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DISKUSSION CHRISTOPH LANDERER „DIES IST ALLES SEHR BEÄNGSTIGEND“: NIETZSCHE, WAGNER, HANSLICK UND DIE „JÜDISCHE PRESSE“. ZU MARTINE PRANGES BEITRAG WAS NIETZSCHE EVER A TRUE WAGNERIAN? 1 Zusammenfassung: Der Beitrag untersucht den Kontext der Passage in Nietzsches Brief an Erwin Rohde (Ende Januar und 15. Februar 1870), die Martine Prange in: Nietzsche-Studien 40 (2011), S. 43–71, als Beleg für ihre These anführt, Nietzsches Verhältnis zu Wagner habe sich bereits im Februar 1870 abgekühlt. Der Kontext verweist jedoch ebenso auf Nietzsches beginnende Abkehr von der Philologie und seinen frühen Antisemitismus, der in Nietzsches Attacke auf die „jüdische Presse“ in der ursprünglichen Fassung des Vortrags Das griechische Musikdrama eine zentrale Idee von Wagners Pamphlet Das Judenthum in der Musik aufgreift. Ferner wird Nietzsches Rezeption des Wagnerschen Pamphlets thematisiert, die sein Verhältnis zur Formästhetik und im Besonderen seine Aneignung der Thesen Eduard Hanslicks verständlich macht. Schlagwörter: Richard Wagner, Eduard Hanslick, Antisemitismus, Musikästhetik, Philologie. Abstract: The paper discusses the context of the passage in Nietzsche’s letter to Erwin Rohde (end of January 1870 and February 15th 1870) that Martine Prange in: Nietzsche-Studien 40 (2011), S. 43–71, cited as evidence for a cooling off of Nietzsche’s relation to Wagner as early as Feb- ruary 1870. The context discussed also sheds light on Nietzsche’s turn against academic philo- logy and his early anti-Semitism. In February 1870, Nietzsche’s attack on the “Jewish press” in his lecture Das griechische Musikdrama took up an idea central to Richard Wagner’s pamphlet Judaism in Music. The paper further explores Nietzsche’s reception of Wagner’s pamphlet that is essential for a full understanding of Nietzsche’s relation to formal aesthetics and to Eduard Hanslick’s aesthetics of music in particular. Keywords: Richard Wagner, Eduard Hanslick, anti-Semitism, aesthetics of music, philology. Martine Prange weist auf einige wenig beachtete Kontexte von Nietzsches zögerlicher Hinwendung zu Wagner hin und erschließt mustergültig die Chrono- 1 Martine Prange, Was Nietzsche Ever a True Wagnerian? Nietzsche’s Late Turn to and Early Doubt about Richard Wagner, in: Nietzsche-Studien 40 (2011), S. 43–71. – Die Arbeiten zu die- sem Beitrag wurden im Rahmen des Projekts 14118 des Jubiläumsfonds der österreichischen Nationalbank gefördert. Brought to you by | University of Pennsylvania Authenticated | 165.123.34.86 Download Date | 9/27/13 4:50 PM

„Dies ist alles sehr beängstigend“: Nietzsche, Wagner, Hanslick und die „jüdische Presse“

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DISKUSSION

CHRISTOPH LANDERER

„DIES IST ALLES SEHR BEÄNGSTIGEND“:NIETZSCHE, WAGNER, HANSLICK UND DIE „JÜDISCHE PRESSE“.

ZU MARTINE PRANGES BEITRAGWAS NIETZSCHE EVER A TRUE WAGNERIAN? 1

Zusammenfassung: Der Beitrag untersucht den Kontext der Passage in Nietzsches Brief an ErwinRohde (Ende Januar und 15. Februar 1870), die Martine Prange in: Nietzsche-Studien 40 (2011),S. 43–71, als Beleg für ihre These anführt, Nietzsches Verhältnis zu Wagner habe sich bereitsim Februar 1870 abgekühlt. Der Kontext verweist jedoch ebenso auf Nietzsches beginnendeAbkehr von der Philologie und seinen frühen Antisemitismus, der in Nietzsches Attacke aufdie „jüdische Presse“ in der ursprünglichen Fassung des Vortrags Das griechische Musikdrama einezentrale Idee von Wagners Pamphlet Das Judenthum in der Musik aufgreift. Ferner wird NietzschesRezeption des Wagnerschen Pamphlets thematisiert, die sein Verhältnis zur Formästhetik undim Besonderen seine Aneignung der Thesen Eduard Hanslicks verständlich macht.

Schlagwörter: Richard Wagner, Eduard Hanslick, Antisemitismus, Musikästhetik, Philologie.

Abstract: The paper discusses the context of the passage in Nietzsche’s letter to Erwin Rohde (endof January 1870 and February 15th 1870) that Martine Prange in: Nietzsche-Studien 40 (2011),S. 43–71, cited as evidence for a cooling off of Nietzsche’s relation to Wagner as early as Feb-ruary 1870. The context discussed also sheds light on Nietzsche’s turn against academic philo-logy and his early anti-Semitism. In February 1870, Nietzsche’s attack on the “Jewish press”in his lecture Das griechische Musikdrama took up an idea central to Richard Wagner’s pamphletJudaism in Music. The paper further explores Nietzsche’s reception of Wagner’s pamphlet thatis essential for a full understanding of Nietzsche’s relation to formal aesthetics and to EduardHanslick’s aesthetics of music in particular.

Keywords: Richard Wagner, Eduard Hanslick, anti-Semitism, aesthetics of music, philology.

Martine Prange weist auf einige wenig beachtete Kontexte von Nietzscheszögerlicher Hinwendung zu Wagner hin und erschließt mustergültig die Chrono-

1 Martine Prange, Was Nietzsche Ever a True Wagnerian? Nietzsche’s Late Turn to and EarlyDoubt about Richard Wagner, in: Nietzsche-Studien 40 (2011), S. 43–71. – Die Arbeiten zu die-sem Beitrag wurden im Rahmen des Projekts 14118 des Jubiläumsfonds der österreichischenNationalbank gefördert.

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logie der Ereignisse. Sie kommt zu dem Schluss, Nietzsche sei überhauptnur fünfzehn Monate lang, von November 1868 bis Februar 1870, „a true Wag-nerian“ gewesen. Die Kürze dieses Zeitraums überrascht; aber es ist wahr-scheinlich nicht so sehr der unorthodox spät angesetzte Beginn eines innigenVerhältnisses als dessen verblüffend früh angesetztes Ende, das viele Nietzsche-Forscher skeptisch stimmen wird – implizieren Pranges Ergebnisse doch, dassdie gesamten Arbeiten zu GT von einem „secret scepticism“ überschattet warenund Nietzsches philosophisches Erstlingswerk damit in völlig neuem Licht be-trachtet werden muss: „If Nietzsche was much more sceptical about Wagnerthan acknowledged to date, the explicit Wagner-enthusiasm of that book […]must be reassessed.“ (Prange, S. 70)

Pranges Auffassung, dass der Abkühlungsprozess bereits im Februar 1870begonnen habe, stützt sich auf ein einziges Dokument: Nietzsches Brief anRohde vom Januar/Februar 1870, in dem Nietzsche dem Freund von den jüngs-ten Ereignissen in Basel berichtet:

Ich habe hier einen Vortrag über Socrates und die Tragödie gehalten, der Schreckenund Missverständnisse erregt hat. Dagegen hat sich durch ihn das Band mit meinenTribschener Freunden noch enger geknüpft. Ich werde noch zur wandelnden Hoff-nung: auch Richard Wagner hat mir in der rührendsten Weise zu erkennen gege-ben, welche Bestimmung er mir vorgezeichnet sieht. Dies ist alles sehr beängstigend.(Brief an Erwin Rohde, Ende Januar und 15. Februar 1870, Nr. 58, KGB II 1.95)

Den letzten Satz des Briefes wertet Prange als Beleg für ihre These: „Howevercarefully, this expression, and especially the word ‚frightening‘ [‚beängstigend‘],displays resistance towards Wagner, and it does so for the first time since the be-ginning of their friendship.“ (Prange, S. 67) Der Bezugspunkt von Nietzschessorgenvoller Mitteilung ist nicht ganz klar. Offenkundig ist es nicht Wagnerselbst, den Nietzsche „beängstigend“ fand, sondern eine bestimmte Situation,die aus der brieflichen Äußerung alleine nicht verständlich wird. Was Nietzscheden Anlass zu dieser Äußerung gab, erschließt sich nur aus dem Kontext derBriefstelle, die daher etwas genauer betrachtet werden muss.

Nietzsches Brief an Rohde bezieht sich auf zwei Ereignisse: Den VortragSocrates und die Tragödie, den er am 1. Februar in der Aula des Basler Museumshielt, und Richards und Cosimas Reaktion auf das Vortragsmanuskript, dieRichard Wagners Briefe vom 4. und kurz vor dem 12. und Cosimas Briefvom 5./6. Februar dokumentieren. Nietzsches Unbehagen findet seine Entspre-chung im besorgten Ton der Wagners. Richard berichtet, er habe Cosima „be-ruhigen“ müssen und selbst einen „Schreck“ bei der Lektüre des Vortrags be-kommen. In Richard Wagners Urteil hatte Nietzsche sich mit den Thesen desVortrags offenbar überhoben: „Doch habe ich Sorge um Sie, und wünsche vonganzem Herzen, dass Sie sich nicht den Hals brechen sollen.“ (4. Februar 1870,Nr. 71, KGB II 2.137). Dass die Sorge der Wagners nicht nur Philologisches zum

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Gegenstand hatte, wird aus Cosimas zweitem Brief vom 6. Februar ersichtlich.Hatte Cosima am Vortag noch die äußerste Zuspitzung und Verknappung derphilologischen Thesen des Vortrags zum Anlass genommen, um Nietzsche ihre„Aufregung“ angesichts der Lektüre verständlich zu machen, so wollte sie offen-bar den Brief nicht absenden, ohne noch einen zweiten Aspekt zur Sprache zubringen, den Wagner selbst in seiner Mitteilung verschwieg:

Nun habe ich aber eine Bitte an Sie die ich eine mütterliche nennen möchte, nämlichdie ja nicht in das Wespennest zu stechen. Verstehen Sie mich wohl? Nennen Sie dieJuden nicht und namentlich nicht en passant ; später wenn Sie den grauenhaftenKampf aufnehmen wollen, in Gottes Namen, aber von vornherein nicht, damit beiIhrem Wege nicht auch alles Confusion und Durcheinander wird. Sie misverstehenmich hoffentlich nicht; dass im Grunde der Seele ich Ihrem Ausspruch beistimme,werden Sie wissen; allein jetzt noch nicht und nicht so; ich sehe förmlich das Heer vonMisverständnissen das sich um Sie aufwirbelt. (5. Februar 1870, Nr. 72, KGB II 2.140)

Die überlieferte Fassung des Vortrags gibt zu Cosimas Bedenken keinerleiAnlass. Der Text endet abrupt in der Mitte eines Satzes: „Es ist dies die erns-teste Frage unserer Kunst: und wer als Germane den Ernst dieser Frage“ (ST,KSA 1.549). Die Erklärung für das plötzliche Ende liefert der Nachbericht, derdie fehlenden Zeilen ergänzt:

nicht begreift, der ist dem Sokratismus unserer Tage verfallen, der freilich wederMärtyrer zu erzeugen vermag, noch die Sprache des „weisesten Hellenen“ redet, dersich zwar nicht berühmt, nichts zu wissen, aber in Wahrheit doch nichts weiß. DieserSokratismus ist die heutige Presse: ich sage kein Wort mehr. (KSA 14.101)

Die letzte Seite des Vortragsmanuskripts wurde entweder noch von Nietzscheselbst oder von einem der Nachlassverwalter entfernt. In einer Vorstufe hatteNietzsche allerdings nicht „heutige Presse“, sondern „jüdische Presse“ geschrie-ben und offenbar war es diese Fassung, die in Basel zum Vortrag kam und dievon Nietzsche nach Tribschen gesandt wurde.2

Nietzsches Brief an Rohde, der in der Wahl der Worte – „Schrecken undMissverständnisse“ – die Reaktionen sowohl Richards als auch Cosimas aufzu-greifen scheint, dürfte sich demnach nicht nur auf die philologische Ebene derTribschener Rückmeldung beziehen. Richard Wagner (ebenso wie danach Co-sima) hatte Nietzsche nach der Lektüre des Vortragsmanuskripts aufgefordert,seine Ideen zur Grundlage einer „grösseren umfassenden Arbeit“ zu machen.Dass es ausgerechnet dieser Brief Wagners sei, der die beginnende Abkühlungeinleitet und damit ebendiese Arbeit thematisch überschattet, ist die unerwartetePointe von Pranges These. Der zweite, nichtphilologische Kontext der Wagner-schen Reaktion findet sich in Pranges Abhandlung allerdings etwas versteckt inder Bemerkung „Both Richard and Cosima urge Nietzsche to write a longer ac-

2 So die Folgerung im Kommentar, KSA 14.101.

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count on ‚the current problem‘ which Nietzsche, referring to the ‚grave problemfor Germany‘ took up as a matter of aesthetics (and not as a matter of race).“(Prange, S. 66f.) Hier konnte weiteres „Beängstigendes“ für ihn liegen.

Nietzsche fühlte sich nach dem Basler Vortrag offenkundig an einer Weg-gabelung angelangt. Seine Bereitschaft, sich für Wagner öffentlich zu exponieren,erreichte Anfang Februar 1870 einen ersten Höhepunkt; bereits im zwei Wochendavor gehaltenen Vortrag Das griechische Musikdrama (KSA 1.515–532) war ernicht davor zurückgescheut, in seiner Eigenschaft als akademischer Philologe fürdie Sache Wagners einzutreten. Als Basler Professor steuerte er damit immermehr in unsichere Gewässer. Schon die Basler Antrittsvorlesung „Über die Per-sönlichkeit Homers“ vom 28. Mai des Vorjahres zeigte, dass Nietzsche nicht da-ran dachte, sich auf akademische Philologie, gar nach streng historisch-kritischerMethode, wie man es von dem Schüler Ritschls wohl erwartete, zu beschränken.Der Vortrag bestimmte die Philologie als methodisches Hybrid, deren histori-sche, naturwissenschaftliche und ästhetische Komponenten im Medium derPhilosophie zusammenfinden müssten.3 Den „wissenschaftlich-künstlerischen“Doppelcharakter der Philologie bringt Nietzsche dabei ins Bild des „Centau-ren“ – hier allerdings freilich noch ohne offene Parteinahme für Wagner, die erauf akademischem Boden vorerst vermied. Bereits im darauf folgenden Winterwar er allerdings bereit, sich mit den beiden Basler Museums-Vorträgen einentscheidendes Stück weiter von seiner Philologenexistenz zu entfernen. TimoHoyer resümiert die Entwicklung dieser Jahre: „Während seiner Zeit in Basel hatsich die Gewichtung seiner Interessen verlagert: zugunsten seiner kulturkritisch-philosophischen Ambitionen und zum Nachteil für seine philologische Berufs-laufbahn.“4 Das „Beängstigende“ war demnach offenbar eine Situation, dieeinen Wendepunkt in Nietzsches Leben herbeizuführen drohte und in die er sichselbst hineinmanövriert hatte. Dabei blieb zudem zunächst fraglich, ob Wagnersich als Moderator einer solchen Lebenswende überhaupt eignete, denn im Briefkurz vor dem 12. Februar hatte der „Meister“ ihn in diesen Ambitionen nicht un-terstützt: „Nun bleiben Sie Philolog, um als solcher sich von der Musik dirigirenzu lassen.“ (kurz vor dem 12. Februar 1870, Nr. 73, KGB II 2.146) Das Bild des„Centauren“ aus Nietzsches Antrittsvorlesung aufgreifend, schlägt Wagner eineArbeitsteilung vor, die Nietzsche allerdings wieder nur die philologisch-wissen-schaftliche Seite zuwies – die künstlerische hatte Wagner sich selbst vorbehalten.

Dass Nietzsche sich mit dieser Rolle zufrieden geben wollte, muss bezweifeltwerden. In der berühmt gewordenen Folgepassage im Brief an Rohde verwendet

3 Der Vortrag erschien im selben Jahr als Privatdruck unter dem Titel Homer und die klassische Phi-lologie. Ein Vortrag von Friedrich Nietzsche.

4 Timo Hoyer, Nietzsche und die Pädagogik. Werk, Biografie und Rezeption, Würzburg 2002,S. 184.

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auch Nietzsche nochmals das Bild des „Centauren“, aber nicht im Sinn Wagners:er selbst wollte die „Centauren“ aus sich heraus „gebären“ – ohne sich zu sub-ordinieren:

Dagegen will ich mich, wenn es Zeit ist, so ernst und freimüthig äussern, wie nurmöglich. Wissenschaft Kunst und Philosophie wachsen jetzt so sehr in mir zusam-men, dass ich jedenfalls einmal Centauren gebären werde. (Ende Januar und 15. Fe-bruar 1870, Nr. 58, KGB II 1.95)

In GT liefert Nietzsche dann die Umsetzung dieses Ideals, und es ist durchausstimmig, dass er – unwillig, alle wesentlichen Fragen aus der TribschenerPerspektive zu betrachten – Wagner mit diesem Buch letztlich in gewisser Weisebelehren wollte. In diesem Sinn argumentiert auch Prange; sie sieht in GT „a bookthat defends Wagnerian art as ‚Greek‘ art on the one hand and seeks to teachWagner (and all other readers) the true, Dionysian nature of Greek identity, onthe other.“ (Prange, S. 68) Aber Nietzsche dürfte kaum erwartet haben, dass derNichtphilologe Wagner zu einer völligen Übereinstimmung mit seinen eigenenphilologischen Ansichten gelangen würde. Dass Nietzsches Sokrates-Vortragsolche Differenzen ans Licht brachte, ist daher vielleicht weniger bedeutsam, alsPrange annimmt, die in diesem Punkt die Keimzelle der späteren Entfremdungsieht. Das „Beängstigende“, das Nietzsche im Februar 1870 empfand, ist jeden-falls weniger mit der Person Wagners als mit Nietzsches selbstgewählter Situa-tion verbunden: den sicheren Hafen der Philologie verlassend hatte er vorerstkeine Aussicht, am Tribschener Ufer mit einer Rolle anzudocken, die seinen Am-bitionen entsprach. Und dass der „Centaur“ der nun ins Auge gefassten „grös-seren umfassenden Abhandlung“ sich kaum auf eine Weise gebären lassen werde,die seine Stellung als Basler Professor und Philologe zumindest nicht ernsthaftbeschädigte, machten die Basler Vorträge im Winter 1870 schmerzhaft deutlich.Aber ist dies nicht weniger als Zeichen einer beginnenden Entfremdung denn alsBeleg dafür zu werten, wie weit Nietzsche für Wagner nun zu gehen bereit war?

Nietzsches Attacke gegen die „jüdische Presse“ im Vortrag vom 1. Februarist aus einem weiteren Grund von Interesse, der eine eingehendere Betrachtunglohnt. Der heute fehlende Schluss des Vortrags macht auf Nietzsches Rezeptionvon Wagners 1869 neu aufgelegtem Pamphlet Das Judenthum in der Musik auf-merksam. Es ist eigenartig, wie wenig Beachtung Nietzsches Auseinanderset-zung mit dieser Schrift in der Forschung gefunden hat. Dass der frühe Nietz-sche eine antisemitische Phase durchlebte, ist wohldokumentiert – nicht zuletztdurch Nietzsche selbst.5 Die Spurensuche wird freilich durch den Umstand er-

5 Vgl. JBG 251: „Möge man mir verzeihn, dass auch ich, bei einem kurzen gewagten Aufenthaltauf sehr inficirtem Gebiete, nicht völlig von der Krankheit verschont blieb und mir, wie alleWelt, bereits Gedanken über Dinge zu machen anfieng, die mich nichts angehn […]. Zum Bei-spiel über die Juden“.

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schwert, dass sich Nietzsches Kenntnis des Pamphlets nicht eindeutig feststellenlässt.6 Dennoch ist anzunehmen, dass das Thema in Tribschen überaus präsentwar. Als Nietzsche im Mai 1869 in den Tribschener Kreis tritt, war gerade der umeine umfangreiche Nachschrift erweiterte Neuabdruck der Schrift erschienen.Den unmittelbaren Anlass für die Wiederveröffentlichung der 1850 ursprüng-lich pseudonym erschienenen Polemik gab Eduard Hanslicks Besprechung derMeistersinger.7 Kurz davor dürfte Wagner von Hanslicks jüdischer Mutter erfahrenhaben; der Wiener Musikkritiker wurde in der Nachschrift daraufhin als SpiritusRector jener „von den Juden dirigirte[n] Presse“8 identifiziert, von der Wagnersich verfolgt sah. Hanslick antwortete in der Neuen Freien Presse vom 9. März1869. Nietzsche war am Rande in die Kontroverse eingebunden. So besorgte erfür die Wagners die Broschüre Wilhelm Lübke und Eduard Hanslick über Richard

Wagner (Berlin 1869), die auch Hanslicks Replik enthielt.9 Es ist schwer vorstell-bar, dass Nietzsche den Inhalt der Abhandlung nicht kannte; seine Kenntnis derWagnerschen Schriften war souverän,10 das Judenthum-Pamphlet in der frühenTribschener Zeit war die aktuellste dieser Abhandlungen – und jene, die Wagneram meisten exponierte und ihm Anlass gab, um Verbündete zu werben. Tatsäch-lich finden sich Hanslick wie Lübke 1872 auf einer Liste, die Nietzsche „Anzu-g re i fen“ übertitelt (Nachlass 1872/73, 19[259], KSA 7.500f.).

Dass Nietzsche im Sokrates-Vortrag das Klischee von der „jüdischenPresse“ wiederholt, dürfte sich somit aus der Aktualität von Wagners Kontro-verse mit Hanslick erklären, in der Nietzsche nun auf der Seite Wagners Par-tei ergreift. Der 1872 angekündigte „Angriff“ auf Hanslick erfolgte allerdingsnicht. Auch GT enthält nur wenige versteckte Bemerkungen, die als Kritik anHanslicks Ästhetikprogramm gedeutet werden können, keine dieser Bemerkun-gen ist wirklich substanziell.11 Damit war der „Fall“ Hanslick von Nietzsche aberkaum „abgearbeitet“, wie etwa Niemeyer schreibt.12 Nietzsche hatte offenkun-

6 Roger Hollinrake, Besprechung von Joachim Köhler, Nietzsche and Wagner. A lesson in Sub-jugation, in: Music and Letters 80.4 (1999), S. 641–644, S. 642, hält dazu fest: „It is possible, too,that he [Nietzsche, C. L.] would have been swayed by the (originally anonymous) Music and theJews, which Wagner had reissued in expanded form under his own name at the beginning of theyear.“

7 Vgl. Jens Malte Fischer, Richard Wagners „Das Judentum in der Musik“, Frankfurt am Main /Leipzig 2000, S. 113.

8 Richard Wagner, Das Judenthum in der Musik, Leipzig 1869, S. 42.9 Cosima bedankt sich am 30. Juli 1869 für die Zusendung (Nr. 12, KGB II 2.28f.).

10 Thomas Brobjer, Sources of and Influences on Nietzsche’s The Birth of Tragedy, in: Nietzsche-Stu-dien 34 (2005), S. 278–299, S. 294, hält dazu fest: „He read all of Wagner’s more theoreticalworks in 1869 and in the early 1870s, and was profoundly influenced by them“.

11 Zum allgemeinen Verhältnis Nietzsche-Hanslick siehe Christoph Landerer, Hanslick, in: StefanLorenz Sorgner / H. James Birx / Nikolaus Knoepffler (Hg.), Wagner und Nietzsche. Kultur –Werk – Wirkung. Ein Handbuch, Reinbek 2008, S. 373–384.

12 Christian Niemeyer, Nietzsches Schrift „David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller“(1873) in kontextanalytischer Sicht, in: Florian Bernstorff / Andreas Ledl / Steffen Schlüter

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dig einige Mühe, mit Hanslick zu klaren Verhältnissen zu gelangen, auch wäh-rend den Arbeiten zu GT bleibt Nietzsches Hanslick-Bild ambivalent.13 Dabeifehlte es ihm in den frühen 1870er Jahren nicht an Bereitschaft, zumindest einigeder von Wagner ventilierten antisemitischen Klischees auch in gedruckter Formzu reproduzieren. Dies belegt etwa die Invektive gegen den (jüdischen) Schrift-steller Berthold Auerbach, dessen Sprachstil Nietzsche in DS als „seelenlose[s]Wörtermosaik mit internationaler Syntax“ entlarvte (DS 11, KSA 1.222).Der Doyen der „jüdischen Presse“ hätte sich weit eher als Zielscheibe einer anti-semitischen Polemik angeboten als der Autor der harmlosen Schwarzwälder Dorf-

geschichten – der freilich Wagner die Gefolgschaft verweigert hatte. Doch voreiner ähnlichen Attacke auf Hanslick schreckte Nietzsche offenbar zurück.

Gemessen daran, dass er dem Verleger Engelmann GT als eine Art ,Anti-Hanslick‘ anbieten wollte,14 ist die Auseinandersetzung auch in den Notizen er-staunlich dürftig. Etwas substanzieller fällt lediglich eine Bemerkung aus demJahr 1871 aus. Die Äußerung wirkt sachlich distanziert; eine nähere Betrachtungzeigt allerdings, dass Nietzsche tatsächlich bemüht war, Hanslick aus der Optikdes Wagnerschen Judenthum-Pamphlets zu lesen – wenngleich auf eine nüchtern-unpolemische Weise:

Die Musik „die subjektivste“ Kunst: worin eigentlich nicht Kunst? In dem „Subjekti-ven“ d.h. sie ist rein pathologisch soweit sie nicht reine unpathologische For mist. Als Form ist sie der Arabeske am nächsten verwandt. Dies der StandpunktHans l icks. Die Kompositionen, bei denen die „unpathologisch wirkende Form“überwiegt, besonders Mendelssohn’s, erhalten dadurch einen classischen Werth.(Nachlass 1871, 9[98], KSA 7.310)

Dass Nietzsche die in Hanslicks Abhandlung deutlich untergeordnete „Ara-beske“ ins Zentrum seiner Beobachtung stellt,15 mag sich aus der philosophi-schen Tradition des Vergleichs erklären – wobei zunächst noch unklar bleibenmuss, wie viel Nietzsche von dieser Tradition wusste. Erklärungsbedürftig istdagegen die auffallende Privilegierung Mendelssohns. In Hanslicks AbhandlungVom Musikalisch-Schönen, auf die sich Nietzsches Notiz bezieht, spielt Mendels-

(Hg.), Kontextualisierungen. Festschrift für Alfred Langewand zum 60. Geburtstag, Berlin u.a.2010, S. 149–164, S. 158.

13 Vgl. dazu Christoph Landerer / Marc-Oliver Schuster, Nietzsches Vorstudien zur Geburt derTragödie in ihrer Beziehung zur Musikästhetik Eduard Hanslicks, in: Nietzsche-Studien 31(2002), S. 114–133.

14 In einem Briefentwurf an Engelmann schreibt Nietzsche, das Buch sei „von aufregender Bedeu-tung […]: vergleiche ich wenigstens das, was über das gleiche Problem etwa von Hanslick undAndern neuerdings gesagt worden ist“ (an Wilhelm Engelmann, 20. April 1871, Nr. 133,KGB II 1.194).

15 Ähnlich eine (distanzierte) Bemerkung Nietzsches zur „reinen formalistischen Ton-Arabesken-Lehre“, die sich unter den Wagner-kritischen Notizen aus dem Frühjahr 1874 findet (Nachlass1874, 32[52], KSA 7.771).

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sohn kaum eine bedeutendere Rolle als etwa Louis Spohr – sieht man vom Vor-wort der zweiten Auflage ab, in dem sich tatsächlich die Formulierung „unsereMeister Bach, Haydn, Mozart, Beethoven und Mendelssohn“ findet16 – und dasNietzsche, der Hanslick nach der dritten Auflage von 1865 las, nicht kannte. Diewesentlichen Referenzkomponisten für Hanslick sind Beethoven und Mozart.Dagegen stand Mendelssohn in Wagners Judenthum-Pamphlet im Vordergrund.Dort hieß es zunächst,

dass bei Anhörung eines Tonstückes dieses Componisten wir uns nur dann gefesseltfühlen konnten, wenn nichts Anderes als unsre, mehr oder weniger nur unterhal-tungssüchtige Phantasie, durch Vorführung, Reihung und Verschlingung der feinsten,glättesten und kunstfertigsten Figuren, wie im wechselnden Farben- und Formen-reize des Kaleidoskopes, vorgeführt wurden, – nie aber da, wo diese Figuren die Ge-stalt tiefer und markiger menschlicher Herzensempfindungen anzunehmen bestimmtwaren.17

In einer Fußnote zum Neuabdruck ergänzte Wagner:

Ueber das neu-jüdische System, welches auf diese Eigenschaft der Mendelssohn-schen Musik, wie zur Rechtfertigung dieser künstlerischen Verkommniß, entworfenworden ist, reden wir später.18

Gemeint war die Ästhetik Hanslicks, der auch tatsächlich die „Arabeske“ mitdem „Farben- und Formenspiel eines Kaleidoscops“ verglich.19 Es ist schwer zusehen, wie Nietzsche ohne die Lektüre von Wagners Pamphlet in HanslicksÄsthetiktraktat eine Schrift zur ästhetischen Erhöhung Mendelssohns sehenkonnte. Wie heikel das Thema Mendelssohn – ein Komponist, den Nietzschedurchaus schätzte – im Umgang mit Wagner war, zeigt auch Nietzsches Reaktionauf das Reiseangebot Karl Mendelssohns, des Sohns des Komponisten. Dieserwar im Frühjahr 1872 mit der Einladung an Nietzsche herangetreten, ihn aufeiner Griechenlandreise zu begleiten. Nietzsche lehnte ab, offenbar aus Furchtvor einer negativen Aufnahme des gemeinsamen Unternehmens in Tribschen.20

So bieten sich folgende Schlüsse an: Wagner hatte seine Gefühls- und Ge-haltsästhetik mit antisemitischen Theorieelementen aufgeladen, die die Sphäre

16 Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, hg. von Dietmar Strauß, Mainz 1990, S. 11.17 Wagner, Das Judenthum in der Musik, S. 25f.18 Wagner, Das Judenthum in der Musik, S. 26.19 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, S. 75. Hanslick ergänzt: „Ein solches Kaleidoscop auf

incommensurabel höherer Entwicklungsstufe ist die Musik.“ Das Bild vom Kaleidoskop hatfreilich weniger „jüdische“ als vielmehr klassisch-romantische Wurzeln. Vgl. dazu LotharSchmidt, Arabeske. Zu einigen Voraussetzungen und Konsequenzen von Eduard Hanslicks mu-sikalischem Formbegriff, in: Archiv für Musikwissenschaft 46.2 (1989), S. 91–120. Schmidt ver-weist S. 106 auf die „Nähe des Bildes zu Goethes Metamorphosenlehre“.

20 Vgl. dazu David Farrell Krell / Donald L. Bates, The good European. Nietzsche’s Work Sitesin Word and Image, Chicago 1999, S. 84: „Fearful of offending the Wagners, Nietzsche declinedthe invitation.“

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der Form dem Judentum zuwiesen, die des Gefühls dagegen dem Germanen-tum. Nietzsches Stellung zu Hanslick – und damit auch seine Stellung zur Form-ästhetik – war damit doppelt prekär, denn dieser war nicht nur Wagners ästheti-scher Opponent, sondern ebenso, jedenfalls aus Tribschener Sicht, Vertreter des„Musikjudentums“ und insbesondere der „jüdischen Presse“. Es könnte dem-nach mehr als nur ein chronologischer Zufall sein, dass Nietzsches Vorbehaltegegenüber Hanslick und der Formästhetik sich in jener Zeit abzuschwächen be-ginnen, als sich auch die Bindung an Wagners Antisemitismus löst. Dagegensollte eine gewisse Rezeption von Thesen des Judenthum-Pamphlets in GT zu er-warten sein, freilich in jener „gefilterten“ Form, zu der Cosima geraten hatte.Diesbezügliche Forschungen liegen – von allgemeinen Bemerkungen zu ver-steckten quasi-antisemitischen Auffassungselementen abgesehen – meines Wis-sens nicht vor. Gerade die Orientierung an einer konkreten Text- und Argu-mentvorlage könnte bei der planmäßigen Erschließung eines Kontexts helfen,der bisher noch zu hermeneutisch und spekulativ behandelt wurde.

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