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Die Ursprungsphilosophie in Platons „Timaios“ Von Norbert FISCHER (Mainz) Platons Ursprungsphilosophie im „Timaios“ soll im folgenden insbesondere durch Bezugnahme auf einige Aspekte der „transzendentalen Dialektik“ von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ interpretiert werden. Dabei kann ein Stück weit einem schon von Aristoteles gegebenen Interpretationshinweis gefolgt werden.1 Dennoch mag ein solches Vorgehen als nicht unproblematisch erscheinen. Wie alle großen Werke und Gedanken der Philosophie hat aber Kants Transzendentalphi- losophie neben ihrer eigenen systematischen Geltung auch vielfältige Wirkungen auf die Betrachtung vor ihr liegender, geschichtlicher philosophischer Ansätze gehabt. So hat die Philosophie Kants vor allem nachhaltigen Einfluß auf die Geschichte der Platoninterpretation genommen. Nicht nur, daß schon Kant selbst an den Ideenbegriff Platons ausdrücklich anknüpfte er versuchte vielmehr auch - da Platon „seinen Begriff nicht genugsam bestimmte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete, oder auch dachte“ - „ihn sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand“.2 Es liegt auf der Hand, daß eine solche Äußerung die Platoninterpretation herausforderte. Gewiß wird man heute mit größerer Vorsicht über eine solche Möglichkeit besseren Verständnisses eines Autors reden,3 die Frage der Möglichkeit einer an Kant orientierten Platoninter- pretation aber ist so durch Kant selbst schon gestellt. Der Versuch P. Natorps4war in diesem Sinne von vornherein notwendig. Wenn auch manche Kritik sich zu Recht an diesem Versuch entzündete,5 von nun an war die Philosophie Platons zunehmend der bloßen Philosophiegeschichtsschreibung entrissen und wieder in die systematische, philosophische Diskussion eingeführt, wie sie sich in den neueren Interpretationen abspiegelt. 1 Hierzu vgl. De anima, 406 b 22 ff. im Zusammenhang mit 404 b 8 ff., wo die Elementenlehre des Timaios auf die erkenntnistheoretische Fragestellung zurückbezogen wird. 2 Kritik der reinen Vernunft (KrV), B 370. 3 Vgl. die Anspielung M. Heideggers in: Holzwege, (41963) 197: „Eine rechte Erläuterung versteht jedoch den Text nie besser als dessen Verfasser ihn verstand, wohl aber anders. Allein dieses Andere muß so sein, daß es das Selbe trifft, dem der erläuterte Text nachdenkt.“ 4 Platons Ideenlehre (41975) (Nachdr. von 21922). 5 N. Hartmann wirft in diesem Sinne der neukantianischen Platoninterpretation vor, sie habe ein Bild der Platonischen Erkenntnistheorie herausgebracht, „das sich fast wie ein verkleinertes Bild der ,Kritik der reinen Vernunft' ausnahm“ (vgl. Das Problem des Apriorismus in der Platonischen Philosophie [1935], jetzt in: Kleinere Schriften II [1957] 49).

Die Ursprungsphilosophie in Platons „Timaios“philosophisches-jahrbuch.de/.../2019/03/PJ89_S247...in-Platons-Timaios.pdf248 Norbert Fischer I. Daß die Wissenschaft nicht denke,

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Die Ursprungsphilosophie in Platons „Timaios“

Von Norbert FISC H ER (Mainz)

Platons Ursprungsphilosophie im „Timaios“ soll im folgenden insbesondere durch Bezugnahme auf einige Aspekte der „transzendentalen Dialektik“ von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ interpretiert werden. Dabei kann ein Stück weit einem schon von Aristoteles gegebenen Interpretationshinweis gefolgt werden.1 Dennoch mag ein solches Vorgehen als nicht unproblematisch erscheinen. Wie alle großen Werke und Gedanken der Philosophie hat aber Kants Transzendentalphi­losophie neben ihrer eigenen systematischen Geltung auch vielfältige Wirkungen auf die Betrachtung vor ihr liegender, geschichtlicher philosophischer Ansätze gehabt. So hat die Philosophie Kants vor allem nachhaltigen Einfluß auf die Geschichte der Platoninterpretation genommen. Nicht nur, daß schon Kant selbst an den Ideenbegriff Platons ausdrücklich anknüpfte er versuchte vielmehr auch - da Platon „seinen Begriff nicht genugsam bestimmte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete, oder auch dachte“ - „ihn sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand“ .2 Es liegt auf der Hand, daß eine solche Äußerung die Platoninterpretation herausforderte. Gewiß wird man heute mit größerer Vorsicht über eine solche Möglichkeit besseren Verständnisses eines Autors reden,3 die Frage der Möglichkeit einer an Kant orientierten Platoninter­pretation aber ist so durch Kant selbst schon gestellt. Der Versuch P. Natorps4 war in diesem Sinne von vornherein notwendig. Wenn auch manche Kritik sich zu Recht an diesem Versuch entzündete,5 von nun an war die Philosophie Platons zunehmend der bloßen Philosophiegeschichtsschreibung entrissen und wieder in die systematische, philosophische Diskussion eingeführt, wie sie sich in den neueren Interpretationen abspiegelt.

1 Hierzu vgl. De anima, 406 b 22 ff. im Zusammenhang mit 404 b 8 ff., wo die Elementenlehre des Timaios auf die erkenntnistheoretische Fragestellung zurückbezogen wird.2 Kritik der reinen Vernunft (KrV), B 370.3 Vgl. die Anspielung M. Heideggers in: Holzwege, (41963) 197: „Eine rechte Erläuterung versteht jedoch den Text nie besser als dessen Verfasser ihn verstand, wohl aber anders. Allein dieses Andere muß so sein, daß es das Selbe trifft, dem der erläuterte Text nachdenkt.“4 Platons Ideenlehre (41975) (Nachdr. von 21922).5 N. Hartmann wirft in diesem Sinne der neukantianischen Platoninterpretation vor, sie habe ein Bild der Platonischen Erkenntnistheorie herausgebracht, „das sich fast wie ein verkleinertes Bild der ,Kritik der reinen Vernunft' ausnahm“ (vgl. Das Problem des Apriorismus in der Platonischen Philosophie [1935], jetzt in: Kleinere Schriften II [1957] 49).

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I.

Daß die Wissenschaft nicht denke, ist ein Satz Heideggers, der in ähnlichen Worten auch bei Platon gefunden werden kann.6 Sofern aber die „Wissenschaft“ von der Philosophie auf diese Weise gleichsam abgestoßen wird, zerschneidet die Philosophie möglicherweise auch für sich selbst zugleich den Verbindungsstrang zur Sache der „Wissenschaft“ . Platons Spätdialog „Timaios“ , der - aller Abgren­zung von Philosophie und Wissenschaft zum Trotz - als ein solcher Verbindungs­strang jedenfalls aufgefaßt werden kann, war in der Geschichte seiner Wirkung und Interpretation nicht allein durch Auseinandersetzungen im Zusammenhang des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft betroffen, sondern auch durch Abgrenzungsfragen zur Theologie und zur Prophetie hin.7 Die Frage, ob der „Timaios“ schon allein nach Platons Absicht überhaupt der Sache der Philosophie und des Denkens gewidmet sein sollte, und - für den Fall, daß diese Frage bejaht wird - die weitere Frage, was Philosophie im Sinne des „Timaios“ dann zu sein habe, diese Fragen sind bis heute durchaus umstritten.

Der „Timaios“ hat bekanntlich auch dadurch eine besondere Stellung unter Platons Dialogen, daß er Gesprächscharakter nur in der - vom Gesamtumfang her betrachtet — relativ kurzen Einleitung hat. Was Platon den Lokrer Timaios im Hauptteil vortragen läßt, sei - so wird zum Ausdruck gebracht - lehrhafter Vortrag.8 Nun läßt sich nicht bestreiten, daß manche Teile dessen, was einige

6 Vgl. M. Heidegger, Was heißt Denken? (31971) bes. 4 u. 156; für Platon vgl. z. B. Politela, 511 Cmit der dort vorliegenden Entgegensetzung von „dialektischer“ Wissenschaft gegen die „eigentlich so genannten“ Wissenschaften: ή τοΰ διαλέγεσθαι έπιστήμη - αί τεχναϊ καλούμενοι (Platon-Texte und deren Übersetzung sind — wenn nicht anders angegeben — stets zitiert nach: Platon, Werke in acht Bänden, hg. von G. Eigier [1970 ff.]). - Eine der oben vorgenommenen ähnliche Verbindung von Heideggers Ausführungen zum Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft mit solchen von Platon findet sich bei J. Stallmach, Denkt die Wissenschaft nicht?, in: Perspektiven der Philosophie, Neues Jahrbuch 7 (1981) 289-316 (vgl. bes. 290 ff.). Stallmach trägt im weiteren drei Thesen zu der Frage vor, „was ,Denken“ neben dem oder über das Vorgehen der ,Wissenschaften“ hinaus sein könne oder müsse“, wobei er die Frage unter die Voraussetzung stellt, daß „man also ,Denken“ und ,Wissenschaft“ gar nicht auseinanderreißen, aber offenbar auch nicht schlechthin gleichsetzen“ könne (293).7 Gegensätzliche Interpretationspositionen zu diesen Fragen vertreten heutzutage z. B.: O. Gigon, Einleitung in den Timaios, in: Platon, Sämtliche Werke, eingeleitet von O. Gigon, übertragen von R. Rufener (1974), Spätdialoge Bd. 2 (Nachdr. von 1969), wo dem Timaios, XXXVIII, eine verheerende Wirkung auf die Naturwissenschaften zugeschrieben wird; dagegen vgl. z. B. D. Mann- sperger, in: Kindlers Literatur-Lexikon im dtv (1974) Bd. 21, 9374, der unter Hinweis auf die Heisenbergsche Begegnung mit Platons Timaios diesen Vorwurf von Platon gerade abzuhalten versucht. Zur Frage des Verhältnisses zur christlichen Theologie vgl. z. B. A. E. Taylor, A Commen­tary on Plato’s Timaeus (Oxford 1928,Ü962) 71 : „The physical world, then, has a ,maker“ . . . exactly as the dogma of creation . . . in Christian theology . . .“ Dagegen vgl. z. B. F. M. Cornford, Plato’s Cosmology, The ,Timaeus“ of Plato Translated with a Running Commentary (1937, London 41965) 34 ff. Eine vermittelnde Position wird eingenommen von E. A. Wyller, Der späte Platon, Tübinger Vorlesungen 1965 (1970) 137, der den Demiurgen für ein „pro-physisches Prinzip“ hält, andererseits aber doch die Möglichkeit „ägyptischer Überlieferung alt-testamentlicher Offenbarung“ im Anschluß an Philo Judaeus und das Mittelalter nicht ausschließt.8 Vgl. z. B. H. Dörrie, Platonica Minora (1976) 174: „Der ,Timaios“ ist nur im Prooimion Dialog; der Hauptteil der Schrift (von 27 A an) kann als Lehrschrift angesehen werden - und ist sicher als

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Interpreten zur „klassischen“ Ideenlehre Platons zählen, besonders deutlich in manchen Passagen des „Timaios“ entfaltet wird.9 Gerade aber die Tatsache, daß Platon hier im Vergleich zu vorauf gegangenen Dialogen des Spätwerks - besonders deutlich beispielsweise „Sophistes“ und „Parmenides“ - relativ unbekümmert von den Ideen spricht bzw. Timaios sprechen läßt, muß als wichtiges Indiz für die Themafrage betrachtet werden und zu kritischer Vorsicht mahnen. Die Beurtei­lung der möglicherweise bloß scheinbaren Lehrhaftigkeit des „Timaios“ und der Brauchbarkeit seiner Thesen als Elemente einer Ideendogmatik (oder einer anderen „Lehre“) ist ausschlaggebend für den Sinn der in diesem Werk vorgetragenen Ursprungsphilosophie. Ein Aspekt, der bei der Lösung der sich so abzeichnenden Aufgabe berücksichtigt werden muß, besteht weiterhin zweifellos in der Bedeu­tung, die dem εικώς λόγος bzw. μύθος zukommt.10

In der Geschichte der Interpretation des „Timaios“ sind vor allem zwei Ansätze verfolgt worden, die ihre Fruchtbarkeit einerseits für die Theologie, andererseits für die Naturwissenschaften hatten. Der Frage der Angemessenheit an diese Zwecke, gemäß denen der „Timaios“ als „das zugleich mythische und mathema­tisch-naturphilosophische Hauptwerk des späten Platon“ betrachtet wird,11 soll dementsprechend zunächst nachgegangen werden, bevor dann auf die Frage nach der philosophischen Sinnspitze des Dialogs zugegangen werden soll. Mit großer Konsequenz hat H. G. Gadamer das Augenmerk auf diese philosophische Frage­stellung des „Timaios“ hingelenkt, indem er die „Weltschöpfung durch den Demiurgen“ mit der „Welterkenntnis durch den Menschen“ identifiziert und den „Timaios“ insgesamt auf „die mögliche Realisierung einer idealen menschlichen Verfassung der Seele und des Staates“ bezieht.12 Auf diesem Wege ist der Gehalt des „Timaios“ erkenntnistheoretisch und ethisch bzw. politisch funktionalisiert und zugleich damit die Möglichkeit der vorgenannten Interpretationen negiert, zumin­dest aber an den Rand gedrängt, was aber nichts anderes heißt, als daß diese aus der philosophischen Diskussion herausgenommen sind. Einerseits im Anschluß an die Interpretation Gadamers - aber andererseits auch im Gegenzug gegen sie - soll zuletzt gezeigt werden, daß die „mythische“ und „mathematisch-naturphilosophi­sche“ Einkleidung mit der erkenntnistheoretischen und ethischen Aussage des „Timaios“ durch einen wesentlichen Bezug verbunden ist und so gewissermaßen selbst in Verbindung mit der Sache der Philosophie im „Timaios“ steht.

Offenbarungsschrift verstanden worden. Diesem Text haftete also nicht die ,Unverbindlichkeit‘ anderer Dialoge an, die im laienhaften Leser den Eindruck hinterlassen, daß kein Ergebnis erreicht wurde.“9 Eine überpointierte Fassung der sozusagen „klassischen“ Ideenlehre bietet W. Kamlah, Platos Selbstkritik im Sophistes (1963) 3-7; E. Hoffmanns Interpretation des platonischen Gottes als eines dynamischen Prinzips lebt weitgehend von der Timaios-Interpretation, vgl. Platon (1950) bes. 112-125 ; vgl. auch H.-G. Gadamer, Idee und Wirklichkeit in Platos Timaios (1974) 33 : Im Timaios werde „die Ideenlehre ganz unbefangen und von Zweifeln unberührt vorausgesetzt - auch für die Naturdinge."10 Vgl. dazu B. Witte, Der ΕΙΚΩΣ ΛΟΓΟΣ in Platos Timaios, in: AGPh 46 (1964) 1-16.11 Wyller, a. a. O. 137.12 Gadamer, a. a. O. 35 u. 36; vgl. auch 26: „Der Gott verhält sich wie die Menschen . . .“ ; dies alles im Sinne einer „Entmythologisierung“ des Timaios, vgl. 34.

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IL

Die mythisch-theologischen und die naturwissenschaftlichen Rezeptionen des „Timaios“ , auf welche nun in einem ersten Anlauf eingegangen werden soll, werden zuweilen als in Konkurrenz zueinander stehend betrachtet.13 Faktisch-das muß zunächst gesagt werden - traten diese beiden geschichtlichen Wirkungsweisen des „Timaios“ nacheinander auf. Die eine oder die andere nun als interpretatori- schen Fehlgriff zu verstehen, mag dabei aus historischen und philosophischen Gesichtspunkten grundsätzlich durchaus überlegenswert sein; der wirkliche Nut­zen dieser Rezeptionsweisen aber kann nicht von einem gewissermaßen Außenste­henden, sondern nur von den Rezipienten selbst und den im jeweiligen Wissen­schaftsbereich Stehenden beurteilt werden. So ist es beispielsweise ein beinahe sinnwidriges Unterfangen, den „Timaios“ für „den Zerfall der antiken Naturphi­losophie“ im Mittelalter verantwortlich zu machen,14 da doch die Spätantike und das Mittelalter sich kaum der naturphilosophischen bzw. gar naturwissenschaftli­chen Bearbeitung und Weiterentwicklung des „Timaios“ zuwandten, sondern eben der theologischen und metaphysischen.15 In letzteren Aufgabenstellungen- so kann angenommen werden - lag die eigentümliche Produktivität der geistigen Situation des Mittelalters. Daß späterhin eine neue Art geistiger Produktivität von seiten der Naturwissenschaft dem platonischen „Timaios“ Verständnis entgegen­bringen und Anregung abgewinnen konnte, läßt, das obengenannte Verdikt zusätzlich als bodenlos erscheinen.16 In diesem Sinne der naturphilosophischen Akzentuierung wird vom „Timaios“ heutzutage gesagt, daß „sein wahres μέσον“ nicht dort zu suchen sei, „wo es Philo Judaeus und mit ihm das ganze Mittelalter, sondern eher dort, wo es Werner Heisenberg fand“ .17 So sehr nun aber Vorsicht

13 Vgl. z. B. Comford, a. a. O. 28.14 Vgl. Gigon, a. a. Ο. XX XIX ; vgl. z. B. auch J. E. Raven, Plato’s Thought in the Making (Cambridge 1965) 239: „But Plato was scarcely a born scientist. Aristotle was: his biological treatises reveal him as an exceptionally acute observer.“ — Aber bezeichnenderweise wird auch Aristoteles die „Schuld“ für den nur langsamen Fortschritt der Naturwissenschaften aufgebürdet. Vgl. A. March, Das neue Denken der Physik (1957) 18: „Es besteht für Naturwissenschaftler kein Grund, in die Verehrung einzustimmen, die Aristoteles sonst genießt. Er hat durch seine Ablehnung des Atomismus, dessen Ausbau sicher bereits im Altertum zu bedeutenden Ergebnissen geführt hätte, den Fortschritt der Wissenschaft auf zwei Jahrtausende aufgehalten.“15 Deutlich ins Auge springt dieser Unterschied in der charakteristischen Abweichung Augustins (vgl. De quantitate animae, XV, 25) vom platonischen Höhlengleichnis. Bei Augustin: Flucht aus dem Dunkel ohne die in Platons Gleichnis unverzichtbare Rückkehr. - Im gleichen Sinne rät Augustinus in De moribus ecclesiae catholicae, et de moribus Manichaeorum, I, XXI, 38, von der scientia rerum ab und richtet sich gegen diejenigen, „die etwas Bedeutendes zu betreiben meinen, wenn sie die gesamte Körpermasse, die wir Welt nennen, mit größter Neugier und Hinwendung erforschen . . . Die Seele soll sich also von der Begier einer derartig eiden Erkenntnis zurückhalten, wenn sie sich darauf festgelegt hat, sich rein für Gott zu bewahren“ (magnum aliquid se agere putant, si universam istam corporis molem, quam mundum nuncupamus, curiosissime intentissimeque perquirant . . . Reprimat igitur se anima ab huiusmodi vanae cognitionis cupiditate, si se castam Deo servare disposuit. - Lat. Text nach MPL XXXII, 1327); vgl. auch „Confessiones“, X, 35, 55.16 Zur naturwissenschaftlichen Rezeption des Timaios wird weiter unten gesprochen.17 Wyller, a. a. O. 137.

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auch dieser Zugangsart gegenüber angebracht sein mag,18 so sehr auch die naturwissenschaftlichen Rezipienten selbst um die Unterschiede beispielsweise zwischen der Atomtheorie Platons und den Theorien unserer Zeit wissen, so kann doch gesagt werden, daß diese Zugangsart von seiten der Philosophie nicht umstritten ist, so wenig sie dadurch schon für philosophisch relevant erachtet werden muß. Umstritten aber - das wurde nun hier mehrfach angedeutet - ist heute die theologische Interpretation, wobei hinzuzufügen ist, daß beinahe ein Konsens über die Unangemessenheit dieser Interpretation zu bestehen scheint. Ohne jetzt schon etwas abschließend Gültiges zur sachlichen Möglichkeit dieser beiden Zugangsarten sagen zu wollen, können doch vorläufig einige Hinweise gegeben werden, welche manche geläufige Argumente gegen die theologische Interpreta­tion des „Timaios“ betreffen.

Diese Argumente beziehen sich zunächst auf die Annahme, der Gott des „Timaios“ stehe in Abhängigkeit sowohl von den Ideen als auch von der Materie, welche er also beide nicht geschaffen habe. Sodann wird als Argument gegen die theologische Interpretation dem Demiurgen Platons der göttliche Gott entgegen­gehalten, als der Gott, zu dem man beten kann. In der Tat gibt es im „Timaios“ zunächst schon einmal einige Stellen, die vom göttlichen Verhalten nicht nur die Abhängigkeit von der Idee behaupten, sondern sogar zu sagen nahelegen, daß der Gott des „Timaios“ , auch wenn er „das Beste und Bestmögliche tut, . . . auf das Notwendige angewiesen“ sei, daß nur „dank dem Entgegenkommen der,Notwen­digkeit“ . . . der Demiurg die Himmelsordnung, das heißt die Erschaffung der Götter, und die Ordnung der irdischen Natur herbeiführen“ könne.19 Sodann scheint sich eine Abhängigkeit des Handelns Gottes von den Urbildern abzuzeich­nen, die selbst also in keiner ihr eigenes Sein betreffenden Abhängigkeit zu Gott stehen: „Gott determiniert sein Tun nach dem Mythos des Timaios sozusagen selbst, indem er bei der Bildung des phänomenalen Weltganzen auf die ewigen Urbilder hinblickt.“20 So sehr dabei das dynamische Moment der Gestaltung allein auf Gott zurückzuführen sein mag, das washeitliche Moment ist ganz an den Ideen orientiert. Aber nicht nur die Exemplarursächlichkeit wird derart vollständig - hinsichtlich der Vorgeordnetheit durch die Notwendigkeit und der Ausgerichtet­heit auf die Idee - von Gott abgetrennt, sondern auch die Hervorbringung der Materie scheint Gott nicht zuzusprechen zu sein.21 Damit aber stünde Gott bei der Bildung der Welt sowohl in Abhängigkeit vom Immerseienden als auch vom Immerwerdenden.

Wie immer nun der Satz des „Timaios“ aufzufassen sein mag, es sei schwer, „den Urheber und Vater dieses Weltalls aufzufinden . . . und, nachdem man ihn

18 Vgl. P. Friedländer, Platon, Bd. III (21960) 344, der auf einen gewissen Gleichklang von Platons Konstruktion und der modernen Theorien der Physik hinweist, „so wenig dabei die Gefahr verschwieg gen wurde und übersehen werden darf, wie leicht man Modernes zu Unrecht in das weit Zurückliegende hineinlesen kann“ .19 Gadamer, a. a. O. 36.20 Hoffmann, a. a.1 O. 94.21 Anscheinend besonders deutlicher Beleg: Timaios, 30 A.

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auffand, ihn állen zu verkünden, unmöglich“ ,22 er hat in jedem Fall für den weiteren Vortrag die Konsequenz, daß von nun an im Blick auf die Verursachung der Welt von einem bei deren Hervorbringung „Tätigen“23 in solcher Weise gesprochen werden kann, in der es als es selbst nicht Thema des Vortrages wird. Aber nicht nur muß gelten, daß das Verursachende auf diese Weise aus dem Themenbereich des in diesem Dialog zu Sagenden herausgenommen ist, sondern auch Platons dennoch im Dialog vorkommende Aussagen sind nicht ohne Rücksicht auf ihre Bildhaftigkeit aufzufassen und in ihrer Variationsbreite zunächst einmal überhaupt wahrzunehmen. So gibt es beispielsweise Stellen wie folgende, in welchen gerade nicht vom Blick auf ein ewiges Urbild als Telos des zu Schaffenden gesprochen wird, sondern die den Schöpfer selbst als Telos bezeich­nen: „Geben wir denn an, aus welchem Grund der Schöpfer das Entstehen und dieses Weltall schuf. Er war gut; in einem Guten erwächst nimmer und in keiner Beziehung irgendwelche Mißgunst. Von ihr frei, wollte er, daß alles ihm möglichst ähnlich werde.“ (λέγωμεν δή δί ήντινα αιτίαν γένεσιν καί το παν τόδε ό συνιστάς συνέστησεν. ’Αγαθός ήν, αγαθώ δε ούδεϊς περί ούδενός ουδέποτε έγγίγνεται φθόνος' τούτου δ’ έκτος ών πάντα οτι μάλιστα έβουλήθη γενέσθαι παραπλήσια έαυτψ)24 Welche Gründe Platon auch immer zu dieser inkonsistent scheinenden Aussagenbreite bewogen haben mögen, sie hat jedenfalls eine solche Unbestimmtheit der Aussage über Gott zur Folge, daß ausgeschlossen werden kann, der Gott des „Timaios“ sei eindeutig in Abhängigkeit von der Ideenwelt befindlich.

Ist so die Aussage von der Abhängigkeit des Demiurgen von der Ideenwelt als eine einzelne — im „Timaios“ allerdings recht deutlich hervortretende — Facette relativiert worden, so kann dies in anderer Weise - aber mit entsprechendem Resultat - auch hinsichtlich seiner anscheinenden Abhängigkeit von einer unge­schaffenen Materie geschehen. Im ersten Schritt auf diesem Wege ist danach zu fragen, ob und wie solches ungeschaffene Material als Nimmerseiendes dennoch Sein hat. Irgendein Seinhaben aber dürfte doch conditio sine qua non dafür sein, daß etwas als geschaffen überhaupt betrachtet werden könnte. Nun ist es natürlich kurzschlüssig, die Antwort mit dem Hinweis auf die Bestimmung des stets Werdenden als des nimmerdar Seienden für gegeben zu betrachten. Aus dem stets Werdenden wird nämlich unter den Händen des Demiurgen etwas, das lediglich aus dem stets Seienden nie geworden wäre, da dies kein Entstehen hat.25 Es wird

22 Timaios, 28 C: Τον μέν ούν ποιητήν και πατέρα τοϋδε τοϋ παντός εύρείν τε έργον καί εύρόντα εις πάντας αδύνατον λέγειν.23 Vgl. ποιητής, ebd.24 Timaios, 29 D /E; ähnlich z. B. 42 E; weiterhin vgl. 34 A/B, 55 D, 92 C.25 Cornford, a. a. 0 . 164 f. u. 176 betont die Ewigkeit der Materie und will zeigen, daß der platonische Demiurg nichts mit der christlichen Vorstellung von der Allmacht Gottes zu tun habe; daß aber der Schöpfungsgedanke nicht in jedem Fall mit der These von der zeitlichen Anfangslosigkeit der Welt in Kollision geriet, dazu vgl. Augustinus, De civitate dei, 10, 31. Dort zitiert Augustinus Timaios- Kommentatoren heidnischer Provenienz, welche die Gleichewigkeit von Gott und Welt lehrten: „. . . semper fuerunt semper existente qui fecit, et tamen facti sunt“ (Sie sind immer gewesen, weil ihr Schöpfer immer war, und dennoch sind sie erschaffen. - Text und Übersetzung nach der von C. J. Perl

Die Ursprungsphilosophie in Platons „Timaios1 253

also allein durch das stets Werdende etwas möglich und schließlich wirklich, von welchem dann nicht mehr gesagt werden kann, daß es nimmerdar ist. Genausowe­nig aber, wie die ontologische Funktion des Nimmerseienden einfachhin geleugnet werden kann, kann es unabhängig von seiner Hinordnung auf die Weltschöpfung als etwas bestimmt werden. Für sich selbst ist das stets Werdende das schlechthin Nichtseiende, von dem Geschaffenheit oder Ungeschaffenheit auszusagen bloßer Widersinn wäre. Vor diesem Hintergrund bedeutet die These von der Unableitbar- keit der bloßen Materie aus Gott nicht die Vorhandenheit eines Nichtgöttlichen vor der Schöpfung neben oder außer Gott, sondern die Ermöglichung der Trennung zwischen Schöpfer und Geschöpf.26 Von daher wird zugleich ein weiterer Grund auch der Herausverlegung der Urbilder der Schöpfung aus dem Schöpfer sichtbar, wobei die Freiheit des Schöpfers nicht - wie Gadamer interpre­tiert - eingeengt, sondern geradezu allererst ermöglicht wird. '

Der weiterhin genannte Einwand gegen eine theologische Rezeption des „Timaios“ erkennt den Demiurgen nicht als den göttlichen Gott, als den Gott, zu dem gebetet werden kann.27 Auch dieser Einwand besitzt ein gewisses Recht, wiewohl natürlich schon die im „Timaios“ selbst in ihrer Notwendigkeit begrün­deten und - wenn auch in knapper Form - genannten Eröffnungsgebete nicht übersehen werden dürfen, so wenig sich diese Anrufungen ausdrücklich an den Demiurgen wenden.28 Angenommen, es gelte die schon ein Stück weit erhärtete Hypothese, man habe davon auszugehen, daß Platon Gott und das Göttliche jedenfalls im „Timaios“ nicht explizit zu thematisieren versucht, dann käme es auf die Benennung des Adressaten eines solchen Gebetes nicht so sehr an. Der teleologischen Denkstruktur, die schon gemäß dem im „Phaidon“ aufgestellten Programm29 den „Timaios“ durchherrscht, korrespondiert auf seiten des Schöpfers Freude bei der Betrachtung des Resultats der Schöpfung: „Als nun der Vater, der es erzeugt hatte, es in Bewegung und vom Leben durchdrungen sah, ein Schmuck­stück zur Freude der ewigen Götter, ergötzte es ihn, und erfreut sann er darauf, es seinem Urbilde noch ähnlicher zu gestalten.“ ('Ως δέ κινηθέν αυτό καί ζών ένόησεν των άιδίων θεών γεγονός άγαλμα ό γεννήσας πατήρ, ήγάσθη τε καί εύφρανθείς ετι δή μάλλον δμοιον προς το παράδειγμα έπενόησεν άπεργάσα- σθαι.)30

hg. zweisprachigen Ausgabe [1979] Bd. 1, 690 f.). Vgl. auch Thomas von Aquin, Summa theologiae, I, q. 46, a. 1. Richtig bemerkt Gadamer, a. a. O. 10, „daß nirgends die Frage nach dem Anfang von Bewegung und Werden überhaupt gestellt wird“ und kritisiert dementsprechend die „Hineintragung dieser Frage“ durch Cornford (in der Anm.).26 Dies wäre ein möglicher theologischer Sinn der Vorgeordnetheit des zu Ordnenden; anders Gadamer, a. a. O. 22; vgl. Augustinus, De libero arbitrio, I, 5, 12 mit der Erklärung der „creatio ex nihilo".27 Wyller, a. a. O. 137: „Platon, der betende Denker, hat nicht zu seinem Demiurgen beten können.“28 Vgl. Timaios 27 C/D, 48 D.29 Vgl. Phaidon, bes. 99 B.30 Timaios, 37 D; zu άγαλμα vgl. K. Kerényi, Antike Religion (1978) (Nachdr. von 1971) bes. 278 ff. Kerényi betont, es sei notwendig, den Ausdruck mehrgliedrig zu übersetzen. In diesem Sinne ist άγαλμα als Abbild „Statue und Freude des Gottes“ (279).

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Gerade dies Moment der Freude Gottes wird auch von Augustinus herausgegrif­fen und in Parallelität zur biblischen „Genesis“ gesehen.31 Daß aber gerade der teleologische Zugang zum Gottesgedanken noch am ehesten von philosophischen Betrachtungen her über den Gott der Philosophen hinauszuweisen vermag - so wenig dieser Zugang dann noch als im strengen Sinn philosophisch beweisend angesehen werden muß - , dafür mag zum Abschluß dieser Vorüberlegungen ein Wort Kants angeführt werden: „Die gegenwärtige Welt eröffnet uns einen so unermeßlichen Schauplatz von Mannigfaltigkeit, Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönheit, man mag diese nun in der Unendlichkeit des Raumes, oder in der unbegrenzten Teilung desselben verfolgen, daß selbst nach den Kenntnissen, welche unser schwacher Verstand davon hat erwerben können, alle Sprache über so viele und unabsehlich große Wunder ihren Nachdruck, alle Zahlen ihre Kraft zu messen und selbst unsere Gedanken alle Begrenzung vermissen, so daß sich unser Urteil vom Ganzen in ein sprachloses, aber desto beredteres Erstaunen auflösen muß.“32

III.

Nachdem nun einige Argumente vor allem gegen die Möglichkeit auch einer theologischen Rezeption des „Timaios“ und ihre Berechtigung zumindest abge­schwächt wurden, zeichnet sich noch kein Weg ab, auf dem der Sinn des platonischen Schöpfungsmythos eindeutig gefaßt werden könnte. Sicher scheint indes, daß eindeutige Aussagen über den Demiurgen, auch über die Götter und das Göttliche, aus dem „Timaios“ schwerlich zu ziehen sein werden.33 Dementspre­chend ist bei einer Herausarbeitung der philosophischen Thematik ein Ansatz bei irgendwelchen Glaubenssichtweisen zu vermeiden, seien sie nun heidnisch-poly­theistisch, biblisch-monotheistisch oder auch atheistisch. Derart ist die gesuchte Interpretation auf die Funktion der Weltschöpfung und ihrer Darstellung verwie­sen. Wenn mit folgender Behauptung möglicherweise zu ausschließlich gespro­

31 De civitate dei, 11, 27; vgl. dazu z. B. Gen. 1, 10: „Und Gott sah, daß es gut war.“ Bei dieser Gelegenheit ist zu erwähnen, daß in der heutigen exegetischen Forschung der Sinn des Chaosgedankens ebenso wie die Lehre von der creatio ex nihilo umstritten sind, diese Fragen also keineswegs von einer solchen interpretatorischen Harmlosigkeit sind, wie manche Platon-Interpreten vorauszusetzen schei­nen, die im übrigen viel Scharfsinn auf die Interpretation philosophischer Texte verwenden. Vgl. dazu z. B. den Kommentar von G. v. Rad, Das erste Buch Mose. Genesis (®1967) 36 f. Anders z. B. CI. Westermann, Schöpfung (1971) 62 ff. u. 88 ff. Vgl. ebenfalls von Westermann, Genesis 1-11 (21976) 19: „P weist damit auf die Grenze allen Redens von Schöpfer und Schöpfung.“ Weiterhin 23: „Eine theologische Deutung der Schöpfung, die dem Text in seinem eigenen traditionsgeschichtlichen Zusammenhang entspricht, steht noch aus.“32 KrV, B 650.33 Gegen Cornford, a. a. O. 35; Cornford sagt von Platon: „He believed in the divinity of the world as a whole and of the heavenly bodies“ ; der Demiurg sei „not a religious figure"; Platon sei „a pagan polytheist". So wenig die von Cornford bekämpften Standpunkte rechtfertigbar erscheinen, so wenig können sie einfachhin und schroff negiert werden. Cornford spricht auf einer Ebene, auf der für Platon so leicht keine Affirmationen möglich sind.

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chen wird, nämlich mit der Behauptung, der Demiurg stehe „für nichts weiter als für die Überführung eines Zustandes ungeordneter Bewegtheit in einen Zustand der Ordnung“ ,34 so ist doch immerhin in jedem Falle richtig, daß er für eine solche Überführung steht. Indem aber die Bedingungen dieser Überführung somit als bloße Funktionen aufgefaßt werden, ist zugleich klar, daß der Interpretationsan­satz sich in die Richtung einer transzendentalphilosophischen Fragestellung bewegt. Dieser soll - auch mit dem Blick auf einige Implikationen - im folgenden gemäß dem eingangs angekündigten Vorhaben nachgegangen werden.

Daß dabei durchaus die Gefahr einer anachronistischen Verzerrung der Gedan­ken Platons besteht, beispielsweise in die „Richtung des fichteschen bzw. neukan­tianischen Systemgedankens“,35 muß beachtet werden. Gerade aber, um im folgenden die faktischen Leitvorstellungen der Interpretation nicht bloß unthema­tisch zu insinuieren, sollen auch kurze Ausführungen zu der zum Ausgangspunkt der Betrachtungen genommenen Transzendentalphilosophie Kants eingeschoben werden. Von vornherein ist hier allerdings in Rechnung zu stellen, daß dem Werk Platons der neuzeitliche Zug zur systematischen Darstellung der Philosophie ebenso fehlt wie die Beziehung auf die ebenfalls in der Neuzeit zu Kräften gekommenen Erfahrungswissenschaften. Gleichermaßen wird deutlich werden, daß in der konkreten Durchführung dieses Ansatzes, sowohl was die geschichtli­chen Aufgabenstellungen, als auch was die argumentativen Vorgehensweisen betrifft, durchweg aus der jeweils zu interpretierenden Position zu denken versucht wird. Der Vergleich stellt insofern bloß eine Analogie her hinsichtlich der Sache des Denkens, der Themafrage, nicht hingegen hinsichtlich der konkreten Durchführung und des Resultates.

Zunächst aber muß - mehr ins einzelne gehend - erläutert werden, in welchem Sinne ein transzendentalphilosophischer Ansatz im Zusammenhang einer „Timaios“-Interpretation möglicherweise berechtigt sein kann. Gemäß Kants „Kritik der reinen Vernunft“ fragt die Transzendentalphilosophie in ihrem theore­tischen Teil nach den Bedingungen allgemeiner und notwendiger Erkenntnisse.36 Die so gestellte Aufgabe löst die „Kritik der reinen Vernunft“ durch die Entwick­lung der transzendentalen Bedingungen der Erkenntnis, welche einerseits in apriorischen Formen, andererseits im aposteriorischen Gegebensein gefunden werden.37 Mit der Darstellung der Beziehbarkeit dieser Bedingungsarten aufeinan­der findet die transzendentalphilosophische Untersuchung zunächst ihren Ab­schluß.38

Soweit nun - das kann sogleich festgestellt werden - steht das Thema des „Timaios“ in keiner Korrespondenz zum transzendentalphilosophischen Ansatz.

34 Gadamer, a. a. O. 11.35 Ebd. 6.36 Vgl. KrV, B 4 ; zur Ausweisung der hier angedeuteten Kant-Interpretation vgl. meine Untersuchung,Die Transzendenz in der Transzendentalphilosophie. Untersuchungen zur speziellen Metaphysik an Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1979). .37 Vgl. z. B. KrV, B 29.38 In der „Analytik der Grundsätze“, KrV, B 169 ff.

256 Norbert Fischer

Obgleich nämlich Kants Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit allgemeiner und notwendiger Erkenntnis in vergleichbarer Weise — ohne daß Unterschiede übersehen werden dürfen - durchaus auch bei Platon gesucht und gefunden werden kann,39 so ist die Annahme solcher Bedingungen im „Timaios“ eben schon als begründet vorausgesetzt.40 Gefragt wird im „Timaios“ danach, wonach im Anschluß an die Voraussetzung solcher Bedingungen noch zu fragen übrig bleibt.

In Kants theoretischer Transzendentalphilosophie, zu der hier selbstredend nicht eingehend gesprochen werden kann, folgt der Analytik des Verstandes die der Urteilskraft, sodann die Dialektik. Die Aufgabenstellung der Analytik der Urteilskraft fordert im Kern die Beantwortung der Schematismusfrage, welcher dann das „System der Grundsätze“ folgt.41 Die Aufgabenstellung der sich anschlie­ßenden transzendentalen Dialektik der „Kritik der reinen Vernunft“ weicht nun in wesentlichen Momenten von derjenigen der transzendentalen Analytik ab. Die Dialektik sucht, indem sie sich „auf Begriffe und Urteile“ , „auf den Verstand und dessen Urteile“ als ihre Gegenstände bezieht, die Bedingungen der Verstandeser­kenntnis bis ins Unbedingte zu führen.42 Abgesehen also von den negativ­kritischen Aufgaben, die sich ihr im Zusammenhang mit Kants philosophiege­schichtlicher Situation stellen, sind der transzendentalen Dialektik auch positive Funktionen zuzuschreiben, deren Sinn und Geltung noch zu erläutern sein werden.43

Die Bedingungen der Erkenntnis im Unbedingten zu suchen, ist nun auch die Aufgabe, die sich Platons „Timaios“ stellt. Die Aufgabenstellung des „Timaios“ ist - gemäß der aufgestellten Analogie hinsichtlich der Themafrage - die Aufgaben­stellung der transzendentalen Dialektik. Ausgehend von diesem Vorverständnis kann die Zusammengehörigkeit scheinbar divergierender Momente des „Timaios“ begriffen werden. Dies soll im folgenden anhand der Frage nach dem dabei vorherrschenden Aussagemodus versucht werden. Vor diesem Hintergrund soll in den abschließenden Abschnitten die Antwort auf die Frage nach dem Bezug zum Bereich der Wissenschaften und auf die Frage nach der Sache der Philosophie im „Timaios“ gegeben werden.

Der nächste Schritt also gilt der Frage des Aussagemodus. Platon, der im „Timaios“ mehrfach die Angemessenheit des είκώς λόγος an den dort behandelten Gegenstandsbereich betont, mißt aber nun im Gegensatz zu Kant, der von der

39 Vgl. hier z. B. O. Natorp, Über Platos Ideenlehre (1914) bes. 19.40 Timaios, 27 D/28 A.41 KrV, B 187 ff.42 KrV, B 363.43 Der Bereich der Erkenntnis, „das Land des reinen Verstandes“, „das Land der Wahrheit“ ist in der Analytik „nicht allein durchreiset und . . . sorgfältig in Augenschein genommen, sondern . . . auch durchmessen und jedem Ding auf demselben seine Stelle bestimmt“ (KrV, B 294). Vernunft allerdings begnügt sich nicht mit der sich selbst in der transzendentalen Deduktion ausweisenden Verstandeser­kenntnis, die sich auf „Anschauungen“ bezieht (KrV, B 363). Ihre Begriffe aber haben dementspre­chend nur soweit Geltung, als sie sich indirekt über den Verstand auf Erfahrung beziehen; vgl. W. Teichner, Das Land der Wahrheit ist eine Insel. Die Neubegründung der Metaphysik durch Kant, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 3, 1977 (1978) bes. 286.

Die Ursprungsphilosophie in Platons „Timaios 257

Dialektik zunächst als von einer „Logik des Scheins“ spricht, dem Aussagemodus zugleich eine positive Funktion zu.44 Für beide allerdings scheint zu gelten, daß angesichts der vorliegenden Fragen hier von etwas gesprochen werden muß, von dem gewissermaßen nicht gesprochen werden kann.

Die These, daß dieser Themenbereich zur Sprache gebracht werden müsse, begegnet in der Philosophie Platons von vornherein einer grundlegenden Schwie­rigkeit. Wenn nämlich die Meinung richtig wäre, daß Platon die sinnenfälligen Dinge „nur noch als Absprung" gebrauchte, „um den höheren Bereich des ideal Seienden zu erreichen, das allein eigentlich erkannt werden kann und allein erkannt zu werden verdient“ ,45 dann wäre der Forderungscharakter der genannten N ot­wendigkeit unterlaufen, dann wäre es eben unnötig, ausgehend von der Reflexion des Gewordenseins der Dinge insgesamt, in umständlichen und ausführlichen Erwägungen auf das zugrundeliegende Absolute hin zu denken.

Aber - das muß nun dagegen eingewandt werden - es ist eben falsch, die Idee bei Platon für den Gegenstand der Erkenntnis zu halten, zumal an ihr ja gerade nichts der Erkenntnis Gegenstehendes ist. Die Idee ist vielmehr dasjenige, welches die Dinge als ihr innerliches Woraufhin gerade zu verstehen ermöglicht, welches Gegenstandserkenntnis ermöglicht, nicht also Erkenntnisgegenstand ist. Ein besonders deutlicher Beleg für diese Interpretation ist das Argument gegen die Ideen als bloßen Verdoppelungen der Wirklichkeit im „Parmenides“ .46 Passend dazu ist beispielsweise aber auch folgende „Phaidon“-Stelle, wo es heißt, „daß alles so in den Wahrnehmungen Vorkommende jenem nachstrebt, was das Gleiche ist, und daß es dahinter zurückbleibt“ (οτι πάντα τα έν ταϊς αίσθήσεσιν εκείνου τε ορέγεται του ο έστιν ίσον, καί αυτού ένδεέστερά έστιν).47 Mit Hilfe der in sich selbst völlig durchsichtigen Idee wird das zu Erkennende im Zusammenhang mit seiner behaupteten Hinordnung auf die Idee erkannt. Deswegen auch wird schon bei der ersten Einführung der Anamnesis-Lehre im „Menon“ sogleich als Voraus­setzung des anamnetischen Lernens mitgenannt, daß „die ganze Natur unter sich verwandt ist“ (τής φύσεως άπάσης συγγενούς ούσης).48 Der Erkenntnis gegen­ständ ist in der sinnlich wahrnehmbaren Welt gegeben und wird erkannt mit Flilfe nichtsinnlicher Erkenntnisformen.

Demgemäß ist es für Platon unvermeidlich, ausgehend von der Beschaffenheit der sinnlichen Werdewelt, die Frage nach deren absoluten seinsmäßigen Bedingun­

44 KrV, B 86; Timaios, 29 B.45 Kamlah, a. a. O. 5. ,46 Vgl. bes. Parmenides, 132 A/B; in gewissem Sinn güt also auch für Platon der folgende Satz aus der aristotelischen Metaphysik: τά μέν οΰν είδη cm otw εστι, δήλον („Daß nun die Ideen nicht existieren, ist offenbar.“ - Metaphysik, K, 1059 b 3): zur Lage bei Platon vgl. auch H. Meinhardt, Teilhabe bei Platon (1968) bes. 62: nichts sei „mehr zerteilt als das Sein“ . Die Ideen, die sich in transzendentaler Teühabe befinden (nicht allerdings die partizipierten Ideen), „verausgaben sich sozusagen in ihrer transzendentalen Konstitutivität. Die Teilhaberelation zu ihnen ist in einem so hohen Grade wesens­konstitutiv, daß sie selbst fast gar nicht mehr sind.“47 Phaidon, 75 A/B; dabei wird auch die Erweckung der Erkenntnis durch Wahrnehmung vertreten (vgl. auch 75 A).48 Menon, 81 D.

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gen zu stellen. Dabei ist klar, daß diese Bedingungen hinsichtlich ihrer Funktiona­lität innerhalb der Theorie der Erkenntnis keiner Fraglichkeit ausgesetzt sind. Die Frage aber, was der absolute Grund derjenigen Wirklichkeit sei, die durch die Ideen erkannt werden kann, ist im Anschluß an die erkenntnistheoretische Diskussion noch offen. Sie kann gestellt werden, ohne daß rückwirkend die erkenntnistheoretische Frage nach den Bedingungen der Erkenntnis tangiert würde; sie muß gestellt werden, weil sie aus einer Frage an den Erkenntnisgegen­stand entspringt, so wie er aus der erkenntnistheoretischen Untersuchung heraus­kommend sich zeigte.

Für Kant ergibt sich die Notwendigkeit der Rede von einem Absoluten in zweierlei, voneinander zu trennenden Hinsichten. Die erste Hinsicht besteht in der regulativen und heuristischen Funktion der Vernunftbegriffe bzw. Ideen, die es erlaubt, „zur höchsten systematischen Einheit vermittelst der Idee der zweckmäßi­gen Kausalität der obersten Weltursache, und als ob diese als höchste Intelligenz nach der weisesten Absicht die Ursache von allem sei, zu gelangen“ .49 Derart ist aus systematischen Gründen notwendig auf die Idee eines absolut Bestimmenden verwiesen. Die andere Hinsicht ergibt sich aus der Beziehung der Begriffe auf etwas bloß Gegebenes. Dies Gegebene nämlich betrachtet Kant als „etwas ganz Zufälli­ges“ .50 In diesem gänzlich Zufälligen ist - nun nicht aus systematischen, sondern ontologischen Gründen - auf den Gedanken eines unbedingt Notwendigen verwiesen, das sich als „der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft“ erweist.51

Dieser somit für Platon wie für Kant bestehenden Notwendigkeit, im Anschluß an die Ausarbeitung der Bedingungen der Erkenntnis Fragen zu stellen, die ins Absolute weisen, steht ebenso für beide die Unmöglichkeit gegenüber, solches Absolute auszuweisen und zu benennen. Der Hintergrund dieser Unmöglichkeit ist dementsprechend nun aufzuhellen.

Bei Platon scheint die Frage der Ausweisbarkeit und Benennbarkeit des Absolu­ten zusätzlich verquickt zu sein mit den Fragen seiner Stellung zu Schriftlichkeit und Mündlichkeit, zu Exoterik und Esoterik in der Philosophie.52 Diese Fragen aber berühren den jetzigen Versuch insofern nicht, als dieser sich allein auf die entsprechenden Unterschiede im Aussagemodus des Schriftwerks bezieht. Der somit gesuchte Unterschied im Aussagemodus tritt allerdings im Schriftwerk auf den ersten Blick nicht in eindeutiger Weise auf. Im „Timaios“ nämlich scheint es zunächst, als könne von den reinen, unvermischten Bereichen des Seins und des Werdens sozusagen ohne Rekurs auf die bloß „wahrscheinliche Rede“ gesprochen werden. Diese Meinung wiederum erweist sich als trügerisch, wie beispielsweise

49 KrV, B 716.50 KrV, B 765; vgl. dazu H. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung (31918) 640; ebenfalls vgl. meinen Beitrag, Gottes Sein und Sein als Position. Zum Resultat der Kantischen Metaphysikkritik, in: Akten des 5. Internationalen Kant-Kongresses, hg. von G. Funke (1981) 720-730.51 KrV, B 641.52 Vgl. dazu den Sammelband, Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons, hg. von J. Wippern (1972), mit einer guten Einleitung und einem reichhaltigen Literaturverzeichnis.

Die Ursprungsphilosophie in Platons „Timaios1 259

aus den einschlägigen Bemerkungen aus dem Zusammenhang der zentralen Gleichnisse zur Ideenlehre innerhalb der „Politeia“ ersehen werden kann. Wie­wohl nämlich dort die Funktion der höchsten Idee, der ιδέα του αγαθού, ganz ohne Einschränkung ihrer Aussagbarkeit genannt wird, die Funktion, die darin besteht, „daß dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden von dem Guten komme, sondern auch das Sein und Wesen habe es von ihm“ , so heißt es an eben dieser Stelle doch zugleich auch, daß „das Gute selbst nicht das Sein ist, sondern noch über das Sein an Würde und Kraft hinausragt“.53 Was das Gute selbst sei-also abgesehen von seiner Funktion - , wird in der Darstellung ausgespart: „Was das Gute selbst ist, wollen wir für jetzt doch lassen.“ (αυτό μέν τ ί ποτ’ έστί τάγαθόν έάσωμεν τό νυν είνα ι.)54 Von ihm wird lediglich vermittelst der Rede vom „Sprößling“ des Guten in Gleichnissen gesprochen, die sich vor allem der Bildelemente von Sonne und Licht bedienen.55 Mit diesem Hinweis auf die bloße Bildhaftigkeit der Rede von der Idee aber ist die Frage gestellt, wodurch sich der είκώς λόγος des „Timaios“ nochmals hinsichtlich des Aussagemodus von der Darstellung der Ideendiskurse unterscheidet.

Als Ziel der „klassischen“ Ideendialoge Platons gilt, die bestehende Wirklichkeit — in welchen Bereichen auch immer - auf die Ideen und die höchste Idee auszurichten. Ziel des „Timaios“ ist es, die vorgängige Ausgerichtetheit der bestehenden Wirklichkeit in Form der Erklärung ihrer Abkünftigkeit darzustellen. Das Absolute also wird im „Timaios“ regressiv im Ausgang von der Werdewelt gesucht. Hatten die Ideen - trotz der ihnen eigenen Unverborgenheit und Durchsichtigkeit - als sie selbst nicht benannt werden können, so lag das jedenfalls nicht an einem Mangel an solcher Unverborgenheit und Durchsichtigkeit, sondern allenfalls - um im Bilde des Höhlengleichnisses zu sprechen - an der Schwäche des menschlichen Sehvermögens.56 Die Idee wurde dort - sozusagen rein - der Werdewelt als ihr Telos vorausgesetzt, ohne daß auf die Bedingungen einer solchen Teleologie in der Werdewelt explizit eingegangen wurde. Dennoch - das wurde oben zu zeigen versucht - wird die Voraussetzung dieser Teleologie in den Ideendialogen ständig gemacht.57 Diese Voraussetzung setzt allerdings selbst wiederum voraus, daß die Idee gewissermaßen verdeckt in der Werdewelt schon enthalten ist, wodurch diese allererst der Ausrichtung auf die Idee fähig wird. Gegenstand der Ideendialoge ist somit der von der Durchsichtigkeit der Idee als Voraussetzung geleitete Blick auf die Verworrenheit der Werdewelt, mit dem Ziel, diese auf die Idee auszurichten; Gegenstand des „Timaios“ ist der von der Verworrenheit der Werdewelt durchdrungene Blick auf das als bloße Vorausset­zung durchsichtige Absolute, mit dem Ziel, den Ursprung der Ausgerichtetheit der Werdewelt auf die Idee zu erklären. An den Ausgang beim Werden bleibt die Untersuchung immer gebunden, auf diesen Ausgangspunkt wird die ganze Rede

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Politeia, 509 B. Ebd. 506 D/E. Ebd. 506 E/ff. Ebd. 515 E/516 A.Vgl. P. Natorp, Platos Ideenlehre (1975) (Nachdr. von 21922) bes. 175 ff.

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des Timaios von vornherein abgestellt. In diesem Sinne begründet sich auch auf der Ebene von Sein und Werden die Notwendigkeit eines an den Ausgangspunkt angepaßten Aussagemodus. Wie also „das Sein zum Werden, so verhält sich die Wahrheit zum Glauben“ (οτιπερ προς γένεσιν ουσία, τούτο προς πίστιν αλήθειαν).58 Die philosophische Betrachtung der Werdewelt ist allein möglich in der Erhellung der Werdewelt durch die Idee, die Betrachtung der Idee ist allein möglich in der Verdunkelung der Idee durch die Werdewelt. In diesem Sinne also ist es im „Timaios“ unmöglich, das Absolute als es selbst zu benennen und auszusagen.

Für Kant tritt die Unmöglichkeit, das Absolute auszusagen, wiederum in doppelter Weise auf, entsprechend der obenannten doppelten Notwendigkeit der Rede von einem Absoluten. Hinsichtlich der einen Seite läßt sich die Idee bzw. der Vernunftbegriff nicht als gegenstandskonstituierend, sondern bloß als gegen­standsregulierend erweisen, hinsichtlich der anderen Seite gerät die Vernunft bei dem Versuch, das Absolute zu benennen, in die Antinomie. Auf der einen Seite bleibt es also im Versuch der Bestimmung des Unbedingten bei der bloßen Als-ob- Vorstellung - also einer Idee, der selbst kein Sein zukommt - , auf der anderen Seite führt der Versuch zu einer Frage, die zu beantworten aufgegeben, die zu beantworten aber nicht möglich ist. Dieser Als-ob-Vorstellung und dieser Frage ist nun nachzugehen.

Ausgangspunkt für die eine Seite ist nach Kant der Umstand, daß „der Verstand . . . für die Vernunft eben so einen Gegenstand . . . als die Sinnlichkeit für den Verstand“ ausmacht.59 Indem die Vernunft derart die Einheit der empiri­schen Verstandeshandlungen systematisch zu machen trachtet, ist sie - ebenso wie der Verstand bei seinen Leistungen - auf Schematisierung ihrer Begriffe angewie­sen. Es kann aber der Vernunft lediglich „ein Analogon eines solchen Schemas gegeben werden“ .60 Dies besteht in der „Idee des Maximum der Abteilung und der Vereinigung der Verstandeserkenntnis in einem Prinzip“ .61 Dieser Mangel an sinnlicher Schematisierbarkeit führt dazu, daß durch Vernunft keine Gegenstands­erkenntnis möglich ist, „sondern nur eine Regel oder Prinzip der systematischen Einheit alles Verstandesgebrauchs“ .62 So sehr gilt, daß sich „das Größte und Absolutvollständige . . . bestimmt gedenken“ läßt,63 so wenig läßt es sich als Erkenntnisbedingung ausweisen. Derart ist diese „systematische Einheit (als bloße Idee) lediglich nur projektierte Einheit, die man an sich nicht als gegeben, sondern als Problem ansehen muß“ .64 Abgesehen von seiner regulativen Funktion tritt das Absolute in diesem Sinne nur in der Als-ob-Vorstellung,65 nicht als es selbst auf. Es

58 Timaios, 29 C.59 KrV, B 692.60 KrV, B 693.61 Ebd.62 Ebd.63 Ebd.64 KrV, B 675.65 KrV, B 699 ff.

Die Ursprungsphilosophie in Platons „Timaios 261

kann als es selbst, obwohl der „Begriff des höchsten Wesens . . . allen Fragen a priori ein Genüge“ tut, demgemäß auch nicht ausgesagt werden, weil es „der Frage wegen seines eigenen Daseins gar kein Genüge“ tut.66

Ansatzpunkt für die andere Seite ist die Antinomie der Vernunft, die nur durch die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich umgangen werden kann.67 Durch diese Unterscheidung aber wird der Satz, „daß, wenn das Bedingte gegeben ist, uns eben dadurch ein Regressus in der Reihe aller Bedingungen zu demselben aufgegeben sei“ , keineswegs in Zweifel gezogen.68 Das Ziel dieses Regressus kann nur erreicht werden, „wenn das Bedingte so wohl, als seine Bedingung, Dinge an sich selbst sind“ .69 Wenn das Bedingte aber bloß in Erscheinungen gegeben ist, so ist eine zielgerichtete Durchführung eines Regressus nur innerhalb der Reihe der Erscheinungen möglich.70 Versucht die Vernunft dennoch, auf diesem Wege zum Unbedingten vorzustoßen, gerät sie in die Antinomie. Gerade, weil „eine ganz natürliche Täuschung der gemeinen Vernunft“ Grund solcher auseinanderstreben­der Versuche ist, bleibt „kein Mittel übrig, den Streit. . . zu endigen, als daß . . . sie endlich überführt werden, daß sie um Nichts streiten“ .71

Obwohl also auch auf diesem Wege die Frage nach dem Absoluten nicht beantwortet werden kann, so fordert das „stets bedingte Dasein der Erscheinun­gen“ nach Kant doch dazu auf, sich „nach etwas von allen Erscheinungen Unterschiedenem, mithin einem intelligibelen Gegenstände umzusehen, bei wel­chem diese Zufälligkeit aufhöre“ .72 Derart zeigen sich von den aufgeführten Seiten her entgegengesetzte Aufgabenstellungen, nämlich „entweder zu der absoluten Notwendigkeit einen Begriff, oder zu dem Begriffe von irgend einem Dinge die absolute Notwendigkeit zu finden“ .73 Beide Aufgabenstellungen aber übersteigen „gänzlich alle äußersten Bestrebungen, unseren Verstand über diesen Punkt zu befriedigen“ .74

Somit hat zu gelten, daß sowohl für Platon als auch für Kant auf Grund der von der Werdewelt bzw. den Erscheinungen ausgehenden Frage nach dem Absoluten die Notwendigkeit besteht, das Absolute zu thematisieren, zugleich aber auch bei beiden die Unmöglichkeit eingesehen ist, dieser Notwendigkeit uneingeschränkt nachzukommen. Es ergibt sich dadurch für beide die Forderung nach einem Aussagemodell, welches dieser Situation gerecht wird. Die unbedingten Bedingun­gen des Bedingten sind demgemäß nur in „wahrscheinlicher Rede“ , nur in

66 KrV, B 639 f.: zu dem damit gegebenen Doppelverhältnis von Transzendenz und Immanenz vgl.auch W. Marx, Aspekte einer transzendentalen Topik. Zum Problem der Verhältnisbestimmung vonVerstand und Vernunft im Rahmen der theoretischen Philosophie Kants, in: Philosophisches Jahrbuch81 (1974) bes. 268.67 Vgl. z. B. KrV, B 520 ff.68 KrV, B 526.69 Ebd.70 KrV, B 527.71 KrV, B 528 f.72 KrV, B 594.73 KrV, B 640.74 KrV, B 641.

262 Norbert Fischer

„Analogie" faßbar. Dies Resultat, das hier an Kant gleichsam illustriert wurde, ist die Grundlage der Bestimmung der Sache des Denkens im „Timaios“ , wie ihr nun weiter nachgegangen werden soll.

IV.

Daß die Frage des Vonwoher der aufs Beste und Schönste gerichteten kosmi­schen Ordnung die Aufgabe impliziert, nach einem jenseits und vor dieser Ordnung liegenden Ursprung zu suchen, ohne daß diese Aufgabe sich als lösbar erwiese und dieser Ursprung in der philosophischen Untersuchung in eindeutiger Weise zur Sprache gebracht werden könnte, wurde oben gezeigt. Das derart im „Timaios“ vorliegende Transzendenzverständnis korrespondiert mit demjenigen auch früherer Dialoge Platons.75 Damit wird allerdings keineswegs die Rettung der These versucht, daß im „Timaios“ eine „Antizipation des Christlichen“ vorliege, aber doch eine gewissermaßen in der Sache begründete Offenheit auch für diese Glaubenssichtweise.76 Der Meinung Gadamers, daß der „Timaios“ „offenkundig von einem göttlichen Willen, der sich zur Schöpfung entschließt, kein Sterbens­wörtchen verlauten läßt“ ,77 kann deswegen nur eingeschränkt und nicht ohne Bedenken zugestimmt werden. Sicher wäre es falsch, den Hinweis auf die im „Timaios“ betonte Neidlosigkeit, den Absichtscharakter der Handlungen und die Freude des Schöpfers bei der Erschaffung der Welt schon für eine Widerlegung der These Gadamers zu halten. Die „Grundbehauptung“ des „Timaios“ nämlich - παρά πάντα ήμιν ώς αεί τούτο λεγόμενον ύπαρχέτω - ,78 die Geordnetheit des Ganzen „durch Formen und Zahlen“ (εί'δεσί τε καί άρεθμοϊς),79 ist die zureichend erklärende, funktionale Bestimmung der mythisch-bildhaften Darstellung. Die Tatsache einer derartigen mythischen Verbildlichung der Grundbedingungen schließt aber die Möglichkeit auch einer nichtbildhaften Bezeichnung dieser Bedingungen nicht aus, wobei selbstredend deren Rechtfertigung von anderer Seite geleistet werden muß. Diese Offenheit für eine solche Weiterführung demonstriert der „Timaios“ ständig, wenn er seine Grundbehauptung mit der Darstellung der Neidlosigkeit, des Absichtscharakters und der Freude des Schöpfers, also Phäno­menen des göttlichen Willens, illustriert.80

75 Vgl. meine Untersuchung, Zum Problem der Transzendenz in der platonischen Erkenntnislehre. Interpretationsansätze zu Platons „Menon" und „Theaitetos“, in: Theologie und Philosophie 55 (1980) 384-403.76 Gegen Gadamer, a. a. O. 7.77 Gadamer, ebd.78 Timaios, 53 B.79 Ebd.80 Vgl. z. B. auch M.-D. Chenu, Die Platonismen des XII. Jahrhunderts, in: Platonismus in derPhilosophie des Mittelalters, hg. von W. Beierwaltes (1969) 269: „Die Eignung zum Ausdruck religiöser Werte des Denkens und des sittlichen Handelns, sogar bezüglich der christlichen Religion, ist übrigens der erste Grund des gleichsam selbstverständlichen Kredits aller Platonismen bei den Christen.“ .

Die Ursprungsphilosophie in Platons „Timaios' 263

Wie in der theologischen Interpretation der Spätantike und des Mittelalters das dort vorherrschende Assimilierungsinteresse die genuine Aussage des „Timaios“ zu überdecken geeignet war, so scheint heutzutage zuweilen ein Interesse vorzu­herrschen, den „Timaios“ dieser Interpretation möglichst radikal zu entfremden. Dabei wird öfters deutlich, daß auch solche Trennungsversuche genuine Aussagen des „Timaios“ überdecken können. Wenn beispielsweise Wyller durchaus nicht unbegründet den Schwerpunkt des „Timaios“ in dessen „physikalischen“ Mittel­teil legt, so darf das nicht zu der überpointierten These führen, der Gott Platons schaffe „ja nur die Sinnenwelt“ .81 Erstens nämlich zeigt der „Timaios“ insgesamt, daß die Sinnenwelt nicht „nur die Sinnenwelt“ ist - „nur die Sinnenwelt“ gibt es bei Platon schließlich überhaupt nicht: der Chorismos meint keine Zweiweltentheo­rie, sondern die Zweistämmigkeit der Erkenntnis zweitens wird im „Timaios“ ja ausdrücklich die Erschaffung des Menschen erzählt, bis hin zu dessen höchster Vollzugsmöglichkeit, der philosophischen Erkenntnis.82

So berechtigt also die Zurückweisung einer Platon-Interpretation ist, welche den jüdisch-christlichen Schöpfungsglauben in den „Timaios“ hineinverlegt, so unbe­rechtigt ist es, diejenigen Bestandstücke der Philosophie Platons - nicht der mythischen Einkleidung - einfachhin abzudrängen, die späterhin als Grundlage einer - durchaus erneut zu rechtfertigenden - Verbindung vor allem mit der christlichen Theologie dienten. Dabei kann gerade die Zurückweisung eines für Platon nicht zutreffenden Chorismos-Denkens, das zuletzt die dem Menschen zugängliche Welt von der den Göttern vorbehaltenen Welt radikal abtrennt, die im Gefolge dieser Trennung vom platonischen Welt-Modell zuweilen behauptete Immanenz aufbrechen.83 Aber nicht allein die Offenheit für Transzendenz gehört zur Ursprungsphilosophie Platons, ebensosehr gehört zu ihr die Demonstration der Anwendbarkeit der Grundbehauptung von der Mathematizität der Werdewelt im Erfahrungsfeld, in deren Zusammenhang Platon sich den kleinsten Bausteinen der Materie zuwendet.

Nach dem Sinn zunächst dieser Zuwendung braucht dann nicht mehr lange gesucht zu werden, wenn der Chorismos - ein von Aristoteles in kritischer Absicht geprägter terminus technicus, der aber ansatzweise auch schon im platonischen Schriftwerk gefunden werden kann84 - nicht im Sinne einer Zweiweltentheorie verstanden wird. Eine Einschränkung des Chorismos scheint insbesondere jene Stelle im 7. Brief zu implizieren, die im Anschluß an die Darstellung der

81 Wyller, a. a. O. 137.82 Timaios, 47 A ff.; vgl. auch 69 C.83 Vgl. W. Schadewaldt, Das Welt-Modell der Griechen, in: Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur in zwei Bänden (21970) Bd. I, bes. 615 f. Schadewaldt hebt, vor dem Hintergrund der Umschlossenheit der „Weltinsel“ durch eine göttliche Welt, gerade die Bezugslosigkeit des Menschen zu dem hervor, was außerhalb der Weltinsel sein mag, denn - so sagt er 615 - dieser Mensch fühlt „seine menschlich-religiösen Bedürfnisse als Bewohner dieser Insel aufs glücklichste befriedigt“. - Daß gerade Gadamer, der sich um eine Enttheologisierung des Timaios bemüht, dort dennoch auch das Problem der Kontingenz der Welt findet, dazu vgl. a. a. O. 27 ff.84 Vgl. Phaidon, 67 D ; Kamlah, a. a. O. 8 (zu Parmenides 130 B); zum technischen Sprachgebrauch bei Aristoteles vgl. z. B. Metaphysik, Λ, 1069 a, 24.

264 Norbert Fischer

notwendigen Bedingungen für das Zustandekommen von Erkenntnis - zu welchen ganz selbstverständlich auch die Wahrnehmung zählt — „die dauernde Beschäfti­gung mit ihnen allen“ fordert. Von dieser Beschäftigung wiederum wird gesagt, daß sie, wobei sie „im Wechsel zu einer jeden hinauf- und hinabsteigt, . . ., allerdings nur mühsam, Erkenntnis“ erzeuge (ή δέ διά πάντων αυτών διαγωγή, άνω καί κάτω μεταβαίνουσα ecp’ έκαστον μόγις επιστήμην ένέτεκεν).85 Alle diese notwendigen Bedingungen der Erkenntnis - soll nämlich Einsicht und Verständnis über jedes Ding aufleuchten - müssen „mühevoll aneinander gerieben werden, Namen und Begriffsbestimmungen, Anschauungen und Wahrnehmun­gen“ (μόγις δέ τριβομένα προς άλληλα αυτών έκαστα, ονόματα καί λόγοι όψεις τε καί αισθήσεις).86

Auf diese Weise muß das Beste und Schönste, das nach manchen Platoninterpre­tationen ganz einseitig in den Ideen zu suchen ist, auch schon in den Grundbe­standteilen der Körperwelt gefunden werden können. So sehr aber gemäß dem 7. Brief auch für Platon die Einbeziehung der Sinnes erfahrung für die Entstehung von Erkenntnis unabdingbare Voraussetzung ist, so wenig war ihm eine solche Erfahrung auf dem Gebiet der Atomtheorie entsprechend dem Entwicklungsstand der Erfahrungswissenschaften möglich. Derart ist das Kriterium der Gültigkeit der Theorie für Platon zunächst nur die Schönheit der mathematischen Konstruktion der Elemente. Die dennoch in gewisser Weise auch in dieser Frage berücksichtigte Erfahrungsseite kann sich allerdings nicht bloß auf Beobachtungen hinsichtlich des Wechsels der „Aggregatzustände“ beziehen.87 Einerseits nämlich wäre Platons Lösung übermäßig kompliziert, wenn sie sich nur auf die Aufgabe der Erklärung des Wechsels im Aggregatzustand bezöge, andererseits werden auch Phänomene genannt, die nicht mehr als mögliche Veränderungen im Aggregatzustand gefaßt werden können.88 Diesen weitergehenden Sinn der Untersuchungen garantiert aber vornehmlich die Reduktion der Materiebausteine auf universell zur Konstitu­tion der Elemente verwendbare Dreiecke. Gerade Platons Stellungnahme: „Sollte aber jemand ein für die Zusammensetzung dieser Körper schöneres (seil. Dreieck) auszuwählen und anzugeben haben, so trägt dieser nicht als Feind, sondern als Freund den Sieg davon“89, zeigt seine Absicht bei der Entwicklung seiner Atomtheorie: Es soll eben die Mathematizität der Grundbestandteile auch der Erfahrungswelt im Zusammenhang mit den zur Zeit Platons zugänglichen Erfah­rungen entfaltet werden, so daß schließlich die Frage, „aus welchem Stoff“ die „regulären Körper . . . gemacht seien“, allein so beantwortet werden kann: „aus Mathematik“ .90

85 343 E, hg. und übers, von W. Neumann, bearb. von J. Kerschensteiner (1967).86 Ebd. 344 B.87 Gegen Gadamer, a. a. O. 31.88 Vgl. z. B. Timaios, 57 A/B.89 Timaios, 54 A.50 W. Heisenberg, Platons Vorstellungen von den kleinsten Bausteinen der Materie und die Elementar­teilchen der modernen Physik, in: Im Umkreis der Kunst. Eine Festschrift für Emil Preetorius, im Insel-Verlag hg. von F. Hollwich (ohne Jahr und Ort), zum 70. Geburtstag am 21. Juni 1952

Die Ursprungsphilosophie in Platons „Timaios 265

Es bleibt die Frage, welchen Nutzen für die Naturwissenschaft heute Platons Erwägungen überhaupt und insbesondere zur Atomtheorie haben können. Diesen Nutzen zu beurteilen ist nicht Sache der Philosophie, sondern der Naturwissen­schaft selbst.91 Grund zum Nachdenken ist es jedenfalls für die Philosophie, wenn ein Naturwissenschaftler „die enge Verwandtschaft der modernen, aus der Erfah­rung gewonnenen Auffassung mit den Anschauungen Platons deutlich zu erken­nen“ vermag.92 Aber nicht nur diese überraschende Parallele zwischen moderner und platonischer Atomtheorie - die natürlich nicht beweist, „daß die Griechen etwa schon in einer geheimnisvollen Weise Kenntnisse besessen hätten, die wir uns erst jetzt wieder mühsam erarbeiten müßten“93 - wird von Naturwissenschaftlern festgestellt, sondern es wird auch auf einen Nutzen der platonischen Theorien reflektiert. So spricht C. F. v. Weizsäcker in diesem Sinne bei der Interpretation des platonischen „Parmenides“ von der Ausnutzung „im Blick auf den gegenwärti­gen Stand der Naturwissenschaft“ .94

Wenn feststeht, daß die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Formen der Elemente sich nicht primär auf den Wechsel der Aggregatzustände beziehen, dann verknüpft Platon die Eigenschaftlichkeit des Beobachtbaren nicht nur mit etwas jeweils gerade nicht zu Beobachtendem, sondern reduziert sie auf die Strukturalität eines Nichtbeobachtbaren. Beobachtbar wird die Struktur in der Zusammenset­zung mit anderen Strukturen, indem sie in eine Wechselbeziehung mit diesen tritt. „Eben hierdurch hört es auf, genau dieses Objekt, ja überhaupt ein Objekt zu sein.“95 Demgemäß ist es nach Platon erforderlich, „dasjenige, was wir stets bald so, bald anders werden sehen . . ., aufzuzeigen“ .96 Derart kommt ein Ergebnis zustande, welches sich auch in den Worten der Quantentheorie formulieren läßt: „beobachtbar wird eine beliebige Eigenschaft eines Objekts nur dadurch, daß das Objekt eben diese Eigenschaft verliert.“97 - Gewiß bleibt bei solchen Resultatver­gleichen und Argumentationsparallelen, die aber doch aus fundamental zu unter­scheidenden Ansätzen und Aufgabenstellungen erfolgen, manches schwankend und problematisch. Andererseits ist von Bedeutung, daß Naturwissenschaftler - in gebotener Vorsicht - im Denken der griechischen Antike und insbesondere auch im hier betrachteten platonischen „Timaios“ Anknüpfungspunkte zu ihrer Wis­senschaft finden können.98 Diese Tatsache und die schon erwähnte Tatsache der Offenheit für Transzendenz müssen ihren Grund in der Sache des Denkens im „Timaios“ haben.

überreicht, 140. Damit tritt Platon in schärfsten Widerspruch zur vorsokratischen Atomistik; vgl. hierzu H.-G. Gadamer, Antike Atomtheorie, in: Um die Begriffswelt der Vorsokratiker, hg. von H.- G. Gadamer (1968) 525.91 Vgl. A. S. Eddington, Das Weltbild der Physik und der Versuch einer philosophischen Deutung (1931) bes. 211.92 Heisenberg, a. a. O. 139.93 Ebd. 137.94 Die Einheit der Natur (1971) 481.95 Weizsäcker, a. a. O. 490.96 Timaios, 49 D/E.97 Weizsäcker, a. a. O. 490.98 Vgl. Gadamer, Antike Atomtheorie, a. a. O. 512 ff., 523 ff.

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V.

Das zentrale Anliegen des „Timaios“ entspringt zweifellos einer Fragestellung, die sich notwendigerweise an die Ideenlehre richtet. Der zunächst vorherrschende Anschein, der Chorismos trete gerade im „Timaios“ in völlig ungebrochener Form auf, wendet sich bei näherer Betrachtung geradezu ins Gegenteil. Nicht ausge­schlossen ist es sogar, daß sich eine solche scheinbare Lehrhaftigkeit ironisch auf eine Ideendogmatik der „Ideenfreunde“ bezieht." Daß der genannte Anschein zutreffe, kann schließlich deshalb mit Sicherheit ausgeschlossen werden, weil sonst der „Timaios“ als ein Zurückfallen hinter die eigene kritische Position Platons im „Parmenides“ und im „Sophistes“ verstanden werden müßte. Dies anzunehmen aber besteht kein entscheidender Grund, da der „Timaios“ die anfangs als selbstverständlich vorausgesetzte Ausgangslage, die durch eine als schlechthin unvermittelbar ausgegebene Doppeltheit im Ansatz gekennzeichnet ist, ständig und in allen Teilen zu überwinden sucht, so daß eben - nun inhaltlich gefaßt - das zentrale Anliegen des „Timaios“ der Aufweis der Beziehbarkeit und - soweit möglich - der Bezogenheit des ausgangsweise Unterschiedenen, also die Ein­schränkung des Chorismos-Gedankens, die Zurückweisung einer Zweiwelten­theorie ist.

Die „Krönung“ (κεφαλή) der gesamten Untersuchung ist die „Verwebung“ der gesondert bereitliegenden Ursachenarten im Bewußtsein ihrer logischen Unver- mittelbarkeit, in welcher wiederum der berechtigte Kern des Chorismos-Gedan­kens bei Platon liegt.99 100 Konsequentermaßen führt diese in mythisch-theologisch­naturwissenschaftlichen Bildern vorgetragene Vereinigung des Unvereinbaren zu einer contradictio in adiecto, die im letzten Satz des „Timaios“ in ihrer schärfsten, prägnantesten, ja - man kann sagen - schönsten Gestalt auftritt: Als Titel nämlich für das nun erreichte Ziel der Untersuchung über das All wird hier der „wahrnehm­bare Gott“ , der θεός αισθητός, genannt.101 Dieser θεός αισθητός ist das Ziel aller Untersuchungen im „Timaios“, er ist die Sache des Denkens im „Timaios“, an ihm muß sich folglich jede Interpretation messen lassen.

Die so interpretierte Sache des Denkens hat ein Denken zur Folge, das sozusagen sein Haus in guter Nachbarschaft sowohl zur Theologie als auch zur Naturwissen­schaft hin errichtet, selbst aber gemäß seiner Sache weder eine theologische noch eine naturwissenschaftliche Aussage macht. Dies Denken geht demnach auch nicht einfachhin „μετ’ εκείνα ,über“ jenes, was nur schattenhaft und abbildmäßig erfahren wird, hinaus εις ταΰτα, ,hin zu“ diesen, nämlich den,Ideen““.102 Weder ist

99 Vgl. Sophistes, 248 A.100 Vgl. Timaios, 69 B.101 Vgl. ebd. 92 C; natürlich muß hier darauf hingewiesen werden, daß dieser ftεός αισθητός als εικών τοϋ νοητού eingeführt wird; laut vorgetragener Interpretation besagt dies aber nicht, wie z. B. F. Susemihl, Platon, Sämtliche Werke, Bd. 3, 191, Heidelberg o. J. (1950), übersetzt: „Abbild des Schöpfers“ - im Sinne etwa von „Abbild des geistigen (Gottes)“ - , sondern: „Bild des Denkbaren“ . Damit wäre gleicherwèise die Sinnlichkeit des Geistigen wie die Geistigkeit des Sinnlichen der Welt ausgedrückt. In allem nämlich ist „dieser unser einziger einzigartiger Himmel“ Thema (92 C).132 M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den „Humanismus“ (1947, 31975) 48.

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diese Meta-Physik Platons theologisch, noch wird die Unverborgenheit der Dinge unter das Joch der Idee genommen. Zum ersten ist hier nur noch auf die - oben teilweise modifizierten — Thesen Gadamers zu verweisen, zum zweiten wäre zu sagen, daß sich bei Platon - will man sich nun einmal in den Ausdrücken der Heideggerschen Interpretation bewegen - nicht der „Vorgang des Herrwerdens der ιδέα über die άλήθεια“ ereignet, sondern daß die Idee zur Entfaltung des Wesens „der Unverborgenheit aus eigener Wesensfülle“ notwendig hinzuge­hört.103 Wie sehr dabei diese Entfaltung zwei Momente dieses Wesens enthält, die sich sozusagen in Trennung voneinander, im Chorismos befinden, so sehr muß diese Entfaltung auf ihren Ursprung bezogen werden, der die beiden Wesensmo­mente ungetrennt enthält.

Der Ursprung der Philosophie Platons, die Sache seines Denkens im „Timaios“ , ist die Ungetrenntheit des nur in Trennung zu entfaltenden und in seiner Ungetrenntheit nicht zu denkenden einen Alls. Bei diesem handelt es sich nach allem Gesagten nun nicht um einen theologischen, sondern um einen Weltbegriff, dessen Wesen, das aufgrund des genannten Unvermögens notwendig als Doppel­natur auftritt, in der Einheit von Göttlichkeit und Sinnlichkeit symbolisiert wird. Aus der Einheit dieser aus Sein und Werden verwebten Wirklichkeit erwächst zugleich ein Fundament für den Austrag der erkenntnistheoretischen und ethi­schen Probleme Platons. Die Verwebung von Sein und Werden, die nach Platon eben den Hauptpunkt seiner Überlegungen im „Timaios“ ausmacht, kann die im „Menon“ schon gesuchte „Verwandtschaft der Natur“ begründen,104 ist also mögliche Grundlage der Erkenntnis im Sinne der ontologischen Wahrheit. Sie ist gleichermaßen das ontologische Fundament der „Angleichung an Gott“ , wie sie im „Theaitetos“, die Flucht vor dem im Sterblichen liegenden Bösen bezeichnend, als Forderung an das philosophische Leben vorgetragen worden war.105

Damit stellt Platon im „Timaios“ ein Ideal vor Augen, das von umfassenden erkenntnistheoretischen, ethischen und ethisch-politischen Konsequenzen ist, ein Ideal übrigens, das in demjenigen Schelers in „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ eine überraschende Gegenwärtigkeit behalten hat. Die „gegenseitige Durchdringung“ von „Geist“ (Sphäre der „deitas“) und „Drang“ (Sphäre des physiologisch und psychisch sich gestaltenden „Lebens“) hat als Ziel die „Vergei­

103 Ebd. 41, richtig in diesem Sinne W. F. Otto, Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes (31947) 12: „das Natürliche ist mit dem Geistigen eins geworden“, 13: das Göttliche „offenbart sich in den Formen des Natürlichen selbst, als dessen Wesen und Sein“ . Die so nur durch ein Oxymoron bestimmbare Welt ist aber gerade nicht in sich beruhigt, Ottos Entgegenset­zung der griechischen Religion gegen den „Geist des Orients“ (17) ist schon von dieser Seite her betrachtet überscharf gezeichnet.104 Ygl. Menon, 81 D; auch das Fortwirken des Gedankens bei Aristoteles und in der stoischen οικειωσις - Lehre; hierzu M. Forschner, Die stoische Ethik (1981) bes. 151.105 Vgl. Theaitetos, 176 A: Φυγή όέ ομοίωσις. hetp κατά το δυνατόν. Ohne die zugrundeliegende Doppelnatur im Weltursprung ist eine solche Maxime nicht denkbar. Im Philebos wird übrigens klar (bzw. dahingehend korrigiert), daß das Ziel nicht Weltflucht, sondern ein aus Einsicht und Lust aufs Beste gemischtes Leben ist; 61 C: ας — seil, ηδονή φρόνησις — προθυμετέον ώς κάλλιστα συμμειγνύναι.

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stigung der Drangsale“ und die „Verlebendigung des Geistes“ .106 Der Mensch ist so in die Wahrheit gestellt, daß sie zugleich appellativen Charakter für ihn hat. In diesem, das Ganze der platonischen Fragestellungen umfassenden Sinne ist dies All „ein wahrnehmbarer Gott, der größte und beste, schönste und vollkommenste . . . - dieser unser einziger einzigartiger Himmel“ (θεός αισθητός, μέγιστος καί αριστος κάλλιστός τε καί τελειότατος . . . εις ουρανός οδε μονογενής ών).107

106 Die Stellung des Menschen im Kosmos (?1978) 71.107 Timaios, 92 C.