar ersichtlich wie die der Pfeile unterhalb des Kreuzes. Begründet liegt dies in den

grafisch bewirkten Trennungen durch Farbe und Weißraum sowie im inhaltlich nicht eindeutig

zuordenbaren sprachlichen Ko-Text. Zu diesen Margins zählen der Helm mit den Gesichtern im

Inneren, die beiden Pfeile mit den sprachlichen Ko-Texten „Die Schwerkraft der Verhältnisse“ und

„Das Leben ist doch nur ein böser Traum“, die Jahreszahl und die blaue Gestalt ohne Kopf.

II. Praktische Ausführung | 6. Synthese 93

Die Abbildung der kopflosen Gestalt übertrifft alle anderen aufgezählten Margins an Salience

durch ihre groß bemessenen Proportionen und ihre horizontal mittige Platzierung. Ihre Auffällig-

keit wird allerdings durch die vertikale Randpositionierung sowie ihre ungesättigte blaue Farbe ge-

mindert. Die blaue Farbe ist es auch, die sie von den anderen abgebildeten menschlichen Gestalten,

trotz der Ähnlichkeit der Formen, distanziert. Zugehörigkeit zum Center wird allerdings durch die

Sprechblase mit dem sprachlichen Ko-Text „Du bist zu nichts zu gebrauchen“ hergestellt. Diese ist

durch ihre nahe Platzierung und ihre Ausrichtung auf die kopflose Gestalt grafisch unverkennbar

mit dieser Abbildung verbunden. Gleichzeitig gibt ihr Inhalt „Du bist zu nichts zu gebrauchen“

Antwort auf Rudolfs Frage „Warum häng ich hier am Kreuz?“ und stellt damit einen inhaltlich-

logischen Zusammenhang zu der Abbildung Rudolfs her. Über die semantische Verknüpfung der

beiden Sprechblasen „Warum häng ich hier am Kreuz?“ - „Du bist zu nichts zu gebrauchen“ wird

somit auch ein Zusammenhang zwischen der kopflosen Gestalt und ihrem Center geschaffen.

Nur vage als Margins dem Element-Komplex zuordenbar sind die beiden Pfeile mit den sprachli-

chen Ko-Texten „Die Schwerkraft der Ver[hältnisse]“ und „Das Leben ist doch nur ein böser Traum“.

Eine Verbindung dieser Pfeile mit den Pfeilen unter dem abgebildeten Kreuz schafft Steiner durch

die Ähnlichkeit der Gestaltung (Pfeilform, schwarze Kontur, weißer Hintergrund, eingebetteter

sprachlicher Ko-Text). Trennend wirken allerdings die abseitige Positionierung sowie die weiße

Hintergrundfläche, welche die am Rand positionierten Pfeile und jene unterhalb des Kreuzes von-

einander abgrenzt.

Auch die sprachlichen Ko-Texte im Inneren der Pfeile geben keinen klaren Hinweis auf mögliche

Bezüge. Wer „Die Schwerkraft der Ver[hältnisse]“ zu entziffern vermag, kann aufgrund dessen Ein-

bettung in den Pfeil zu dem Schluss gelangen, der Pfeil repräsentiere die inhaltliche Bedeutung

dieses Ko-Textes. Einen eindeutigen grafischen und/oder semantischen Bezug zu den anderen Ele-

menten des Element-Komplexes findet sich aber nicht. Weiters kann „Das Leben ist doch nur ein

böser Traum“ als Äußerung einer der bildlich dargestellten menschlichen Gestalten verstanden wer-

den. Aber auch hier mangelt es an konkreten Anhaltspunkten für eine klare Zuordnung.

Noch zusammenhangsloser erscheinen die Abbildung des Helms sowie die umrandete Jahreszahl.

Unser Weltwissen lässt zwar den Rückschluss zu, dass die Jahreszahl eine bestimmte Zeitspanne

ausdrückt. Die angrenzende Positionierung an den Pfeil mit „Die Schwerkraft der Ver[hältnisse]“

impliziert zudem grafisch einen Bezug zu diesem Element. Dies gibt allerdings keinen Aufschluss

darüber, wie die Jahreszahl im Bezug auf die anderen Elemente zu verstehen ist.

Der Helm wiederum kann aufgrund seiner polysemantischen Form ohne das nötige Kon-

textwissen kaum als solcher identifiziert werden, wenn auch die Gesichter in dessen Inneren klar

erkennbar sind. Dieses Margin, das auf weißem Hintergrund zwischen den Pfeilen platziert ist,

94 II. Praktische Ausführung | 6. Synthese

besitzt keinerlei grafische und/oder semantische Bezüge zu den anderen Elementen. Weder seine

Bedeutung noch seine Zugehörigkeit können von den BetrachterInnen erfasst werden.

Dies trifft allerdings nur auf RezipientInnen zu, die mit dem Inhalt von Fritz’ Roman nicht

vertraut sind. Wer das Buch gelesen hat, sollte die Bedeutung der Elemente um vieles leichter er-

schließen und deren Zusammenhänge viel besser nachvollziehen können.

So können RezipientInnen mit dem nötigen Kontextwissen Steiners Darstellungen als Be-

schreibungen der Geschehnisse von Fritz’ Roman begreifen und vermögen das Gelesene in den

Darstellungen der Sehfläche wiederzuerkennen. Im Kontext von Fritz’ Text haben die bildlichen

und sprachlichen Darstellungen die Funktion inne, die Ereignisse, die Fritz in ihrem Roman er-

zählt, zu repräsentieren. Der Element-Komplex stellt einen repräsentativen illokutionären Akt dar,268

wobei Steiner als Emittentin fungiert. Die Künstlerin scheint mit ihren Darstellungen die Kom-

munikationsabsicht zu verfolgen, einen bestimmten Inhalt aus Fritz’ Roman in einem anderen

Medium mit Hilfe anderer Mittel wie Farben, Formen, Typografie usw. zugänglich zu machen.

Steiner bietet somit eine konkrete Beschreibung der vormals rein sprachlich verfassten Inhalte an:

Sie beschreibt die Hauptcharaktere Rudolf, Berta und Klein-Berta mit bestimmten Farben und

Formen und fügt ihnen repräsentative Attribute (Kreuz, Gitter, Sprechblasen, Helm etc.) bei.

Die Darstellungen des ersten Element-Komplexes rekurrieren auf Bertas Albtraum in Die

Schwerkraft der Verhältnisse: Mit der Abbildung Rudolfs am Kreuz repräsentiert Steiner den

Rudolf von Fritz’ Roman, der in Bertas Albtraum am Kreuz hängt und nach seiner Mutter ruft

(„Wo ist meine Mutter?). Die bildliche Darstellung der kopflosen Gestalt neben Rudolf kann als

prototypische Beschreibung der Menschen aufgefasst werden, die sich in Bertas Traum in einer

Menschentraube um Rudolf versammelt haben und ihn seiner Unzulänglichkeiten bezichtigen:

„Du bist zu nichts zu gebrauchen“, „Du kannst kein Instrument spielen“, „Du fällst immer hin“

usw. Im Roman tragen diese Menschen ihre Köpfe wie Helme unter den Armen. Diesen Aspekt

beschreibt Steiner mit ihrer Abbildung des Helms aus Gesichtern. Wer Fritz’ Buch kennt, sollte

dieses Element daher erkennen und deuten können. Ebenso die Jahreszahl, welche die Zeitspanne

beschreibt, in der die Ereignisse um Berta spielen. Der sprachliche Ko-Text „Das Leben ist doch nur

ein böser Traum“ kann als Aussage der alten Frau begriffen werden, die sich Berta in der Irrenanstalt

annimmt, mit Bertas Albtraum aber nichts zu tun hat.

268 Gleichgültig ob die gesamte Sehfläche oder die einzelnen Element-Komplexe als repräsentative illokutionäre Akte klassifiziert werden, die Bildfunktion bleibt stets die gleiche: Inhalte von Fritz’ Roman zu beschreiben. Dasselbe gilt für den expressiven illokutionären Akt (abgesehen von dessen Funktion, Emotionen auszudrücken). Als Direktiv lässt sich allerdings nur der erste Element-Komplex klassifizieren, als Komissiv nur der zweite.

II. Praktische Ausführung | 6. Synthese 95

„Die Schwerkraft der Ver[hältnisse]“ kann im Bezug auf Fritz’ Roman auf drei Arten interpretiert

werden: Erstens als Titel des Romans.269 Zweitens als Repräsentation der „Schwerkraft der Verhält-

nisse“, die Berta für alles Leiden verantwortlich macht. Drittens als intermodale Wiederaufnahme

des Pfeils, in dessen Inneren der sprachliche Ko-Text eingebettet ist.

Die dritte Interpretation ist auch bei einer isolierten Betrachtung der Sehfläche, außerhalb des

Kontextes des Romans, möglich: Der Pfeil kann als Beschreibung des sprachlichen Ko-Textes „Die

Schwerkraft der Ver[hältnisse]“ aufgefasst werden und übernimmt damit eine repräsentative Funkti-

on. Derselbe Sachverhalt trifft auf den sprachlichen Ko-Text „Rudolf hing am Kreuz“ zu, der durch

die Abbildung von Rudolf am Kreuz bildhaft beschrieben wird.

Bei einer isolierten Betrachtung der Sehfläche besteht Steiners Kommunikationsabsicht nicht

mehr darin, Repräsentationen für den Inhalt von Fritz’ Roman zu erschaffen, sondern darin, die

sprachlichen Ko-Texte durch die bildlichen Darstellungen zu beschreiben.

Ob nun Inhalte aus Fritz’ Roman oder sprachlicher Ko-Text auf der Sehfläche beschrieben

werden - in jedem Fall zeigt sich, wie konstruktiv Bild und Sprache zusammenspielen. In gewissem

Sinne materialisieren die bildlichen Darstellungen die virtuellen, durch Sprache evozierten Vor-

stellungen. Die sprachlichen Inhalte werden zu einer bestimmten Form verdichtet, die durch ihre

spezifische Gestaltung ein konkretes Deutungsangebot an die RezipientInnen heranträgt. Sprache

und Bild stehen in einem zirkulären Wechselspiel, in dem das eine die Bedeutung des anderen

konkretisiert und seine Ausdruckskraft durch eine weitere Wahrnehmungsdimension potenziert.

Die Ausdruckskraft von Sprache und Bild zeigt sich auch in deren Vermögen, bestimmte Emo-

tionen zu vermitteln. In diesem Zusammenhang übernehmen die visuellen und verbalen Elemente

des Element-Komplexes eine expressive illokutionäre Rolle mit der Funktion, einen spezifischen

emotionalen Zustand zu kommunizieren. Dieser ist wahrnehmbar negativ konnotiert und wird

durch die Art der Gestaltung zum Ausdruck gebracht. Besonders die Darstellung von Rudolfs

nacktem mageren Körper mit den langgezogenen Gliedern, den geschlossenen Augen und dem

wie zu einem Schrei geöffneten Mund evoziert Zuschreibungen wie Leiden, Verzweiflung, Angst,

Resignation o. Ä. Die Abbildung des Kreuzes als kulturell aufgeladenes Symbol spielt dabei eine

stark unterstützende Rolle. Wer könnte sich der Assoziation mit „Jesus am Kreuz“ entziehen?

Erwirkt wird diese negative emotionale Atmosphäre auch durch die Darstellungsweise der

Margins, die sich auf Rudolf beziehen: durch die spitzen, scharf nach unten gerichtete Pfei-

le mit starkem Schwarz-Weiß-Kontrast, durch die blassblaue gestikulierende Figur ohne Kopf,

durch den gequälten Ausdruck der Gesichter im Inneren des Helms sowie durch die typogra-

fische Gestaltung (schwarze, fette Großbuchstaben vor weißem Hintergrund). Hinzu kommen

269 Zu diesem Schluss können auch RezipientInnen kommen, die das Editorial des Augustin gelesen haben.

96 II. Praktische Ausführung | 6. Synthese

die bedeutungsschweren sprachlichen Ko-Texte, die einerseits Rudolfs Hilflosigkeit/Verzweiflung

kommunizieren („Hilf mir Mama, hilf mir“, „Warum häng ich hier am Kreuz?“, „Wo ist meine Mut-

ter?“), und andererseits grobe Kränkungen darstellen („Du kannst nicht boxen“, „Du bist feig“ etc.)

Die negative Gefühlswelt, die Schwere, die Steiner mit ihren Darstellungen ausdrückt, sind

auch ohne Kenntnis des Romans wahrnehmbar. Wer das Buch gelesen hat, ist darüber hinaus in

der Lage, die Hintergründe für Steiners Darstellungsweise zu verstehen: Rudolfs geringes Selbstbe-

wusstsein, seine Selbstzweifel, seine Unfähigkeiten sowie die unzähligen, täglichen Demütigungen.

Besonders die Sprechblase „Wo ist meine Mutter?“ scheint Rudolfs Verzweiflung zum Aus-

druck zu bringen. Die Buchstaben sind groß, schwarz und fett gezeichnet, sie vermitteln Laut-

stärke und Dringlichkeit. Die Worte scheinen wie ein Aufschrei aus Rudolfs Mund zu kommen.

Mit dieser Sprechblase sowie mit „Warum häng ich hier am Kreuz?“ und „Hilf mir Mama, hilf mir“

verleiht Steiner Rudolf eine Stimme. Sie lässt den am Kreuz Hängenden sprechen und macht ihn

so zum Emittenten einer Botschaft mit einer bestimmten Kommunikationsabsicht.

Unter dieser Perspektive lässt sich der Element-Komplex als direktiver illokutionärer Akt klas-

sifizieren, der die Funktion innehat, eine Bitte um Hilfe auszudrücken. Expliziert wird Rudolfs

Hilferuf durch den direktiven Sprechakt „Hilf mir Mama, hilf mir“ . Als Illokutionsindikatoren

fungieren weiters die beiden direkten Reden „Warum häng ich hier am Kreuz?“ und „Wo ist meine

Mutter?“, die Unfähigkeitsbezichtigungen „Du kannst nicht boxen“ usw. und die grafische Gestal-

tung Rudolfs vor dem Hintergrund des Kreuzes. Alle diese Elemente tragen dazu bei, Rudolf als

Leidtragenden, Hilfesuchenden darzustellen, der sich nichts sehnlicher zu wünschen scheint, als

endlich aus seiner hoffnungslosen Lage erlöst zu werden. Rudolf richtet seine Bitte um Hilfe an

jene Person, zu deren ureigensten Aufgaben es zählt, für ihn zu sorgen: seine Mutter.

Element-Komplex II: Berta

Das Center des zweiten Element-Komplexes bildet die auffällig gestalte-

te Abbildung einer nackten Frauengestalt. Ihren Center-Stellenwert erhält

diese Darstellung durch ihre zentrale Positionierung, ihre Größe, ihre be-

deutsame Form (menschlich) und ihren Farbkontrast (helle Hautfarbe vs.

dunkle Hintergrundfarbe.) Grafisch und inhaltlich-logisch unmissver-

ständlich an die bildliche Darstellung der Frauengestalt geknüpft wird das

Margin „Berta“. Gestalterisch geben die räumliche Nähe und ein weißer

Streifen, der den Begriff mit dem Auge der Frauengestalt verbindet, Auf-

schluss über deren Zusammengehörigkeit.

Zudem steuert unser Weltwissen zu der Erkenntnis bei, dass „Berta“ als

Name und somit als Benennung der Frauengestalt zu verstehen ist.

Abb. XXV Element-Komplex II

Quelle: Augustin, Sehfläche, S. 21.

II. Praktische Ausführung | 6. Synthese 97

Auch das Margin „Mutter“ wird durch seine direkt

angrenzende Platzierung an die Frauengestalt ge-

knüpft. Die großen Buchstaben und die Platzierung

verleihen „Mutter“ einen superioren Stellenwert über

alle anderen Margins dieses Element-Komplexes und

weisen auf dessen zentrale Bedeutung hin. Beide Be-

griffe, „Mutter“ und „Berta“, legen die grundsätzlich

polysemantische Bedeutung der abgebildeten Frau-

endarstellung fest. Mit und auch ohne Kontextwis-

sen kann diese als (Rudolfs) Mutter Berta identifiziert

werden.

Grafisch durch die angrenzende Platzierung mit der

Frauengestalt und dem sprachlichen Ausdruck „Mut-

ter“ verbunden wird das gitterförmige Objekt, das

ebenfalls durch seine Größe und Platzierung zu den

übergeordneten Margins zählt. Etwas weniger groß

und salient wirken die sprachlichen Ko-Texte „Ich lebe

noch“, „Ich komme“, „Warte noch“. Diese werden durch ihre Einbettung zwischen den Buchstaben

von „Mutter“ unverkennbar damit verbunden und heben sich gleichzeitig durch den Schwarz-

Weiß-Kontrast hervor.

Diesen Margins eher untergeordnet, weil durch Positionierung, Farbe und Größe weniger auffäl-

lig gestaltet, erweisen sich der Begriff „Versuch“ und die sprachlichen Ko-Texte „Es waren zwei

Königskinder“, „Den prägenden modellierenden Tatzen des Lebens entzogen“. Beide integriert Steiner

in einen weißen Streifen mit schwarzer Kontur. Dieser weiße Streifen umschließt das Center und

alle anderen Margins des Element-Komplexes. Er verstärkt damit den engen Zusammenhang der

Elemente in seinem Inneren bei einer gleichzeitigen Abgrenzung nach außen von den restlichen

Darstellungen der Sehfläche.

Miteinander verbunden werden die verbalen und visuellen Elemente des Elemente-Komplexes

weiters durch die braune Hintergrundfläche. Eine Trennung des Element-Komplexes vom Rest

der Sehfläche bewirkt hingegen die blaue Hintergrundfläche, die direkt an den umschließenden

weißen Streifen angrenzt.

Es finden sich noch drei weitere Margins, die etwas außerhalb der umgrenzenden weißen Linie

platziert sind, sich aber dennoch auf das Center beziehen. Das erste stellt eine Sprechblase mit dem

Inhalt „Ich habe meine mißlungene Schöpfung beendet“ dar. Diese zählt aufgrund ihrer Platzierung

Abb. XXVI Center-Margin: Berta

Legende

Center-Margin

Frauengestalt„Ich lebe noch“

„Mutter“

Frauengestalt

„Ich habe meinemißlungene Schöpfung beendet“

„Es waren zwei Königskinder. Den prägenden, ...

braunesKreuz

brauneFläche

weißerStreifen

gitterförmigesObjekt

„Ich lebe noch“,„Ich komme“,„Warte noch“

„Mutter“

„Versuch“ „Berta“

„Verstünde ich den Krieg, dann hätte ich ihn verhindert.“

98 II. Praktische Ausführung | 6. Synthese

und Größe zu den weniger salient und hierarchisch untergeordneten Margins. Die Sprechblase mit

„Ich habe meine mißlungene Schöpfung beendet“ wird durch ihre Ausrichtung auf die Frauengestalt

recht deutlich mit dieser verknüpft. Wer Fritz’ Roman kennt, verfügt zusätzlich über das Wissen,

dass Berta nach dem Mord an ihren Kindern eine Nachricht mit diesem Wortlaut hinterlässt.

Das zweite Margin stellt ein Kreuz dar, das zu einem kleinen Teil mit dem weißen Streifen

verschmilzt und zum größeren außerhalb platziert ist. Inhaltlich könnte sich das Kreuz auf das

Grab in Bertas Albtraum beziehen, einen klaren Hinweis auf dessen Bedeutung gibt es aber nicht.

Das dritte Element, der sprachliche Ko-Text „Verstünde ich den Krieg, dann hätte ich ihn ver-

hindert“, weist weder einen semantischen, noch einen grafischen Bezug durch Platzierung, Farbe,

Form o. Ä. auf. Um die Bedeutung dieses Elements verstehen zu können, bedarf es der Kenntnis

von Fritz’ Roman.270 Mit diesem Margin referiert Steiner auf Geschehnisse in Die Schwerkraft

der Verhältnisse, die auf der Sehfläche nicht weiter thematisiert werden. Die geringe thematische

Relevanz spiegelt sich auch in der unauffälligen Gestaltung dieses sprachlichen Ko-Textes wider.

Das eigentliche Thema des Element-Komplexes kann auch ohne Vorwissen, dank des Zusammen-

spiels von Sprache und Bild, erschlossen werden: Grafisch wie inhaltlich im Center steht die Mutter

Berta. Nur wer Fritz’ Text gelesen hat, kann darüber hinaus den Bildakt als Repräsentation des

Romaninhalts begreifen und die Darstellungen auf der Sehfläche als Beschreibungen bestimmter

Geschehnisse von Fritz’ Roman wiedererkennen. Der Bildakt hat somit eine repräsentative illoku-

tionäre Rolle inne: Die braune Hintergrundfläche mit Kreuz, in deren Zentrum die abgebildete

Frauengestalt platziert ist, erinnert an das Grab, in dem Berta in ihrem Traum feststeckt. „Ich lebe

noch“, „Ich komme“, „Warte noch“271 ruft Berta ihrem am Kreuz hängenden Sohn zu, während sie

vergebens versucht, ihrem Gefängnis zu entrinnen. „Versuch“ sowie „Es waren zwei Königskinder“,

„Den prägenden modellierenden Tatzen des Lebens entzogen“ spielen auf die schwierigen Lebens-

umstände von Berta und ihren Kindern an, thematisieren aber vor allem Bertas Bestreben, ihre

Kinder vor der „Schwerkraft der Verhältnisse“ zu schützen. Tatsächlich bringt Berta ihre Kinder in

dem „Versuch“, ihre „zwei Königskinder [...] den prägenden und modellierenden Tatzen des Lebens“

zu entziehen, ums Leben. Nach begangener Tat hinterlässt sie auf dem Tisch im Esszimmer ihrem

Lebensgefährten Wilhelm eine Notiz mit den Worten: „Ich habe meine mißlungene Schöpfung be-

endet“. Nach dem Mord an ihren Kindern wird Berta in einer Irrenanstalt (gitterförmiges Objekt)

untergebracht.

270 Ein Teil des Romans spielt in den Jahren des zweiten Weltkriegs: Im Jahr 1945 sucht der Heimkehrer Wilhelm Berta auf und benachrichtigt sie vom Tod Rudolfs (Bertas Geliebter und Vater von Rudolf ). Wilhelm löst das Versprechen ein, das er seinem Kameraden Rudolf vor dessen Tod gegeben hat - er bleibt bei Berta.

271 Steiner gibt hier nicht den genauen Wortlaut aus Fritz’ Roman wieder. Dort ruft Berta: „Rudolf! Ich lebe noch! Ich komme! Warte nur! Hab Geduld! Ich werde dich herunterholen! Rudolf!“ (Fritz, Schwerkraft, S. 60)

II. Praktische Ausführung | 6. Synthese 99

Wieder gelingt es Steiner mit ihrer Darstellungsweise, ausdrucksstarke negative Emotionen zu

kommunizieren: zum einen durch die nackte Gestalt Bertas mit den unproportional langen Glie-

dern, dem hervorstechenden Rückgrat, den schwarzen Strichen vor den wie Kugeln anmutenden

Augen, dem geöffneten Mund, dem Fehlen der Haare am Hinterkopf. Zum anderen durch die

Abbildung mit Bedeutung aufgeladener Symbole wie Kreuz und gitterförmiges Objekt. Drittens

durch die Farbwahl matter ungesättigter Farben, wobei braune und hautfarbene Töne vorherr-

schen. Auch der typografischen Ausdruckskraft des Begriffs „Mutter“ vermag man sich kaum zu

entziehen: Die Laufrichtung der Buchstaben weist nach unten statt nach oben, wobei diese immer

größer werden. Die Last seiner Bedeutung scheint „Mutter“ regelrecht nach unten zu ziehen und

von Buchstabe zu Buchstabe zuzunehmen.

Der Bildakt tritt somit als expressiver illokutionärer Akt in Erscheinung, er übernimmt die

Funktion, negative Emotionen wie Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit o. Ä. zum Ausdruck zu brin-

gen. Steiner scheint hier auf Bertas emotionalen Zustand angesichts ihres Scheiterns als Mutter,

sowohl im Traum als auch im „wirklichen“ Leben, zu verweisen.

Die Künstlerin verleiht Berta aber nicht nur Emotionen, sondern auch eine Stimme. Auf

Rudolfs Frage „Wo ist meine Mutter?“ antwortet Berta ihrem Sohn: „Ich lebe noch“, „Ich komme“,

„Warte noch“. Berta wird hier zur Emittentin einer Botschaft mit der Kommunikationsabsicht,

Rudolf ihre Hilfe zu versprechen. Der Element-Komplex mit Berta im Zentrum übernimmt somit

auch eine komissive illokutionäre Rolle, er fungiert dazu, ein Versprechen auszudrücken. Veran-

schaulicht wird dieses Versprechen durch die Abbildung Bertas, versprachlicht durch die Ko-Texte.

Besonders manifestiert sich Bertas Versprechen in dem komissiven Sprechakt „Ich komme“.

Bertas Bestreben, eine „gute“ Mutter zu sein, nimmt in Fritz’ Roman allerdings eine drastische

Wende: Um Rudolf und Klein-Berta vor „Der Schwerkraft der Verhältnisse“ zu beschützen, bringt

sie ihre Kinder ums Leben. Auf diesen Handlungsverlauf rekurriert der dritte Element-Komplex.

Element-Komplex III: Rudolf und Klein-Berta

Das grafische und semantische Center des Element-Komplexes stellt die

Abbildung zweier nackter menschlicher Gestalten dar. Sie werden von

den Margins, die sich auf das Center beziehen, beinahe kreisförmig um-

geben. Zu den most salient und daher hierarchisch weiter oben stehen-

den Margins zählt der sprachliche Ko-Text „Rudolf und Klein-Berta“.

Ihren übergeordneten Stellenwert erhalten diese Elemente durch ihre

Positionierung direkt über dem Center und den starken Schwarz-Weiß-

Kontrast, der sie vor allem von der braunen und blauen Farbe der Hin-

tergrundflächen abhebt. Inhaltlich-logisch ist der sprachliche Ko-Text

Abb. XXVII Element-Komplex III

Quelle: Augustin, Sehfläche, S. 21.

100 II. Praktische Ausführung | 6. Synthese

„Rudolf und Klein-Berta“ bedeutend, weil er die Abbildungen der beiden nackten menschlichen

Gestalten unmissverständlich als Rudolf und Klein-Berta ausweist. Wesentlich ist dabei die Plat-

zierung der Bezeichnungen direkt über den Köpfen der Bezeichneten. Ohne diesen grafischen

Zusammenhang würde das Verständnis deutlich erschwert.

Zum dritten Element-Komplex gehören auch die beiden weißen Kreuze, die direkt über den Na-

men „Rudolf und Klein-Berta“ und damit über den bildlichen Darstellungen ihrer Körper platziert

sind. Die weiße Farbe der Kreuze, die sich vom dunkelblauen Hintergrund abhebt, und ihre re-

lative Größe verleihen auch diesen bildhaften Elementen einen übergeordneten Stellenwert. Das

Kreuz stellt in unserer westlichen Gesellschaft ein mit Bedeutungen aufgeladenes Symbol dar, es

wird eng mit dem Tod in Verbindung gebracht. Entsprechend können auch RezipientInnen, die

mit dem Inhalt von Die Schwerkraft der Verhältnisse nicht vertraut sind, die Abbildung von

Rudolf und Klein-Berta mit dem Thema Tod in Zusammenhang bringen. Diese Assoziation wird

durch die braune grabhügelartige Hintergrundfläche unterstützt.

Der untere Rand dieser braunen Hintergrundfläche geht beinahe nahtlos durch einen feinen

Farbverlauf in schmale schwarze Pfeile über. Dadurch werden die Pfeile, trotz fehlender semanti-

scher Bezüge, eindeutig dem Element-Komplex zugeordnet.

Die Spitzen der Pfeile richten sich direkt auf den sprachlichen Ko-Text „Aber ich bin doch

kein schlechter ...“, der dadurch ebenfalls mit dem dritten Element-Komplex verbunden wird. Ei-

nen inhaltlich-logischen Zusammenhang können allerdings nur RezipientInnen herstellen, die mit

Fritz’ Roman vertraut sind: Die Worte werden in Bertas Traum von Rudolf am Kreuz gesprochen.

Nach außen hin ab- und nach innen hin eingegrenzt werden die konstitutiven Elemente des

dritten Element-Komplexes durch einen weißen umschließenden Streifen. Dieser signalisiert deut-

lich den engen Zusammenhang der sprachlichen und bildlichen Elemente in seinem Inneren.

Getrennt wird der dritte Element-Komplex vom Rest der Sehfläche durch eine blaue Hintergrund-

fläche, die direkt an den weißen Streifen angrenzt.

Auch dieser Element-Komplex tritt als repräsentativer illokutionärer Akt in Erscheinung. Die

Funktion des Bildaktes besteht wiederum darin, einen bestimmten Inhalt von Fritz’ Roman zu

beschreiben. Mit ihren Darstellungen greift Steiner zwei Thematiken aus Fritz’ Roman auf: zum

einen die Hintergründe für die Ermordung von Rudolf und Klein-Berta, zum anderen ihren Tod.

Das Thema Tod kann, wie bereits erwähnt, durch die dargestellten Elemente auch von Rezipien-

tInnen ohne Kontextwissen erfasst werden. Die Hintergründe für den Tod der Kinder können

hingegen nur mit Bezug auf Die Schwerkraft der Verhältnisse verstanden werden. Steiner spielt

mit ihrer Darstellung von Rudolf und Klein-Berta darauf an:

II. Praktische Ausführung | 6. Synthese 101

Rudolfs verkrümmt daliegender Körper verweist auf seine

verzweifelte Lage. Die betende Klein-Berta mit den ge-

schlossenen Augen rekurriert auf Bertas verhängnisvolle

Einsicht, dass der Schlaf ihre Tochter von der „Schwerkraft

der Verhältnisse“ bewahrt. Um ihre Kinder von ihren Lei-

den zu erlösen, versetzt Berta diese in „ewigen Schlaf“ - sie

tötet Rudolf und Klein-Berta.

Die Emotionen, die Fritz durch ihre Erzählungen herauf-

beschwört, vermag Steiner wiederum durch ihre Gestal-

tungsweise zum Ausdruck zu bringen. Besonders Rudolfs

Gesichtsausdruck evoziert Assoziationen wie Verzweiflung,

Kummer, Elend o. Ä. Unterstützend wirken wiederum die

restlichen Margins des Element-Komplexes: die schwarzen

spitzen Pfeile, die grabhügelartige braune Fläche mit den

weißen Kreuzen, die ungesättigten dunklen Farben und

der sprachliche Ko-Text. Auch dieser Bildakt fungiert so-

mit als expressiver illokutionärer Akt.

Obwohl alle drei beschriebenen Element-Komplexe unverkennbar grafisch und inhaltlich jeweils als

eine Einheit konzipiert sind und sich durch trennende Farben, Formen und Inhalte voneinander

und vom Rest der Sehfläche abgrenzen, finden sich auch unübersehbare Zusammenhänge.

Ein semantischer und grafischer Bezug wird zwischen dem ersten Element-Komplex (Rudolf

am Kreuz) und dem zweiten (Berta) durch die Sprechblase mit „Wo ist meine Mutter“ hergestellt:

Grafisch durch die räumliche nahe Platzierung, semantisch durch die Rekurrenz des sprachlichen

Ko-Textes („Wo ist meine Mutter“) auf die abgebildete Frauengestalt (Mutter). Die ähnliche Farb-

und Formgestaltung der menschlichen Figuren schaffen ebenfalls eine Verbindung.

Auch zwischen dem ersten Element-Komplex (Rudolf am Kreuz) und dem dritten Element-

Komplex (Rudolf und Klein-Berta) besteht ein Zusammenhang. Dieser wird grafisch durch die

angrenzende Platzierung bewirkt sowie durch die ähnlichen Farben und Formen der menschlichen

Gestalten.

In einem besonders deutlichen Zusammenhang stehen der zweite Element-Komplex (Berta)

und der dritte (Rudolf und Klein-Berta) durch ihre ähnliche Gestaltungsweise: Beide Element-

Komplexe besitzen eine braune Hintergrundfläche, die von einem weißen Streifen mit schwarzer

Kontur und eingebettetem sprachlichen Ko-Text umschlossen wird. Zudem findet sich bei beiden

Legende

Grösse: je größer umso au�älliger

Position: je näher am Zentrum, desto enger der Bezug

Platzierung: je näher, desto enger der BezugÜberlappung: Integration eines Elementes i.d. andere

Center-Margin

Rudolf und Klein-Berta„Aber ich bin doch kein schlechter ...“

„Rudolf und Klein-Berta“

weiße Kreuze

weißer Streifen

brauneFläche

Pfeile

„Aberich bin doch

kein schlechter...

„Rudolf und Klein-Berta“

Rudolfund

Klein-Berta

Abb. XXVIII Center-Margin

102 II. Praktische Ausführung | 6. Synthese

Entitäten die Abbildung einer menschlichen Gestalt (bzw. zweier menschli-

cher Gestalten) im Zentrum.

Sichtbar voneinander getrennt werden die beiden Element-Komplexe aller-

dings entlang einer vertikalen Achse durch eine blaue Hintergrundfläche. Da-

durch zerfallen sie in einen oberen und unteren Teil, wobei dem oberen der In-

formation Value Ideal und dem unteren der Information Value Real zukommt.

Diese Real-Ideal Struktur kann allerdings nur von RezipientInnen nachvollzo-

gen werden, die mit Fritz’ Text vertraut sind und die dargestellten Elemente

auf der Sehfläche in den Kontext ihres Romans stellen können.

So referiert Steiner mit ihren Darstellungen im unteren Element-Komplex auf

Geschehnisse, die Fritz als reales Geschehen erzählt: die schwierigen Lebens-

umstände von Bertas Kindern - im Besonderen Rudolfs Leiden (verkrümmt

daliegender, nackter Körper, Pfeile, sprachlicher Ko-Text „Aber ich bin doch

kein schlechter ...“), Bertas Vergleich ihrer Tochter mit der Madonna (sitzende,

betende Gestalt), Bertas vermeintliche Erkenntnis, der Schlaf würde ihre

Kinder der „Schwerkraft der Verhältnisse“ entziehen (geschlossene Augen der betenden Gestalt),

die Ermordung der Kinder durch ihre Mutter (braune Hintergrundfläche, Kreuze mit Namen,

menschliche Gestalten). Die Repräsentation dieser in Fritz’ Roman als real dargestellten Ereignisse

verleiht dem unteren Element-Komplex den Information Value Real.

Komplexer verhält es sich mit dem Information Value Ideal im oberen Element-Komplex,

der in einem engen Zusammenhang mit Bertas Mutterschaft steht: Berta ist bestrebt, eine „gute“

Mutter zu sein. Sie erzieht ihre Kinder mit „inniger Hingabe, ständiger Aufmerksamkeit“272, sie

erteilt ihnen Ratschläge und hält „eine Stunde, in der sie ihren beiden Sprößlingen nicht eine wich-

tige Lehre fürs Leben erteilt hatte, für eine für immer versäumte Gelegenheit, die es zu betrauern

galt“273. Unermüdlich versucht Berta, ihre Kinder zu bestärken und aufzumuntern. Dennoch ge-

lingt es ihr nicht, ihren eigenen idealistischen Vorstellungen vom Mutter-Sein zu entsprechen. Der

Mord an Rudolf und Klein-Berta mutet wie ein letzter Versuch an, ihre Kinder vor der „Schwer-

kraft der Verhältnisse“ zu schützen. Motiviert scheint diese Tat durch Bertas eigenes Mutter-Ideal.

Bertas individuelle idealistische Vorstellungen von Mutterschaft, die sich in ihrer Handlungs-

weise offenbaren und ihrer Mutterliebe entspringen mögen, verquicken sich in Fritz’ Roman mit

einem kulturell gewachsenen, gesellschaftlichen Mutter-Ideal. Dieses wird durch das Bild der Ma-

donna über Bertas Ehebett ins Spiel gebracht.

272 Fritz, Schwerkraft, S. 32.

273 Ebda.

Abb. XXIX Ideal-Real

Quelle: Augustin, Sehfläche, S 21.

II. Praktische Ausführung | 6. Synthese 103

Die Faszination, die Berta für die abgebildete Madonna empfindet, mag in ihrer Sehnsucht

wurzeln, einem Mutter-Ideal zu entsprechen, das für sie (und für alle anderen sterblichen Frauen)

unerreichbar ist und bleibt. Die Madonna verkörpert als Schutzpatronin in- und auch außerhalb

von Fritz’ Roman ureigenst Liebe und Schutz. Nur ihr kann gelingen, was Berta vergebens ver-

sucht: ihre Kinder vor der „Schwerkraft der Verhältnisse“ zu bewahren.

Steiner scheint auf diesen spannungsreichen Konflikt von Bertas Mutterschaft hinweisen zu wollen,

indem sie den Begriff „Mutter“ im oberen Element-Komplex besonders auffällig und aussagekräf-

tig gestaltet: Die Leserichtung der Buchstaben verläuft von oben nach unten, indes die grafischen

Zeichen immer größer werden. Die Buchstaben scheinen wie von der Schwerkraft nach unten

gezogen zu werden, die Steigerung ihrer Größe scheint mit ihrem Gewicht und ihrer Lautstärke zu

korrelieren: Je näher die Buchstaben räumlich zu der Abbildung von Bertas Kindern positioniert

sind, umso lauter werden sie und umso größer erscheint ihr Gewicht. „Mutter“ wirkt mit jedem

Buchstaben bedeutungsschwerer.

Tatsächlich ist „Mutter“ ein reich mit Nebenbedeutungen besetzter Begriff, an den sich in-

dividuelle und gesellschaftliche Erwartungen, Wertungen und Normen knüpfen. Bis heute ist

traditioneller Weise die Mutter dafür verantwortlich, ihre Kinder verantwortungsvoll großzuziehen

und für ihr Wohlergehen Sorge zu tragen.

Die idealistische Nebenbedeutung des Begriffs „Mutter“ wird von dem typografisch auffällig ge-

stalteten „Mutter“ auf der Sehfläche mitgetragen. Das Ideal umfasst dabei sowohl die persönlichen

idealistischen Vorstellungen Bertas von einer „guten“ Mutter als auch ein gesellschaftliches ideelles

Mutter-Konzept, das durch die Madonna in Fritz’ Roman repräsentiert wird.

Auch die Worte „Ich lebe noch“, „Ich komme“, „Warte noch“, die Steiner demonstrativ zwischen die

Buchstaben von „Mutter“ platziert und damit eng an diesen Begriff knüpft, stehen in diesem Zu-

sammenhang. Es konnte bereits festgestellt werden, dass Berta als Emittentin dieser Äußerungen

fungiert, wobei ihre Kommunikationsabsicht darin besteht, ein Versprechen auszudrücken.

Mit diesem Versprechen „Ich lebe noch“, „Ich komme“, „Warte noch“ sichert Berta ihrem am Kreuz

hängenden Sohn ihre Hilfe und ihren Schutz zu. Die komissiven Sprechakte stehen exemplarisch

für Bertas Wunsch, den Anforderungen einer „guten“ Mutter zu entsprechen und ihre Kinder vor

allem Leiden dieser Welt zu bewahren. Selbst in Bertas Traum bleibt dies allerdings ein „Versuch“,

Bertas Versprechungen bleiben ideal.

Die unüberbrückbare Kluft zwischen Bertas „realer“ Mutterschaft und ihrem Mutter-Ideal ist

von Beginn des Romans an zu spüren und spitzt sich immer mehr zu. Der Mord an ihren Kinder

mag die LeserInnen dennoch überraschen. Ausschlaggebend für Bertas Handlungsweise scheint

104 II. Praktische Ausführung | 6. Synthese

ihre Beobachtung zu sein, dass die schlafende Klein-Berta der Madonna auf dem Bild über ihrem

Ehebett unheimlich ähnlich sieht. Es ist der Schlaf, der Bertas Tochter der „Schwerkraft der Ver-

hältnisse“ entzieht. In diesen als friedvoll empfundenen Zustand scheint Berta ihre Kinder durch

deren Ermordung dauerhaft versetzen zu wollen.

Doch als Rudolf und Klein-Berta tot vor ihr liegen, muss ihre Mutter schockiert feststellen,

dass der Tod ihre Tochter aller Ähnlichkeit mit der Madonna beraubt hat. Auch ihr Sohn ähnelt in

keiner Weise dem Jesuskind. Der Tod hat ihren Kindern nichts bleibendes Himmlisches verliehen.

Er hat Rudolf nicht wie Jesus von seinen Leiden erlöst und eine Wiederauferstehung ermöglicht.

Bertas Mord erhebt sie nicht zur idealen Mutter, sondern degradiert sie zur banalen Mörderin.

Die Erzählung dieser tragischen Ereignisse mag auch als Warnung von Fritz vor den möglichen

Konsequenzen solcher idealer Bilder und Konzepte gedacht sein.

In Steiners Sehfläche wird das Ideal somit vor allem über den Begriff „Mutter“, aber auch über die

sprachlichen Ko-Texte „Ich lebe noch“, „Ich komme“, „Warte noch“ im oberen Element-Komplex

transportiert. Diese Elemente besitzen den Information Value Ideal, sie verweisen auf das ideelle

Konzept der idealen Mutter. Dieses Ideal steht in Opposition zu Bertas „realem“ Mutter-Sein,

besonders zu der Tötung ihrer Kinder. Denn auch wenn Bertas Beweggründe von dem Wunsch

motiviert sein mögen, das Beste für ihre Kinder zu tun, so sind die Konsequenzen ihrer Hand-

lungsweise destruktiv, wie sie selbst nach begangener Tat feststellen muss.

Diese „Wirklichkeit“ repräsentiert Steiner durch ihre Darstellungen im unteren Element-

Komplex, der somit den Information Value Real innehat.

Verbliebene Elemente der Sehfläche

Es finden sich ein paar wenige Elemente auf der Sehfläche, die keine Zugehörigkeit zu einem der

drei Element-Komplexe aufweisen. Dazu zählen die bisher unerwähnten sprachlichen Ko-Texte

„Marianne Fritz“, „Die Schwerkraft der Verhältnisse“ und „M. Steiner 2011“. Es handelt sich dabei

um Metainformationen. „Marianne Fritz“: die Autorin. „Die Schwerkraft der Verhältnisse“: der Titel

ihres Romans.274 „M. Steiner 2011“: die Künstlerin und Erschafferin der Sehfläche sowie das Ent-

stehungsjahr ihres Romans.

Abgesehen von diesen drei Elementen, die eine berechtigte metasprachliche Funktion inne-

haben, befinden sich alle anderen in einem Gefüge semantischer und/oder grafischer Zusammen-

hänge. Diese können dabei helfen, einen möglichen Reading Path festzustellen - das heißt, zu

untersuchen, wie Steiners Sehfläche „gelesen“ werden kann.

274 Diese zwei sprachlichen Ko-Texte sind problemlos verständlich für RezipientInnen, die Fritz’ Roman kennen.

II. Praktische Ausführung | 6. Synthese 105

Reading Path

Steiners Sehfläche stellt eine nicht-lineare Komposition dar - sie erzwingt kein „Seh-Lesen“

von links nach rechts und gibt somit keinen ausschließlichen Reading Path vor. Es erscheint al-

lerdings plausibel, dass das Auge bei der Betrachtung der Sehfläche als erstes an dem auffälligsten

Element hängen bleibt. Es handelt sich dabei um die Abbildung von Rudolf am Kreuz, die durch

ihre Größe, ihre zentrale Positionierung sowie durch ihre Farb- und Formgestaltung das most sali-

ent Element der Sehfläche darstellt.

Von Rudolf am Kreuz wird das Auge über die Sprechblase mit dem sprachlichen Ko-Text „Wo

ist meine Mutter?“ weiter zu der ebenfalls auffällig gestalteten, aber etwas dezentraler neben der

Sprechblase platzierten Frauengestalt geleitet. An diese knüpft sich durch seine nahe räumliche

Platzierung der typografisch auffallende Begriff „Mutter“.

Der Blick mag noch kurz auf dem daneben platzierten sprachlichen Ko-Text „Berta“ verweilen, der

sich durch seinen Schwarz-Weiß-Kontrast zwischen der abgebildeten Frauengestalt und „Mutter“

hervorhebt. Er kann aber auch sofort zu den beiden menschlichen Gestalten (Rudolf und Klein-

Berta) direkt unter der Abbildung Bertas weiter wandern. Diese zieht die Aufmerksamkeit der

BetrachterInnen vor allem durch ihre Größe und ihre menschlichen Formen auf sich.

Wohin das Auge fortan wandert ist schwierig zu sagen, da weder die Gestaltung der Elemente

noch deren grafische bzw. semantische Bezüge eine spezifische Richtung vorgeben. Deshalb liegt

die Vermutung nahe, dass der weitere Reading Path von RezipientIn zu RezipientIn variiert.

Denkbar wäre es, dass der Blick auf die schwarzen Pfeile unterhalb des Kreuzes als nächst platzierte

Elemente fällt. Von dort aus zurück zu der Gestalt am Kreuz wandert und weiter zu der kopf-

losen blauen Figur, die aufgrund ihrer Größe den Blick auf sich zieht. Von dort könnte er über

die Sprechblase mit „Du bist zu nicht zu gebrauchen“ aufgrund deren nahen Platzierung und der

Ähnlichkeit der Formen zu der Sprechblase „Warum häng ich hier am Kreuz?“ geleitet werden und

weiter zu dem direkt darüber platzierten sprachlichen Ko-Text „Marianne Fritz“.

Genauso möglich wäre es, dass der Blick von der Abbildung Rudolfs und Klein-Bertas direkt zu

der blauen Figur springt. Von dort könnte er nach unten zu den angrenzend platzierten Pfeilen

mit dem sprachlichen Ko-Text „Die Schwerkraft der Verhältnisse“ und „Das Leben ist doch ein böser

Traum“ gelenkt werden. Er könnte weiter über den Helm, als nächst platziertes Element, zu den

schwarzen Pfeilen unterhalb des Kreuzes wandern. Andere Varianten sind ebenso plausibel.

Ein eindeutiger Reading Path ist unter anderem kaum denkbar, weil viele Elemente der Seh-

fläche einander nicht eindeutig über- oder untergeordnet, sondern nebengeordnet sind. Zudem

sind die semantischen und/oder grafischen Zusammenhänge komplex und werden mit Hilfe

106 II. Praktische Ausführung | 6. Synthese

verschiedenster Verknüpfungsmittel hergestellt. Verdeutlicht werden kann dies anhand von zwei

schematischen Darstellungen, welche die Strukturen der Sehfläche vereinfacht veranschaulichen:

Abb. XXX zeigt die grafisch erzeugten Hierarchien der Elemente. Das oberste Element ist allen

anderen übergeordnet, die untersten Elemente sind allen anderen untergeordnet. Die Elemente,

die in einer Reihe nebeneinander stehen, sind auch in Steiners Sehfläche einander nebengeordnet.

Die Art der grafischen Auszeichnung wird durch einen Kasten mit gepunkteter Kontur markiert.

* Die Frauengestalt ist zentral platziert, aber dezentraler als Rudolf am Kreuz und daher dieser Abbildung untergeordnet.

Legende:

Auszeichnung:

Bildliche Darstellungen: Rudolf am Kreuz Direkte Rede: „Wo ist meine Mutter?“Sprachlicher Ko-Text: „Rudolf hing am Kreuz“

Platzierung Kontrast, Platzierung Kontrast, Platzierung

Grafische Symbole:

Bezeichnet die Art der grafischen Auszeichnung durch:(zentrale) Platzierung, (überragende) Größe, (auffällige) Farbe, (Farb-)Kontrast, (bedeutende) Form:

Rudolf am Kreuz

Pfeile

blaue, kop�oseGestalt

„Wo ist meine Mutter?“

„Warum häng ich hier am Kreuz?“

„Du bist zu nichtszu gebrauchen“

„Rudolf hing am Kreuz“

Frauengestalt

„Ich habe meinemißlungene Schöpfung beendet“

„Es waren zwei Königskinder. Denprägenden, modellierendenTatzen des Lebens entzogen“

braunes Kreuz

weiße Kreuze

Helm

gitterförmigesObjekt

„Ich lebe noch“,„Ich komme“,„Warte noch“

„Mutter“ „Versuch“„Berta“

„Verstünde ich den Krieg, dann hätte ich ihn verhindert.“

„Du kannst kein Instrument spielen“ Etc.

„Rudolf und Klein-Berta“

Die Schwerkraft der Verhältnissebraune Hintergrund�ächeumschließender, weißer Streifen

Pfeile 3.Element-Komplex

Rudolf undKlein-Berta

„Aber ich bin doch kein schlechter ...“

„Das Leben ist doch ein böser Traum?“

„Die Schwerkraftder Ver[hältnisse]“

Abb. XXX Über-, Unter-, Nebenordnungen

II. Praktische Ausführung | 6. Synthese 107

Abb. XXXI zeigt, welches Element mit welchen Mitteln mit einem nächsten verknüpft wird und

wie die RezipientInnen von einem Element zum nächsten gelangen können.

Abb. XXXI Grafische/Semantische Bezüge

Legende:

gleiches Farbschema

Ähnlichkeit der Form

Integration

räumlich nahe Platzierung

Ausrichtung der Sprechblase

ein Element verweist auf das andere

G: Farbe

G: Form

G: Integration

G: Platzierung

G: Sprechblase

G: Verweis

Bild wird sprachlich benannt

Frage wird beantwortet

Sprachlicher Ko-Text nimmt das Bild wieder auf bzw. umgekehrt.

S: Benennung

S: Frage - Antwort

S: Wiederaufnahme

„Du kannst kein Instrument spielen“„Du fällst immer hin“„Du kannst nicht rechtschreiben“„Du kannst nicht boxen“„Du bist feig“„Du bist ein Bettnässer“„Sonderschüler“„Du taugst für keinen Kampf“„Du hast immer nur Durchfall“„Du kannst dir keine Zahlen merken“„Du blutest aus der Nase“„Du kannst den Ball nicht au�angen“„Hilf mir Mama, hilf mir“

Rudolf am Kreuz

Pfeile

blaue,kop�ose Gestalt

schwarz kontrurierte Pfeile

Frauengestalt

brauneHintergrund�ächeumschließender,weißer Streifen

brauneHintergrund�ächeumschließender,weißer Streifenweiße Kreuze

schwarze Pfeile

Rudolf undKlein-Berta

„Aber ich bin doch kein schlechter ...“

„Ich habe meinemißlungene Schöpfung beendet“

„Es waren zwei Königskinder.Den prägenden,modellierendenTatzen des Lebensentzogen.“

braunesKreuz

gitterförmigesObjekt

„Wo ist meine Mutter?“

„Ich lebe noch“,„Ich komme“,„Warte noch“

„Warum häng ich hier am Kreuz?“

„Du bist zu nichts zu gebrauchen“

„Das Leben ist doch ein böser Traum?“

„Rudolf hing am Kreuz“

„Mutter“

„Die Schwerkraftder Ver[hältnisse]“

„Versuch“

„Berta“

„Rudolf und Klein-Berta“

108 II. Praktische Ausführung | 6. Synthese

Kurz und prägnant kann abschließend formuliert werden:

1. Sprache und Bild konkretisieren einander und potenzieren gegenseitig ihr Bedeutungspotential.2. Das Zusammenspiel von Sprache und Bild fördert das Verständnis der Sehfläche.3. Zusammenhänge zwischen Sprache und Bild können sowohl semantisch wie grafisch beschaffen sein.4. Die grafische Gestaltung gibt Aufschluss über die Bedeutsamkeit der Elemente.5. Grafische Prinzipien können von anderen grafischen Prinzipien untergraben werden. 6. Das Vorwissen der RezipientInnen spielt eine wesentliche Rolle für die Rezeption und sollte von den ProduzentInnen einer Sehfläche berücksichtigt werden.7. Die vorliegende Arbeit stellt die Interpretation einer Interpretation dar.

6. Schlusswort

Die vorliegende Arbeit ist der Analyse einer Sprache-Bild-Kombination (Sehfläche) gewidmet.

Drei unterschiedliche Analysemodelle werden herangezogen, deren Synthese einen möglichst ganz-

heitlichen Blick auf die Sehfläche eröffnet. Stets begleitet werden die vielfältigen Untersuchungen

von der leitenden Intention, das Zusammenspiel von Sprache und Bild in seiner Komplexität,

seiner Effizienz und seiner Eleganz zu erfassen und zu beschreiben.

Der erste Teil der Arbeit setzt sich mit grundlegenden theoretischen Fragen auseinander. Ein-

geleitet wird mit einer Bestandsaufnahme aktueller, im Wandel begriffener, kommunikativer Prak-

tiken, deren charakteristische Stichworte iconic turn, pictural turn und Multimedialität/Multimo-

dalität lauten. Die Präsenz multimedialer Kommunikationsangebote ist den Wissenschaften nicht

verborgen geblieben, wie sich im Zuge der Sichtung des aktuellen Forschungsstands zu Sprache-

Bild-Kombinationen zeigt.

Der Klärung der Grundbegriffe der Arbeit folgt eine Aufstellung der Besonderheiten von

Sprache und Bild sowie die Darlegung der Zielsetzung der Arbeit und des methodischen Vorge-

hens. Der theoretische Teil schließt mit einem Einblick in Leben und Werk der Künstlerinnen

Magdalena Steiner und Marianne Fritz. Mit einer prägnanten Inhaltsangabe von Fritz’ Roman Die

Schwerkraft der Verhältnisse, auf dessen Inhalt Steiner mit den Darstellungen ihrer Sehfläche

rekurriert, wird auf den praktischen Teil der Arbeit vorbereitet. Dieser setzt sich aus drei Analysen

sowie deren Synthese zusammen und stellt den Kern der Arbeit dar.

Das erste Analysemodell stammt von der Sprachwissenschafterin Franziska Große und ist

genuin sprachwissenschaftlich ausgerichtet. Die breit gefächerten Analysekriterien, die Große

der Sprachwissenschaft entlehnt und für Sprache-Bild-Kombinationen modifiziert, verhelfen zu

vielfältigen Erkenntnissen. Zu Großes externen Analysekriterien zählen unter anderem die Un-

tersuchung von Produktion und Rezeption einer Sehfläche. Deren semantische und grafische Zu-

sammenhänge werden anhand von Kohärenz und Kohäsion ausführlich besprochen. Besonders

die Analyse der Bildfunktion nimmt die gemeinsame Funktionsweise von Sprache und Bild in

II. Praktische Ausführung | 6. Synthese 109

den Blick und erfordert die Einbeziehung der Inhalte von Fritz’ Roman. Es zeigt sich, dass die

Sehfläche als Bildakt neben der Unterhaltungsfunktion auch eine repräsentative und expressive

Funktion innehat, und dass einzelne Sprache-Bild-Verbunde jeweils als komissiver und direktiver

illokutionärer Akt zu klassifizieren sind.

Als zweites Analysemodell wird das sozial-semiotische Analysemodell nach Kress und van

Leeuwen herangezogen. In den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stellen die beiden Autoren die

Komposition. Diese wird von grafischen Hierarchien und Relationen konstituiert, die bestimmte,

kulturell gewachsene Bedeutungen transportieren. Kress und van Leeuwen lassen die externen Fak-

toren einer Sehfläche ganz außer Acht. Ihr Fokus liegt auf dem Kommunikationsangebot selbst.

Ihr Kriterium Salience ermöglicht die Aufschlüsselung der hierarchischen Strukturen der Elemen-

te von Steiners Sehfläche anhand ihrer Gestaltung. Framing gibt Aufschluss über grafische Ver-

bindungen und Trennungen, die durch Linien, Flächen, Platzierung, Farbe und Form geschaffen

werden. Mit Hilfe von Salience und Framing kann ein möglicher Reading Path festgestellt werden.

Eine besondere Rolle spielt bei Kress und van Leeuwen die Platzierung der Elemente, weil

sie diese mit einem bestimmten Information Value ausstattet. So besitzt Steiners Sehfläche drei

wahrnehmbare Centers, auf die sich die zugehörigen Margins grafisch und semantisch beziehen.

In Opposition zueinander stehen auf der Sehfläche die Elemente mit dem Information Value Real

und dem Information Value Ideal, die entlang einer vertikalen Achse getrennt werden. Das Real von

Bertas Mutter-Sein, besonders die Tötung ihrer Kinder, wird dabei im unteren Teil repräsentiert,

das Ideal der allumfassend liebenden und Schutz gewährenden Mutter im oberen.

Das dritte und letzte Analysemodell stellt das rezeptive Analysemodell nach Bucher dar. Bucher

orientiert sich an den NutzerInnen einer Sprache-Bild-Kombination. Seine Untersuchungskrite-

rien beziehen sich auf die Problemstellungen, mit denen sich die RezipientInnen eines Kommu-

nikationsangebots konfrontiert sehen. Buchers Identifizierungs- oder Lokalisierungsproblem gibt

Aufschluss über die KommunikationspartnerInnen der Sehfläche sowie über die Art des Kommu-

nikationsangebots. Das Orientierungsproblem zeigt, wie sich die RezipientInnen von Steiners Seh-

fläche im übergeordneten Kommunikationsangebot Zeitung zurechtfinden. Mit dem Hierarchisie-

rungsproblem können Unter-, Über- und Nebenordnungen der Elemente der Sehfläche untersucht

werden. Das Navigationsproblem gibt Aufschluss über deren semantische und grafische Verknüp-

fungen. Das Rahmungsproblem zeigt, welche Elemente zusammengehören und ob sie im Vorder-

oder Hintergrund stehen. Das Sequenzierungs- und Einordnungsproblem beantwortet schließlich

die Frage, welche größeren kontextuellen Zusammenhänge die Sehfläche aufweist.

110 II. Praktische Ausführung | 6. Synthese

In Buchers spezifischem Ansatz begründet liegt sein Fokus auf die externen Kriterien einer

Sehfläche sowie die Bezüge der Elemente zueinander. Der Inhalt von Fritz’ Roman erscheint dabei

nebensächlicher, die wichtigsten Themen werden aber im Zuge der Untersuchung der semanti-

schen Zusammenhänge zur Sprache gebracht.

Die Ergebnisse aller drei Analysemodelle werden in einer Synthese zu einem großen Ganzen

zusammengefasst. Dabei werden die Analysekriterien miteinander verwoben und in einen Zusam-

menhang gestellt, so dass ein perspektivenreicher und umfassender Blick auf Steiners Sehfläche er-

möglicht wird. Auch in der Synthese zeigt sich, wie effizient Sprache und Bild zusammenarbeiten,

gemeinsam eine Botschaft generieren und ein Verständnis der Sehfläche ermöglichen.

Normalerweise nehmen wir bei der Betrachtung einer Sehfläche gar nicht wahr, mit welcher

Fülle von Informationen wir gespeist werden. Unsere Wahrnehmungsprozesse laufen vielfach vor-

bewusst ab und ermöglichen prinzipiell, das Dargestellte zu verstehen. Erst die bewusste Analyse

führt uns vor Augen, was wirklich in einer Sehfläche steckt, wie meisterhaft Bilder und Sprache

zusammenarbeiten, Zusammenhänge erstellen, Prioritäten schaffen und eine gemeinsame Bot-

schaft hervorbringen. Ob eine Sehfläche verstanden werden kann, hängt auch wesentlich von ihrer

Gestaltungsweise ab: Sind die Zusammenhänge klar erkennbar? Sind die bedeutenden Elemente

bedeutend dargestellt? Sind die Elemente richtig platziert? Wird das Vorwissen der RezipientInnen

berücksichtigt? Werden die Potentiale von Sprache und Bild richtig genutzt?

Steiners Sehfläche stellt ein gutes Beispiel dafür dar, wie selbst komplexe Sehflächen bei ent-

sprechender Gestaltung Verstehen ermöglichen.

Bibliografie

Druckwerke

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Abb.ii Mitchell, William: Bildtheorie. Hrsg. von Gustav Frank. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008.

Abb. iii/ Abb. vi Große, Franziska: Bild-Linguistik. Grundbegriffe und Methoden der linguistischen Bildanalyse in Text- und Diskursumgebungen. Frankfurt a. M. [u.a.]: Peter Lang 2010.

Abb. v CoolPhotos.de URL: http://www.coolphotos.de/grusskarten/glueckwunschkarten/geburtstagskarten_fuer frauen-0703_06046_rosen_zum_geburtstag.html

Abb. vi/ Abb. vii Augustin 18(2012), H. 314, U4 URL: http://www.augustin.or.at/documents/article-docs/article-1899/ augustin_314_fertigklein.pdf. S. 21

Abb. viii/ Abb. ix/ Abb. x/ Abb. xi/ Abb. xii/ Abb. xiii/ Abb. xiv Große, Franziska: Bild-Linguistik. Grundbegriffe und Methoden der linguistischen Bildanalyse in Text- und Diskursumgebungen. Frankfurt a. M. [u.a.]: Peter Lang 2010.

Abb. xv/ Abb. xvi/ Abb. xvii/ Abb. xviii/ Abb. xix/ Abb. xxiii/ Abb. xxv/ Abb. xxvii/ Abb. xxix Augustin 18(2012), H. 314, U4 URL: http://www.augustin.or.at/documents/article-docs/article-1899/ augustin_314_fertigklein.pdf. S. 21

Tab. i Stöckl, Hartmut: Sprache-Bild-Texte lesen. In: Bildlinguistik. Theorien-Methoden-Fallbeispiele. Hrsg. von Hajo Diekmannshenke; Michael Klemm; Hartmut Stöckl. Berlin: Erich Schmidt 2011.