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Raffaels Kultbild wird Die Sixtinische Madonna 500 Gemäldegalerie Alte Meister

Die Sixtinische Madonna - bücher.de · um die Madonna und die Putten im Original zu sehen. Umso mehr lohnt es sich, jetzt nach Sachsen, nach Dresden zu kommen, um die Ausstellung

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R a f f a e l s K u l t b i l d w i r d

Die Sixtinische

Madonna

500

G e m ä l d e g a l e r i e A l t e M e i s t e r

12

R a f f a e l s K u l t b i l d w i r d

500

S IX T I N ISC H E M A D O N N A

D I E

Herausgegeben von Andreas Henning

P R E S T E LMünchen · London · New York

16 Grußwort S t a n i s l a w T i l l i c h

17 Grußwort G e o r g F a h r e n s c h o n

18 Vorwort H a r t w i g F i s c h e r u n d B e r n h a r d M a a z

20 Essays

22 RaVaels Sixtinische Madonna – Kultbild und BildkultA n d r e a s H e n n i n g

50 Der Auftraggeber der Sixtinischen Madonna, Papst Julius II. (1503–1513)M a x - E u g e n K e m p e r

58 RaVaels KinderA r n o l d N e s s e l r a t h

68 Der Ankauf der Sixtinischen Madonna – »un sì prezioso tesoro«C l a u d i a B r i n k

74 RaVael in Dresden – Vom kurfürstlichen Willen zur Kunstwissenschaft. Die Sixtinische Madonna im Spiegel der Kataloge und Inventare der Königlichen GemäldegalerieD o r e e n P a u l a

82 RaVaels Sixtinische Madonna zwischen Religion und Realität –Auf- und Abwertungen von Goethe bis NietzscheB e r n h a r d M a a z

96 »Denkkräftiges Anschauen« – Martin Heideggers Blick auf die Sixtinische Madonna und seine Kritik an der KunstgeschichteJ o h a n n e s G r a v e

104 Vom Himmel in die Gosse, zum Kosmos und zurück nach Dresden.RaVaels Sixtinische Madonna in der bildenden Kunst des 20. JahrhundertsA n d r e a s D e h m e r

112 Präsenz im Verborgenen – Die Sixtinische Madonna zwischen 1939 und 1955

T h o m a s R u d e r t

122 Weltstars mit Flügeln – RaVaels Engel als MarketingphänomenM i r k o D e r p m a n n

128 Der besondere Umgang mit RaVaels Sixtinischer Madonna – Aspekte der Restaurierung des BildesC h r i s t o p h S c h ö l z e l

136 Zur Maltechnik der Sixtinischen Madonna RaVaelsC h r i s t o p h S c h ö l z e l , K o n s t a n z e K r ü g e r , A x e l B ö r n e r

156 Katalog

158 RaVael in Rom 1512

208 »Platz für den großen RaVael!«

224 Auf dem Weg zum Mythos

326 Das Leben der Engelchen

342 Zeitzeugen

358 Anhang

360 Bibliografie

375 Autoren

376 Leihgeber

376 Bildnachweis

378 Dank

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Als ich ein kleiner Junge war, besuchte ich mit meinen Eltern Dresden und stand zutiefst beeindruckt vor der Sixtinischen Madonna. Bis heute ist dieser erste Anblick eine prägende Erinnerung für mich. Und zwar das ganze Gemälde und nicht nur die Putten, die wohl weltweit zu den bekanntesten Gesichtern gehören. Aber wohl längst nicht alle, die die ›Engelchen‹ kennen, kennen die Sixtina oder waren schon einmal in Dresden, um die Madonna und die Putten im Original zu sehen.

Umso mehr lohnt es sich, jetzt nach Sachsen, nach Dresden zu kommen, um die Ausstellung ›Die Sixtinische Madonna – RaVaels Kultbild wird 500‹ anzuschauen.

Vor kurzem war das Geschwisterbild, die Madonna di Foligno, zu Gast in Dresden und hing – frisch restauriert und in strahlenden Farben – in Korrespondenz zur Sixtina. Es war eine einmalige Leihgabe aus dem Vatikan und ein ebenso einmaliger Auftakt zu diesem Jubiläumsjahr. Auch die Sixtinische Madonna wurde zu ihrem 500. Geburtstag ›beschenkt‹. Sie präsentiert sich in einem neuen Rahmen unter einem neuen Glas, das aber den Eindruck und die Erinnerung, die ich aus Kindertagen habe, aufs Vortreff-lichste bewahrt.

So ist und bleibt die Sixtina ein Stück Seele Sachsens. Seitdem sie 1754 nach Dres-den gelangte, zieht sie die Betrachter in ihren Bann. Der Freistaat Sachsen ist stolz, dass er dieses Bild in seinem Besitz hat. Gleichzeitig fühlen wir uns diesem wundervollen Erbe verpfl ichtet. Das zeigt allein die Geschichte der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Diese sind seit mehr als 400 Jahren Hüter und Mehrer der kulturellen und kulturpolitischen Tradition Sachsens.

Von RaVael bis Richter, von Dürer bis Neo Rauch: Neues braucht Altes zur Abgrenzung. Das ist der Anspruch, den die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden erfüllen. Nicht nur mit der Ausstellung zum 500. Geburtstag der ›schönsten Frau der Welt‹, sondern weit darüber hinaus. Diesen spannenden Anspruch immer wieder neu zu entdecken, das wünsche ich allen Besuchern der Ausstellung, verbunden mit dem Wunsch, auch danach immer wieder die Erinnerung an die Begegnung mit der Sixtini-

schen Madonna und anderen sächsischen Kunstschätzen aufzufrischen.

S t a n i s l a w T i l l i c h

Ministerpräsident des Freistaates Sachsen

G RUS SWO RT

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Kunst übt einen besonderen Reiz aus. Nicht nur auf Zeitgenossen, sondern auch auf nachfolgende Generationen hat sie einen großen Einfl uss. Diese fi nden in bedeuten-den Werken der Kunstgeschichte nicht selten Anregung und Inspiration für ihr eigenes SchaVen. Im 19. Jahrhundert waren es die Romantiker, die einem bis dato wenig beach-teten Gemälde eines großen Malerfürsten zu außergewöhnlicher Bekanntheit verhalfen: Die Rede ist von der Sixtinischen Madonna von RaVael, heute eines der berühmtesten Gemälde überhaupt. Von August III., Kurfürst von Sachsen und König von Polen, erwor-ben, hielt das Altarbild 1754 Einzug in die königliche Gemäldegalerie Dresdens, wo es heute täglich von Besuchern aus aller Welt bestaunt wird. 2012 feiern die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden die Entstehung von RaVaels beeindruckender Mariendar-stellung vor 500 Jahren.

Um unser kulturelles Erbe weiterhin zu bewahren, um Kunst öVentlich zugäng-lich zu machen und den Menschen näherzubringen, engagiert sich die Sparkassen-Finanzgruppe auf vielfältige und umfassende Weise für Kultur in ganz Deutschland. Die Förderung von Kunst und Kultur ist Teil der Gemeinwohlorientierung der Spar-kassen und ihrer Verbundunternehmen. Die Unternehmensgruppe ist seit vielen Jahren der größte Kulturförderer der deutschen Wirtschaft und begleitet die Staatlichen Kunst-sammlungen Dresden bereits seit 2006 als deren Hauptförderer. Bisherige Höhepunkte unserer Kooperation waren die WiedereröVnungen des Historischen Grünen Gewölbes im Jahr 2006 und des Albertinums im Jahr 2010. Und 2012 fördert die Sparkassen-Finanzgruppe neben weiteren Maßnahmen nun die große Ausstellung »Die Sixtinische Madonna. RaVaels Kultbild wird 500«.

Wir freuen uns, mit der Jubiläumsausstellung ein weiteres herausragendes Kul-turereignis der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden unterstützen zu dürfen. Ich wünsche allen Besuchern der Ausstellung anregende Begegnungen und eindrucksvolle Momente.

G e o r g F a h r e n s c h o n

Präsident Deutscher Sparkassen- und Giroverband

G RUS SWO RT

18

RaVaels Sixtinische Madonna gehört zu den bekanntesten Gemälden der Renaissance. Papst Julius II. erteilte im Sommer 1512 den Auftrag, es für die Klosterkirche San Sisto in Piacenza zu malen. 1754 gelangte es durch August III. nach Dresden, wo sich nach und nach sein Ruhm entfaltete. Als die Gemälde aus der Galerie am Neumarkt 1855 in den neu errichteten Semperbau am Zwinger zogen, war die Sixtinische Madonna bereits so bekannt, dass man sie singulär inszenierte und ihr einen eigenen Raum widmete. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde sie wie viele andere Gemälde nach Moskau verbracht, wo sie 1955 erstmals wieder ausgestellt war. Im darauVolgenden Jahr kehrte sie über Berlin nach Dresden zurück.

Die Ausstellung konzentriert sich auf das Gemälde und seine Geschichte: 500 Jahre Sixtinische Madonna sind geprägt von geheimen Verhandlungen und glanzvoller Präsentation, Vergessenheit und internationalem Ruhm, künstlerischen Entdeckungen und abgründigem Kitsch. Das Herz der Ausstellung bildet ein Ensemble von Werken RaVaels und seiner Werkstatt – Leihgaben aus den bedeutendsten Sammlungen Europas. Eine eigene Ausstellungssektion ist dem Ankauf durch August III. von Sachsen gewid-met, dem es nach zähen, zweijährigen Verhandlungen, die immer wieder vom Scheitern bedroht waren, 1754 gelang, das Werk an die Elbe zu holen. Eine weitere Abteilung schil-dert die Geschichte der Wahrnehmung und Bewertung des Gemäldes in Dresden. Sie umfasst die verschiedensten Gattungen – bildende Kunst, Literatur, Philosophie, Musik, Kunsthandwerk und Design. Erstmals wird dabei auch die Rezeption in den frühen Massenmedien untersucht, die diesem Werk zu seiner großen Popularität verhalf. Zum Ruhm haben selbstverständlich auch die beiden Engelchen beigetragen, die um 1800 erstmals aus dem Bild ›ausgekoppelt‹ wurden. Ihre ganz eigene Karriere wird daher in zeitlicher Parallele zur Rezeptionsgeschichte des Gemäldes erzählt.

Die Gemäldegalerie Alte Meister eröVnete im September 2011 die Ausstellung Himmlischer Glanz. Raffael, Dürer und Grünewald malen die Madonna, eine Koopera-tion der Musei Vaticani und der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden anlässlich der Deutschlandreise von Papst Benedikt XVI. Diese Präsentation bildete die Ouvertüre zum Jubiläumsjahr der Sixtinischen Madonna. Das Bundesministerium der Finanzen griV dankenswerterweise den Vorschlag auf, eine Briefmarke anlässlich des Geburts-tages von RaVaels Dresdener Gemälde herauszugeben. Sie erschien am 1. März 2012 in einer Gemeinschaftsausgabe mit dem Vatikan.

Die Ausstellung Die Sixtinische Madonna. Raffaels Kultbild wird 500 konnte nur durch die großzügigen Leihgaben der Museen, Bibliotheken, Archive und Privat-sammlungen realisiert werden. Ihnen gebührt dafür besonderer Dank. Auch unser

D r . H a r t w i g F i s c h e r

Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden

P r o f . D r . B e r n h a r d M a a z

Direktor des Kupferstich-Kabinetts und der Gemäldegalerie Alte Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden

VO RWO RT

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Hauptförderer, die Sparkassen Finanzgruppe, hat erneut einen wesentlichen Beitrag geleistet. Georg Fahrenschon, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, gilt unser aufrichtiger Dank. Dank gilt ferner Sonja Schilg, Geschäftsführerin des Säch-sischen Staatsweingutes Schloss Wackerbarth, denn ein Anteil der Erlöse der eigens zum Jubiläum kreierten Sektedition Dresdner Engel unterstützt die Ausstellung und die weitere Arbeit der Gemäldegalerie Alte Meister. Auch den anderen Kooperationspart-nern sind wir sehr verbunden – den Medienpartnern Frankfurter Allgemeine Zeitung, Dresdner Neueste Nachrichten und Ströer Deutsche Städte Medien, dem Mobilitätspart-ner Deutsche Bahn und den Technikpartnern Espro Acoustiguide Group und Pocket-book Readers GmbH. In großzügigster Weise haben zwei Stiftungen, die ungenannt bleiben möchten, die gesamte museumspädagogische Arbeit fi nanziert. Mäzenatisch mit einer gewichtigen Spende unterstützt uns auch ein Ehepaar, das es ebenfalls vorzieht, anonym zu bleiben; auch hier spricht die selbstlose Tat für sich allein.

Die Ausstellung wurde kuratiert von Dr. Andreas Henning, Kurator für itali-enische Malerei der Gemäldegalerie Alte Meister. Ihm wie auch der Assistentin der Ausstellung, Dr. Sandra Schmidt, danken wir für die ausgezeichnete Arbeit. Die Ausstel-lungsarchitektur stammt von Börner:Wötzel:Architekten (Dresden). Scholz & Friends (Berlin) entwickelten die Werbekampagne, Espro Acoustiguide Group (Berlin) das Füh-rungssystem. Katalog und Booklet wurden von Margarethe Hausstätter gestaltet. Ihr und dem Prestel Verlag mit allen an diesem Projekt Beteiligten sei für ihren großen Einsatz gedankt. Auch den Autoren des Katalogs und denjenigen, die mit ihren persön-lichen Erinnerungen an RaVaels Meisterwerk die Rezeptionsgeschichte fortgeschrieben haben, sprechen wir unseren herzlichen Dank aus. Für zwei Vortragsreihen sind wir der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen und dem Institut für Kunst- und Musikwissenschaft der Technischen Universität Dresden sehr verbunden sowie den Kooperationspartnern Istituto Italiano di Cultura (Berlin), Italien-Zentrum der Techni-schen Universität Dresden und der VHS Dresden. Unser Dank für Unterstützung gilt S. E. Michele Valensise, Botschafter der Italienischen Republik in der Bundesrepublik Deutschland. Wir danken den Beteiligten in den Staatlichen Kunstsammlungen Dres-den für ihren großen Einsatz bei der Realisation der Ausstellung.

Anlässlich des Jubiläums erhält die Sixtinische Madonna einen neuen Rahmen. Er wird das Bild besser zur Geltung bringen als der bisherige Rahmen, der 1956 durch eine Spende der Bezirkshandwerkskammer Dresden angefertigt werden konnte. Der origi-nale Rahmen ist verloren, ein passender alter Renaissancerahmen war im Handel nicht zu fi nden, und so wurde eine auf einem historischen Vorbild beruhende Rekonstruktion entwickelt. Nach intensiven Recherchen fi el die Wahl auf den Tabernakelrahmen der Sacra conversazione von Lorenzo Costa in der Bologneser Kirche San Giovanni in Monte. Werner Murrer Rahmen (München) haben in kurzer Zeit eine dem Tabernakelrahmen weitgehend angenäherte Kopie hergestellt, die nun der Herkunft und der beabsichtig-ten Wirkung von RaVaels Gemälde gerechter wird. Ein Teil der Realisierung wurde dankenswerterweise mit Mitteln des Staatsbetriebes Sächsisches Immobilien- und Bau-management sowie mit Bundesmitteln (Invest Ost 2011 und 2012) fi nanziert. Herzlicher Dank für die Projektleitung gilt Prof. Marlies Giebe, der Leiterin der Gemälde-Restau-rierungswerkstatt der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.

RaVaels Sixtinische Madonna ist ein Kultbild im doppelten Wortsinn. Entstanden als Hochaltarbild, war sie bis zu ihrem Verkauf Teil des Ritus am Altar. Infolge ihrer Popularität wurde sie in der Dresdener Gemäldegalerie ein Kultbild auch in anderem Sinne. Ihre Wirkungsmächtigkeit spricht viele Menschen mit unverminderter Intensität an. Das Zwiegespräch mit dem Bild kann nur vor dem Original gelingen. Diese Ausstel-lung lädt dazu ein, RaVaels Sixtinischer Madonna auf neue Weise zu begegnen.

ESSAYS

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»Die Madonna erhalte Sie gesund und beschütze unsre Freund-schaft« Novalis an Caroline Schlegel am 9. (?) September 1798

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RaVaels Sixtinische Madonna {N Abb. 1, Kat. 1} gehört zu den weltweit bekanntesten Gemälden der Renaissance. Dieser Ruhm ist nicht selbstverständlich. Entstanden 1512/13, gehörte sie lange Zeit fast ausschließlich den Mönchen und Kirchgän-gern von San Sisto in Piacenza. Nachdem August III., Kurfürst von Sachsen und König von Polen, das Bild 1754 in seiner Gemäldegalerie aufgehängt hatte, trat es nach und nach in das Bewusstsein der ÖVentlichkeit. Zunächst sehr zöger-lich, doch im Übergang zum 19. Jahrhundert setzte eine starke Rezeption ein, so dass die Sixtinische Madonna nicht nur in Form von Reproduktionen, sondern auch durch Literatur und Almanache, Lexika und Zeitschriften, Eingang in die Wohnstuben fand. Gleichfalls entdeckte auch das Kunsthandwerk das Bild als Inspirationsquelle. Das Tor zu einer breiten Rezeption über die deutschsprachigen Grenzen hinweg war geöVnet.

Die große Popularität, die die Sixtinische Madonna schon Mitte des 19. Jahrhun-derts besaß, unterscheidet sie etwa von der Mona Lisa.2 Leonardos Porträt wurde einer breiten ÖVentlichkeit erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt, und zwar durch ihren Verlust: Als der Anstreicher Vincenzo Peruggia am 21. August 1911 das Gemälde aus dem Musée du Louvre stahl, verbreitete sich diese Nachricht in allen Gesellschafts-kreisen Frankreichs. Zu einem europaweit diskutierten Ereignis wurde der Diebstahl, als man das Werk zwei Jahre später in Florenz sicherstellen konnte. In einem regel-rechten Triumphzug reiste es durch Italien nach Paris zurück. Das Presseecho war international und verankerte die Mona Lisa nachhaltig im visuellen Gedächtnis des 20. Jahrhunderts. Auch wenn Leonardos Bildnis schon durch Renaissancekünstler rezipiert worden war und sich im 19. Jahrhundert viele Literaten in meist erotischen Phanta-sien an der femme fatale berauscht hatten, so war der spektakuläre Diebstahl erst der auslösende Moment für den Massenkonsum der Mona Lisa. Dagegen ist die Sixtinische

Madonna schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Mythos geworden.

› D a s l e t z t e G e m ä l d e e i n e s i d e a l e n Z e i t a l t e r s ‹ –

D i e S i x t i n i s c h e M a d o n n a

RaVaels Dresdener Gemälde ist ein Ausnahmebild, hervorragend und neuartig kompo-niert. Die Wirkungsmächtigkeit von Farbe und Form sowie die gezielte Ansprache des

A n d r e a s H e n n i n g

R A FFA ELS

S IX T I N ISC H E M A D O N N A

KU LTB I L D U N D B I L D KU LT

1 Novalis 1999, Bd. 1, S. 672.2 Um 1503/06, Öl auf Holz, 77 × 53 cm, Paris, Musée du

Louvre, Inv. 779 ; zu ihrer Rezeptionsgeschichte s. Sassoon 2006, S. 214–217; Zöllner 2006, S. 77f.

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Betrachters zieht bis heute viele Menschen immer wieder in den Bann. Als RaVael die Sixtinische Madonna3 malte, stand er auf der Höhe seines Könnens, souverän schöpfte er die Möglichkeiten der Malerei aus. Der Künstler, damals knapp 30 Jahre alt, lebte seit vier Jahren in Rom und hatte alle wichtigen Auftraggeber von seinem Können über-zeugt, allen voran Papst Julius II.

Die Sixtinische Madonna zeigt eine Erscheinung der geistigen Welt. Auf Wol-ken tritt die Gottesmutter dem Betrachter entgegen.4 In ihren Armen präsentiert sie den Jesusknaben, so dass das Gemälde primär als Epiphanie Christi über dem Altar zu deuten ist.5 RaVael hat die schreitende Madonna in die mittlere Senkrechte des Bildes platziert und ihrer Gestalt eine selbstbewusste Souveränität verliehen. Ihr zur Rechten kniet der Kirchenpatron, der heilige Sixtus, auf der anderen Seite die heilige Barbara. Indem die Figuren zueinander wie in einem Dreieck angeordnet sind, fördern die bei-den Knienden visuell die Erhabenheit der Madonnenerscheinung. Am unteren Bildrand lümmeln wartend die beiden Engelchen auf einer Brüstung. Sie lenken den Blick des Betrachters immer wieder nach oben in das Bild zurück. Oftmals fällt erst auf den zwei-ten Blick die in das Blau des Hintergrundes gemalte Schar an Engelsköpfen auf. Ganz im Gegensatz zu den beiden Engeln im Vordergrund, die an der Grenze zur Erdenre-alität physisch greifbar und wie kindlich beseelt erscheinen, sind sie nur äußerst fein angedeutet. Der Künstler suggeriert mit dieser Engelsglorie eine Himmelsweite, aus der die Gottesmutter ihren Sohn zur Erde trägt.

Der geöVnete Vorhang verstärkt den Eindruck des Erscheinungshaften. Er lässt sich auch als ein mariologisches Motiv deuten, als Enthüllung der Heilswahrheit durch die Madonna.6 Das Antlitz der solcherart als Gottesmutter ausgezeichneten Jungfrau ist überraschend ernst. Ihre Augen, die RaVael im Malprozess bewusst um einige Zentime-ter höher setzte, um den Ausdruck der Erhabenheit zu intensivieren, sind nicht direkt auf den Betrachter vor dem Bild gerichtet, sondern schauen über ihn hinweg. Zu Recht wurde bemerkt, dass sich in ihrem Blick die Zukunft des Jesuskindes spiegelt, nämlich Passion und Tod am Ende seines irdischen Lebensweges. Der Eindruck ihres wissenden Gesichtes wurde wahrscheinlich durch die ursprüngliche Aufstellungssituation in der Piacentiner Kirche noch verstärkt. Maria sah dort wohl in Richtung des auf dem Lettner stehenden Hochkreuzes.7 Der russische Literaturkritiker Pawel Annenkow hat in seinen sächsischen Reiseskizzen 1842/43 erschüttert festgehalten: »Da geht eine Frau über den Himmel, für die es kein Geheimnis mehr in der Welt gibt, die Anfang und Ende von allem kennt […].«8

Die beiden Engel9 auf der unteren Brüstung, die RaVael zu einem recht späten Zeitpunkt im Entstehungsprozess des Werkes malte, um Maria und den Heiligen eine klare Tiefenräumlichkeit zu verleihen und das Bild zur Welt des Betrachters hin zu öVnen, gehören grundsätzlich zum traditionellen Repertoire der Mariendarstellung. In Gemälden einer ›Sacra conversazione‹ und den von ihr abhängigen Bildfi ndungen sit-zen sie oft zu Füßen des Madonnenthrons und bringen eine spielerische, mitunter auch humoristische Komponente ins Bild. So können sie auf das Jesuskind eingehen, musi-zieren oder singen, mitunter auch den Thron selber tragen {N siehe Abb. 9}. RaVaels Dresdener Engelchen warten auf das weitere Voranschreiten Mariens und die damit sich vollziehende Inkarnation Jesu. Inwiefern sie darüber hinaus noch weitere Aufgaben über-nehmen, ist kontrovers diskutiert worden. In Anbetracht der Tatsache, dass die Sixtini-

sche Madonna auf dem Hochaltar stand, hat der Künstler ihr Warten wohl auch auf die Messfeier bezogen, damit sie die im Kultus verwandelte Hostie in den Himmel tragen.10

RaVael hat das Bild, das er zunächst in seinen wesentlichen Formen vor allem mit einem Pinsel skizzierte, sehr zügig ausgeführt, meist reichte ein Farbauftrag.11 In Form und Farbe gelingt es ihm, den Blick des Betrachters im Bild lebendig zu halten. Beispielsweise hat er um die Madonna einen Glanz aus hellem Licht gelegt. Dieses Motiv greift zurück auf die Mandorla, die die Gestalt der Maria im Mittelalter und der Frühen Neuzeit geometrisch umfasste wie Peruginos ›virgo in sole‹ in der Sixtinischen Kapelle

3 Grundlegend Putscher 1955; aus der Literaturfülle sei aus jüngerer Zeit verwiesen auf Prater 1991 ; Chapeaurouge 1993 ; Walther 1994 ; Rohlmann 1995; Oberhuber 1999, S. 132 V.; Walliser-Wurster 2001, S. 158 V.; Emison 2002 ; De Vecchi 2002, S. 248 V.; Schwarz 2002, S. 174 V.; Arasse 2003 ; Brink / Henning 2005; Meyer zur Capellen 2005, S. 107 V., Nr. 53 (mit Bibliografie); Herzner 2007; Realini 2008/09 ; Henning 2010 ; Kleinbub 2011, S. 40 V. Mit dem Zitat in der Kapitelüberschrift hat Oberhuber 1999, S. 134, die Sixtinische Madonna charakterisiert.

4 Zur Komposition s. Carus 1867, S. 4 V.; Woermann 1894/1912, S. 131 V.; Hetzer 1996 ; Bockemühl 1985, S. 135 V.; Chapeaurouge 1993, S. 43 V.; Herzner 2007, S. 84 V.; zur Deutung als Altarbild u. a. Berliner 1958 ; Eberlein 1983 ; Prater 1991 ; Rohlmann 1995; Schwarz 2002, S. 174 V.; Arasse 2003, S. 114 V.

5 Eberlein 1983, S. 72, sieht in den überschlagenen Beinen des Jesuskindes die Pose des Richters; Prater 1991, S. 128, erkennt in Mimik und Habitus einen leoninen Typus als Verweis auf den Salvator Mundi.

6 Eberlein 1983, S. 72 V.; vgl. Berliner 1958, S. 92 ; Sigel 1977.7 Prater 1991, S. 121 ; kritisch Rohlmann 1995, S. 235;

Chapeaurouge 1993, S. 29 f., bezieht den Ernst auch auf das tägliche Opfer am Altar.

8 Die 1842/43 verfasste Reiseskizze Leipzig und Dresden zit. n. Ausst.-Kat. Dresden 2010, Bd. 3, S. 151–156, hier: S. 155.

9 Vgl. Förster, E. 1868, Bd. 2, S. 283 V.; Emison 2002 ; Arasse 2003, S. 127 V.

10 Chapeaurouge 1993, S. 46. Schwarz 2002, S. 185 V., vermutet vor dem Bild einen Aussetzungsthron, allerdings sind die von ihm konstatierten Blickachsen der Engel und der heiligen Barbara nicht überzeugend.

11 Zur Maltechnik s. Weber 1984.1 ; Weber 1984.2 ; Schölzel 2005 und zu den 2011/12 anlässlich des Jubiläums ausgeführten neuen maltechnischen Untersuchungen s. Schölzel / Krüger / Börner im vorliegenden Katalog.

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1 N R a f f a e lDie Sixtinische Madonna, 1512/13

Öl auf Leinwand, 269,5 × 201 cmGemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gal.-Nr. 93

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{N Kat. 12}. Doch RaVael begreift die Mandorla farbdynamisch. Er löst das Gelb um die Madonna nach und nach in dem Blau des Himmels auf, sodass der Betrachter die-ses Gelb als einen ausstrahlenden Lichtschein wahrnimmt.12 Statt ein in der Kunstge-schichte überliefertes Symbol wie die Mandorla in ihrer abstrakten Zeichensprache darzustellen, zwingt RaVael den Betrachter zum Erleben der Lichtgestalt. Allerdings ist die Farbigkeit der Sixtinischen Madonna heutzutage unter alten Firnisschichten verdeckt, die im Laufe der Jahrzehnte vergilbt und nachgedunkelt sind. Die darunterliegende originale Farbsubstanz muss der Betrachter sich ein ganzes Stück brillanter und strah-lender vorstellen – eine Abnahme des Firnisses nur aus ästhetischen Gründen, ohne das eine konservatorische Notlage vorliegen würde, verbietet sich jedoch.

Ein Beispiel für RaVaels subtile Formensprache stellt der braune Schleier der Madonna dar. Er fällt von ihrem Kopf herab und bauscht sich leise im Wind, der durch ihr Voranschreiten verursacht wird. Zugleich fl ießt der braune StoV weiter unter ihrem Arm entlang. Visuell scheint sogar die Hand Mariens, mit der sie den Oberkörper des Kindes hält, wie eine Fortsetzung der Bewegung des StoVes zu sein. Indem RaVael Mut-ter und Kind mit dem Tuch regelrecht zu umfangen scheint, verdeutlicht er die enge innere Verbundenheit der beiden Protagonisten. Weitere Kompositionsprinzipien sind beispielsweise die Gegensätze, die RaVael im Bild konstruiert: Mit der Opposition von Männlich und Weiblich, von Alt und Jung, von in die äußere Welt gerichteter Akti-vität und seelenvoller Introvertiertheit, die der Künstler in die Gestalten des heiligen Sixtus und der heiligen Barbara eingezeichnet hat, belebt er mit einfachen Mitteln das Bild. Diese Polaritäten kommen natürlich wiederum auch im Kolorit zum Ausdruck, denn die Gestalt des Papstes wird großfl ächig vom Gold des Pluviale beherrscht, wäh-rend die innerliche Bewegtheit der heiligen Barbara sich in der Vielfalt der Farben und überkreuzenden Linien ihrer Gewänder spiegelt. AuVällig ist zudem, um ein weiteres Gestaltungsmittel anzusprechen, der Verzicht auf einen einzigen Perspektivpunkt. Diese für die Bildvorstellung der Renaissance grundlegende Raumkonstruktion hat RaVael bewusst außer Kraft gesetzt. Die überirdische Erscheinung fi ndet jenseits irdischer Gesetzmäßigkeiten statt.

Der Rezeptionsprozess, den RaVael mit malerischen Mitteln anregt und der hier nur angedeutet werden kann, ist unabschließbar. Jeder Betrachter erlebt ihn individuell, immer wieder aufs Neue, wenn er sich der Sprache der Farben und Formen wachen Blickes anvertraut. In ihrer präzisen und singulären Ausrichtung auf den Rezipienten ist die Sixtinische Madonna als ein konzeptionelles Statement zu verstehen, was RaVael grundsätzlich als Aufgabe und Möglichkeit der Malerei erachtete.

› F ü r d i e s c h w a r z e n M ö n c h e v o n S a n S i s t o ‹ –

D e r A u f t r a g d u r c h P a p s t J u l i u s I I .

Der ursprüngliche Aufstellungsort für RaVaels Sixtinische Madonna war die Klosterkir-che San Sisto in Piacenza, eine Kleinstadt, 70 Kilometer südöstlich von Mailand gelegen. Die früheste überlieferte Quelle verbürgt das Bild für diesen Ort: »Er schuf für die schwarzen Mönche von San Sisto in Piacenza die Tafel für den Hauptaltar, worin Maria mit San Sisto und Santa Barbara dargestellt sind: ein äußerst ausgefallenes und einzigar-tiges Werk«.13 Mit den schwarzen Mönchen sind die Benediktiner gemeint. Das Kloster San Sisto gehörte diesem Orden an, und zwar der Reformkongregation Santa Giustina von Padua.

Der Auftrag zur Sixtinischen Madonna ist dokumentarisch nicht überliefert, doch lässt sich anhand von Indizien rekonstruieren, dass er nicht von den Mönchen stammte, sondern von Papst Julius II. Für sein Pontifi kat (1503–1513) sah er die territori-ale Einigung des Kirchenstaates als eine seiner zentralen Aufgaben an.14 Neben Venedig waren es vor allem der französische König Ludwig XII. und seine Verbündeten, die in Oberitalien dominierten, während südlich von Rom Ferdinand von Spanien regierte.

12 Bockemühl 1985, S. 156 f.13 Vasari 1966–1969, Bd. 4, S. 198 f.; zit. n. Vasari 2004,

S. 71 f.14 Zu Papst Julius II. grundlegend Pastor 1924, S. 659 V.;

s. a. Patridge / Starn 1980 ; Kempers 2002 ; Nesselrath 2004 ; Shaw 2005; Schmidt, S. 2011, Frommel 2012 u. den Beitrag von Max-Eugen Kemper in diesem Katalog.

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In wechselnden Allianzen mit verschiedenen europäischen Staaten und Herzogtü-mern suchte Julius II. das Kriegsglück zu Gunsten des Kirchenstaates zu erzwingen. Im Frühjahr 1509 schloss er sich der Liga von Cambrai an; im darauVolgenden Februar wandte er sich nach dem Friedensschluss gegen die französischen Truppen. Im August 1510 brach der Papst mit seinen Truppen in Rom auf, doch nach anfänglichen Erfolgen stockte der Fortgang. Bologna fi el im Mai 1511 wieder an Ludwig XII., der zudem mit der Einberufung eines für September in Pisa anberaumten Konzils den Papst selbst abzu-setzen suchte. Als Julius II. Ende Juni nach Rom zurückkehrte, stand der Kirchenstaat den feindlichen Truppen oVen.

Das Fresko der Vertreibung des Heliodor {N Abb. 4}, das RaVael 1512 in den vati-kanischen Stanzen ausführte, thematisiert die päpstliche Zuversicht auf göttlichen Beistand: Dank dem Gebet des Hohepriesters Onias wurde der General Heliodor, der den Jerusalemer Tempelschatz zu rauben versuchte, von zornentbrannten himmlischen Heerscharen überwältigt. Wohl aufgrund der politischen Ereignisse nahm RaVael Julius II. selbst in das Fresko mit auf, was ursprünglich nicht vorgesehen war. Der Papst wird auf der ›sedia gestatoria‹ in den Tempel hineingetragen und somit zum Zeugen der himmlischen Intervention. Kirchenpolitisch lässt diese Anspielung nichts an Deut-lichkeit vermissen: »Er selbst, der im Himmel wohnt, ist Wächter und Beschützer der heiligen Stätte, und die in böser Absicht kommen, schlägt und tötet er« (2. Makk. 3,39).

Tatsächlich sicherte sich der Papst mit der sogenannten Heiligen Liga Ferdinand von Spanien und Venedig als Verbündete. Doch auch dieser Feldzug, der Ende Januar 1512 begann, führte nach anfänglichen Siegen zu einer verheerenden Niederlage bei Ravenna im April. Erst Mitte Juni drehte sich die Lage zugunsten des Papstes, vor allem dank des großen schweizerischen Heeres unter Kardinal Matthäus Schiner. Pavia und Bologna, Mailand und schließlich Genua wurden aus der Hand der Franzosen entris-sen, so dass aus den befreiten Städten ab Ende Juni Delegationen in Rom eintrafen. Das Datum, an dem die Gesandtschaft aus Piacenza zur Huldigung des Papstes nach Rom kam, wird mit dem 26. Juli 1512 angegeben.15 Einer lokalen Chronik zufolge soll Papst Julius II. ausgerufen haben, dass er Piacenza ein solches Ereignis bereiten würde, dass die Bewohner ihn niemals mehr vergessen würden.16 Es lässt sich nicht verifi zieren, ob damit die Sixtinische Madonna gemeint war. Aber wie im Folgenden gezeigt werden soll, verdankt sich ihr Auftrag dem Sieg von Papst Julius II. über die französischen Truppen und der Rückgewinnung dieser Stadt für den Kirchenstaat.

Grundsätzlich war Piacenza eng mit dem Kirchenstaat verbunden. In der Über-zeugung, dass die Stadt aufgrund der sogenannten Mathildischen Schenkung (1080)17 zum Kirchenstaat gehörte, war ihre Rückgewinnung ein Ziel des päpstlichen Feld-zugs im Frühsommer 1512. Daher wurde sie schließlich auch in aller Formalität am 8. Oktober des gleichen Jahres vom Herzogtum Mailand abgetrennt und dem Kirchen-staat zugeschlagen.18 Diese territoriale Erweiterung wurde auch in der Hauptrede auf der vierten Sitzung des Konzils in Rom am 10. Dezember 1512 betont, indem der veneziani-sche Apostolische Protonotar Cristoforo Marcello explizit die Unterwerfung von Reggio, Parma und Piacenza durch den ›gerechten Krieg‹ des Papstes erwähnte.19 Alsdann war unter den 16 Triumphwagen, mit denen Rom am 3. Februar 1513 die Leistungen von Papst Julius II. mit einem großen Festumzug feierte, auch Piacenza allegorisch vertreten.20

Darüber hinaus war das Kloster San Sisto seit 1227 direkt dem Heiligen Stuhl unterstellt, woran auch der Übertritt zur Kongregation von Santa Giustina von Padua 1424 nichts änderte.21 Zudem lässt sich für Papst Julius II. selbst eine enge familienge-schichtliche Beziehung zum Piacentiner Kloster eruieren.22 Sein Onkel Francesco della Rovere nahm mit der Wahl zum Papst 1471 den Namen Sixtus IV. an, weshalb der in Piacenza verehrte heilige Sixtus in der Familientradition der Rovere eine wichtige Rolle erhielt. Während seiner Kardinalszeit war der spätere Julius II. Protektor der Benedik-tinerkongregation von Santa Giustina, zu der auch das Kloster in Piacenza gehörte. Er setzte sich für den Neubau eben dieser Klosterkirche ein, indem er im Heiligen Jahr

15 Pastor 1924, S. 856 ; Shearman 2003, Bd. 2, S. 1396. Laut Schubert 1927, S. 69, soll Papst Julius II. die Nachricht erhalten haben, dass Piacenza am 24.6.1512 dem Kirchenstaat zugefallen sei.

16 »[…] se Dio li concedeva alquanto long vita, faria cossa a la Cità nostra, che mai i Piacentini se domentecheriano Papa Julio secundo« (Poggiali 1757–1766, Bd. 8 [1760], S. 217; s. a. Shearman 2003, Bd. 2, S. 1396).

17 Pastor 1924, S. 854.18 Ebd., S. 860.19 Ebd., S. 866.20 Ebd., S. 869.21 Arisi 1977, S. 15.22 Putscher 1955, S. 6V.; Eberlein 1983, S. 73 ; Rohlmann 1995,

S. 227.

2 N B a r t o l o m e o S p i n e l l i und G i a m p i e t r o P i a m b i a n c h iAnsicht der Kirche San Sisto in Piacenza, um 1514–1528

Intarsienarbeit, 87 × 46 cmPiacenza, San Sisto, Chorgestühl

28

3 N San Sisto in Piacenza, Blick durch das MittelschiV zum Hochaltar mit der Kopie der Sixtinischen Madonna

Fotografie, um 1915–1920

Florenz, Alinari, Nr. 15431

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1500, am 20. Juni, in Piacenza all denjenigen, die den Bau unterstützten, einen Ablass von hundert Tagen gewährte.23 Insgesamt ehrte er somit nicht nur den Begräbnisort des heiligen Sixtus, sondern auch seinen mittlerweile verstorbenen Onkel, Papst Sixtus IV.

Augenscheinlich waren für Papst Julius II. die kirchenpolitische Bedeutung der Rückgewinnung Piacenzas für den Kirchenstaat und die persönliche Beziehung zum Kloster San Sisto der Grund, RaVael im Sommer 1512 mit der Sixtinischen Madonna für den Hochaltar der Klosterkirche zu beauftragen: Das Bild ist also auch als ›Madonna della Vittoria‹24 gemeint. Dass der Papst für diesen Auftrag verantwortlich zeichnete, untermauert ein weiteres Indiz: RaVael spielt in dem Gemälde auf den Auftraggeber an, jedoch nicht in Form eines Porträts,25 das man lange Zeit in dem Gesicht des im Bild knienden Papstes sehen wollte. Die Allusion auf den Auftraggeber wird vielmehr heral-disch geführt.26 Der goldene Papstmantel ist mit Eichenlaub verziert und auf der Spitze der Tiara ist eine Eichel zu sehen – die Eiche steht im Zentrum des Wappens der Rovere, aus deren Familie Papst Julius II. stammte {N Kat. 33}.

Das Kloster San Sisto war von der Kaiserin Angilberta Mitte des 9. Jahrhun-derts gegründet worden.27 Sie übergab ihm Reliquien der heiligen Barbara, während ihr Gemahl, der fränkische Kaiser Ludwig II., die Gebeine des heiligen Sixtus stiftete. Barbara von Nikomedia war von ihrem Vater Dioscuros in einen Turm gesperrt wor-den – der Turm sollte ihr Attribut werden, weshalb auch RaVael ihn in der Sixtinischen

Madonna rechts hinter der Heiligen dargestellt hat. Da sich Barbara nicht von ihrem christlichen Glauben hatte abbringen lassen, erlitt sie schließlich das Martyrium durch Enthauptung. Auch der heilige Sixtus gehört zu den Märtyrern. Er war von 257 bis 258 Bischof von Rom, ehe er während eines Gottesdienstes in der Begräbnisstätte des Papstes Calixtus I. überfallen und getötet wurde . Er wurde später in die Zählung der Päpste als Sixtus II. aufgenommen. Da beide Heilige am Hochaltar in San Sisto verehrt wurden, war es für RaVael selbstverständlich, sie in die Sixtinische Madonna mit aufzunehmen. Als Märtyrer, die die zweite Taufe mit dem eigenen Blut empfangen haben, können sie im Himmel Fürbitte für die Gläubigen ablegen, die sich vor dem Altar im Gebet an sie wenden. In dieser Vermittlerrolle hat RaVael sie auch im Gemälde eingesetzt.

Die Ordens- und Wallfahrtskirche, die schon im Mittelalter große Pilgerströme zur Verehrung der heiligen Barbara angezogen hatte, wurde ab 1499 abgerissen, um Platz für einen Neubau zu schaVen, der nach Plänen des Piacentiner Architekten Alessio Tramello errichtet wurde. Er gilt als einer der anspruchsvollsten Kirchenprojekte seiner Zeit in Oberitalien. Einen Eindruck von Chor und Vierung vermittelt die Intarsienar-beit in dem prächtigen Chorgestühl {N Abb. 2}. Die Sixtinische Madonna stand spätestens zur Weihe der Kirche 1514 auf dem Hochaltar. Vor ihm bis in die Vierung hinein wird sich der Mönchschor befunden haben, wie üblich durch eine Chorschranke abgetrennt vom HauptschiV, in dem die Kirchgänger ihren Platz fanden. Da schon 1544 ein ers-ter Umbau in der Kirche vorgenommen und 1576 der gesamte Chorbereich verlängert wurde, um den Mönchschor gemäß den Überlegungen der Gegenreformation hinter den Altar zu verlegen, lässt sich die ursprüngliche Aufstellungssituation von RaVaels Altarbild nicht mehr exakt rekonstruieren: Es wird auf dem Hochaltar an der Wand im Apsisscheitel gestanden haben. Der heutige Blick in die Basilika zeigt den opulen-ten barocken Rahmen, der 1697/98 von Giovanni Sete geschnitzt wurde {N Abb. 3}. Er umschließt die Pier Antonio Avanzini zugeschriebene, um 1730 entstandene Kopie28 der Sixtinischen Madonna, die nach dem Verkauf des Originals nach Dresden in der Kir-che aufgestellt wurde. Die Lünette mit den beiden Engeln,29 die sich über der Kopie in dem Altarrahmen befi ndet, scheint manieristischen Ursprungs zu sein und ist eventuell schon beim Umbau der Kirche 1544 über RaVaels Gemälde angebracht worden. Ob auch damals bereits der obere Bildstreifen der Sixtinischen Madonna zurückgeschlagen wurde, sodass die Vorhangstange nicht mehr zu sehen war, oder erst mit den Neurahmungen durch Giuseppe Grattoni 159930 beziehungsweise Sete 1697/98, ist nicht gesichert. Noch als das Bild 1754 in Dresden ankam, war der obere Leinwandbereich umgeschlagen.

23 Putscher 1955, S. 7 f., 261 f.; Adorni 1998, S. 33.24 Filippini 1925, S. 226.25 Zuerst ebd., S. 225 f., zuletzt Chapeaurouge 1993, S. 22 ;

Walther 1994, S. 5. Schon Cochin 1758, S. 62, vermutete im Papst ein Porträt.

26 Grimme 1922, S. 46 f.; zuletzt Rohlmann 1995, S. 227 V.; Henning 2005, S. 44 V.

27 Zu San Sisto s. Passero 1593 ; Putscher 1955, S. 199 V.; Ganz 1968, S. 11 V.; Arisi 1977; Adorni 1985; Feretti 1985; Gardner von TeuVel 1987, S. 14 V.; Rohlmann 1995, S. 223 V.; Adorni 1998, S. 23 V.

28 Arisi 1977, S. 216 f., Nr. 50 ; zum Rahmen (ca. 800 × 470 cm) ebd., S. 240 f., Nr. 62.

29 Wohl aus einer Malerwerkstatt in Cremona oder Parma, Öl auf Leinwand, 105 × 196 cm; von Arisi 1977, S. 148 f., Nr. 16, m. E. viel zu früh auf »1512 (?)« datiert.

30 Arisi 1977, S. 278 f.; Shearman 2003, Bd. 2, S. 1432 f.

30

4 N R a f f a e lDie Vertreibung des Heliodor, 1512

FreskoStanza d’Eliodoro, Palazzi Vaticani, Città del Vaticano

31

E i n e r d e r › s t e r b l i c h e n G ö t t e r‹ –

R a f f a e l a l s K ü n s t l e r d e r S i x t i n i s c h e n M a d o n n a

Das Rom, in dem RaVael seit 1508 lebte, wurde maßgeblich von Papst Julius II. geprägt. Nach dem Exil der Päpste in Avignon (1309–1377) und dem Großen Abendlän-dischen Schisma (1378–1417) suchte sich die Kirche in Rom wieder fest zu etablieren, was auch noch Julius II. als seine Hauptaufgabe erachten musste. Vor allem mithilfe von Künstlern und Architekten suchte er den Anspruch der Kirche als geistiges Zentrum angemessen sicht- und erlebbar zu machen.

Zu den großen Werken, die Julius II. anstieß, gehört der Neubau des Petersdoms, mit dem er 1506 den Architekten Donato Bramante beauftragte {N Kat. 31}. Auch ist ihm die Berufung von Michelangelo und RaVael nach Rom zu verdanken. 1505 wurde Michelangelo mit dem Grabmal des Papstes beauftragt {N Kat. 14}, im März 1508 mit der Ausmalung der Decke der Sixtinischen Kapelle {N Abb. 5}. Wenige Monate später kam RaVael, wahrscheinlich durch Vermittlung des mit ihm verwandten Bramante, nach Rom. 25 Jahre alt, sollte er zunächst im Vatikan eine Wand in der Stanza della Segna-tura, der Privatbibliothek des Papstes, freskieren. Doch die außergewöhnliche künst-lerische Qualität, die RaVael in seinem ersten Fresko, der Schule von Athen oVenbarte, überzeugte den Papst, ihm die gesamte Ausmalung aller vier Räume zu überlassen – selbst zu dem Preis, dass die bereits ausgeführten Arbeiten anderer Künstler wieder abgeschlagen werden mussten.

RaVael, 1483 in Urbino in den Marchen geboren, sammelte die ersten Malkennt-nisse in der Werkstatt seines Vater Giovanni Sanzio, einem Hofmaler von Federico da Montefeltro, und bei Pietro Perugino, dem damals erfolgreichsten Künstler Oberitaliens. 1504 siedelte er nach Florenz über, einem Zentrum zeitgenössischer Kunst. Leonardo und Michelangelo lieferten sich hier gerade einen künstlerischen Wettstreit in der Aus-malung des Palazzo Vecchio. Später in Rom konnte RaVael sich mit eigenen Augen ein Verständnis der Antike schaVen. Ihre skulpturalen und architektonischen Überlieferun-gen haben sein Gespür für Gestaltungskräfte und Harmoniegesetze nachhaltig geprägt.

Im Gegensatz zu Michelangelo stieg RaVael rasch zum ersten Maler Roms auf. Dabei zählte neben seinem künstlerischen Können auch seine einnehmende und inte-gere Persönlichkeit, von der viele zeitgenössische Quellen berichten. Ein Refl ex davon

5 N M i c h e l a n g e l oDie Erschaffung der Welt, 1511/12

Ausschnitt aus dem Deckenfresko der Sixtinischen KapellePalazzi Vaticani, Città del Vaticano

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Andreas Henning

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Erscheinungstermin: Mai 2012

Raffael, der Malerfürst der Renaissance, und sein berühmtestes Gemälde Im Auftrag von Papst Julius II. schuf Raffael 1512 die Sixtinische Madonna – heute einesder berühmtesten Kunstwerke der Welt. Wer über das großformatige Gemälde nichts weiß,kennt zumindest die beiden Engelchen, die so sympathisch am unteren Bildrand lümmeln,unzählige Male kopiert wurden und getrost als Pop-Ikonen bezeichnet werden können. Mitder großen Jubiläumsausstellung feiert Dresden den 500. Geburtstag dieses Altarbildes. Eineopulente Publikation begleitet dieses Großereignis, berichtet von spannenden Geschichten,geheimen Verhandlungen, glanzvollen Präsentationen, Vergessenheit und internationalemRuhm, künstlerischen Entdeckungen und abgründigem Kitsch.