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422 For~schritte der Kieferorthopadie~Bd. 21 It. 4 '(I960) Aus der Zahn- mid Kieferklinik des St/~dtisehen Katharinenhospitals Stuttgar~ (Chefarzt: Dr. Dr. U: Ilheinw~Id) Die Zunge als Faktor des sagittalen Unterkieferwachstums Yon Dr. Dr. Riidiger Beeker, Stu~gart ~it 7 Abbildungen Die Zunge ist dem Kieferorthop/~den ats Ursa.che verschiedener Zahnstellungs- nnd Gebiganomal:ien:bekannt uud finder ihre Berfieksichtigung bei der Behand- lung s01cher Dysgnathien, indem dutch entsprechende Behandlungsger&te ver- suetlt wird, den Druek der Zunge fortzunehmen. Im allgemeinen handelt es sieh dabei um alveol'&re Dysgnathien; wie der zungenoffene Big und die Protrusion der Frontz/~hne, bei denen die seh/tdliche Wirkung der Zunge offensiehtlieh.fst,. Umstritten isv aber die Frage, ob (tie Zunge eine Bedeutung fiir des L/ingen- waehs~um des Unterkiefers hat und ob eine fibermi~l~ig grofie Zunge oder eine abnorme Zungenfunktion des Unterkieferwaehst.um beeinflussen k6nnen. F/Jr die Akromegalie konnte Ko rk h au s (1) den Einflug der sieh ebenfalls ver- gn'61]ernden Zunge auf die Deformierung des Unterkiefers naehweisen; als nieht erwiesen grit bisher ein waehstumsf6rdernder Einflug der Zunge auf des iiber- maBige Li~ngenwaehstum des Unterkiefers bei der edhten Pmgenie. Es wird vielmehr ein koordinie1~es Waehstum von Zunge end Unterkiefer angenommen, da beide Ms Abk6mmlinge des ersten Kiemenbogens denselben Waehs~umsimpul- sen unterliegen.sollen. Diese vorstellung des gemeinsam gesteuerten Zungen- und Unterkieferwaehs- turns mull aber korrigiert werden. Zunge und Unterkiefer erfahren eine von- einu~ader weitgehend, unabh/~ngige Differenzierung. Die histologisehen :Serienuntersuehungen yon P o n s- T o r t e 11a (2) zeigen dies ei~drucksvoll..Er konnte nachweisen, dab die Gr6genentwieklung und Form- gestattung der Zunge unabhgngig yon dem ihr zur Verfiigung stehenden Raum erfolgt. Aueh Potitzer (3) h/~lt die Formung der Zunge, dutch Bfldung ihrer Binnenmuskutatur ffir einen aktiven Vorgang. Die unabhgngige Differenzierung der Zunge wird ferner dutch die Beobaehtungen yon Callister (4) und yon Mathis (5) bewiesen, die bei angeborenen Unterkiefermil~bildungen mit deut- lieher Mikrognathie eine Entwicklungshemmung der Zunge nieht feststelten konnten. Der yon Eskew uM Shepard (6) mitgeteilte FM1 eines 22j/ihrigen Chinesen mit angeborener Aglossie. bei dem es trotz intakter Knorpelwaehstums- zone zu einer starken sagittMen Waehstumshemmung des Unterldefers und zu einer Versehm/~lerung des Unterkieferbogens gekommen war, Unterstreieht die prim/~r tmabh~ngige Entwieklung yon Zunge und Unterkiefer und zeigt, die Bedeutung der Zunge ffir ein normales Unterkieferwaehstum. Entwieklungsgesehiehtlieh wird dieses Verhalten von Unterkiefer und Zunge verst/indlieb, wenn wir uns vor Augen hMten, dab (lie Iteuptmasse der Zunge, ihre Binnenmuskulatur, aus embryonalem Gewebe gebildet wird. des nieht dem I. Kiemenbogen entstammt, sondern sieh aus den okzipitalen Ursegmenven ab- leitet nnd gemeinsam mit dem Nervus hypoglossus yon dorsal in die Zungen- anlage einwandert.

Die Zunge als Faktor des sagittalen Unterkieferwachstums

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422 For~schritte der Kieferorthopadie~Bd. 21 It. 4 '(I960)

Aus der Zahn- mid Kieferklinik des St/~dtisehen Katharinenhospitals Stuttgar~ (Chefarzt: Dr. Dr. U: Ilheinw~Id)

Die Zunge als Faktor des sagittalen Unterkieferwachstums

Yon Dr. Dr. Riidiger Beeker, Stu~gart

~it 7 Abbildungen

Die Zunge ist dem Kieferorthop/~den ats Ursa.che verschiedener Zahnstellungs- nnd Gebiganomal:ien:bekannt uud finder ihre Berfieksichtigung bei der Behand- lung s01cher Dysgnathien, indem dutch entsprechende Behandlungsger&te ver- suetlt wird, den Druek der Zunge fortzunehmen. I m allgemeinen handelt es sieh dabei um alveol'&re Dysgnathien; wie der zungenoffene Big und die Protrusion der Frontz/~hne, bei denen die seh/tdliche Wirkung der Zunge offensiehtlieh.fst,.

Umstr i t ten isv aber die Frage, ob (tie Zunge eine Bedeutung fiir des L/ingen- waehs~um des Unterkiefers hat und ob eine fibermi~l~ig grofie Zunge oder eine abnorme Zungenfunktion des Unterkieferwaehst.um beeinflussen k6nnen.

F/Jr die Akromegalie konnte K o rk h au s (1) den Einflug der sieh ebenfalls ver- gn'61]ernden Zunge a u f die Deformierung des Unterkiefers naehweisen; als nieht erwiesen grit bisher ein waehstumsf6rdernder Einflug der Zunge auf des iiber- maBige Li~ngenwaehstum des Unterkiefers bei der edhten Pmgenie. Es wird vielmehr ein koordinie1~es Waehstum von Zunge end Unterkiefer angenommen, da beide Ms Abk6mmlinge des ersten Kiemenbogens denselben Waehs~umsimpul- sen unterliegen.sollen.

Diese vorstel lung des gemeinsam gesteuerten Zungen- und Unterkieferwaehs- turns mull aber korrigiert werden. Zunge und Unterkiefer e r fahren eine von- einu~ader weitgehend, unabh/~ngige Differenzierung.

Die histologisehen :Serienuntersuehungen yon P o n s- T o r t e 11 a (2) zeigen dies e i~drucksvol l . .Er konnte nachweisen, dab die Gr6genentwieklung und Form- gestattung de r Zunge unabhgngig yon dem ihr zur Verfiigung stehenden Raum erfolgt. Aueh P o t i t z e r (3) h/~lt die Formung der Zunge, dutch Bfldung ihrer Binnenmuskutatur ffir einen aktiven Vorgang. Die unabhgngige Differenzierung der Zunge wird ferner dutch die Beobaehtungen yon C a l l i s t e r (4) und yon M a t h i s (5) bewiesen, die bei angeborenen Unterkiefermil~bildungen mit deut- lieher Mikrognathie eine Entwicklungshemmung der Zunge nieht feststelten konnten. Der yon E s k e w u M S h e p a r d (6) mitgeteilte FM1 eines 22j/ihrigen Chinesen mit angeborener Aglossie. bei dem es trotz intakter Knorpelwaehstums- zone zu einer starken sagittMen Waehstumshemmung des Unterldefers und zu einer Versehm/~lerung des Unterkieferbogens gekommen war, Unterstreieht die prim/~r tmabh~ngige Entwieklung yon Zunge und Unterkiefer und zeigt, die Bedeutung der Zunge ffir ein normales Unterkieferwaehstum.

Entwieklungsgesehiehtlieh wird dieses Verhalten von Unterkiefer und Zunge verst/indlieb, wenn wir uns vor Augen hMten, dab (lie I teuptmasse der Zunge, ihre Binnenmuskulatur, aus embryonalem Gewebe gebildet wird. des nieht dem I. Kiemenbogen ents tammt, sondern sieh aus den okzipitalen Ursegmenven ab- leitet nnd gemeinsam mit dem Nervus hypoglossus yon dorsal in die Zungen- anlage einwandert.

g, Backer, Die Zange als Faktor des ,s~gittal4n Ua~erkieferwachstums 423

Versehiedene klhiisehe Symptome weisen nun darauf hin, dal3 sich die Zunge aueh: gel der Progenie keineswegs passig deal gegebenen RaumVerh~ltnissen an- pagt., Sondern einen erhebliehen aktiVen Waehstumsdruck auf den Unterkiefer ansiibt.

Es sind dies : 1. Die'regelms festst.ellbare Verbreiterung der Unterkieferspange in trans-

versaler Riehtung, die in ausgepr/~gten Fs zur Nonokklusion im Seitenzahn-

Abb, I Abb. '2

Abb, 1 un4 2. Pat. Ha. (54 ,Iallt'e): Progenie mit umgekehrter Schneidezutm8tufe yon 3 ram. ~[akroglossie, de3:~t- liche Verbreiterung 4es Unterkiefers, L~igRenbildnngim Seite~zatmbereieh

bereieh ffihren, und die -- bei roller Be- riieksichtigung der Wachstumshemmung yon Oberkiefer und Mittelgesieht -- nar als Wirkung der zu grol3en Zunge an- gesehen werden kann

Die Abb. 1 mad 2 zeigen, dab neben dem vermehrten L~ngenwaehstum des Unterkiefers aueh eine Verbreiterung der Kiefel;spange eingetreten ist

2. Die bei der Progenie h~iufige alveo- l~re Protrusion, die zeigt, da{~ ein Mif~- verh~ltnis yon Zungen-and Unterkiefer- waehstum bestehen muB (Abb. 3).

Abb. ~, Pat: ~Rii. (33 Jahre). Progenie, 5lakro- glossie, oftener Bi~ und alveol/ire Protm~sion

Schliel]lich zeigen Einzelbeobaehtungen, dab WaehstumsstSrungen des Unter- Mefers durch eine pathoh)gische VergrSgerung der Zunge hervorgerufen werden k6nnefi. So ist die exogene Entstehung einer Progenie darch eine Geschwulst der Zunge m6glich. F~lle dleser Art warden versehiedentlich mitgeteilt; Vir e h o w (7) besehrieb 1854 2 Fs bei denen ein Lymphangiom der Zunge zu einem Riesen- wuchs der Mandibula gef/ihrt hatte. Schendel (8) gelang es 1903 die Spontan- heilung einer Progenie zu erreichen, nachdem er bei einem Jungen, d i e darch ein Lymphangiom vergr6Berte Zunge operativ verkleinert hatte. Er stellte einige Zeit naeh der Operation sowobl eine Abnahme des Unterkiet~rl/hlgenwachstums Ms anch eine Verschmfilern~g des Unterkiei~rbogens fest.

Unsere eigenen Untersuchungen fulTen anf der Beobaeh~nng, dab die echte Progenie regelm~Big mit exzessivem ~+Vachstum der Znnge vero'esellschaftet ist.

42~ ~ortschritte tier ~eferosthop~d/e Bd, 21 I~. 4 (t960)

Die :K!/irung eines Ehlflusses der Zunge auf, das Un~erkieferwachstum war uns bes0nders deshalb ein ~fliegen; well uns immer wieder Kinder n~ch erfolgl0ser kieferorthopEdischer Behandlung zur Prs der operativen BehandlungsmSg- ]ichkeit zugelei~et werden.

In' de r Beur~eilung des Einflusses der Zunge auf alas Unterkieferwachs~um sind wir aber vor!~ufig auf subjektiye:Erkenntnisse angewiesen. Wenn man den funktionellen I~eiz der Zungenmusku!atur als einen flit alas Unterkieferwachstum bedeutsamen Faktor ~nsieh~, muI~ die Zunge hinsiehtlich ihrer Gr6Be und Masse

Abb. 4 Abb. 5

k b b . 4 u~lr 5. Pa~. Z L W, ~uxd: A. ~o,schw, ts~er:m[~-,~lakroglossie. D e t ~!tere, 8 j~hdge , h a t e[ne Progeuie , tier jfi~lgere, 5jt~lirige,~einen 0ffe]teu J3il~ =

Abb. 6 Abb, 7

Abb. 6 u~d 7. Pat . K/J. W, uml ,r, Gescilwister mi~ ~IakroglosMe. ]3eide g u u g e u habeu einen zuugenoffeuen ]MB, B e i m jl:mgeren bes teh t ei~ se i t l ich of fner Bifi, den m a n zm~achst a u f e ine Lutschanom~l ie zur/ ickft ihren m~chte. ~Nach Aussageu tier s eh r zuver l / iss igen E l t e m is t eille solche abe t n ich t vo rhandeu ; tier J t m g e ha t v t e lmehr Tlll-

bewttf~t b e i m SD~et uud i m Schlaf se ine Zunge sei t l ich z~dschen den Z~/hnrelhen l i egen

und hinsichtlich ihres funktionellen VerhalSens in Betraeht gezogen werden. Mit den jetzt bekannten Methoden sind b eide GrSl]en anatomisch und meBtechnisch nicht erfaBbar. Auch eigene Versuehe ergaben keine brauchbaren Resultate. Vor allem abet kann die Lange der herausgestreckten Zunge, wie gelegentlich an- gegeben wird. nicht als Kriterium der Zungengr5ge dienen. Patienten mit nor- maler Zunge kSmlen h/tufig dutch Gesehicklichkeit und Cbung ihre Zunge bis zur Nasenspitze oder bis zum Kinn aus dem Munde strecken, wahrend Patienten mit einer Makroglossie dazu tinter Umstanden r/icht imstande sind.

Der Beweis fiir ur, sere :Hypothese, daS die Zunge das Unterkieferwaehstum beeinfluB~, 1/~f~t sich nur empirisch erbringen.

[~. B30ker, Die Z'aage 0As Fak~or des s~gi~t~len Unterkieferwachs~ums 425

Unsere eigenen Untcrsuchungen haben folgcndes ergeben:

1. Die Zunge fibt nicht nm" einen EinfluB auf das Unterkicferwachstum aus, sondern sie ist ehl fiir das Unterkieferwachstum wesentlicher Faktor.

2. Auf Grund ihrer gemeinsgmen Ursaehe der zu gro6en und funktionell ge- st6rten Zunge sind die Progenie, die alveol/ire Protrusion u n d der zungenoffene BiB/itiologisch verwandte Gebiganomalien, die lediglich formalgenetische Unter- sehiede aufweisen. Sie sind weichteilbedingt,.

3. Die Makroglossie ist in zahlreichen J~/illen erblich, eiue Kieferanomalie mug im Ph/inotypus abet nieht i t /Erscheinung t re ten. Wit werden in K/irze den Stammbaum emer Fami]ie vorlegen k5nnen, der zeigt, dat3 nicht die Progenie, sondern die Makroglossie vererbt wh'd.

Damk, erfahren die Untersuchungen yon K. W a c h s m a n n und F. N e u - m a n n (9) a u s d e m Jahre 1931 eine Best/itigung: Sie konntell bei 8 F~llen mit teilweise erblieher l~[akroglossie en~weder eine Progenie, eme Protrusion der Fron~ziihne oder einen offenen BiB beobachten.

Einige Abbildungen sollen diese Wirkung der Zunge veransehaulichen IAbb. 4 bis 7).

Die abnorme Zungenhaltung ist besonders sch6n auf Abb. 6 de r folgenden Arbeit you U. R h e i n w a 1 d zu sehen. Bei dem M/idehen hat die Makroglossie zu einer Progenie gefCihrt.

Unsere Beobachtnngen zeigen, dag das Unterkieferwachstum yon der Znngen- grSge nnd dem funktionellen Verhalten der Zunge abh/~ngig ist. Die Zunge be- einflnBt nioht nut Wachstumsvorg'~nge am Alveolarfor~satz. sondei~ tibt dat~iber hinaus einen Waehstumsreiz auf den Unterkieferk6rper ans. ]~ir hal~en es des- hMb ftir wesentlich, dal~ die Zungenweiehteile und ihre Funktion in die dia- gnosgisehe Betraehtung der GebiBanomalien einbezogen und bei tier Behandlung berficksichtig~ werden.

8r 1. Korkh~us, G., Dtsch. Zahn-Muncl~Kieferhk. 22, 3, 93 ( 1 9 5 5 ) . - 2. Pons-Tor-

tella, E., Zschr. Anat. Entw,gesch. 10~, 72 (1936). - - 3. P01itzer, G., Die Zahn- usw. Heilk. Handbuch. Berlin 1953..-- 4. CMlister, zit. nach H. Mathis, Dtseh. zahn~rztl. Zschr. 4, 482 (1949),~-- 5. Mathis, H., Dtsch. zahn/~rztl. Zschr. 4, 482 (1949). --- 6. Es- kew, H. A., und E. E. Shepard, Amer. J. Orth0don?a 3~, 2, 116 (1949).--7' Virch0 w, R., u Arch. path. Ant. 1, 126 (1854). - - 8. Schepdel, F:, Dtsch. Mschr. Zahnhk. 21, 5, 237 (1903). - - 9. Wachsmani% K., und F. Neumann, Zsehr. Stomat. 29, 32 (1931).

Ar~schrift,el. VerL: S tu t tgar t N, Kriegsbergstr . 61>

Fortsohri t te der Kieferortholi/tdie ]3d. 21 lI. 4 2 9