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Knut Rickmeyer "Die Zwolf liegt hinter der nachsten Kurve und die Sieben ist pinkrot": Zahlenraumbilder und bunte Zahlen 51 Zusammenfassung. Es gibt Menschen mit ganz individuellen visuellen Reprasentationen von Zahlen. Einige "sehen" Zahlen, mit den en sie konfrontiert werden, unwillklirlich an einer be- stimmten Stelle einer mental en raumlichen Struktur. Andere verbinden mit den Zahlen ganz bestimmte Farben. 1m Artikel werden einige Beispiele derartiger visueller Reprasentationen von Zahlen vorgestellt und mit Bezug auf den Mathematikunterricht diskutiert. Abstract. There are people with quite personal visual representations of numbers. Some "see" the numbers they are confronted unintentionally at a fixed place within a mental spatial struc- ture. Others associate specific colours with given numbers. In this article some examples of such visual representation are described and discussed with regard to the teaching of mathe- matics. 1. Einleitung "Es passierte an einem ganz gewolmlichen Tag an einem gelb-blau geschmiickten Wahlkampf-Stand der Freien Demokraten. 'WeiBt du eigentlich, daB die FDP fUr mich 47 istT fragte Linde Schroder ihren Mann. 'Die Vier ist gelb und die Sieben blau.' Die Antwort ihres Mannes war ein entgeisterter Blick und ein unausgesprochener Verdacht. 'Er hat mich damals wohl fur eine liebenswerte Spinnerin gehalten', meint die 56jahrige riickwartsblickend" (Beckmann 1995). "Schon in der Grundschule dammerte Sabine Sclmeider, daB ihre Wirklichkeit anders aussieht als die anderer Menschen. 'Wieviel ist eins plus einsT, hatte die Lehrerin an einem der ersten Schultage gefragt. Olme zu zogem rief Sabine: 'Dunkelgriin'" (Hak- kenbroch 2000). George Bidder, Solm eines Ingenieurs, berichtete (vgl. Abb.1): "One of the most curious peculiarities in my own case, is the arrangement of the arithmetical numerals. I have sketched this to the best of my ability. Every number is always thought of by me in its own definit place in the series, where it has if I may say so, a home and an individuality" (Galton 1880,253). Oberarbeitete Fassung meines Vortrags zum Gedenkkolloquium flir Herrn Prof. Dr. Hendrik Ra- datz am 9.September 1998 in Hannover (JMD 22 (2001) H. 1, S. 51-71)

„Die Zwölf liegt hinter der nächsten Kurve und die Sieben ist pinkrot”: Zahlenraumbilder und bunte Zahlen

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Knut Rickmeyer

"Die Zwolf liegt hinter der nachsten Kurve und die Sieben ist pinkrot": Zahlenraumbilder und bunte Zahlen

51

Zusammenfassung. Es gibt Menschen mit ganz individuellen visuellen Reprasentationen von Zahlen. Einige "sehen" Zahlen, mit den en sie konfrontiert werden, unwillklirlich an einer be­stimmten Stelle einer mental en raumlichen Struktur. Andere verbinden mit den Zahlen ganz bestimmte Farben. 1m Artikel werden einige Beispiele derartiger visueller Reprasentationen von Zahlen vorgestellt und mit Bezug auf den Mathematikunterricht diskutiert.

Abstract. There are people with quite personal visual representations of numbers. Some "see" the numbers they are confronted unintentionally at a fixed place within a mental spatial struc­ture. Others associate specific colours with given numbers. In this article some examples of such visual representation are described and discussed with regard to the teaching of mathe­matics.

1. Einleitung

"Es passierte an einem ganz gewolmlichen Tag an einem gelb-blau geschmiickten Wahlkampf-Stand der Freien Demokraten. 'WeiBt du eigentlich, daB die FDP fUr mich 47 istT fragte Linde Schroder ihren Mann. 'Die Vier ist gelb und die Sieben blau.' Die Antwort ihres Mannes war ein entgeisterter Blick und ein unausgesprochener Verdacht. 'Er hat mich damals wohl fur eine liebenswerte Spinnerin gehalten', meint die 56jahrige riickwartsblickend" (Beckmann 1995).

"Schon in der Grundschule dammerte Sabine Sclmeider, daB ihre Wirklichkeit anders aussieht als die anderer Menschen. 'Wieviel ist eins plus einsT, hatte die Lehrerin an einem der ersten Schultage gefragt. Olme zu zogem rief Sabine: 'Dunkelgriin'" (Hak­kenbroch 2000).

George Bidder, Solm eines Ingenieurs, berichtete (vgl. Abb.1): "One of the most curious peculiarities in my own case, is the arrangement of the arithmetical numerals. I have sketched this to the best of my ability. Every number is always thought of by me in its own definit place in the series, where it has if I may say so, a home and an individuality" (Galton 1880,253).

Oberarbeitete Fassung meines Vortrags zum Gedenkkolloquium flir Herrn Prof. Dr. Hendrik Ra­datz am 9.September 1998 in Hannover

(JMD 22 (2001) H. 1, S. 51-71)

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"The representation I carry in my mind of the numerical series (vgl. Abb. 2) is quite distinct to me, so much so that I cannot think of any number but I at once see it (as it were) in its peculiar place in the diagram. My remembrance of dates is also nearly enti­rely dependant on a clear mental vision of their loci in the diagram. This, as nearly as I can draw it, is the following.

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It is only approximately correct (if the term "correct" be at all applicable). The numbers seem to approach more closely as I ascend from 10 to 20, 30, 40, &c. The lines em­bracing a hundred numbers also seem to approach as I go on to 400, 500, to 1,000. Beyond 1,000 I have only the sense of an infmite line in the direction of the arrow, lo­sing itself in darkness towards the millions. Any special number of thousends returns in my mind to its position in the parallel lines from 1 to 1,000. The diagramm was present in my mind from early childhood; .,. " (Galton 1880,253).

Die in den Zitaten beschriebenen Hihigkeiten - das Verbinden von Zahlen mit bestimm­ten Farben und das Reprasentieren von Zahlen in Zahlenraumbildem, die, einmal gebil­det, im wesentlichen unveranderlich sind - sind in der Psychologie unter dem Begriff "Synasthesie" seit langem bekannt (Galton 1880, Flournoy 1893, Katz 1913 und 1951, Muller 1913, Seron u.a. 1992).

Unter Synasthesien (Mitempfindungen) versteht man das "Hinuberwirken von Sinnes­eindrucken auf andere, nicht gereizte Sinnesorgane, z.B. das regelmaJ3ige Auftreten von Farbempfindungen beim Horen von Tonen und umgekehrt" (Hehlmann 1959, 461). Gerade uber das Farbenhoren wurde in den letzten Iahren mehrfach in den Medien be­richtet. So in der Wochenzeitschrift "DIE ZEIT" vom 12.9.1997: "Wenn Mozart farbig schillert." (Orzessek 1997) oder in der "Deister-Leine-Zeitung" vom 19.7.1997: "Wenn Piano-Tone rote Kugelblitze sind" (Lehmann 1997). 1m letzten Beitrag berichtet eine Synasthetikerin, die Buchstaben farbig sieht: "In der Schule hat mir das sehr geholfen. MuJ3te ich ein Gedicht auswendig lemen, pragte ich mir seine Farben ein. Dann war es ganz leicht, es zu behalten."

Synasthesien sind we iter verbreitet als man gemeinhin annimmt. Besonders unter Kunstlem gibt es zahlreiche Falle von Synasthesien. Ein Maler schmeckt Aromen als geometrische Formen. "Ich wollte, daJ3 der Geschmack dieser Hahnchen eine spitze Form hat, aber er ist ganz rund herausgekommen" (Cytowic 1997, 11). Lurija untersuchte den russischen Gedachtniskiinstler S.W. Schereschewsky. Dabei gingen sie gemeinsam den Weg zu einem Laboratorium. Lurij a fragte Schereschewsky spater: " 'Erinnem Sie sich an den Weg dorthin?' - 'Was glauben Sie denn,' antwortete er. 'Dieser Zaun da ist so salzig und rauh, und er hat einen so scharfen und durchdrin­genden Klang.' - Zu Wygotzkij sagte er einmal: 'Was fUr eine gelbe, miirbe Stimme Sie haben'" (Lurija 1993, 183). Es kommt vor, daJ3 Synasthetikerinnen ihre Mitrnenschen insgesamt farbig sehen. So erklarte mir unsere Institutssekretarin einmal, me in Sakko wiirde farblich nicht zu mir passen, ich muJ3te etwas tragen, was mit meinem "blauen Aussehen" harmoniere. Ahnli­ches auJ3erte eine Frau der HAZ gegenuber: "Wenn ich zum Beispiel einen Menschen kennenleme, und ich guck den an und bOre den Namen, dann klingt Farbe in mir aufund verschwindet wieder. Ah, sage ich mir, ein Hellgruner. Und dann heiJ3t dieser Mensch Braune, also das haut mich urn" (Beckmann 1995).

Was haben Synasthesien mit dem Lemen von Mathematik zu tun? Feste Zahlenraumbil­der und bunte Zahlen deuten offenbar auf Zusammenhange hin.

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2. Zahlenraumbilder bei Studierenden

Auf die Existenz bunter Zahlen wurde ich zum ersten Mal aufmerksam, als eine Lehrerin auf einem Fortbildungskurs 1987 tiber ihre Zahlvorstellungen berichtete. Als ich wieder­holt von bunten Zahlen erfuhr, habe ich 1992/93 angefangen, Studierende nach ihren Zahlvorstellungen zu befragen. Meine Frage an die Studierenden lautete: Was stellen Sie sich unter 19 bzw. 324 vor? In der Hoffnung, Belege fur bunte Zahlen zu erhalten, durfte die Frage nattirlich keinen Hinweis dazu enthalten. Die Antworten wurden notiert. Zeichnen und Malen war erlaubt. Den Reaktionen entnahm ich, daB fur viele diese Frage v61Iig neu war. Daruber hatten sie noch nie nachgedacht. Zu meiner Dberraschung bekam ich zunachst Hinweise auf ganz andere Phanomene: Es traten fur mich die ersten Zahlemaumbilder (Zahlendiagramme, eng!.: numberforms, kurz: Nt) auf. Was sind Zahlenraumbilder bzw. Zahlendiagramme? "Unter einem Zahlendiagramm versteht man ein visuelles Schema, in dem eine vorgestellte Zahl eine bestimmte Positi­on einnimmt" (Katz 1951, 13 7). Die Abb.l und 2 geben ein lineares und ein flachenhaf­tes Zahlenraumbild wieder. Hier zunachst weitere Beispiele von Studierenden.

Erstes Beispiel: (Studentin I.L.)

"Meine Zahlvorstellung sieht skizziert folgenderma13en aus:

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Der Hintergnmd ist dunkel. Ich bli.cke von der Null auf warts nach hinten, aIle Zahlen bis 100 erscheinen hintereinander (auch beim Rechnen). Ab 100 stehen die Zahlen neben­einander, von links nach rechts bis 10000, wobei unlogischerweise die 1000 die Mitte bildet. Ich zahle in 1000er-Schritten weiter bis 10000. Wird nach der Zahl 1200 gefragt, greife ich den Bereich zwischen 1000 und 2000 heraus und sehe ihn nebeneinander (Lu­pe in der Skizze). Ahnlich ist es mit Dezimalzahlen und Briichen."

Zweites Beispiel: (Studentin C.S.)

"Meine pers6nliche V orstellung von Zahlen entwickelte ich als Kind. Die Zeit, in der ich lemte, die Uhr zu lesen, spielt dabei eine besondere Rolle. Bei uns zu Hause befand sich in der Kiiche eine Uhr mit rundem Ziffemblatt, auf der deutlich und schlicht die Zahlen standen. Diese kreisf6rmige Anordnung der Zahlen 1-12 blieb in meinem Kopfhangen. Beim Rechnen in der Grundschule war mir diese raumliche Anordnung eine Hilfe. Die Zahlenreihe erweiterte sich im Laufe der Zeit. Wie die weitere raumliche Anord­nung der Zahlen 13 bis 100 entstanden ist, weiI3 ich nicht.

Abb.4

Ich sehe die Zahlen 1-100 dreidimensional in einem Raum, wobei kein logisches oder durchstrukturiertes System der Anordnung besteht. Allerdings ist die Anordnung immer gleich. Ich sehe nur aus verschiedenen Perspekti­ven: z.B. nehme ich den Standpunkt der lOGruppe ein, wenn ich die 30 und 40 betrach­teo (Kaum zu erklaren.)"

Drittes Beispiel: (Studentin S.S.)

"Mein Zahlenraumbild ist eine Art Leiste, auf der die Zahlen in Schwarz zu lesen sind,

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jedoeh jeweils auf einem farbigen Untergrund (einem Brettspiel ahnlieh)! Die Zahl selbst, mit der ieh mieh besehaftige, hat eine hellere Farbe als die umliegenden Zahlen, die ieh mit dieser Zahl gleiehzeitig sehe. Ieh befmde mieh sozusagen auf der gleiehen Hohe mit der "Zahl" und sehaue an der Leiste hinauf und hinunter. Die Leiste lauft in den Raum hinein, also von mir weg. Sie hat kein definiertes Ende.

Abb.5

Es ist schwer zu zeichnen, denn es kommt immer darauf an, wieviel Zeit man hat, sich das Bild vorzuste11en. Dieses Bild ist/wird immer undeutlicher, je gro13er die Zahlen sind, z.B. 324. Ieh finde es hilfreieh, wenn ieh mir Zahlen merken sol1, aueh in meinem Job hilft es mir beim Weehselgeld herausgeben. Ieh sehe diese Zahlen und kann sie mir wieder ins Ge­daehtnis rufen anhand des Bildes in meinem Kopf. Allerdings hatte ieh seit der as Sehwierigkeiten mit dem Reehnen, weil dort mein Zah­lemaumbild bei Kommastellen und bei der Bruehreehnung nieht immer funktioniert hat. Ieh mag generell Zahlen gar nieht."

Die Aussagen der Studierenden - einsehlie13lieh der, die hier nieht angefuhrt werden -ranken sieh mehr oder weniger urn folgende Stiehworte: auf Aussehen und erstes Auf­treten von Zahlemaumbildem, ihre Verwendung und Bedeutung, ihre Verbreitung in der Familie und auf im Unterrieht benutzte Reehenarheitsmittel. Allerdings sehrieb niemand zu allen Stiehworten. Vielmehr wurde subjektiv das notiert, was bedeutsam ersehien oder gerade einfiel. Dadureh gingen sieher wiehtige Informationen verloren. Aufgrund dieser Erfahrungen habe ieh einen vorlaufigen Fragenkatalog zusamrnengestellt, urn die Aussagen tiber Zahlemaumbilder gezielter samrneln zu konnen. Ein analoger Katalog fUr bunte Zahlen folgt im neunten Beispiel.

1m folgenden Beispiel also die beantworteten Fragen einer Studentin.

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Viertes Beispiel: (Studentin K.T.)

Vorweg sei gesagt, daB diese Studentin ihr Zahlenraumbild wegen der Dreidimensiona­IWit nicht zeichnen wolltelkonnte. Es wlirde nicht stimmen. Daflir bastelte sie mir aus Draht ein entsprechendes Modell.

Wie sieht rhr Zahlenraumbild aus? (Zeichnen und beschreiben Sie es bitte so genau wie moglich.) "Am bestem mit gebogenem Draht. Denn es ist 3D und nur schlecht zu zeichnen."

Seit wann haben Sie das Zahlenraumbild? "rch denke, solange ich zahlen kann. Mir war es nur nie so bewuBt. Ich dachte, das hat jeder Mensch. Und die, denen ich es erzahle, verstehen es nicht und lachen."

Bei welchen Gelegenheiten ist es hilfreich (beim Merken, Zahlen, Rechnen)? "V or aHem beim Zahlen. Beim Rechnen, aber nur "kleines Ein-mal-eins" und Addi­tion. Jedoch nicht mit 3-stelligen Zahlen. Da sehe ich die Zahlen auf der Kurve im Raum, und weiB, wo das Ergebnis liegen mul3."

Bei welchen Gelegenheiten ist es storend? "Storend ist es nicht. Vielleicht ein Problem, da ich die komplexeren Zahlengebilde und Formeln (ich studiere Physik) nicht mehr in diese Struktur einordnen kann. Das ist schade."

Erinnem Sie sich an rhre Rechenarbeitsmittel im 1.12. Schuljahr? Mit welchen Re­chenarbeitsmitteln rechneten Sie gem, mit welchen nicht? - Warum? "Rechenstabchen habe ich nicht benutzt. Auf dem Lineal habe ich Zahlen addiert, Finger abgezahlt. Nur wenn ich zahlen sollte, bin ich meine Kurve abgelaufen, wul3te also, ob ich jetzt Rechtskurve mache oder geradeaus und welche Zahl folgt. Mathe­matische Zahlenstrahle "biege" ich mir im Kopfin meine Kurve/Raum zurecht."

Gibt es Zahlenraumbilder in Ihrer Verwandtschaft? "Meine Mutter hat das auch, aber eine ganz andere Form als bei mir. Sie wuf3te es bis dahin nicht, als ich sie darauf aufmerksam gemacht habe."

Fallt Ihnen in diesem Zusammenhang noch etwas ein? "Ich kann dieses Raumbild nicht exakt darstellen fUr andere. Z. B. der gebogene Draht ist kein 100%iger Erfolg fUr mich. Wenn ich esversuche darzustellen, bin ich immer unzufrieden. Aber im Kopf existiert es perfekt. Ganz deutlich sind Zahlen von 0 - 100. Was weiter weg ist, verliert sich irgendwo im Raum, ich kann aber genau sagen, wo z.B. I Million ist. Die Zahlen selbst sind nicht raumlich, sie befinden sich nur im Raum. Ich sehe auch die Form der 1 nicht, weiB aber genau, daB es die 1 ist. Das Raumbild bleibt auch fest. Ich kann es nicht andem oder verbiegen wollen .... Ich glaube alles, was mit einer Anreihung/Abfolge von Zahlen zu tun hat, ist fUr mich raumlich vorstellbar. Das Zahlenraumbild tritt im Zusammenhang mit Farben auf, also ich ordne der Zahl eine best. Farbe zu mit einem best. Platz im Raum."

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Fiinftes Beispiel: (Studentin, anonym)

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K. Rickmeyer

Abb.6

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3. Zusammenfassende und erganzende Bemerkungen zu den Zahlenraumbildern

Die hier und in der Literatur zitierten Zahlenraumbilder sind individuelle, sehr vielge­staltige Konstruktionen. Die Zahlen sind haufig linear im Raum angeordnet, oft von links nach rechts, aber nicht grundsatzlich. Die lineare Anordnung ist selten eine Oerade. Daneben gibt es auch flachenhafte Anordnungen in der Ebene und im Raum. Ein einrnal konstruiertes Zahlenraumbild ist weitgehend fest, Erganzungen oder Veran­derungen sind offenbar selten. Die Zahlen haben meistens nicht den gleichen Abstand voneinander. Manche Diagram­me reichen nur bis 100, andere bis 200 oder 1000 oder noch we iter. Oft verliert das Dia­gramrn im Bereich der grol3eren Zahlen an Klarheit. Manche Zahlenraumbilder weisen Helligkeitsunterschiede auf, die das Orientieren erleichtern (die Stellen fUr 10, 20, 30, ... sind die hellsten, die Stellen von 1, 11, 21, 31, ... sind die dunkelsten oder nur die be­trachtete Zahl erscheint hell). Es gibt auch Personen mit bunten Zahlen oder bunten Stellen im Diagramrn. Manche verfligen zusatzlich uber andere Diagramrne wie Jahres-, Wochen- oder Tagesdiagramrne (vgl. Abb. 6). Das Aussehen eines Zahlenraumbildes liefert manchmal Hinweise auf seinen Ursprung. Es wird angenomrnen, dal3 Zahlenraumbilder vielfach, durch Wahrnehmungen in der Vorschulzeit entstehen, bei denen Ziffern in bestimrnter raumlicher Anordnung auftre­ten, etwa bei Uhren (vgl. Abb. 1 und 4) oder Kalendern. Das Bild in Abb. 2 hingegen kann auch in der Schulze it entstanden sein. Hier wird moglicherweise der Einflul3 von Arbeitsrnitteln zur Veranschaulichung von Tausendern deutlich. Es sind sogar Zahlen­raumbilder aus der Zeit "vor der Kenntnis der Ziffern und vor dem Erwerb der Lesefa­higkeit" belegt (Muller 1913,120).

Zahlenraumbilder werden einerseits beim Zahlen und beim Aufsagen der Zahlenreihe benutzt. Andererseits dienen sie dem Einpragen und Merken von Zahlen bzw. von Zwi­schenergebnissen. So berichtet ein Primaner: "Wir mussen zu morgen den Brief 17 Friedrichs d.Or. lesen; auch diese Zahl habe ich mir auf der Zahlengeraden gemerkt, da ich sie sonst sicher vergessen wurde" (Jaensch & Althoff 1939, 141).

Zahlendiagramrne stellen auch eine Hilfe beim Rechnen dar. Die Studentin B.K. berich­tet: "Dariiber hinaus ist es hilfreich beim Kopfrechnen, denn ich weil3, hinter welcher Kurve mein Ergebnis liegen mul3." Die Aufgabe "707" hat sie - bevor sie das Ergebnis auswendig konnte - am Vorstellungsbild gelost: 3-7 = 21 wul3te sie schon. Von der 21 ging es dann in 7er-Schritten weiter. Die 49 wurde anschliel3end als Ergebnis auf dem Diagramrn sichtbar. In der Literatur find en sich weitere Beispiele. " ... in order to realize '7 + 4', she first superimposes from the beginning of her N f ( numberform = Zahlen­raumbild, der Autor) a kind of grey transparent seven-step rectangle, then she transports a four-step rectangle (also constructed from the beginning of the Nt) to the end of the seven-step rectangle and finally looks where the result is" (Seron 1992, 169). "Uid. solI 25 und 17 addieren. Sie sieht zuerst die 25 und dann die 35 in ihrer Stelle im Diagramrn und geht dann uber die Stelle der hell beleuchteten 40 'mit einem kleinen Ruck' zu der Stelle 42" (Muller 1913, 143). "Sie soIl 72 durch 6 dividieren. Sie sieht die Diagramrn­stellen von 6, 12, 18 usw. bis 72 vor sich und gibt die Zahl 12 an, weil sie wisse, 'dal3 dies die richtige Zahl ist''' (Muller 1913, 144). Das Umsetzen numerischer Angaben ins Raumliche scheint eine grol3ere Anschaulichkeit zu bewirken. Allerdings wird auch von

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Schwierigkeiten beim Kopfrechnen berichtet, weil man immer erst mit den entsprechen­den raum1ichen Vorstellungen zu Rande kommen mul3. Die Verwendung von Zahlen­raumbi1dem kann auch die Kommunikation im Unterricht beeintrachtigen und so zu Problemen flihren. Hierzu berichtet Katz von drei an Volksschulen tatig gewesenen Personen, die ihm mitteilten, "der von ihnen erteilte Rechenunterricht sei in der ersten Zeit sehr mange1haft gewesen, wei1 sie bei demselben, ja sogar bei ihren Erlauterungen der verschiedenen Rechenoperationen, von der Voraussetzung ausgegangen seien, dal3 ihreSchiiler oder Schiilerinnen gleichfalls tiber Zahlendiagramme verfligten und diesel­ben in gleicher Weise benutzen k6nnten, wie sie se1bst ihre Zahlendiagramme verwen­den" (Katz 1913,54).

Auf einige Besonderheiten sei noch hingewiesen: 1m ersten Beispiel erwahnt die Stu­dentin, dal3 Zahlen, die in der Vorstellung zunachst nicht zu sehen sind, durch Zoomen des entsprechenden Bereiches sichtbar werden. An anderer Stelle berichtet eine andere Person, dal3 ihr Diagramm von einem vor ihrer Brust Jiegenden Punkt ausgehe und unge­rahr parallel zum Ful3boden nach vom hin verlauft. Mul3 sie eine gr6l3ere Zahl betrach­ten, deren Stelle sie yom gegenwartigen Standpunkt nicht mehr genau ausmachen kann, dann wechselt sie den Standpunkt: Sie schwebt dann uber der fraglichen Stelle (Muller 1913,93). Zah1emaumbilder werden offenbar auch dann verwendet, wenn gr6l3ere Zahlen betrach­tet werden mussen, das Diagramm aber nur bis zu einer bestimmten Stelle ausgebildet wurde. Reicht es etwa nur bis 100 und die Zah1 53678 soli behalten werden, so wird das Diagramm z.B. folgendermal3en benutzt: Man merkt sich 53 und 78 im Diagramm und die 6 in der Mitte wird so (!) behalten.

Abb.7

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Fig. 14. Zahlendiagramm. Au.: Kat z:, Psychologle und malhcmatlscher Unterrlcht (Verlag von

B. O. Teubner, LelpzJg).

In der mathematikdidaktischen Literatur werden Zah1emaumbilder schon 1919 erwahnt: "Es gibt Personen, die zwangsmal3ig bei Zahlvorstellungen die Zahlen einem ganz be-

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stimmten, visuellen Zahlenschema einordnen .... Wenn der Person mit einem solchen Diagramm eine Zahl genannt wird, so wird der Zahl unwillktirlich eine ganz bestimmte Stelle in dem Diagramm zugeordnet" (Lietzmann 1919,143). Die zur Illustration dieser Textstelle eingefUgte Abbildung (Abb. 7) hat Lietzmann von Katz (1913) iibernommen.

Urspriinglich aber stammt die Abbildung von Flournoy (1893,165; Abb.8):

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Katz (1913, 143) hat diese Abbildung also "entfrachtet", insbesondere hat er dabei auch das flachenhafte Zahlenraumbild weggelassen. Diese Tatsache ist deswegen erwahnens­wert, weil auch Breidenbach diese verkiirzte Abbildung von Lietzmann oder Katz uber­nommen hat. Fur das erste Rechnen empfiehlt Breidenbach (1957, 77) den Lehrgang nach Hermann Haase. Als Veranschaulichungsmittel wird hier die line are Reihe in Form der Haase' schen Rechenlatte benutzt. Zur Begriindung der Eignung der Iinearen Reihe bzw. der Rechenlatte stUtzt sich Breidenbach (1957, l25ff) auch auf Zahlendiagramme. Er behauptet: "N iemals sind bisher flachenhafte Zahlendiagramme bekanntgeworden." Diese Aussage ist aber falsch. Breidenbach kennt offensichtlich nur die entfrachtete Abbildung und nicht das Original bei Flournoy.

In neueren deutschen Beitragen zum Mathematikunterricht werden Zahlenraumbilder dieser Art m. E. nur von Griesel (1971, 176) und von Lorenz (1987 und 1992, 138ff) angesprochen. Griesel weist auf ihre Bedeutung fUr das Kopfrechnen hin, Lorenz disku­tiert sie im Zusammenhang mit Veranschaulichungsmitteln und im Zusammenhang mit Lernbehinderungen. Den Begriff "Zahlenraumbild" habe ich von Lorenz tibernommen.

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Beitrage zu synasthetischen Phanomenen generell kamen in den 50iger lahren aus der allgemeinen Psychologie (z.B.: Katz 1951, Anschutz 1953, Werner 19594

, Zietz 19583).

Dabei stand u.a. die Farb-Ton-Synasthesie (wie Farbenh6ren) im Zentrum der UberIe­gungen. Auch farbige Zahlen (siehe unten) und farbige Buchstaben wurden erwahnt, sehr selten dagegen Zahlenraumbilder (Katz 1951).

Die heutige Diskussion hat sich von der allgemeinen Psychologie weg zur kognitiven Psychologie und besonders zur Neuropsychologie verlagert (etwa: Cytowic u.a. 1982a und 1982b, Cytowic 1997, Dehaene 1997). Neuropsychologische Studien befassen sich zunehmend mit dem Lemen und Verarbeiten mathematischer Inhalte und gewinnen wachsende Bedeutung (Bauersfeld 1998).

4. Bunte Zahlen bei Studierenden

Was sind bunte Zahlen bzw. Chromatismen? Synasthesien auf optischen Gebiet werden als Synopsien oder Photismen bezeichnet. Die Psychologen zahlen zu den Synopsien zum einen die schon bekannten Diagramme und zum anderen die Chromatismen. "Stellt sich im Anschlu13 an einen akustischen oder visuellen Eindruck eine Farbvorstellung ein, so spricht man von einem Chromatismus" (Katz 1951, 137). Zunachst wiederum einige Beispiele von Studierenden.

Sechstes Beispiel: (Studentin C.H.)

"Seitdem ich mich erinnern kann, sehe ich Zahlen, Buchstaben und W6rter sowie Tage und Namen in Farben. Es sind bestimmte Farben und schon immer die gleichen. Es ist schwer, die Farben zu beschreiben, da es in unserer Sprache oft keine Bezeichnungen flir bestimmte Farben gibt.

Die Farben meiner Zahlen sind folgende: 1 - gelb 6 - blau 2 - orange 7 - pinkrot 3 - blutrot 8 - dunkelbraun bis schwarz 4 - dunkelgrun 9 - ein braun zwischen 5 und 8 5 - hellbraun Die 0 ist wei13 bis durchsichtig.

Alle Zehnerzahlen sind somit 1 = gelb und der entsprechenden Farbe der Einer. Die Zahl 19 ist 10 + 9 = gelb-mittelbraun. 324 sehe ich als blutrot-orange-dunkelgrun. Die Zeh­ner, Hunderter usw. sind immer nach den entsprechenden Farben der Einer gerarbt. Eine mehrstellige Zahl hat also nie eine Farbe, es sei denn sie besteht aus nur einer Art von Ziffer. 666 ist zum Beispiel vollkommen blau.

Ich habe erst vor ein paar lahren entdeckt, daJ3 nicht aile Menschen Zahlen und W6rter in F arben denken.

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Eine Freundin, die ebenfalls Farben sieht, sagte mir, daB sie he ute noch die Farben des Rechenkastens der Grundschule im Kopf hat und die Zahlen mit dies en vorgegebenen Farben identifiziert. Mir ist dabei bewuJ3t geworden, warum ich nie mit dem Rechenkasten rechnen wollte und konnte, ich fand ihn falsch. Die Farben brachten mich durcheinander. Vielleicht hatte es mir geholfen, meine eigenen Farben anzuwenden, denn heute ist mir bewuBt, daJ3 ich mir zum Beispiel Telefonnummem und Hausnummem immer mit Farben merke. Wenn ich eine Nummer vergessen habe, erinnere ich mich oft nur noch an ein braun am Anfang oder ein blau in der Mitte oder Ahnliches.

Beim Rechnen sehe ich niemals 6 + 4 vor mir, sondem blau + grun = gelbweiJ3 (10). 1m kleinen Einmaleins denke ich zum Beispiel bei 3-7 = 21: blutrot mal pinkrot gleich orange-gelb. 1m Fall der Division ist die orange-gelb also durch blutrot teilbar.

Diese anschauliche Art des Denkens fallt mir bei mir immer wieder auf. In der Schule war es immer so, daB mir aile Mathethemen, in denen es urn das Sichvorstellenkonnen ging, leicht fie len (z. B. Geometrie in allen Formen). Wenn es dann allerdings urn ab­strakte Dinge ging, die ich mir durch Farben, Zeichnungen und andere Hilfen nicht er­klaren konnte, war ich sofort an meinen mathematischen Grenzen (Mathe in der Ober­stufe)."

Siebtes Beispiel: (Studentin S.G.)

"Was stelle ich mir unter folgenden Zahlen vor: 19, 321? Zahlen stehen fur mich zunachst immer in Verbindung mit Farben. Das heiJ3t, wenn ich den Namen einer Zahl hore oder eine Zahl geschrieben sehe, erscheint diese Zahl im Kopf immer in einer bestimmten Farbe. So ist z.B. die Zahl 1 fur mich weiJ3, 9 dagegen karminrot. Die Zahl 19 erscheint dann in weiJ3-rot. Die Zahl 19 ist fUr mich faJ3barer als die Zahl 32l. Nicht nur, weil ich mir die Menge genauer vorstellen kann, sondem damit verbinde ich auch andere Dinge, z.B. 19. Ge­burtstag."

Achtes Beispiel: (Schiilerin L.W.)

Den ersten Beleg fUr bunte Zahlen erhielt ich von einer Studentin, die von den farbigen Zahlen ihrer damals zehnjahrigen Tochter berichtete. Sie selbst verfUgte auch tiber farbi­ge Zahlen, allerdings nicht so ausgepragt wie ihre Tochter. Auch die Farb-Zahl­Zuordnung war bei ihr eine andere. Die Tochter malte zu den Zahlzeichen Farbkleckse. Gab es unter ihren Buntstiften die entsprechende Farbe nicht, versuchte sie die Farbe zu beschreiben. Aus drucktechni­schen Grunden fehlen hier die Farbkleckse.

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Zahlenraumbilder und bunte Zahlen 65

0 weiJ3 8 kraftiges lila 1 helles gelb 9 tristes kackbraun (vor einer Woche:

grau) 2 helles rot 10 kackbraun-marmoriert 3 griin II grau 4 rot 12 kackbraun 5 blau 13 heUes gelb fUr die 1 und griin fUr

die3 6 schwarz-lila 100 he lies gelb - weiB - weiJ3 7 richtiges gelb III ganz helles gelb

112 heUes gelb - kackbraun

374 z. B. sieht so aus: die 3 ist griin, die 7 gelb und die 4 rot. "Seit wann die Zahlen Farben haben, weiB L. nicht. Sie findet die Cuisenaire-Stabchen lastig; sie hat sie nie verwendet und schlagt vor, jedes Kind soUte seine eigenen Stabchen aus Holz oder Pap­pe gemaJ3 den eigenen Farben bemalen durfen."

Neuntes Beispiel: (Studentin K.T.)

K.T. verfiigt nicht nur uber ein Zahlenraumbild (4. Beispiel), sondem zusatzlich uber eine intensive Farbung der Zahlen.

Sie verbinden Zahlen mit Farben. Wie sehen bei Ihnen die Farben der Zahlen von 1 bis 14 aus? Wie sieht 324 aus? "Das ist so ein Problem. Es gibt Farben fUr meine Zahlen im Kopf, die kann ich nicht beschreiben. Es gibt so eine Farbe als Farbton nicht. Aber einiges geht. Die 1 ist dunkel, 2 ist gelb, 3 ist ein schones, helles Blau, griin ist die 5, 6 ist wieder dunkel, aber ein "warmes" Dunkel (rot oder braun), 7 ist irgendwie weimot, 14 ist blau (dunkel), 16 dunkelrot, 20 strahlendes Gelb, 28 knallrot. Ab 100 sieht alles leuchtend grau, aber irgendwie auch bunt aus. (Sehr schwer zu beschreiben.) 324 hat zwar einen festen Platz. Aber ich kann keine Farbe zuordnen."

Seit wann sind bei Ihnen die Zahlen farbig? "Schon immer. Zahlen muss en bunt sein. Ohne Farbe funktioniert es nicht. Deswe­gen fand ich es auch sehr erstaunlich, daB nicht jeder Mensch Zahlen farbig sieht."

Wann haben Sie bemerkt, daB nicht alle Menschen Zahlen farbig sehen? - Bei wel­cher Gelegenheit war das? "Beim Studium, als ich mit einem Bekannten dariiber geredet habe, und er mir von der Vorlesung erzahlt hat. Also erst mit 20. Bis dahin dachte ich, es ist nichts Beson­deres. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daJ3 es diese Farben und dies en Raum nicht geben soil."

Haben die Farben beim Rechnen gestort oder waren sie eine Hilfe? Etwa bei 3 + 4 oder bei 5 • 6? - Konnen Sie den Rechenweg beschreiben?

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"Beim Rechnen war es ganz gut. Ich weiI3 also, daI3 10 + 5 etwas Tiirkises auf einer leichten Linkskurve nach oben sein muI3. Also 15. Aber eigentlich ist immer erst das Ergebnis/Zahl da und danach Farbe und Raum."

Fallt Ihnen noch etwas im Zusammenhang mit Ihren bunten Zahlen ein? "Farben treten stets im Zusammenhang mit raumlichen Bildem auf. Nur beides zu­sammen stellt flir mich die Zahlen richtig dar. Bei Addition und Multiplikation usw. stellt die Farbe des Ergebnisses nicht die Mi­schung der Farbe der SummandeniFaktoren usw. dar. Es hat jede Zahl eine eigene Farbe, auch wenn ich einige nicht beschreiben kann oder ganz klar sehe. Wenn zum Beispiel ein Zahlenstrahl mit bunter Farbe gemalt wird, paI3t das meistens nicht mit meinem Bild iiberein, und ich bin dann nicht zufrieden. Die Farben flir Zahlen sind bunt durcheinander, nicht so: Von 0 ganz hell bis 100 ganz dunkel den Farbkreis durch. So nicht. Anders he rum funktioniert es nicht: Ich kann Farben keine Zahl zuordnen. Ich glaube aber, daI3 ich Farben mit etwas in Verbindung bringe, vielleicht mit Licht oder Schmerz. Kann ich so schwer beschreiben. Wenn ich z.B. das Wort "Orange" hore, stelle ich mir etwas vor, aber nicht unbedingt das Orange, was es ausdriickt. Vielleicht ist es irgendein Geflihl. Einige Farben sind mir auch sehr unsympathisch. Genau wie mir einige Zahlen unsympathisch sind, z.B. 71. Ich weiI3 nicht warum. Ich mag die Zahl nicht. Sie hat auch keine Farbe zugeordnet bekommen. Wahrscheinlich, weil sie keine Farbe hat. Einen Platz im Raum haben alle Zahlen, nur nicht immer ei­ne Farbe."

Zehntes Beispiel: (Studentin, anonym)

Sie beschreibt ihre Farb-Zahl-Zuordnung folgendermaI3en:

"1 schwarz (nur schwache Vorstellung von der Farbe dieser Zahl) 2 weiJ3 3 gelb 4 rot 5 griin 6 blau (Die Farben flir 2 bis 6 kann ich allerdings nicht genauso in meiner Vorstel­

lung wiedergeben.) 7 schwer zu sagen; am ehesten wlirde ich dieser Zahl ein ganz unscheinbares, helles,

verwaschenes, fast weiI3es hellblau zuordnen; 8 ein rotlicher Farbton in der Farbe lila 9 dunkelbraun 10 etwas Schwarzliches (dieses ist bei mir wieder schwer vorstellbar) 11 die Zahl 11 ist nur sehr schwer vorstellbar; am ehesten ist es ein unscheinbarer

orangefarbener Farbton; 12 beim Betrachten der Ziffem schwache "schwarze" Vorstellung von der Zahl 1, und

die Ziffer 2 ist weiI3; 13 vorwiegend gelb; flir die Zahl 1 ein wenig schwarz; 14 vorwiegend rot; das aber kaum auffallt."

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Bei der Zahl 324 tritt nUh etwas Merkwurdiges auf, das m.E. bisher in der Literatur noch nicht beschrieben wurde: " Wenn ich mir die 324 im Kopf vorstelle, ohne sie gedruckt auf dem Papier zu sehen, dann ist die 3 gelb, aber bei der 24 bin ich geneigt, sie mir als 4-6 vorzustellen und sie so mit den Farben rot (4) und blau (6) zu assoziieren." Hier wird nicht jede Ziffer in ihrer Farbe gesehen. "Wenn ich einen rotlgronen Stabmagneten (oder auch Hufeisenmagneten) sehe, denke ich an die vier (rot) und die flinf (gron). Dabei ist es mir angenehmer, wenn das Rote links und das Grone rechts liegt, da ich ja auch von links nach rechts lese und die vier kleiner als die fUnf ist." Die Studentin verbindet also nicht nur Zahlen mit Farben, son­dem auch umgekehrt Farben mit Zahlen. Erst im 13. Schuljahr hat die Studentin mit einer Klassenkameradin uber ihrer Farbzah­len gesprochen. "So hatte ich all die Jahre keine Vergleichsmoglichkeit. rch habe komi­scherweise auch nie vermutet, das andere Menschen farbige Zahlen sehen, weil mir das schon immer als individuelle Angelegenheit erschien. In der 13. Klasse kam ein Ge­sprach mit einer Mitschiilerin irgendwie dazu, daB ich meine Eigenart auBerte. Die Mit­schiilerin interessierte sich zu me in em Erstaunen sehr dafiir und sagte, das sei ja ko­misch. Aus ihrer Verwunderung schloB ich also, daB sie seIber keine farbigen Zahlen hatte. So war also meine Vermutung, daB die Sache sehr individuell ist, bestatigt." Auch in diesem Punkt unterscheidet sich die Student in von den anderen Farbsehem, die in aller Regel zunachst glauben, daB auch die anderen uber diese Fahigkeit verfUgen. Die Farben haben nie gestort. "Geholfen haben sie mir dagegen in wenigen Fallen, z.E. urn die Vorwahl meines Wohnortes von ahnlichen und wichtigen Vorwahlen zu unter­scheiden.

°151711' ::26, 05724, ... J. t weiB b.~aulich, fast weiB

grun Luft; "Die Null ist fUr mich iibrigens einfach Luft."

Beim Lemen von zwei ahnlichen und leicht zu verwechselnden Geschichtszahlen hat mir die Farbabfolge bei der Unterscheidung geholfen. Das war in der 8. Klasse. Da die Zahlen mit Tinte geschrieben in meiner Mappe standen, waren die Farben komischer­weise etwas schmuddelig und verwaschen." "Wenn ich ... 3 - 4 oder 2 - 6 rechnen so lIte, hatte ich zwar Farbvorstellungen zu diesen Ziffem und habe dabei auch noch an die 12 gedacht." Sowohl Aufgabe als auch Ergebnis wurden farbig gesehen. Die Farbe war beim Rechnen aber keine Hilfe. "AuBer dem Schulbuch hatten wir keine Rechen­materialien .... Wenn ich aber mit Cuisenaire-Staben hatte arbeiten mussen, waren die mir bestimmt lastig gewesen, auBer sie hatten von ihren Langen her die fUr mich passen­den Farben gehabt."

5. Zusammenfassende und erganzende Bemerkungen zu den bunten Zahlen

Die hier und in der Literatur zitierten Beispiele zeigen, daB es sich bei den bunten Zahlen ebenfalls urn individuell sehr unterschiedliche Konstruktionen handelt. Fur den Mathe-

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matikunterrieht insbesondere in der Grundsehule bedeutsam ist die feste Farb-Zahl­Zuordnung, die von Person zu Person versehieden und oft nieht treffend zu besehreiben ist, da unsere Spraehe fUr die vielfaltigen Farbnuaneen keine Namen kennt. Bei Arbeits­mitteln fUr den Erstreehenunterrieht wie den Cuisenaire-Staben, die Zahlen mit Farben koppeln, ist es nieht ausgesehlossen, daJ3 bei Kindem mit einer anderen festen Farb­Zahl-Zuordnung Probleme auftauehen kannen. 1m siebten und neunten Beispiel wird ausdmeklieh darauf hingewiesen. Die Beispiele zeigen aueh, daJ3 die manehmal geau­J3erte Feststellung, die Zahlen werden mit zunehmender GroJ3e dunkler, so allgemein nieht stimmt. Bemerkenswert ist weiterhin, wie die Zahlen farbig erseheinen. So beriehten einige Chromatismatikerinnen, daJ3 sie die Ziffem farbig sehen, andere sehen nur mehr oder weniger intensive Farbfleeken, die aber die entspreehenden Zahlen exakt kennzeiehnen. Manehe sehen nieht aIle Zahlen farbig, sondem nur ihre Lieblingszahlen oder personlieh wiehtige Daten wie Geburtstage usw. Aueh bei den ersten zweiziffrigen Zahlen gibt es Untersehiede. Sehr haufig treten hier zwei Farben auf, fUr jede Ziffer die zugehorige Farbe. In einigen Fallen sind die ersten zweistelligen Zahlen einfarbig und ab einer bestimmten Stelle (z.B ab 12 oder aueh 13) erst zweifarbig. Aul3ergewahnlieh ist aueh die farbliehe Darstellung dreistelliger Zahlen im zehnten Beispiel.

"Seitdem ieh mieh erinnem kann, sehe ieh Zahlen ... in Farben." Diese Aussage der Studentin aus dem seehsten Beispiel weist auf die Entstehung in der Vorsehulzeit hin. Andere Aussagen wie "Schon immer. .. " (9. Beispiel) stUtzen diese Annahrne. Aueh der Hinweis auf die Cuisenaire-Stabe zeigt, dal3 diese sehr individuellen FarbvorsteIlungen wohl vor der Sehulzeit erworben werden. Dabei kannen Klangverwandtsehaften zwi­schen Zahlnamen und Farbnamen (deux - bleu) eine Rolle spielen. Die Tatsache, daB es Personen gibt, die nur fUr Zahlen, die eine personliehe Bedeutung haben, Chromatismen besitzen, weist auf ein "affektives Moment" hin, das Chromatismen auslost (MuIler 1913, 183). Einige Aussagen im neunten Beispiel deuten eine "affektive Empfanglieh­keit" an.

Farbige Zahlen helfen beim Aufsagen der Zahlenreihe uber das Durehlaufen der Farb­folge. Sie helfen aueh beim Merken von Telefonnummem, Hausnummem, ... (6. und 10. Beispiel). Offensiehtlieh spielen sie beim Reehnen keine grol3e Rolle. Moglieherweise aber tragen sie zur Fehlererkennung bei. Wird etwa 3 • 4 = 11 gereehnet, so konnte der ungewohnte Farbeindruek der Gleiehung einen Fehler vermuten lassen. Aus der Reeht­sehreibung sind analoge Falle bekannt. "So z.B. habe sie einmal das Wort permanent mit 2 a's gesehrieben und dann gefunden, dal3 die begleitende Farberseheinung nieht blaJ3 genug sei" (Muller 1913, 184).

6. Schluflbemerkungen

Man konnte der Meinung sein, Zahlenraumbilder und bunte Zahlen seien Randersehei­nungen, weil man damber eigentlieh niehts gehort hat. Das liegt zum TeiI daran, dal3 Mensehen mit diesen Fahigkeiten nieht damber spreehen. DafUr gibt es untersehiedliehe Gmnde:

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Die Existenz bunter Zahlen wird von vie len fur etwas ganz Nonnales gehalten. So er­zahlte mir eine Studentin, daB sie uberhaupt erst sehr spat im Studium, als diese Thema­tik angesprochen wurde, bemerkt hat, daB nicht aile Menschen Zahlen bunt sehen. Manchmal sind es auch auftretende Widerspruche mit den eigenen Vorstellungen, die auf die Besonderheit der eigenen Zahlreprasentation aufmerksam machen. So erwahnt Katz (1913, 55): "Eine Studentin erzahlte mir, sie habe als Kind mit Sicherheit ange­nommen, Rot und Blau ergebe gemischt Grun, weil3 (rotes Chromatisma) und 4 (blaues Chromatisma) gleich 7 war, mit der ein grunes Chromatisma verbunden war." Auch diskriminierende Erfahrungen fUhren zum Schweigen. Hierzu berichtete mir eben­falls eine Studentin, daB ihr Freund, Student der Physik, als sie mit ihm tiber ihre Farbvorstellungen sprach, fragte, ob sie eigentlich ganz richtig im Kopf sei.

Synasthetische Wahmehmungen sind unwillkurlich, sie "konnen nicht unterdruckt wer­den. Sie widerfahren den Menschen einfach und konnen nicht willentlich hervorgerufen werden" (Cytowic 1997,95). Man kann eben nicht wie beim Horen eines Schlagers sich diese oder jene Urlaubslandschaft vorstellen und jederzeit wieder ausblenden. Auf den Mathematikunterricht bezogen: Man kann sich beim Losen einer Aufgabe eben nicht irgendein Arbeitsmittel vorstellen und, wenn es nicht hilft, es gegen ein anderes austau­schen. Mit dem Auftreten von Zahlen kommt auch das Zahlemaumbild, das man offen­sichtlich nicht ausblenden und auch nicht gegen ein anderes einwechseln kann.

Die Angaben zur Haufigkeit von Synasthesien differieren sehr stark. In meinen Veran­staltungen hatten mehrfach bis zu 5 % der Horer ausgebildete Zahlemaumbilder bzw. bunte Zahlen. In der Literatur finden sich sogar hahere Prozentsatze: "Galton considered that 3% of males and 6% of females presented NFs (Numberfonns = Zahlemaumbilder, der Autor); ... ,in our own study on a group of students in psychology, we find a percen­tage of 14% of subjects reporting the existence of visual representations for numbers" (Seron u.a. 1992, Seite 193). Auch Katz (1913,50) vennutet eine Haufgkeit von 14 % .

Diese Prozentangaben signalisieren, da13 Arbeitsmittel, so au13erordentlich niitzlich sie auch immer sein mogen, offenbar nicht fUr alle Lernenden hilfreich sein miissen. Es gibt Ausnahmen. Arbeitsmittel mit einer vorgegebenen Farb-Zahl-Zuordnung stellen fUr Kinder mit farbiger Zahlreprasentation sicherlich ein groBes Problem dar, weil sich die Farbzuordnungen in aller Regel nicht entsprechen. Sie konnen Lemschwierigkeiten verursachen. Lehrkrafte sollten deshalb diese mogliche Fehlerquelle kennen. Analoges gilt fUr die Zahlemaumbilder, weilll Arbeitsmittel benutzt werden, die nicht "passen". Auch das Verwenden eigener F arbvorstellungen oder Zahlemaumbilder im V ennitt­lungsprozeB ist nicht unproblematisch.

Wenn Arbeitsmittel zur Veranschaulichung als "Bindeglieder zwischen Vorwissen und Endverhalten" umso hilfreicher sind, "je besser sie an das Vorwissen der SchUler an­kntipfen und je gezielter sie zum Verstandnis des angestrebten Endverhaltens hinfuhren" (Schipper 1982, 106ff), dann benotigen wir eigentlich schon bei den Schulanfangem Infonnationen uber das Vorliegen synasthetischer Fahigkeiten.

Das fruhe Ausbilden von Zahlemaumbildem legt die Vennutung nahe, daB die betref­fenden Kinder moglicherweise beim Auftreten eines arithmetischen Problems selbstan-

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dig eine anschauliche Hilfe zum L6sen suchen und auch erfolgreich konstruieren. Das unterstreicht tibrigens die Bedeutung der Geometrie fUr die Arithmetik. Normalerweise sind Veranschaulichungen fUr viele Kinder keineswegs "aus sich heraus 'sprechende Bilder' sondem Unterrichtsstoff',. der von den meisten Kindem erst erlemt werden mull (Schipper 1982, 109). Erst danach k6nnen Veranschaulichungen eine Hilfe darstellen. Allerdings bleibt offen, inwieweit nicht schon Mathematik fUr das Verstehen der Veran­schaulichung notwendig ist.

Zahlemaumbilder reprasentieren Zahlen tiberwiegend in ihrer Beziehung zu anderen Zahlen. So wird 19 als zwischen 10 und 20 liegend gesehen, naher bei 20. Nur an weni­gen Stellen werden Situationen beschrieben, die tiber die relative Lage einer Zahl zu ihren Nachbarzehnem etwa hinausgehen. So z. B. bei der schon erwahnten AusfUhrung der Additionsaufgabe "7 + 4" (Seron 1992, 169) , bei der 7 und 4 jeweils als schmale Rechtecke im Zahlemaumbild hintereinandergelegt werden. Hier werden Zahlen offen­bar als Langen von Rechtecken verstanden: 7 als Lange des Rechtecks, das im Zahlen­raumbild von 0 bis 7 reicht. Uber Handlungen, die vorstellend am Zahlenraumbild aus­gefUhrt werden, ist leider zu wenig bekannt. W ie rechnen andere mit einem Zahlemaum­bild, wenn sie es denn benutzen? Treten dabei weitere Aspekte von Zahlen auf? Oder geschieht Rechnen hauptsachlich durch Weiterzalen? Nun scheint das zahlende Rechnen "fUr alle Menschen ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Wege zur Entwicklung wei­terfUhrender Strategien zu sein" (Radatz u.a. 1996, 40). Doch welche Hilfe bietet ein festes Zahlenraumbild zur Uberwindung des zahlenden Rechnens? Besteht hier nicht eine erhOhte Gefahr, am Zahlen hangen zu bleiben?

Lemschwierigkeiten k6nnen also nicht nur beim Verwenden nicht passender Arbeits­mittel zur Veranschaulichung auftreten, sondem auch dann, wenn man .auf das eigene Zahlemaumbild angewiesen ist.

Die Existenz von Zahlemaumbildem und bunten Zahlen stellt der Mathematikdidaktik eine Reihe von Fragen:

Wie kann man schon bei Grundschulkindem feststellen, ob sie tiber derartige Fahig­keiten verfUgen? \ Wie haufig treten sie wirklich auf? Wie wirkt sich bei diesen Kindem der Einsatz bestimmter Arbeitsmittel aus? Welche Besonderheiten in Lemsituationen fUhren zur Konstruktion ganz bestimmter Zahlenraumbilder bzw. zur Festlegung spezifischer Farb-Zahl-Zuordnungen? Uber welche Strategien verfUgen die Kinder, die weitgehend ihr Zahlemaumbild zum Rechnen verwenden? Oder die Farbe ihrer Zahlen? Und kann man diese Stra­tegien verandem, verbessem? Lassen sich bei Kindem mit Zahlenraumbildem oder bunten Zahlen spezielle Feh­lermuster ausmachen?

Sicherlich wird die Anzahl der Fragen mit der Zeit zunehmen. Insbesondere gilt es zu klaren, wie Zahlen "normalerweise" reprasentiert werden. Und welcher Zusammenhang mit den synasthetischen Phanomenen besteht.

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Literatur:

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44,159-196

Knut Rickmeyer Hegefeld 14 30890 Barsinghausen [email protected]