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Die Spur des Wolfs

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A. F. Morland 

Die Spur des Wolfs  

Version: v1.0 

 

Der  schwarze  Wagen  preschte  mit  mörderischer Geschwindigkeit  schlingernd  und  schleudernd durch  die  kalte  Vollmondnacht.  Wer  so  fuhr, konnte nicht alle fünf Sinne beisammen haben. Saß der Fahrer zum ersten Mal  in einem Auto? War er schwer  alkoholisiert?  Hatte  er  irgendwelche verbotene  Drogen  genommen?  Eine  solche unverantwortliche  Raserei  konnte  nicht  lange  gut gehen. Und da passierte es auch schon …

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Das Fahrzeug  streifte mehrere  am  Straßenrand  abgestellte Wagen, überschlug  sich  krachend  und  rutschte  Funken  sprühend  etwa hundert Meter weit über den Asphalt. Ein markerschütterndes Brüllen, Heulen und Jaulen flog durch die 

Nacht. Und dann … Nichts mehr. Stille … 

Menschen kamen von allen Seiten gelaufen. 

Sie zogen einen bewusstlosen Mann aus dem Wrack. Sein Gesicht war  blutverschmiert.  Behutsam  trugen  sie  ihn  zum  Straßenrand. Zwei von ihnen versuchten, erste Hilfe zu leisten. Ein dritter holte sein Handy heraus und rief einen Krankenwagen. 

Zehn Minuten  später  war  der  Schwerverletzte  bereits  unterwegs zum nächsten Krankenhaus. Keuchend brachten ihn die Sanitäter in die Notaufnahme der Holy‐Cross‐Klinik. Dr. Spall, der diensthabende Arzt, eilte  ihnen entgegen. »Was  ist 

passiert?« »Autounfall«, berichtete der Rettungsärzt knapp. »Der Mann hat 

sehr viel Blut verloren.« »Keine  Sorge, wir  füllen  ihn  schon wieder  auf«,  sagte  Jonathan 

Spall. Der  Bewusstlose  wurde  hinter  weißen  Vorhängen  von  der 

fahrbaren  Trage  auf  ein  Untersuchungsbett  gehoben.  Die Rettungsmannschaft zog sich zurück, während Dr. Spall Schwester Sarah bat, das Emergency‐Team zusammenzutrommeln. Inzwischen untersuchte er den Mann. 

»Allmächtiger, den hat es ziemlich  schlimm erwischt«, murmelte er. Ein Krankenpfleger erschien, und  Jonathan Spall schickte  ihn mit 

einer Blutprobe zur Blutgruppen‐Bestimmung ins Labor. »Machen Sie schnell!«, wies ihn der diensthabende Arzt an. »Jede 

Sekunde zählt! Sobald  feststeht, welche Blutgruppe der Mann hat, 

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kommen Sie mit sechs Blutbeuteln zurück, verstanden?« 

»Ja, Dr. Spall.« Der Krankenpfleger eilte davon. 

Jonathan Spall wandte sich an Schwester Sarah. »Waschen Sie ihm das Blut vom Gesicht. Ich bin gleich wieder da.« Er ließ sie mit dem Schwerverletzten hinter dem Vorhang kurz allein … 

Als Sarah anfing,  sein Gesicht zu  säubern, öffnete  er die Augen. Sein  starrer  Blick  erschreckte  die  blonde  Krankenschwester.  Ein feindseliger Ausdruck kerbte sich in seine Züge. »Wie heißen Sie?«, fragte Sarah Cook. 

Der Mann antwortete nicht. 

»Wie ist Ihr Name?« 

Er sagte nichts. 

»Können Sie nicht sprechen?« 

Ein aggressives Knurren drang aus seiner Kehle. 

»Sie haben vermutlich starke Schmerzen. Ich bin Schwester Sarah. Sie  befinden  sich  im  Holy‐Cross‐Krankenhaus.  Sie  hatten  einen Autounfall.« Der Mann wollte sich aufsetzen. 

Doch sie ließ es nicht zu. »Ruhig! Ganz ruhig. Entspannen Sie sich. Wir helfen Ihnen. Es wird alles wieder gut.« Mit  einem  jähen Ruck  setzte der Mann  sich dennoch  auf.  Sarah 

konnte es nicht verhindern …  

*  

Zur  selben  Zeit  sah  im  Labor  Dr.  George  Bancroft  den Krankenpfleger  ärgerlich  an.  »Sagen  Sie  mal,  wollt  ihr  mich verarschen, oder was?« 

»N … nein«, gab der Angeschnauzte verwirrt zurück. »Wieso?« 

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»Von wem stammt das Blut?« 

»Von einem Mann, der soeben eingeliefert wurde. Er hatte einen Autounfall und ist schwer verletzt.« 

George Bancroft schüttelte entschieden den Kopf. »Das kann nicht sein.« »Was kann nicht sein? Dass der Mann schwer verletzt ist?« 

»Dass das Blut von ihm stammt«, sagte Dr. Bancroft. 

»Wieso nicht?«, wollte der Krankenpfleger gepresst wissen. »Weil es Tierblut ist!« 

 

*  

»Um  Himmels  willen,  bleiben  Sie  liegen«,  beschwor  Schwester Sarah den Mann. »Sie  stehen unter Schock. Vermutlich  spüren Sie deshalb keine Schmerzen. Aber Sie sind schwer verletzt. Wenn Sie aufstehen, könnten Sie tot umfallen.« Der Mann hörte nicht auf sie. Er stand auf – und er  fiel nicht  tot 

um,  sondern  schien  die  Absicht  zu  haben,  das  Krankenhaus  zu verlassen. Sarah Cook stellte sich ihm in den Weg. 

Er fegte sie mit einer raschen Armbewegung mühelos zur Seite. 

Sie  stürzte, war  fassungslos. Wie konnte  ein  Schwerverletzter  so stark sein? »Dr. Spall!«, schrie sie. »Dr. Spall!« Ihre Stimme überschlug sich. 

Der  Mann  hatte  den  mit  Vorhängen  abgegrenzten Untersuchungsbereich  verlassen.  Schwester  Sarah  sprang  in  dem Moment auf, in dem Dr. Spall zurückkehrte. Er schaute auf das leere Untersuchungsbett. »Wo ist der Patient?« 

»Weg.« 

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»Was heißt ›weg‹?« 

»Er  ist aufgestanden und  fortgegangen«, antwortete Sarah Cook. »Sind Sie ihm nicht begegnet?« 

»Nein.«  Jonathan  Spall  sah  sie  vorwurfsvoll  an.  »Mein  Gott, Schwester Sarah, wieso haben Sie das zugelassen?« »Ich habe  ihn zurückzuhalten versucht, aber  er war zu  stark  für 

mich.« »Zu  stark? Das  gibt  ‘s  doch  nicht. Der Mann  hat  fast  kein  Blut 

mehr in den Adern …« »Er  ist stark wie ein Bär«, sagte die Krankenschwester zornig. Sie 

hatte  in  ihrem  ganzen  Leben  noch  nie  gelogen,  war  eine Wahrheitsfanatikerin. Es ärgerte sie, wenn ihr jemand nicht glaubte. »Glauben Sie’s oder nicht, Dr. Spall!«, stieß sie beleidigt hervor und wandte sich ab. Dr. Spall veranlasste, dass der  abhanden gekommene Patient  im 

ganzen Haus gesucht wurde. Aber man fand ihn nicht. Es war ihm gelungen,  die  Holy‐Cross‐Klinik  unbemerkt  –  durch  den Leichenkeller – zu verlassen … 

 

*  

Wieder  in  Freiheit  »trank«  er das Licht des Vollmonds. Er  saugte den fahlen Schein förmlich in sich auf. Ein triumphierendes Funkeln war in seinen Augen. Er  hatte  keine  Schmerzen,  und  der  Mondschein  verlieh  ihm 

übernatürliche Kräfte. Gleichzeitig veränderte er nach und nach sein Aussehen. 

Während er sich von der Klinik absetzte, wurde er allmählich zum Tier. Haare sprossen aus seinen Armen. Sein ganzer Körper überzog sich mit einem dichten Fell. 

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Sein Mund wurde zur Schnauze, seine Fingernägel verwandelten sich  in  schwarze  Krallen,  seine Hände wurden  zu  Pfoten  und  er sprang in vollem Lauf über die hohe Backsteinmauer des Friedhofs, der sich direkt hinter dem Krankenhaus befand. 

Die gespenstische Stille des Gottesackers nahm den Werwolf auf. Geduckt lief er an Gräbern, Grüften und Denkmälern vorbei. 

Die  schweren  Verletzungen,  die  er  beim  Unfall  erlitten  hatte, heilten  buchstäblich  in  Sekundenschnelle.  Er  wusste  mit  seiner neuen Kraft  noch  nicht  richtig  umzugehen.  Sie war während  der Autofahrt jäh aus ihm hervorgebrochen. Die  Metamorphose  hatte  ihn  überrascht.  Er  hatte  sie  nicht 

verhindern können und war gezwungen gewesen, das Fahrzeug  in Wolfsgestalt  zu  lenken,  was  begreiflicherweise  nicht  lange  gut gehen konnte. Doch  nun  fühlte  er  sich  großartig,  unvorstellbar  stark  –  und 

schrecklich hungrig. Er  zog  die  Lefzen  hoch.  Bleich  schimmerten  seine  langen 

Reißzähne,  die  er  so  bald  wie  möglich  in  menschliches  Fleisch schlagen wollte. Er blieb kurz stehen, hob den Kopf und heulte den Mond an. Für 

Menschen mochte  es  sich  schaurig  anhören.  Ihm  jedoch  gefiel  es. Das war Musik in seinen spitzen Ohren … 

 

*  

Moses Muldoon,  der  Friedhofswärter,  hörte  das Wolfsgeheul.  Er wohnte gleich neben dem Haupttor. Mit gerunzelter Stirn  legte  er die Zeitung beiseite, in der er gelesen hatte. 

Langsam stand er auf. Seine alten Knochen schmerzten  ihn, doch das hörte zumeist nach wenigen Schritten auf. Mit grimmiger Miene ging er zum Fenster und schaute hinaus. Ein vertrauter Anblick bot 

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sich  ihm. Der Friedhof war  für  ihn nicht unheimlich – wie  für die meisten Menschen. »Vor den Toten brauchst du dich nicht zu fürchten«, pflegte er zu 

sagen.  »Die  sind  tot.  Die  können  dir  nichts  mehr  tun.  Vor  den Lebenden musst  du  dich  in Acht  nehmen,  denn  von  denen  sind viele ziemlich gefährlich!« 

Natürlich hielt er das, was er vernommen hatte,  für kein Wolfs‐, sondern für Hundegeheul, und Hunde hatten auf »seinem« Friedhof nichts zu suchen. 

Ein  aggressiver  Rottweiler  hatte  sich  mal  hierher  verirrt  und angefangen, die Toten auszubuddeln. Tiefe, hässliche Löcher hatte er  in  die  gepflegten  Grabhügel  gebuddelt,  und  als Muldoon  ihn verjagen wollte, hatte er ihn angegriffen. Die Bissspuren waren noch immer gut zu sehen. Seitdem besaß Moses Muldoon eine Schrotflinte. Die holte er jetzt. 

Er  würde  sich  nicht  noch mal  von  so  einem  verdammten  Köter beißen lassen! Er  lud  die  Waffe  und  trat  entschlossen  aus  dem  kleinen 

Friedhofswärterhaus. Sollte ihm der Hund zu nahe kommen, würde er ihm eine Ladung Blei in den Pelz brennen. 

Es war  keine  klare Vollmondnacht.  Immer wieder  schoben  sich dichte  Wolkenbänke  vor  die  große  helle  Scheibe  dort  oben  am tintigen Himmel. Moses Muldoon strengte seine alten Augen an. Wo  trieb sich das 

verfluchte Biest herum? Er glaubte, ganz kurz zwischen zwei hohen Grabsteinen einen schlanken Tierkörper zu sehen. 

»Ist ‘n besonders großes Exemplar«, murmelte er. »Aber du kannst noch  so  riesig  sein, Kumpel, wenn  ich meine doppelläufige  Flinte auf dich abfeuere, bist du erledigt.« 

Mit schussbereiter Waffe entfernte er sich von seinem Haus. 

Der Werwolf spielte mit ihm, ohne dass es ihm bewusst wurde. Er 

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zeigte sich mal hier, mal da. 

Immer  nur  einen  Lidschlag  lang.  Dann  verschwand  er  wieder. Raffiniert  lockte  er  sein  Opfer  in  die  Tiefe  des  Friedhofs  hinein. Schließlich ließ er sich für eine Weile nicht mehr blicken … 

Muldoon  stand  unter  einer  uralten  Platane  und  lauschte  in  die kompakte  Stille.  Nichts  war  zu  hören.  Hatte  der  Hund  den Gottesacker verlassen? »Das wäre sehr gut für dich, Alter«, brummte der Friedhofswärter. 

»Denn mit umherstreunendem haarigem Gesindel mache ich kurzen Prozess.« 

Die Schrotflinte in den Händen ging er noch einige Schritte weiter, bevor er kehrtmachte. Plötzlich  war  der  Werwolf  wieder  da.  Groß,  kraftstrotzend, 

knurrend,  mit  gesträubtem  Fell,  glühenden  Lichtern  und glänzenden Zähnen. Die  ungeheure  Bedrohung,  die  von  ihm  ausging,  ließ  Moses 

Muldoon  unwillkürlich  zurückweichen.  Aber  im  nächsten Augenblick besann er sich der Schrotflinte in seinen Händen. 

Er riss die Waffe hoch und zielte auf das Tier. 

»Wage es ja nicht, Köter!«, keuchte er. »Sonst knall ich dich eiskalt über den Haufen.« 

Der »Hund« kam näher … 

»Ich gebe dir drei Sekunden, um zu verschwinden … Eins …« 

Der »Hund« kam näher … 

»Zwei …« 

Der »Hund« kam näher … 

»Drei!« 

Der »Hund« setzten zum Sprung an. 

Moses Muldoon drückte ab. 

Die  Schrotflinte  donnerte  los,  jagte  dem  Ziel  gehacktes  Blei 

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entgegen. 

Der Friedhofswärter wollte sich bereits selbst loben, denn er hatte das Vieh voll getroffen. 

Umso  größer  war  sein  Entsetzen,  als  sich  die  Bestie  nur  kurz schüttelte – und den Mann aus glühenden Augen anstierte. Muldoon schrie, brüllte seine Angst und seine Verwirrung hinaus. 

Doch  der Werwolf  übertönte  ihn mit  Leichtigkeit,  indem  er  ein triumphierendes Heulen anstimmte. 

Der  Friedhofswärter  verstummte,  wich  langsam  zurück  –  und ebenso langsam folgte ihm die Bestie. Ein bedrohliches Knurren grollte durch die Nacht. 

Das  war  zu  viel  für  Muldoon.  Panisch  feuerte  er  die  zweite Ladung seines Gewehrs ab, obgleich er schon ahnte, dass sich keine Wirkung  zeigen würde. Darum wartete  er  auch  gar  nicht  erst  ab, sondern fuhr herum und eilte zu seinem Häuschen entgegen. Hinter sich vermeinte er, schweres Atmen zu vernehmen, das sich 

bedrohlich  näherte.  Spürte  er  nicht  bereits  den  heißen Hauch  des Todes im Nacken? 

Er  strengte  sich  noch mehr  an,  lief  schneller,  als  ihn  seine  alten Beine tragen wollten. 

Da  geschah,  was  kommen  musste.  Er  stolperte,  verlor  das Gleichgewicht  und  stürzte  mit  einem  Aufschrei  zu  Boden. Wimmernd lag er da und wartete auf sein Ende. Doch es kam nicht. 

Schließlich wagte Muldoon, sich umzusehen. Nirgendwo war das Ungeheuer zu sehen. Ein hysterisches Kichern kämpfte sich  in  ihm hoch und schallte durch die Nacht. Er lebte! 

Irgendwie war er der Bestie entkommen! 

Moses  Muldoon  rappelte  sich  auf  die  Füße.  Er  musste  den 

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Hundefänger benachrichtigen – Blödsinn! –, die Polizei. Oder noch besser die Armee. Aber würden sie ihm glauben? 

Egal, er musste es versuchen und wenn … 

Der  Schmerz,  der  in  diesem  Moment  in  seinem  Rücken explodierte,  war  unvorstellbar.  Muldoon  konnte  nicht  einmal schreien. Nur ein ersticktes Keuchen entrang sich seiner Kehle. 

Als er zu Boden sackte, war er bereits  tot. Doch das hinderte die Bestie nicht daran, sich an seinen Überresten gütlich zu tun …  

*  

Das Telefon schlug an. 

»Donner«, meldete ich mich. 

Ein  Scherzkeks  hatte  darauf mal  erwidert:  »Hallo,  hier  ist  Blitz. Wollen wir nicht mal zusammen ein Gewitter veranstalten?« Diesmal  sagte  am  andern Ende der Leitung mein Chef:  »Komm 

bitte mal in mein Büro, Dominic.« »Bin  schon  unterwegs,  Clive.«  Ich  legte  auf  und  ging  zu  ihm 

hinüber. Fett und unzufrieden hockte er an seinem Schreibtisch. 

»Da bin ich«, sagte ich und rieb mir die Hände. »Was hast du auf dem Herzen?« Er hakte die Daumen in seine Hosenträger. Sein Jackett hing über 

der Stuhllehne. Man sah ihm an, dass er gerne viel aß. »Setz dich!«, sagte er. Ich ließ mich auf den Besucherstuhl nieder. 

»Wie geht es dir, Dominic?«, erkundigte sich Clive Nelligan. 

»Es geht mir gut«, gab ich nickend zurück. 

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»Ist mit deinem Liebesleben alles in Ordnung?« 

»Aber ja doch.« 

»Sonst irgendwelche Probleme?«, fragte er. 

»Keine Probleme, Clive.« 

»Wir sollten mal wieder was zusammen unternehmen«, schlug er vor. Ich grinste. »Ich bin zu  jeder Schandtat bereit – wann  immer du 

möchtest.  Du  bist  derjenige,  der  in  letzter  Zeit  ein  paar  Gänge zurückgeschaltet hat.« 

Clive Nelligan nickte. »Wenn man so viel Zucker hat wie ich, muss man aufpassen.« 

Ich lehnte mich zurück und schlug das linke Bein über das rechte. »Okay, dann komm  jetzt bitte mal  zur Sache. Wo drückt dich der Schuh?« 

Er musterte mich mit kummervoller Miene,  als hätte  ich  ihm  zu einem  neuen  Magengeschwür  verholfen.  »Was  ist  los  mir  dir, Dominic?« »Nichts«, gab ich ohne schlechtes Gewissen zur Antwort. »Warum 

fragst du?« Er zeigte auf die bedruckten Blätter, die vor ihm lagen. »Du lieferst 

in letzter Zeit nur noch Müll. Bist du ausgeschrieben oder was?« 

Ich schüttelte den Kopf. »Doch nicht mit 35 Jahren.« Er  seufzte.  »Ich  kann  den  Lesern  unseres  Blattes  deine  Artikel 

nicht mehr zumuten.« »Du hast doch nicht etwa vor, mich zu feuern.« 

»Das nicht …« 

»Sind die Artikel schlecht geschrieben?« 

»Sie  sind  brillant  verfasst«, musste  Clive  zugeben.  »Aber  diese Themen interessieren keine Sau.« Ich hob bedauernd die  Schultern.  »Es  ist Sauregurkenzeit, Clive. 

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Was soll  ich machen? So etwas kommt  immer wieder mal vor. Das weißt du doch.  Ich kann mir keine brandheiße Sensationsstory aus den  Fingern  saugen.  Wenn  nichts  passiert,  muss  ich  über  das berichten, was sich gerade mal so anbietet.« 

»Du  kennst doch das Zeitungsgeschäft,  schließlich  bist du  lange genug  dabei.  Gute  Nachrichten  sind  schlechte  Nachrichten.  Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten.« 

»Sorry, aber ich werde keine schlechten Nachrichten erfinden, um dir eine Freude zu machen.« »Greif  irgendeinen  korrupten  Politiker  an.  Davon  gibt  es  doch 

genug.  Berichte  über  die Abartigkeiten  eines  berühmten  Popstars. Schreibe über bescheuerte Teufelsanbeter. Du hast das doch  in der Vergangenheit alles schon so mal großartig getan.« Ich nickte. »Und ich werde mich auch wieder voll ins Zeug legen, 

sobald mir  etwas  in  dieser  Richtung  zu Ohren  kommt. Doch  bis dahin muss ich dich um etwas Geduld bitten, mein Lieber.«  

*  

Zwei Stunden später schenkte mir Fortuna eine neue heiße Story. 

Ich aß mit Sarah Cook bei unserem Italiener zu Mittag. Wir waren seit einem  Jahr ein Paar, wohnten aber noch nicht zusammen. Das sollte der nächste Schritt sein, der zu tun war. 

Aber  es  gab  ein  Problem:  Sarah  wollte  ihre  Wohnung  nicht aufgeben  –  weil  sie  nicht  weit  vom  Holy‐Cross‐Krankenhaus entfernt war –, und  ich meine nicht – weil  ich ein Gewohnheitstier bin und zu sehr an meiner Bude hing. Während  des  Essens  erzählte  sie  mir  eine  ganz  unglaubliche 

Geschichte:  Ein Mann war  nach  einem  Autounfall  bei  ihr  in  der Notaufnahme der Holy‐Cross‐Klinik gelandet und … 

Ich hörte aufmerksam zu, und je mehr Sarah erzählte, desto größer 

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wurde mein  Interesse. Das Sahnehäubchen dieser  irren Geschichte war  schließlich,  dass  der  geheimnisvolle  Unbekannte  Tierblut  in seinen Adern gehabt hatte. Tierblut!  Und  er  war  trotz  schwerster  Verletzungen  so  stark 

gewesen, dass  niemand  ihn davon  abhalten  konnte, die Klinik  zu verlassen. 

Dieser mysteriösen Story musste  ich einfach nachgehen. Ich wäre ein  schlechter  Journalist  gewesen,  wenn  ich  mich  nicht  darum gekümmert hätte. 

Was  immer  dabei  herauskommen  würde  –  »Big  Boss«  Clive Nelligan würde seine helle Freude daran haben, das glaubte ich jetzt schon zu wissen. Ich  begann  sofort  zu  recherchieren,  ließ meine  hervorragenden 

Beziehungen  zur  Polizei  spielen,  sobald  Sarah  wieder  im Krankenhaus war,  und  erfuhr  dabei  etwas  höchst Unerfreuliches: Auf dem Gottesacker hinter dem Holy‐Cross‐Krankenhaus war  in der  vergangenen  Nacht  der  Friedhofswärter  Moses  Muldoon vermutlich von einem wilden Hund zerfleischt worden. 

Das  war  geschehen,  kurz  nachdem  der  Mann,  der  angeblich Tierblut in seinen Adern gehabt hatte, aus der Klinik verschwunden war. 

Zufall? Ich glaubte nicht daran. 

Aber  ich  behielt  es  für mich,  als  ich mit  Sergeant Viggo Moore, meinem guten Kumpel beim NYPD, telefonierte. 

»Hast du die Leiche auf dem Friedhof gesehen, Viggo?«, fragte ich ihn. »O  ja, Dominic, das hab  ich. Mir kommt  jetzt noch beinahe alles 

hoch, was ich im Magen habe, wenn ich daran denke.« »Und dabei bist du einiges gewöhnt.« 

»Du sagst es«, gab Viggo mir Recht. »Moses Muldoon hatte eine 

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doppelläufige Schrotflinte bei sich. Er hat sie auch abgefeuert. Aber er muss das verdammte Tier verfehlt haben. Es hat … Es hat …« »Was, Viggo? Was hat es?« 

»Es hat sein Herz gefressen!« Mir lief es kalt über den Rücken. Ich wechselte  das  Thema  und  sprach  über  den  Autounfall,  der  den Tierblut‐Mann in die Holy‐Cross‐Klinik gebracht hatte. Viggo  wusste,  dass  der  schwarze  Wagen  von  einem  Künstler 

namens Mordecai Haskell als gestohlen gemeldet worden war. Ich bat den Sergeant um Haskells Adresse und erhielt sie. 

»Danke, Viggo«, sagte  ich. »Du warst mir mal wieder eine große Hilfe.« »Wenn du mal ein Buch schreiben solltest …« »… widme ich dir ein ganzes Kapitel.« 

Er lachte. »Das macht mich unsterblich.« 

 

*  

Mordecai Haskell wohnte in einem Haus auf Staten Island. 

Aber zu den begüterten Künstlern gehörte der bullige Maler und Bildhauer noch nicht. Er hing mit  seinem Durchbruch noch  in der Warteschleife. 

Zunächst begegnete er mir mit Misstrauen, doch als er erfuhr, dass ich  Journalist  war,  taute  er  auf.  Wahrscheinlich  erhoffte  er  sich durch mich ein wenig Gratis‐Publicity. Stolz zeigte er mir einige seiner Arbeiten. Die Bilder waren düster 

und  sagten nicht viel aus. Die Skulpturen waren allesamt hässlich und sprachen mich nicht an. Wenn er so weitermachte, würde sein Durchbruch  noch  sehr  lange  auf  sich  warten  lassen  –  oder überhaupt nie stattfinden. »Ich  habe  die  Schönheit  der  Hässlichkeit  entdeckt«,  sagte  er 

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enthusiastisch. »Genau genommen gibt es nichts wirklich Hässliches auf der Welt. Alles ist auf seine ganz spezielle Art schön. Man muss nur den richtigen Maßstab anlegen … Für welches Blatt, haben Sie gesagt, schreiben Sie, Mr. Donner?« 

»Für ›Flash News‹.« 

Er leckte sich die Lippen. »Können Sie einen Bericht über mich in Ihrer  Zeitung  unterbringen?«  Er  sah  mich  gespannt  an.  »Im Feuilleton‐Teil. Am Wochenende.« 

Ich  nickte.  »Ich  rede  mal  mit  meinem  Chef  darüber. Wenn  er damit  einverstanden  ist,  setzen wir uns zu einem netten Gespräch zusammen und ich fotografiere Sie mit Ihren Arbeiten.« Freude funkelte in seinen Augen. »Ich stehe Ihnen jederzeit für ein 

langes, ehrliches Interview zur Verfügung.« Ich kratzte mich hinterm Ohr. »Ich bin heute aus einem anderen 

Grund hier, Mr. Haskell.« »Aus welchem?« 

»Ihnen wurde Ihr Wagen gestohlen?« 

»Das  ist  richtig«,  bestätigte  der  Künstler.  »Wollen  Sie  darüber einen Bericht schreiben?« »Der Dieb baute mit Ihrem Auto einen Unfall und landete schwer 

verletzt  in der Klinik,  in der meine Freundin als Krankenschwester arbeitet.« »Tatsächlich? Wie ist der Name Ihrer Freundin?« 

»Sarah Cook.« 

»Konnte  man  dem  Mann  helfen?«,  wollte  Mordecai  Haskell wissen. Ich  schüttelte  den  Kopf.  »Er  ist  aus  der  Holy‐Cross‐Klinik 

abgehauen.« Haskell staunte. »Was Sie nicht sagen. Obwohl er schwer verletzt 

war?« 

Page 17: Die Spur des Wolfs

Ich  nickte mit  finsterer Miene.  »Obwohl  er  schwer  verletzt war. Wann haben Sie bemerkt, dass Ihr Wagen weg war, Mr. Haskell?« »Am frühen Abend. So gegen 18 Uhr. Ich wollte Tanya besuchen.« 

»Tanya?« 

»Tanya Pugh«, erklärte Mordecai Haskell. »Meine Freundin. Sie ist ebenfalls Künstlerin – malt sehr ausdrucksstarke Bilder.« 

Er machte sehr viel Reklame für Tanya. Als wollte er ihr zu einem Karriereschub verhelfen. Ich blieb noch etwa zehn Minuten. 

Anschließend verabschiedete ich mich mit dem Versprechen: »Wir bleiben in Verbindung.«  

*  

Bereits zwanzig Minuten  später  stand  ich bei Tanya Pugh auf der Matte. Ihre Adresse hatte ich aus dem Telefonbuch. Sie war  eine blasse  rothaarige Frau von  schätzungsweise dreißig 

Jahren,  trug  einen mit  bunten Klecksen übersäten Malerkittel und lieferte mir  eine  erste Überraschung,  indem  sie  bestritt, Mordecai Haskells Freundin zu sein. »Aber Mr. Haskell sagte doch …«, setzte ich an. 

»Ich war mal seine Freundin«, erklärte Tanya Pugh. »Jetzt bin ich es nicht mehr.« »Er wollte Sie gestern Abend besuchen«, sagte ich. 

Die  Malerin  schüttelte  den  Kopf.  Wir  befanden  uns  in  ihrem Atelier,  waren  umgeben  von  ihren  leuchtenden,  fantasievollen, fröhlichen Bildern. 

»Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Wieso nicht?« 

»Ich hätte  ihn nicht  reingelassen. Das weiß er.  Ich habe vor zwei Monaten mit Mordecai Haskell Schluss gemacht.« 

Page 18: Die Spur des Wolfs

»Würden Sie mir sagen, warum?«, fragte ich. 

»Weil er immer sonderbarer wurde.« 

»In welcher Form?« 

»Alles  Hässliche  übte  auf  ihn  eine  geradezu  beängstigende Faszination  aus«,  erzählte  Tanya  Pugh  mit  belegter  Stimme.  »Er begann  mit  Räucherstäbchen,  selbst  erzeugten  Sphärenklängen, Alkohol  und  Medikamenten  zu  experimentieren  und  schuf  im Drogenrausch  die  widerwärtigsten  Monster.  Er  versetzte  sich  in tiefe  Trance  und  malte  schreckliche  Kreaturen.  Die  Grauen erregende Abscheulichkeit seiner Werke war so groß, dass er sie im Keller seines Hauses versteckte. Aber das reichte ihm noch nicht. Er hatte die Absicht, sein Bewusstsein mit Hilfe von schwarzer Magie zu  erweitern.  Als  er mir  davon mit  einem  irren  Funkeln  in  den Augen erzählte, sagte ich: ›Wenn du das tust, sind wir geschiedene Leute.‹ Er  ließ sich dennoch nicht davon abhalten, und so  trennten sich unsere Wege.« 

Hey, Mordecai Haskell!, ging es mir durch den Sinn. Worauf bist du mit deiner gewagten Experimentierfreudigkeit gestoßen? 

 

*  

Es  klopfte,  und  Tanya  Pugh  öffnete  die  Tür.  Sie  dachte, Dominic Donner,  der  sich  vor  wenigen  Augenblicken  verabschiedet  hatte, wäre noch einmal zurückgekommen. Doch  vor  ihr  stand  nicht  der  sympathische  Reporter,  sondern 

Mordecai Haskell – der Mann, mit dem sie nichts mehr zu tun haben wollte,  seit  er  selbst  einem  Pakt mit  dem  Teufel  nicht  abgeneigt gewesen war, um  als Künstler den  lang  ersehnten Durchbruch  zu schaffen. Er  lächelte,  aber  dieses  Lächeln  erreichte  seine  Augen  nicht. 

»Hallo, Tanya.« 

Page 19: Die Spur des Wolfs

»Was willst du hier?« 

Er hob die Schultern. »Ich möchte dich besuchen. Sehen, wie es dir geht. Darf ich reinkommen?« 

»Nein.« Sie wollte die Tür schließen. 

Er  ließ es nicht zu, drückte die Tür zur Seite und  trat ein. »Aber, aber. Behandelt man so einen lieben Freund?« 

Sie war wütend. Ihr Herz klopfte hoch oben im Hals. »Du bist kein lieber Freund mehr«, zischte sie. 

»Ich sehe das anders.« 

»Würdest du bitte gehen?« 

»Ich bin doch eben erst gekommen.« Er schloss die Tür. 

Eine unangenehme Empfindung beschlich sie. Sie fühlte sich nicht mehr wohl in seiner Nähe, hatte Angst vor ihm. 

»Ich  möchte,  dass  du  mein  Atelier  auf  der  Stelle  verlässt, Mordecai!«, verlangte sie. 

Er  blickte  ihr  in die Augen,  als wollte  er  sie hypnotisieren.  »Du hattest  Besuch  von  diesem  Reporter.  Ich weiß  es. Du  brauchst  es nicht  zu  leugnen.  Ich  bin  ihm  hierher  gefolgt.  Der  Knabe  ist verdammt  neugierig,  und  das  gefällt mir  nicht. Was  hast  du  ihm erzählt?« »Nichts.« 

»Dominic Donner machte einen sehr zufriedenen Eindruck, als er aus dem Haus kam.« 

Tanya wich zurück. »Lass mich in Ruhe.« 

»Hast du ihm von meinen Experimenten erzählt?« 

Sie schwieg. 

»Hast du über meinen Keller gesprochen?« 

Sie ging  zum Telefon und nahm den Hörer  ab.  »Wenn du nicht augenblicklich verschwindest, rufe ich die Polizei.« Er  packte  den  Apparat  und  schleuderte  ihn  durch  das  Atelier, 

Page 20: Die Spur des Wolfs

nachdem er die Schnur aus der Wand gefetzt hatte. 

Tanya  riss  die  Augen  auf.  »Was  fällt  dir  ein?  Bist  du  verrückt geworden?« 

»Du wolltest die Polizei rufen«, sagte der zu seiner Rechtfertigung. »Das musste ich verhindern.« Ohne ein weiteres Wort fing er an, Dinge zu zerschlagen. Nippes‐

Figuren  mussten  dran  glauben.  Eine  Tischlampe  ging  zu  Bruch. Dann  nahm  er  ein  schweres Whiskyglas und  zertrümmerte damit den großen Wandspiegel. 

»Donner  wird  wiederkommen«,  sagte  er  rau.  »Diese  lästigen Reporter  kommen  immer wieder  und  stellen  immer  neue  Fragen. Wenn  sie  erst mal  angefangen haben, hören  sie damit nicht mehr auf. Bis alles ans Tageslicht gelangt. Auch das, was besser verborgen bleiben sollte.« 

Tanyas  Furcht  wuchs.  Sie  sprintete  los,  wollte  an  Haskell vorbeirennen und aus dem Atelier fliehen. 

Ein furchtbarer Schlag stoppte sie und schleuderte sie weit zurück. Sie  landete  hart  auf  dem  Boden  und  stieß  einen  dünnen Schmerzschrei aus. Es war mehr ein Wimmern. 

»Hast du Donner von dem Buch erzählt?«, wollte Haskell wissen. Tanya starrte ihn entsetzt an. 

»Antworte!« 

Sie zuckte wie unter einem Peitschenschlag zusammen. 

»Hast  du  Dominic  Donner  von  dem  Buch  erzählt!«,  schrie Mordecai Haskell. Er begann, ihre Bilder zu zerfetzen. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein.« 

»Sag die Wahrheit!« Er schlitzte ein weiteres Gemälde mit seinen Fingernägeln auf, die auf rätselhafte Weise lang, spitz, schwarz und rasiermesserscharf geworden waren. »Ich habe das Buch mit keiner Silbe erwähnt!«, schluchzte Tanya. 

»Ganz  bestimmt  nicht!  Bitte, Mordecai …  Bitte,  hör  auf  damit … 

Page 21: Die Spur des Wolfs

Mach meine Bilder nicht kaputt … Du weißt, wie lange ich an ihnen gearbeitet habe, weißt, wie viel sie mir bedeuten …« Seine Augen  verfärbten  sich,  leuchteten  immer mehr wie  gelbe 

Lämpchen. Schwarze Haarbüschel bedeckten seine Handrücken. »Um Himmels willen, was  ist mit dir  los?«, krächzte Tanya Pugh 

angesichts der stetig fortschreitenden Verwandlung. Aus  dem Mann,  den  sie  einst  geliebt  hatte, wurde  ein  Tier.  Ein 

gefährlicher Wolf, der hechelnd nach  ihrem Leben gierte, denn mit jedem Opfer, das er tötete, wurde er stärker. 

Tanya Pugh traute ihren Augen nicht. Spielten ihr ihre Sinne einen Streich?  Was  sie  sah,  konnte  nicht  sein,  war  überhaupt  nicht möglich. 

Oder  doch?  Fassungslos  starrte  sie  das  Scheusal  an.  Sie  war unfähig, sich zu bewegen. Der Werwolf bleckte sein  todbringendes Gebiss.  Pfeilschnell  schoss  er  heran  –  und  wurde  seiner dämonischen Bestimmung gerecht … 

 

*  

Mein  Freund  Eric  Silverman  war  Antiquitätenhändler.  In  seiner Freizeit  verschlang  er  alles, was  sich mit Geistern, Monstern  und Dämonen befasste. Nicht  Romane,  sondern  wissenschaftliche  Aufzeichnungen. 

Seriöse Abhandlungen von bekannten Parapsychologen. Okkulte  Schriften.  Arbeiten  über  Teufelsaustreibung  und 

Besessenheit.  Angeblich  kannte  er  unzählige  Bannsprüche,  mit denen man üble Dämonen, die  einem nach dem Leben  trachteten, von sich fernhalten konnte. Gelegenheit, sie anzuwenden, hatte er noch nie gehabt, doch das 

machte  ihn  nicht  traurig,  weil  er  um  die  Verschlagenheit  und Gefährlichkeit  schwarzer  Wesen  besser  Bescheid  wusste  als 

Page 22: Die Spur des Wolfs

irgendjemand sonst. 

Als  ich  ihm meine  sonderbare Geschichte erzählte, wiegte er mit besorgter Miene  seinen Kopf.  Er war  zwanzig  Jahre  älter  als  ich, ging auf die sechzig zu, sah aber wesentlich jünger aus. 

Er  ernährte  sich bewusst gesund,  aß viel Gemüse, wenig Fleisch und mindestens  zweimal  in  der Woche  Fisch  und  hielt  sich mit regelmäßigem Sport fit. »Junge«, sagte Eric Silverman sehr ernst zu mir. »Ich kann dir nur 

raten, verdammt vorsichtig zu sein. Was du mir soeben erzählt hast, deutet ohne  jeden Zweifel darauf hin, dass du einem Werwolf auf der Spur bist.« »Sind die nicht nur nachts gefährlich? Und bei Vollmond?« »Es gibt auch welche, die jederzeit zuschlagen können«, klärte Eric 

mich auf. Wenn mir das  irgendjemand  anderes gesagt hätte, hätte  ich  ihm 

nicht geglaubt. Aber wenn  es  aus Erics Mund kam, konnte  ich  es bedenkenlos für bare Münze nehmen. Wir standen inmitten von kostbaren Antiquitäten, teuren Raritäten 

und wertvollen  Unikaten  einer  handwerklichen  Kunst  aus  längst vergangenen Tagen. 

»Das kommt darauf an, wie stark der Wolfszauber  ist, der sie zu dem  gemacht  hat, was  sie  sind«,  sagte mein  Freund  und  hob  die Hand. »Augenblick …« Er  ließ mich stehen und verschwand  für  fünf Minuten. Eine Frau 

betrat das Geschäft. Sie hielt mich für den Besitzer und fragte nach dem Preis einer hübschen Tiffany‐Lampe. 

Ich hob die Lampe hoch, drehte sie um und las von einem kleinen Aufkleber ab, was Eric dafür haben wollte. 

»Puh!«, machte die Frau. »Grundgütiger, ist das gute Stück teuer. Nein, das kann ich mir nicht leisten. Vielen Dank.« 

»Nichts zu danken.« 

Page 23: Die Spur des Wolfs

Die Frau ging. Eric kam zurück. 

»Ich hab versucht, einer Lady diese Tiffany‐Lampe anzudrehen«, berichtete ich. »Aber sie war ihr zu teuer.« 

»Es wird sich ein Käufer finden, der sie sich leisten kann«, meinte Eric zuversichtlich und  legte einen verchromten Revolver vor mich hin. »Hier, Dominic. Den leihe ich dir.« Ich hob die Hände und schüttelte den Kopf. »Ich bin ein erklärter 

Pazifist, wie du weißt.  Ich brauche so etwas nicht. Meine Waffe  ist das Wort. Damit weiß ich bestens umzugehen.« 

Eric  nickte.  »Das  ist  mir  bekannt.  Aber  gegen  einen  Werwolf richtest  du mit Worten  nichts  aus.  Dieser  Revolver  gehörte  zum Nachlass eines sehr erfolgreichen Dämonenjägers. Es spricht für den Mann, dass er an Altersschwäche  in seinem Bett starb. Die meisten Dämonenjäger  treffen  nämlich  irgendwann  auf  einen Gegner,  der schneller, stärker oder gerissener ist als sie – und dann hat die Jagd ein Ende.« Ich nahm die Waffe  in die Hand. Sie war schwer und  fühlte sich 

gut an. Wie vielen Monstern mochte ihr früherer Besitzer damit den Garaus gemacht haben? »Wie hieß der Mann?«, wollte ich wissen. 

»Hyram Gasko«, antwortete Eric. 

»Wie alt wurde er?« 

»95. Er schlief friedlich ein.« 

Ich  stellte  fest, dass der Revolver  geladen war. Es war nicht die erste Waffe, die ich in der Hand hatte. Man hatte mir bei der Army das Schießen beigebracht, und ich hatte mich dabei gar nicht mal so dumm  angestellt.  Dennoch  lehnte  ich  Waffen  jeder  Art grundsätzlich  ab. Weil  sie  nur  für  einen  Zweck  erzeugt  worden waren … Eric  zeigte  auf  die  Trommel.  »In  den  Kammern  befinden  sich 

geweihte  Silberkugeln,  in  die Hyram Gasko  auch  noch  ein Kreuz 

Page 24: Die Spur des Wolfs

gefeilt hat.« 

»Damit  hat  er  sie  zu Dumdum‐Geschossen  gemacht«,  sagte  ich, »die auseinander fächern, sobald sie auf ein Hindernis treffen …« 

»…  wodurch  ihre  Vernichtungskraft  noch  sehr  viel  effizienter wird«, vollendete Eric Silverman den Satz. »Hätte Moses Muldoon, der  Friedhofswärter,  nicht  mit  der  Schrotflinte  auf  seinen blutrünstigen  Mörder  geschossen,  sondern  mit  diesem  Revolver, wäre  er mit  an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch  am Leben – und es gäbe keinen Werwolf mehr. Du solltest diese Waffe von nun an  immer bei dir  tragen, Dominic«, riet mir mein Freund. »Sie kann dir das Leben retten.« 

Ich schob das Schießeisen am Rücken in den Hosenbund. »Sehr vernünftig«,  lobte Eric Silverman. »Du gibst mir die Waffe 

zurück, sobald du den Werwolf erledigt hast … Gott sei mit dir.« 

 

*  

Sarah Cook war im Supermarkt gewesen und hatte für ein leckeres Abendessen eingekauft. Sie wollte Dominic mal wieder bekochen. Ächzend  stellte  sie  die  prall  gefüllten  Einkaufstüten  auf  den 

Küchentisch. Als  sie nach der Schürze griff,  läutete  jemand an der Tür. Sie  legte die  Schürze  beiseite,  verließ die Küche und  öffnete die 

Wohnungstür. Draußen stand ein Mann, der ihr irgendwie bekannt vorkam. Im Moment konnte sie ihn aber nirgendwo unterbringen. 

»Ja, bitte?«, fragte sie. 

»Miss Cook?« 

»Ja.« 

»Mein Name  ist Mordecai Haskell«,  stellte  sich der  Fremde  vor. »Dominic Donner, Ihr Verlobter …« 

Page 25: Die Spur des Wolfs

Sarah schüttelte den Kopf. »Er ist nicht mein Verlobter.« 

Mordecai Haskell lächelte. »Entschuldigen Sie. Ihr Freund Dominic … Ist er hier?« Er schaute an ihr vorbei in die Wohnung. 

»Noch nicht«, antwortete Sarah. 

»Er war bei mir«, erzählte Haskell. »Er möchte mich  interviewen. Ich  bin  Künstler,  müssen  Sie  wissen.  Maler  und  Bildhauer.  Ein Bericht  im  ›Flash News‹ wäre mir sehr willkommen.  Ich bin  leider noch nicht allzu bekannt. Deshalb gehen meine Arbeiten auch noch nicht weg wie  die  berühmten warmen  Semmeln. Aber wenn Mr. Donner  gut  über mich  schreibt,  erwacht  vielleicht  das  allgemeine Interesse an meiner Person und an meinen Werken.« Sarah  schmunzelte.  »Und was wollen  Sie  von mir, Mr. Haskell? 

Soll ich in Ihrem Sinn Einfluss auf meinen Freund nehmen?« »Oh, das ist nicht nötig, Miss Cook«, wehrte Mordecai Haskell ab. 

»Meine Arbeiten  sprechen  für  sich.  Sie  sind  außergewöhnlich.« Er lächelte.  »Ich  brauche  keine  Fürsprecherin.  Ich  möchte  für  Mr. Donner  lediglich  eine  Nachricht  hinterlassen.  Darf  ich reinkommen?« »Selbstverständlich.« Sarah gab arglos die Tür frei. 

Mordecai Haskell  trat  ein.  »Das  ist wirklich  sehr  freundlich  von Ihnen, Miss Cook.« Sein aufmerksamer Blick wanderte rasch umher, als  würde  er  irgend  etwas  suchen.  »Wenn  Sie  noch  einen Kugelschreiber und ein Stück Papier für mich hätten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.« »Kugelschreiber  und  Papier. Klar.  Bringe  ich  Ihnen.«  Sarah  ließ 

den Mann kurz allein. Als sie zurückkam, fiel ihr nicht auf, dass er die  Tür  geschlossen  hatte.  »Hier«,  sagte  sie  lächelnd. »Kugelschreiber und Papier.« 

»Vielen Dank. Ich danke Ihnen sehr.« Er hatte nichts dagegen, dass sie ihm über die Schulter schaute, während er schrieb. 

Donner, dein Mädchen befindet sich in meiner Gewalt! Wenn du sie lebend 

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wiederhaben willst, ruf mich an! – Mordecai Haskell. 

Das hatte der Mann geschrieben, das las Sarah Cook. 

Ihr Herz krampfte sich unwillkürlich zusammen. 

Plötzlich  fiel  es  ihr  wie  Schuppen  von  den  Augen.  Mordecai Haskells Gesicht war ihr vorhin irgendwie bekannt vorgekommen. Jetzt wusste  sie, woher. Wenn  sie dem Unfallopfer  in der Holy‐

Cross‐Klinik, das geflohen war, das Blut  abgewaschen hätte, wäre dieses Gesicht zum Vorschein gekommen. 

Haskell  richtete  sich auf und grinste kalt. »Ich  sehe, Sie erinnern sich an mich, Schwester Sarah. Sie wollten mich am Verlassen der Klinik  hindern.  Nicht  einmal  aufstehen  wollten  Sie  mich  lassen. Weil  ich  Ihrer Ansicht nach  tot hätte umfallen können.« Er breitete die Arme  aus.  »Sehen Sie mich  an. Es geht mir gut.  Ich bin okay. Eine Kraft, von der Sie mit Sicherheit noch nie gehört haben,  füllt mich bis in die allerletzte Haarspitze aus.« Sie  zeigte  mit  zitternder  Hand  auf  die  Nachricht,  die  er 

geschrieben hatte. »Was … was soll das?«, stammelte sie. 

»Ich nehme Sie mit.« 

»Wohin?« 

»Zu mir.« 

Sarah schüttelte heftig den Kopf. »Ich gehe mit  Ihnen nirgendwo hin.« 

Mordecai Haskell lächelte frostig. »Sie haben keine andere Wahl.« 

»Warum tun Sie das?«, fragte Sarah mit zugeschnürter Kehle. 

»Dominic Donner  ist hinter mir her«,  knurrte Haskell  aggressiv. »Ich muss ihn unschädlich machen, bevor er mir gefährlich werden kann. Er  ist ein verdammt neugieriger Dreckskerl und steckt seine Nase  überall  rein.  Reporter  sind  ein  verfluchtes  Pack. Wenn  sie einmal Blut gerochen haben, kann nichts mehr sie von einer Fährte abbringen.« Er grinste böse. »Es sei denn, man  tötet sie … Er wird 

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diese Nachricht lesen, wird mich anrufen und  ich werde ihm einen Tausch vorschlagen: Ihr Leben gegen seines. Ich bin sicher, er wird darauf eingehen.« »Dominic  hat  Freunde  bei  der  Polizei«,  sagte  Sarah  mit 

vibrierender Stimme. »Wenn er Ihre Nachricht liest, wird er sich an sie um Hilfe wenden.« 

»Das wird er nicht tun.« »Natürlich wird er das!« 

»Dominic Donner ist nicht dumm«, erklärte Mordecai Haskell. »Er besitzt sicherlich genug Fantasie, um sich vorstellen zu können, was mit Ihnen passiert, wenn er mit den Bullen bei mir anrückt.« 

Nacktes  Grauen  packte  Sarah  Cook,  als  ihr  Blick  auf  Haskells Hände gelenkt wurde. Seine Fingernägel veränderten sich  in Farbe und  Form.  Sie  wurden  zuerst  grau,  dann  schwarz,  begannen  zu wachsen und wurden schließlich zu spitzen, scharfen Krallen. Wie war so etwas möglich? Sarah hatte keine Erklärung dafür. 

Mordecai  Haskell  unterband  die Metamorphose.  Er  wollte  sich jetzt nicht verwandeln, wollte Sarah Cook nicht  töten. Er brauchte sie lebend – als Geisel. Wenn  sie  der Mordlust  des Werwolfs  zum  Opfer  fiel,  hatte  er 

nichts mehr, womit er Dominic Donner unter Druck setzen konnte. 

Er  musste  sehr  viel  Willenskraft  aufbringen,  um  eine  weitere Verwandlung  zu  verhindern. Die  Bestie  in  ihm  durfte  noch  nicht hervorbrechen. Die Zeit war noch nicht reif dafür. 

»Gehen wir!«, befahl er knurrend wie ein Wolf. 

Das Böse hatte sich auch schon auf seine Stimmbänder geschlagen und ließ sich nur sehr mühsam zurückdrängen. Sarah Cook wich kopfschüttelnd zurück. 

Mordecai Haskell packte sie, doch sie riss sich von ihm los, floh ins Bad und verriegelte die Tür. 

Er warf sich zornig dagegen. 

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Der  Riegel  brach.  Die  Tür  flog  auf,  prallte  gegen  Sarah  und schleuderte  sie  in die Wanne. Sterne  tanzten vor  ihren Augen. Sie sah Haskells Gesicht völlig verschwommen. Als er sich knurrend über sie beugte, dachte sie, ihre letzte Stunde 

hätte geschlagen …  

*  

Ich freute mich auf das Abendessen bei Sarah. 

Sie  kochte  hervorragend.  Mit  sehr  viel  Liebe,  dem  richtigen Fingerspitzengefühl  und  erlesenem  Geschmack  zauberte  sie  jedes Mal die exquisitesten Köstlichkeiten auf den Tisch. 

Es war immer wieder ein kulinarisches Fest für mich, bei Sarah zu speisen. Ich hatte Wein gekauft. Da ich nicht wusste, was Sarah mir vorsetzen wollte, brachte  ich Rotwein, Weißwein und eine Flasche edelsten Roses mit. 

Ich bog in die Straße ein, in der sie wohnte, war guter Dinge und früh  genug  dran,  um  ihr  bei  den  Vorbereitungen  ein  wenig  zur Hand gehen zu können. 

Plötzlich traf mich der Schock mit der Wucht eines Keulenschlags. Ich  sah  Sarah.  Sie  war  in  Begleitung  von Mordecai  Haskell.  Die beiden  waren  soeben  aus  dem  Haus  getreten.  Sarah  wirkte angeschlagen.  Sie  ging  auf unsicheren Beinen, wurde  von Haskell gestützt. Es war Gewalt im Spiel! 

Verdammt, was hat der Mistkerl ihr angetan?, schrie es in mir. Was hat er mit Sarah vor? Wohin bringt er sie? Sie musste  in  ihren Wagen  steigen. Mordecai Haskell  setzte  sich 

auf den Beifahrersitz. Trotz offensichtlich  schwerer Benommenheit musste meine Freundin sofort losfahren. 

Page 29: Die Spur des Wolfs

Sie hielt das Lenkrad nicht besonders  fest  in  ihren Händen,  fuhr unkonzentriert und schlängelnd. Das war eine Entführung. Mordecai Haskell entführte mein Mädchen! Eine  unbändige  Wut  brannte  mit  einem  Mal  in  meinen 

Eingeweiden. »Na  warte,  du  Scheißkerl!«,  schrie  ich  gegen  die 

Windschutzscheibe, während ich Sarahs Wagen folgte. Welch Riesenglück, dass ich die Entführung mitbekommen habe, ging es 

mir durch den Sinn. Wenn ich nur eine Minute später eingetroffen wäre, wäre Sarah weg gewesen. Mordecai Haskell  ließ meine Freundin nach Staten  Island  fahren. 

Ich befand mich hinter ihnen, doch sie bemerkten mich nicht. Sarah fuhr allmählich sicherer. 

Mein  Herz  hämmerte  wie  verrückt  gegen  die  Rippen.  Die Tatsache, dass sich mein Mädchen in der Gewalt eines gefährlichen Killers befand, raubte mir beinahe den Verstand. 

Mein Handy meldete  sich.  Ich  schaltete die Freisprechanlage  ein und meldete mich. Am  andern  Ende war  Sergeant Viggo Moore. Sollte ich ihm sagen, was hier soeben lief? Ich  entschied mich dagegen, denn  ich wollte  Sarahs Leben nicht 

gefährden. 

»Was gibt’s?«, fragte ich. 

»Bist  du  noch  immer  interessiert  an  dem  Killer  des Friedhofswächters?« »Natürlich!« 

»Na, dann halt dich fest«, sagte Viggo. »Möglicherweise haben wir es hier mit einem Serientäter zu tun.« »Wie kommst du darauf?« 

»Wir haben eine weitere Leiche gefunden. Es deutet eine Menge darauf hin, dass es derselbe Mörder war.« 

Page 30: Die Spur des Wolfs

»Zum Beispiel?«, erkundigte ich mich – und hörte ihn seufzen. 

»Na,  zum  Beispiel  wurde  auch  das  Herz  des  zweiten  Opfers gefressen. Möchtest du Details hören?« 

»Nicht über des Zustand der Leiche, danke. Wer war es?« 

»Der Name des Opfers lautet Tanya Pugh.« 

Mein Herz übersprang einen Schlag. 

»Eine Künstlerin«,  fuhr Viggo  fort.  »Sie wurde  in  ihrem Atelier ermordet.« Ich musste mehrmals tief durchatmen. 

Tanya Pugh …  Ich hatte  erst kürzlich mit  ihr gesprochen  – und nun war sie  tot. Zerfleischt von einem schrecklichen Monster. Von einem Monster, das  jetzt Sarah  in der Gewalt hatte.  Ich war knapp vorm Durchdrehen. 

Er darf meinem Mädchen kein Leid zufügen!, hallte es in mir. Ich muss es  verhindern,  muss  Sarah  retten,  muss  dieses  grausame  Ungeheuer vernichten! Doch das erwähnte ich Viggo gegenüber mit keiner Silbe, sondern 

beendete  das  Gespräch  und  fuhr  etwas  näher  an  Sarahs Wagen heran. »Er bringt sie nach Hause!«, murmelte  ich. Mein Blut kochte. »Er 

bringt sie in sein Nest!« 

Ich musste Mordecai Haskell töten. Aber es würde kein Mord sein, denn er war kein Mensch mehr. Irgendein verfluchter Zauber hatte ihn  zum Tier gemacht.  Schließlich hatte  er Tierblut  in den Adern, wie Dr. Bancroft in der Holy‐Cross‐Klinik festgestellt hatte. Mordecai Haskell hatte sein künstlerisches Bewusstsein erweitern 

wollen und  sich dabei mit Hilfe  von  schwarzer Magie  selbst  zum Höllenwesen gemacht. 

Sarahs Wagen erreichte sein Haus. Ich sah mein Mädchen und den Killerwolf,  der  im Moment  noch  in menschlicher  Gestalt  auftrat, aussteigen und das Haus betreten. 

Page 31: Die Spur des Wolfs

Um  Ruhm  und  Geld  zu  erlangen,  war  dem  gewissenlosen Künstler jedes Mittel recht gewesen. Er schreckte nicht einmal davor zurück, einen Pakt mit dem Bösen, mit den Mächten der Finsternis zu schließen. 

Einen Pakt, der nie mehr rückgängig gemacht werden konnte … 

Ich  stoppte  meinen Wagen  und  stieg  aus  –  und  ich  war  zum Äußersten entschlossen, damit Sarah am Leben blieb!  

*  

Mordecai Haskell  schob  die  junge Krankenschwester  vor  sich  her die Kellertreppe hinunter und folgte ihr mit schweren Schritten. Hier  unten  hatte  das  nackte  Grauen  erschreckend  Gestalt 

angenommen.  Sarah  sah  sich  mit  Gemälden  und  Skulpturen konfrontiert,  die  an  Abscheulichkeit  nicht  zu  übertreffen  waren. Böse, dämonische Fratzen starrten sie an. 

Ausgeburten  einer  gefährlich  kranken  Fantasie.  Geschaffen  von einem  satanischen  Geist.  Hässlich.  Grauenvoll.  Furchterregend. Werke,  entstanden  unter  höllischem  Einfluss  jenseits  aller menschlichen Bewusstseinsgrenzen. Haskell  führte  das  Mädchen  zu  einem  Altar  aus  schwarzem 

Marmor,  über  dem  ein  Angst  erregender  Wolfsschädel  mit hochgezogenen  Lefzen  und  gefletschten  Zähnen  hing.  Er  war  so lebensecht, dass man meinen konnte, das Tier würde jeden Moment zubeißen. Auf einem Pult neben dem Altar lag ein aufgeschlagenes Buch  –  in  schwarzes  Leder  gebunden,  mit  eingerissenen,  stark vergilbten Seiten. »Die Wolfsfibel«,  sagte  Mordecai  Haskell  mit  stolzgeschwellter 

Brust.  »Ich  habe  sie  auf  einem  Flohmarkt  entdeckt.  Sie  lag  dort völlig unbeachtet herum. Niemand wollte dieses schwarze Kleinod haben. Ich habe es für einen Spottpreis gekauft. Es hat mir Wege zu 

Page 32: Die Spur des Wolfs

finsteren Orten  gezeigt und  für mich Tore  zu  ungeahnten Welten aufgestoßen. Durch  sie habe  ich erfahren, wie man den Wolfsgeist beschwört. Wie man selbst zum Wolf wird und Macht über Leben und Tod erhält. Ich stehe auf der Schwelle zu ganz neuen dunklen Erfahrungen,  die  mein  Schaffen  entscheidend  beeinflussen  und prägen  werden.«  Er  legte  seine  Hand,  die  zur  Wolfspranke geworden  war,  auf  den  glatten  Altar.  »Hier  werde  ich  dich  den Mächten  der  Finsternis  opfern,  und  auf  diesem  Stein  wird  auch Dominic Donner sterben.« Sarah Cooks Augen schwammen in Tränen … 

 

*  

Ich verschaffte mir Einlass in Mordecai Haskells Haus. 

Dabei  ging  ich  nicht  besonders  lautlos  vor  –  schließlich  bin  ich kein Einbrecher –, aber was sollte ich sonst tun? Sobald  ich drinnen war,  lauschte  ich  angestrengt. Nichts war  zu 

hören? Wohin hatte der Satans‐Künstler meine Freundin gebracht? Die Grauen erregende Abscheulichkeit seiner Werke war so groß, dass er sie im Keller seines Hauses versteckte, hatte mir Tanya Pugh erzählt. Ich zog den verchromten Revolver, der einst dem Dämonenjäger 

Hyram  Gasko  gehört  und  den  mir  mein  Freund  Eric  Silverman geliehen hatte. 

Hart  presste  ich  die  Kiefer  zusammen,  während  ich  den Kellerabgang  suchte.  Als  ich  ihn  gefunden  hatte,  stieg  ich  so vorsichtig wie möglich die Stufen hinunter. Haskells Stimme drang an mein Ohr. Ich  hörte  ihn  über  die Wolfsfibel  sprechen.  So  also war  er  zum 

Werwolf geworden! Ich  stieg hinab  in das Reich der  Fratzen und Abscheulichkeiten, 

sah das gefährliche Buch, sah den schwarzen Marmoraltar, sah den 

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Wolfsschädel, der darüber an der Wand hing … 

Und ich sah Sarah, in deren Augen Tränen glitzerten … 

Es  war  unverzeihlich,  was  dieses  Ungeheuer  meiner  Freundin antat.  Aber  noch  viel  unverzeihlicher war  das, was Haskell  dem Friedhofswärter  Moses  Muldoon  und  der  Malerin  Tanya  Pugh angetan hatte. Ich musste die Stadt von diesem mordgierigen Monster befreien! Haskell,  der  im  Begriff war, Wolfsgestalt  anzunehmen, witterte 

mich.  Mit  einem  wilden  Knurren  fuhr  er  herum.  Seine  gelben Lichter funkelten mich feindselig an. Ich hob den Revolver. 

»Sarah!«, brüllte ich. »Weg von ihm!« 

Sie warf sich zur Seite. 

Haskell wollte sie noch packen, doch seine Pranken verfehlten sie ganz knapp. 

Mein  Revolver  krachte.  Eine  rote  Feuerblume  platzte  aus  dem Lauf. Ich hatte zu überhastet abgedrückt und nicht Haskell, sondern den 

Wolfsschädel  über  dem  Altar  getroffen.  Er  landete  krachend  auf dem Altar und zertrümmerte die Marmorplatte. Mordecai Haskell stieß ein langgezogenes Wutgeheul aus. 

Sarah taumelte einige weitere Schritte von ihm weg. Er setzte zum Sprung  an.  Eine  nie  erlebte  Angst  um  meine  Freundin  saß  in meinem Nacken. 

Er darf ihr nichts anhaben!, schrie es in mir. 

Der Werwolf  sprang  in  dem Moment,  in  dem  ich  den  Stecher durchzog. Die Waffe bäumte sich in meiner Faust auf. Geweihtes Silber traf die Bestie. 

Aber wieder hatte ich nicht genau ins Ziel getroffen. Dennoch war die Wirkung beeindruckend. 

Page 34: Die Spur des Wolfs

Die Kugel war in Kreuzform angefeilt – ein Dumdum‐Geschoss – und riss dem Monster den rechten Hinterlauf ab. Sein schrilles Jaulen schmerzte in meinen Ohren. 

Doch  der Werwolf  gab  noch  nicht  auf. Auf  drei  Beinen  jagte  er heran. Geballte Mordlust trieb das Untier auf mich zu. Ich feuerte, traf aber nicht, feuerte, wich zurück, schoss abermals. 

Wie oft hatte ich schon abgedrückt? Ich wusste es nicht … 

Wie viele der sechs geweihten Silberkugeln standen mir noch zur Verfügung? Würden  sie  reichen,  um  dem  tobenden  Scheusal  den Garaus zu machen? 

Ich  stieß  mit  der  Ferse  gegen  ein  Hindernis,  verlor  das Gleichgewicht und stürzte. Und es kam noch schlimmer: Ich verlor den Revolver! 

In  der  nächsten  Sekunde war  das  Scheusal  über mir.  Ich  hörte Sarahs schrillen Entsetzensschrei. 

Sie dachte wohl,  ich wäre verloren, und  – offen gestanden  –  ich dachte  es  auch.  Aus  dem  weit  aufgerissenen  Wolfsmaul  traf stinkender, heißer Höllenatem mein Gesicht. Die Schnauze stieß nach unten. Mir war, als spürte  ich schon die 

kräftigen Reißzähne in meiner Kehle. Da fand meine suchende Hand den Revolver wieder. 

Ich  rammte dem Satansköter den Lauf der Waffe  in den Rachen, hoffte,  dass  wenigstens  noch  eine  Kugel  in  der  Trommel  war, drückte  ab  –  und  das  Geschoss  zerfetzte  dicht  über  mir  den hässlichen Monsterschädel. Ich  war  dem  Tod  noch  nie  so  grauenvoll  nahe  gewesen.  Mit 

schlotternden  Knien  stand  ich  auf.  Von  dem  Erlebten  sichtlich gezeichnet, wankte ich Sarah entgegen. Sie sank mir weinend in die Arme. »Bist du okay?«, fragte ich mit einer Stimme, die mir fremd war. 

Page 35: Die Spur des Wolfs

»Ja«, kiekste Sarah. 

»Gut«, sagte ich. »Das ist gut.« 

»Oh, Dominic, ich hatte solche Angst«, schluchzte sie. 

»Es ist vorbei, Kleines.« 

»Ich dachte vorhin, er würde dich töten.« 

»Es  ist vorbei«, wiederholte  ich, und dann verließ  ich mit  ihr den Keller und das Haus …  

*  

Die Wolfsfibel nahm ich mit. 

Ich wollte dafür  sorgen, dass  sie niemals mehr  in  falsche Hände geriet.  Bei  Eric  Silverman  würde  sie  gut  aufgehoben  sein. Zusammen  mit  Hyram  Gaskos  Revolver,  ohne  den  ich  meine Begegnung mit dem Werwolf nicht überlebt hätte. Tags darauf schrieb ich nieder, was ich erlebt hatte, und es dauerte 

nicht lange, bis Clive Nelligan mich wieder in sein Büro zitierte. Ich trat ein und schaute ihn abwartend an. Schwer und breit saß er 

an  seinem  Schreibtisch.  Im Hemd. Mit Hosenträgern. Das  Jackett hing da, wo  es meistens hing.  Ich  sah Clive  an, dass  er mir mein Manuskript am liebsten vor die Füße geworfen hätte. 

»Was hast du vor, Dominic?«,  fragte  er. Seine Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn. 

»Wieso?«, fragte ich zurück. 

»Willst du unsere Leser verärgern?« 

»Wieso?« 

»Ein Werwolf?«, schnappte er, als wollte er mich fressen. 

Ich nickte und schwieg. 

»In New York?« 

Page 36: Die Spur des Wolfs

Ich nickte und schwieg. 

Er  schlug  mit  der  flachen  Hand  auf  den  Schreibtisch.  »Was Blöderes konnte dir wohl nicht einfallen?«, machte er seinem Unmut Luft.  »›Flash  News‹  ist  ein  seriöses  Blatt,  Mann.  Kein  Horror‐Magazin.« »Jedes Wort, das ich geschrieben habe, ist wahr, Clive.« 

Er verzog widerwillig das Gesicht. »Ach komm, hör doch auf. Es gibt  keine Werwölfe. Und  ich werde diesen  Schwachsinn  nicht  in unserer Zeitung bringen.« 

Ich  zuckte  gleichgültig  mit  den  Achseln  und  nahm  das Manuskript  an mich.  »Na  schön,  dann mache  ich  eben  ein  Buch daraus.« 

Mein Chef nickte. »Ja. Als Roman würde die Story bestimmt gut ankommen.« »Kann ich Urlaub nehmen?«, fragte ich. 

»Meinetwegen«, sagte Clive Nelligan. 

»Wir sehen uns wieder, wenn ich mit dem Buch fertig bin.« 

»Ist mir recht«, sagte Clive, und ich verließ sein Büro. 

Am Abend  kochte  Sarah  für mich. Wir  hatten  am Vortag  einen triftigen Grund  gehabt,  das Abendessen  ausfallen  zu  lassen. Nun holten wir das Versäumte nach. 

Am  nächsten  Morgen  nach  dem  Frühstück  zog  es  mich  nach Hause an meinen Schreibtisch. 

Ich begann zu schreiben, und die Story ging mir so gut wie noch niemals eine andere von der Hand. Ich schaffte an diesem einen Tag gleich drei Kapitel – und das Schreiben reinigte zugleich auch meine Seele, befreite mich von dem schrecklichen Albtraum, den ich erlebt hatte und der mir bis ans Ende meiner Tage  in Erinnerung bleiben wird. Von wegen: Es gibt keine Werwölfe … 

Es gibt sie. Aber ich wünsche niemandem, einem solchen Monster 

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jemals  zu  begegnen.  Denn  es  kann  so  enden,  wie  es  für Moses Muldoon und Tanya Pugh geendet hat …  

ENDE