24
Humboldt-Universität zu Berlin Philosophische Fakultät III Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften Wintersemester / Veranstaltung: Übung „Kulturwissenschaft. Geschichtliche und theoretische Annäherung an Phänomene des Kulturellen“ Dozent: Dr. phil. Günter Kracht Schriftliche Hausarbeit als Abschlussprüfung im Modul „Theorien, Methoden, Kanon“ Das kulturelle Gedächtnis in den Speichermedien des . Jahrhunderts Digitale Gedächtnisräume Johannes Maibaum Abgabe: . April Mühlendamm , Berlin [email protected] Mat-Nr.:

Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

  • Upload
    lyliem

  • View
    217

  • Download
    4

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

Humboldt-Universität zu BerlinPhilosophische Fakultät IIIInstitut für Kultur- und KunstwissenschaftenWintersemester 2009/2010Veranstaltung: Übung „Kulturwissenschaft. Geschichtliche und theoretische Annäherung anPhänomene des Kulturellen“Dozent: Dr. phil. Günter KrachtSchriftliche Hausarbeit als Abschlussprüfung im Modul „Theorien, Methoden, Kanon“

Das kulturelle Gedächtnis in denSpeichermedien des 21. Jahrhunderts

Digitale Gedächtnisräume

Johannes Maibaum

Abgabe: 15. April 2010

Mühlendamm 5, 10178 [email protected]

Mat-Nr.: 533368

Page 2: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 1

2 Das kulturelle Gedächtnis 32.1 Gedächtnis, Kultur und Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32.2 Die drei Dimensionen des Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42.3 Funktions- und Speichergedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

3 Vordigitale Gedächtnisräume 103.1 Das Archiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103.2 Die Bibliothek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113.3 Das Museum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

4 Digitale Gedächtnisräume 144.1 Das Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144.2 „Vom Speichern zum Übertragen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

5 Fazit 18

Literatur 20

Page 3: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

1 Einleitung

Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß

Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln

unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben.

(Goethe, West-östlicher Divan)

Unsere Kultur beVndet sich inmitten der digitalen Medienevolution. Dass diese Evolution Aus-

wirkungen auf unsere Kultur haben wird, wie es – in unterschiedlich starkem Umfang – auch

der Wandel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit in der Zeit zwischen 1100 bis 800 v. Chr.1

oder der Buchdruck ab Ende des 15. Jahrhunderts hatten, ist abzusehen. Aktuelle Publikatio-

nen beschäftigen sich intensiv mit diesem Thema.2 Digitale Kommunikationssysteme wie der

Computer und das Internet werden für das Gedächtnis unseres sozialen Systems, wie Soziolo-

gen unsere Kultur deVnieren3, immer wichtiger.

Der Reiz digitaler Medien liegt in der generalisierten Berechenbarkeit ihrer Inhalte. Schrift,

Bild, Film und Ton werden – losgelöst von ihren alten Speichermedien wie (Foto-)Papier, Film-

rolle und Schallplatte – in universal binären Codes aus 0 und 1 zu überaus verfügbarer Infor-

mation, auf die mit Lichtgeschwindigkeit überall auf der Welt (sofern man Zugang zum In-

ternet hat) zumeist kostenlos zugegriUen werden kann. Enthusiasten sprechen gern von einer

Demokratisierung des weltweiten Wissens, z. B. in der Online-EnzyklopädieWikipedia.4

Es gibt jedoch auch Stimmen, die diesen Entwicklungen äußerst ablehnend gegenüber ste-

hen und angesichts digitaler Medien gar von einer Zerstörung des Gedächtnisses sprechen und

dies als symptomatisch für unsere moderne Kultur ansehen.

Dem Vergessen kann in der Neuzeit zumindest „eine Wahrheit“ besonderer Art zugebilligt werden.Auf eine kurze Formel gebracht ist es die Wahrheit der Zerstärung des Gedächtnisses. Es ist eineWahrheit, die zurückreicht ins 18. Jahrhundert. Der Vergangenheitshaß der Moderne beginnt imbesonderen mit der Französischen Revolution, mit der Dekonstruktion des Gedächtnisses des Ancienrégime.5

1 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkul-turen, München 1992, S. 48 U.

2 Vgl. z. B. Erik Meyer (Hrsg.): Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien,Frankfurt/Main 2009.

3 Vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Ge-sellschaft, Bd. 4, Frankfurt/Main 1999, S. 47.

4 Vgl. Maren Lorenz: Wikipedia als „Wissensspeicher“ der Menschheit. Genial, gefährlich oder banal?, in: Meyer:Erinnerungskultur 2.0, S. 207–235, hier S. 220.

5 Manfred Osten: Das geraubte Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur, Frank-furt/Main und Leipzig 2004, S. 10 f. Auch Wolfgang Ernst schreibt: „In der Welt der Rechner ist Gedächtnisnur noch eine Metapher.“ Wolfgang Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses. Medien und Archive am Ende (des

1

Page 4: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

Die vorliegende Arbeit versucht, diesen Wandel des kulturellen Gedächtnisses im Ange-

sicht digitaler Medien zu beleuchten und die diUerierenden Prognosen über die Zukunft des

Gedächtnisses zu hinterfragen. Zu diesem Zweck wird im ersten auf diese Einleitung folgen-

den Kapitel zunächst der Zusammenhang von Kultur, Gedächtnis und Erinnerungskultur und

im Anschluss daran der BegriU des kulturellen Gedächtnisses näher beschrieben. Das darauf

folgende Kapitel geht näher auf die vordigitalen Institutionen des kulturellen Gedächtnisses

(namentlich Archiv, Bibliothek und Museum) unserer Kultur ein, bevor im abschließenden Ka-

pitel ein aktuelles digitales Medium im Fokus der Untersuchung steht: das Internet. Es wird

versucht, die zuvor genannten Eigenschaften des kulturellen Gedächtnisses daraufhin zu un-

tersuchen, inwiefern sie in digitalen Systemen wie dem Internet weiter existieren können und

inwiefern digitale Systeme zu Veränderungen des kulturellen Gedächtnisses unserer Gesell-

schaft führen könnten.

20. Jahrhunderts), Berlin 2007, S. 37.

2

Page 5: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

2 Das kulturelle Gedächtnis

2.1 Gedächtnis, Kultur und Erinnerungskultur

Den zentralen BegriU dieser Arbeit stellt das kulturelle Gedächtnis dar. Doch bevor dieser –

vor allem durch die beiden Ägyptologen und Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann

geprägte – BegriU näher beschrieben werden kann, ist es notwendig, einen kurzen Blick auf

den Zusammenhang der BegriUe Kultur und Gedächtnis zu werfen. Niklas Luhmann schreibt

– unter Bezug auf Schriften von Assmann/Assmann – auf den Punkt gebracht: „Kultur ist [. . . ]

das Gedächtnis sozialer Systeme, vor allem des Gesellschaftssystems. Kultur ist, anders gesagt,

die Sinnform der Rekursivität sozialer Kommunikation.“6 Es wird hier deutlich, dass Luhmann

den BegriU der Kultur als Synonym für das Gedächtnis sozialer Systeme versteht7 und dass

dieses Gedächtnis und damit die Kultur „ein Nebenprodukt“ der Gesellschaft darstellt, „von

dem das System abhängig wird, sobald es seine Operationen temporalisiert“8. Im Sinne der

Systemtheorie entsteht Luhmanns Kultur-Gedächtnis in der Operationsweise sozialer Syste-

me: durch Kommunikation.9

Wenn Luhmann ein solches soziales System als von seinem Gedächtnis abhängig beschreibt,

stellt sich folglich die Frage, wie genau sich diese Abhängigkeit darstellt. Hier scheint ein

weiterer zentraler BegriU der Erklärung bedürftig: die Erinnerungskultur, die Jan Assmann

wie folgt beschreibt:

Bei der Erinnerungskultur [. . . ] handelt es sich um die Einhaltung einer sozialen VerpWichtung. Sieist auf die Gruppe bezogen. Hier geht es um die Frage: „Was dürfen wir nicht vergessen?“ Zu jederGruppe gehört, mehr oder weniger explizit, mehr oder weniger zentral, eine solche Frage. Dort, wosie zentral ist und Identität und Selbstverständnis einer Gruppe bestimmt, dürfen wir von „Gedächt-nisgemeinschaften“ (P. Nora) sprechen. Erinnerungskultur hat es mit „Gedächtnis, das Gemeinschaftstiftet“, zu tun.10

Assmann beschreibt die Erinnerungskultur als PWicht einer sozialen Gruppe gegenüber sich

selbst. Diese Beschreibung deckt sich mit der von Luhmann beschriebenen Abhängigkeit ei-

nes sozialen Systems (hier der Gruppe) von seinem Gedächtnis. Das „Gedächtnis [dient] der

laufenden Anpassung an sich selber. [. . . ] So ist zugleich [. . . ] gewährleistet, daß das Sys-

tem aus seiner Umwelt als identisches beobachtet und behandelt werden kann.“11 Durch eine6 Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 47.7 Vgl. hierzu auch ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1998, S. 587 f.8 Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 44.9 Vgl. ebd.10 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 30.11 Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 46.

3

Page 6: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

Erinnerungskultur schaUt sich eine soziale Gruppe Zusammenhalt, sie kann sich durch ihr ge-

meinsam kommuniziertes soziales Gedächtnis als zusammengehörige Einheit begreifen. Eine

Erinnerungskultur sorgt folglich für Konsistenz und gibt der Gruppe so einen Sinn in der Welt.

„Erinnerung ist ein Akt der Semiotisierung.“12 Allerdings stellt die Erinnerung immer nur eine

von zwei Seiten der Gedächtnisleistung dar. Luhmann schreibt gerade der anderen Seite, dem

Vergessen eine besondere Bedeutung zu, denn ein Gedächtnis habe strukturell bedingt nur eine

begrenzte Aufnahmekapazität. Es sei „genötigt, ständig zu vergessen, um Kapazitäten für die

Neuaufnahme von Information freizubekommen, denn vollständiges Erinnern würde in kür-

zester Zeit zur vollständigen Selbstblockierung führen.“13 Genau dies stellt „die Funktion des

Gedächtnisses oder genauer gesagt, die Doppelfunktion von Erinnern und Vergessen“ dar.14

Luhmann greift in seiner Beschreibung des Gedächtnisses unter anderem auf die neurophy-

siologische Forschungen Heinz von Foersters zurück, der die Gedächtnisfunktion gleichzeiti-

gen Erinnerns und Vergessens mathematisch und quantenmechanisch als eine Transformati-

on beschreibt, bei der Bewusstseinsinhalte an Wüchtige Träger gebunden werden (die Träger

werden mit den Bewusstseinsinhalten „imprägniert“). Aufgrund der Flüchtigkeit dieser Träger

sind ständige Transformationen der Bewusstseinsinhalte auf freie Träger notwendig, um einer-

seits wichtiges zu erinnern, andererseits weniger wichtiges zu vergessen. Durch das Vergessen

sind zuvor belegte Träger wieder zur erneuten „Reimprägnierung“ bereit. Dies ist notwendig,

denn „sind keine freien Träger vorhanden, kann eine Transformation nicht stattVnden.“15

2.2 Die drei Dimensionen des Gedächtnisses

Innerhalb des BegriUsgefüges aus Kultur, Gedächtnis und Erinnerungskultur entwickelten Ass-

mann/Assmann den BegriU des kulturellen Gedächtnisses, um einen ganz bestimmten Teil des

Gedächtnisses genauer beschreiben zu können. In einer ersten Annäherung lässt sich dieses

laut Jan Assmann grob in drei Dimensionen unterteilen:

1. das personale oder individuelle Gedächtnis,

2. das soziale oder kollektive Gedächtnis,

3. das kulturelle Gedächtnis.16

12 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 77.13 Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 45 f.14 ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 579.15 Heinz von Foerster: Das Gedächtnis. Eine quantenphysikalische Untersuchung, Wien 1948, S. 9.16 Diese Einteilung wählt Jan Assmann in einem Aufsatz von 2005, vgl. Jan Assmann: Der BegriU des kulturellen

Gedächtnisses, in: Kulturelles Gedächtnis im 21. Jahrhundert. Tagungsband des internationalen Symposiums,23. April 2005, Karlsruhe, hg. v. Thomas Dreier/Ellen Euler (Schriften des Zentrums für angewandte Rechts-wissenschaft 1), Karlsruhe 2005, S. 21–29, url: http://www.uvka.de/univerlag/volltexte/2005/91/pdf/ZAR_Schriftenreihe_1.pdf (ZugriU am 23. 02. 2010), hier S. 21 f. In seinem Buch Das kulturelle Gedächtnis nimmt ereine etwas andere Einteilung vor. Er verwendet dort „den BegriU des (kollektiven) Gedächtnisses als Oberbe-

4

Page 7: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

Zur ersten Dimension des Gedächtnisses, dem persönlichen oder auch individuellenGedächt-

nis, schreibt Jan Assmann, es sei „eine Sache unserer Hirnzellen [. . . ] und [steckt] in allen

Sinnen und Fasern unseres Körpers [. . . ]. Das verkörperte Gedächtnis existiert in uns und

nirgendwo sonst; es erlischt mit unserem Tod.“17 Unser persönliches Gedächtnis umfasst also

diejenigen speziVsch individuellen und konkret persönlichen EmpVndungen, die jeder einzelne

Mensch im Laufe seines Lebens gemacht hat.

Nun ist der Mensch von seinem natürlichen Wesen her kein Einzelgänger, sondern lebt stets

mit anderen Menschen zusammen. Dies umfasst zum einen den familiären Zusammenhang, in

dem er lebt (Eltern, Geschwister, Verwandte, Partnerschaften, Freundschaften, etc.), und des

Weiteren sämtliche sozialen Gruppen (Arbeitsbeziehungen, politische Gruppierungen, Vereine

etc.), in denen der Mensch – wiederum in seinen lebenszeitlichen Grenzen – aktiv ist. Von

essentieller Bedeutung ist hierbei der kommunikative Austausch von Erfahrungen und das

Erzählen von erlebten Ereignissen untereinander:

Erinnerungen, auch persönlichster Art entstehen nur durch Kommunikation und Interaktion im Rah-men sozialer Gruppen. Wir erinnern nicht nur, was wir von anderen erfahren, sondern auch, wasuns andere erzählen und was uns von anderen als bedeutsam bestätigt und zurückgespiegelt wird.18

Auf diese Weise erweitert sich das Gedächtnis des einzelnen Menschen um die Erlebnis-

se seiner sozialen Kontakte und er erweitert gleichzeitig das Wissen seiner Mitmenschen um

seine persönlichen Erfahrungen. Hieraus ergibt sich also die zweite Dimension des Gedächt-

nisses, das soziale oder auch kommunikative Gedächtnis.19 Als oUensichtlichen Unterschied

zwischen diesen beiden ersten Gedächtnis-Dimensionen hebt Assmann hervor, dass der Zeit-

horizont, der dem einzelnen Menschen bewusst ist, mithilfe des durch kommunikative In-

teraktionen gebildeten sozialen Gedächtnisses um einen endlichen Zeitraum vor der eigenen

Geburt erweitert wird. Die auf kommunikativer Ebene gegebene Grenze dieser Ausweitung in

die Vergangenheit liegt etwa bei 80–100 Jahren, nämlich dem Alter noch lebender Zeitzeugen

bestimmter Ereignisse. Es wird in diesem Zusammenhang auch des Öfteren von „bewohnter

griU, innerhalb dessen wir zwischen dem ‚kommunikativen‘ und dem ‚kulturellen‘ Gedächtnis unterscheiden.“Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 45. Letztendlich sind beide Varianten legitim, denn es handelt sich umidealisierende Einteilungen, die in Wirklichkeit i. d. R. Wießende Übergänge besitzen. Es sei hierzu auf den star-ken EinWuss sozialer Kommunikation auf das individuelle Gedächtnis verwiesen, vgl. ebd., S. 35. Diese Arbeitorientiert sich vorrangig am drei-Dimensionen-Modell aus dem Jahr 2005, da dieses treUend den Unterschieddes Zeithorizonts verdeutlicht, der zwischen individuellem, kollektivem (als Generationen-Gedächtnis) undkulturellem Gedächtnis vorherrscht.

17 Ders.: Der BegriU des kulturellen Gedächtnisses, S. 21.18 Ders.: Das kulturelle Gedächtnis, S. 36.19 Aleida und Jan Assmann beziehen ihre DeVnition des sozialen oder kommunikativen Gedächtnisses auf die

Untersuchungen des französischen Soziologen Maurice Halbwachs und dessen zentrale Aussage „Es gibt keinGedächtnis, das nicht sozial ist“, zit. nach Aleida Assmann/Jan Assmann: Das Gestern im Heute. Medien undsoziales Gedächtnis, in: Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft,hg. v. Klaus Merten, Opladen 1994, S. 114–140, hier S. 117.

5

Page 8: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

Vergangenheit“20 oder auch vom „Generationen-Gedächtnis“21 gesprochen.

Der fundamentalste Unterschied zwischen individuellem und sozialen Gedächtnis liegt je-

doch in der Unterscheidung zwischen EmpVndung und Erinnerung. Während Erinnerungen

ausschließlich in einem kollektiven Zusammenhang entstehen können, sind EmpVndungen

grundsätzlich individuell. Jeder Mensch erlebt Ereignisse persönlich, er bildet EmpVndungen.

Diese können in Kommunikation mit der Gruppe zu kollektiven Erinnerungen gerinnen, wenn

sie imModus sozialer Kommunikation mit den EmpVndungen anderer verglichen werden. Nur

so kann der Mensch, wie Jan Assmann es unter Bezug auf Halbwachs beschreibt, überhaupt

erinnern.

Individuell im strengen Sinne sind nur die EmpVndungen, nicht die Erinnerungen. Denn „die EmpVn-dungen sind eng an unseren Körper geknüpft“, während die Erinnerung notwendig „ihren Ursprungim Denken der verschiedenen Gruppen haben, denen wir uns anschließen“.22

Aleida und Jan Assmannmachen an dieser Stelle jedoch nicht – so wie sie es Halbwachs vor-

werfen23 – halt, sondern nutzen dessen Untersuchungen als Ausgangspunkt, eine weitere Di-

mension des Gedächtnisses einzuführen, nämlich das kulturelle Gedächtnis. Dieses beschreibt

Jan Assmann wie folgt:

Das kulturelle Gedächtnis dagegen [im Unterschied zu den beiden anderen Dimensionen, J.M.] exis-tiert nicht nur in uns und in anderen sich erinnernden Personen, sondern auch in Dingen wie Texten,Symbolen, Bildern und Handlungen. Unsere Erinnerungen sind nicht nur sozial, sondern auch kul-turell „eingebettet“, wir gehen nicht nur mit anderen Personen, sondern auch mit Texten, Bildern,Dingen, Symbolen und Riten um.24

Das kulturelle Gedächtnis ist also folglich jener Teil des Gedächtnisses, der die „unbewohn-

te“25 Vergangenheit betriUt, also jene Zeit, die kein noch lebender Mensch mehr persönlich

erlebt hat, die uns demnach nur durch Überlieferungen – eben jenen „Texten, Bildern, Dingen,

Symbolen und Riten“ – zugänglich ist, da sie über die ca. 80–100 Jahre in der Vergangenheit

liegende Grenze des Generationen-Gedächtnisses hinausreicht.

2.3 Funktions- und Speichergedächtnis

In unserer europäischen oder „westlichen“ Kultur beruhen diese Überlieferungen vornehm-

lich auf schriftlichen Aufzeichnungen, die uns heute lebenden Menschen Kenntnisse über die

20 Vgl. z. B. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 44; Assmann/Assmann: Das Gestern im Heute, S. 144.21 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 50.22 Ebd., S. 37.23 Vgl. ebd., S. 46.24 Ders.: Der BegriU des kulturellen Gedächtnisses, S. 21.25 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999,

S. 133.

6

Page 9: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

Zeit vor 1910 ermöglichen.26 „Das kulturelle Gedächtnis haftet am Festen“27 oder mit Luhmann

gesprochen: „Ohne laufende Materialisation, etwa beim Schreiben mit trockener Feder, gäbe

es kein Gedächtnis, es hinterließe in der Welt keine Spuren.“28 Assmann/Assmann weisen als

Merkmal schriftlicher Kulturen aus, das durch Verwendung von Schrift generell mehr Informa-

tionen und Daten aufgezeichnet werden als der Mensch aufnehmen und sich zunutze machen

kann.29 Aleida Assmann führt deshalb zur genaueren Unterscheidung für das „bewohnte“ und

das „unbewohnte“ Gedächtnis zwei neue BegriUe ein, das Funktions- und das Speichergedächt-

nis:

Das bewohnte Gedächtnis wollen wir das Funktionsgedächtnis nennen. Seine wichtigsten Merkmalesind Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung. Die historischen Wissen-schaften sind demgegenüber ein Gedächtnis zweiter Ordnung, ein Gedächtnis der Gedächtnisse, dasin sich aufnimmt, was seinen vitalen Bezug zur Gegenwart verloren hat. Dieses Gedächtnis der Ge-dächtnisse schlage ich vor, Speichergedächtnis zu nennen.30

Als Funktionsgedächtnis kann demnach derjenige Teil der Vergangenheit gelten, der den

Menschen bewusst ist, den sie aktualisieren können, der ihrem aktuellen Kontext einen Sinn

ergibt, für Stabilität sorgt. Das Speichergedächtnis hingegen umfasst das Wissen, dass zwar

latent vorhanden ist – z. B. weil irgendwann einmal aufgeschrieben –, im aktuellen kulturel-

len Kontext allerdings keinen Sinn mehr besitzt. Als Beispiel könnte man die Nation nennen.

Diese deVniert einen klaren Rahmen dessen, was erinnert werden, also im Funktionsgedächt-

nis durch aktive gesellschaftliche Kommunikation vorhanden sein muss. Dazu gehören z. B.

wichtige Ereignisse wie die Gründung und wichtige Personen (denen z. B. durch National-

feiertage gedacht wird und die durch öUentliche Denkmäler und Gedenktafeln sichtbar sind)

sowie weitere wichtige für die Nation normative Werte und Symbole (z. B. Nationalfarben

oder die Nationalhymne). Das Speichergedächtnis einer solchen Nation umfasst dann all das,

was nicht (mehr) in einen Sinnrahmen passt, z. B. vergangene politische Ordnungen (greif-

bar z. B. in nicht mehr gültigen Gesetzestexten). Diese sind zwar für die aktuelle Ordnung

nicht mehr sinngebend, aber dennoch latent vorhanden, könnten folglich wieder hervorgeholt

werden und in kommunizierten Re-KonVgurationen erneut sinnschaUend sein. „Dieses nicht

ganz bewusste, teils unbewusste Gedächtnis bildet deshalb nicht den Gegensatz zum Funk-

tionsgedächtnis, eher dessen Hintergrund.“31 Da es an dieser Stelle um den BegriU des Spei-

26 Da der Fokus in dieser Arbeit auf dem Unterschied des kulturellen Gedächtnisses in den schriftlichen unddigitalen Medien unserer Kultur liegt, wird an dieser Stelle auf das kulturelle Gedächtnis (nicht schriftlicher)oraler Kulturen nicht näher eingegangen. Hierzu sei erneut auf Jan Assmanns Buch Das kulturelle Gedächtnishingewiesen, dessen Untersuchungen zu großen Teilen oralen Kulturen gelten.

27 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 59.28 Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 45.29 Vgl. Assmann/Assmann: Das Gestern im Heute, S. 122. Dies beschreibt auch Luhmann, vgl. Gesellschaftsstruk-

tur und Semantik, S. 45.30 Assmann: Erinnerungsräume, S. 134.31 Ebd., S. 136.

7

Page 10: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

chergedächtnisses geht, ist es wichtig, den Unterschied zwischen Speicher und Erinnerung als

Gedächtnisleistung aufzuzeigen.

Etwas zu speichern heißt, es abzulegen, und wiederauXndbar zu halten. Speicher hat mit Zeit wenigzu tun [. . . ]. Der Speicher memoriert seine Daten [. . . ] zeitlos. Erinnerung wäre dann eine Funk-tion, dem, was als Gedächtnis gespeichert ist, Zeit künstlich hinzuzufügen – das Geheimnis allerErzählung. Historiographie setzt Zeitzeichen auf Speicherinhalte.32

Aleida Assmann beschreibt Erinnerung genau wie Ernst als Prozess. Speicherung sei im

Gegensatz zur Erinnerung die räumliche Informationseinlagerung unter Diskrimierung der

Zeitdimension.33 „Der Akt des Speicherns geschieht gegen die Zeit und das Vergessen, deren

Wirkungen mit Hilfe bestimmter Techniken außer Kraft gesetzt werden. Der Akt des Erinnerns

geschieht in der Zeit, die aktiv am Prozeß mitwirkt.“34 Dies verdeutlicht noch einmal den Un-

terschied zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis. Das Speichergedächtnis enthält die

abgelegten (gespeicherten) Informationen. Diese können nur dann (als Erinnerung) ins Funkti-

onsgedächtnis gelangen, wenn die im Speicher fehlende Zeitdimension durch kommunizierte

Erzählung wieder hinzugefügt wird. Dieser Prozess des Erinnerns Vndet stets in der Gegen-

wart statt.35 Eine Erinnerung ist niemals omnipräsent, sondern immer diskontinuierlich: „An

das, was gegenwärtig ist, daran kann man sich eben nicht erinnern. Um sich erinnern zu kön-

nen, muß es vorübergehend entzogen gewesen und an einem anderen Ort deponiert sein, von

wo man es wieder-holen kann.“36

Das von Aleida Assmann beschriebene Verhältnis von Funktions- und Speichergedächtnis

ist, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, in dieser Arbeit von besonderer Bedeu-

tung, denn die Ordnung der Medien in denen gespeichert wird, bedingt auch die Form dessen,

was zunächst bloß gespeichert wird und demnach ebenso, was zu einem späteren Zeitpunkt

durch RekonVguration wieder in den Vordergrund des Funktionsgedächtnisses einer Kultur

gelangen kann. „Jedes Medium bestimmt über seine Charakteristika, welche Inhalte selegiert

und in welcher Form sie präsentiert werden. Mit anderen Worten, Inhalte sind keineswegs

medienneutral.“37

32 Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses, S. 232.33 Vgl. Assmann: Erinnerungsräume, S. 27–30.34 Ebd., S. 29 f.35 Vgl. hierzu vor allem Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 44.36 Assmann: Erinnerungsräume, S. 154.37 Siegfried Schmidt: Kalte Faszination. Medien – Kultur – Wissenschaft in der Mediengesellschaft, Weilerswist

2000, S. 99, zit. nach Erik Meyer: Erinnerungskultur 2.0? Zur Transformation kommemorativer Kommunika-tion in digitalen, interaktiven Medien, in: Meyer: Erinnerungskultur 2.0, S. 175–203, hier S. 176.

8

Page 11: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

2.4 Zwischenfazit

Zusammenfassend lässt sich der BegriU des kulturellen Gedächtnisses also einerseits eng ver-

bunden mit dem von Luhmann beschriebenen „Gedächtnis sozialer Systeme“ vergleichen, wo-

bei die DeVnitionen von Assmann/Assmann jedoch noch einen Schritt weiter diUerenzieren.

Legt man die beiden BegriUsdeVnitionen zum Vergleich nebeneinander, umfasst Luhmanns

BegriU sowohl das soziale wie auch das kulturelle Gedächtnis Assmann/Assmanns. In der spe-

ziVschen DeVnition nach Jan Assmann von 2005, beschreibt das kulturelle Gedächtnis jedoch

hauptsächlich diejenigen „Bewusstseinsinhalte“ (von Foerster), die losgelöst von individuellen

menschlichen Gedächtnissen, also z. B. schriftlich in Büchern oder auch im Internet, existieren

und so zumindest theoretisch nicht an der Grenze menschlichen Lebens, der Generationen-

Grenze der 80–100-jährigen Vergangenheit, scheitern – derjenigen „Epochenschwelle [. . . ],

die dadurch charakterisiert ist, dass die lebendige Erinnerung mit dem Versterben der Zeit-

zeugen nur dann auf Dauer gestellt werden kann, wenn sie auf Datenträgern Vxiert wird.“38

Dieses „auf Dauer stellen“ von Gedächtnis wird erst durch die Schrift möglich, wie Aleida

Assmann betont: „Die Bedingung der Möglichkeit eines Archivs sind Aufzeichnungssysteme,

die als externe Speichermedien fungieren, allen voran die Technik der Schrift, die das Ge-

dächtnis aus dem Menschen ausgelagert und es unabhängig von lebendigen Trägern befestigt

hat.“39

In den folgenden Kapiteln werden nun die Institutionen untersucht, die sich in unserer

Gesellschaft als solche Räume der Auslagerung von (Schrift-)Wissen, als Räume eines schrift-

basierten kulturellen Gedächtnisses anbieten, dass sich in Funktions- und Speichergedächtnis

weiter aufgliedert. Im Fokus stehen dabei jeweils die Merkmale der Konservierung, Auswahl

und Zugänglichkeit des in ihnen gespeicherten Wissens.

38 Meyer: Erinnerungskultur 2.0?, S. 175.39 Assmann: Erinnerungsräume, S. 343.

9

Page 12: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

3 Vordigitale Gedächtnisräume

Nachdem zuvor die BegriUe rund um das kulturelle Gedächtnis allgemein erläutert wurden,

behandelt dieses Kapitel nun die Räume des kulturellen Gedächtnisses. Wie bereits am Ende

des vergangenen Kapitels erwähnt, stellt die Schrift die essentielle Bedingung für die Auslage-

rung menschlichen Wissens dar und ist damit für die Bildung eines kulturellen Gedächtnisses,

welches über die Generationen-Grenze hinausreichen kann, überaus dienlich. Im vordigitalen

Zeitalter unserer Kultur, die als Gedächtnis des sozialen Systems unserer Gesellschaft maßgeb-

lich durch Schrift und seit dem 15. Jahrhundert durch den Buchdruck geprägt ist, galt stets die

Unterscheidung zwischen Archiv, Bibliothek und Museum als den verschiedenen Institutionen

und Räumen des kulturellen Gedächtnisses.40

3.1 Das Archiv

Ein traditionelles Staatsarchiv dient in erster Linie der Legitimation des Herrschaftssystems

und steht damit in Tradition des ArchivbegriUs nach Foucault („Das Archiv ist zunächst das

Gesetz dessen, was gesagt werden kann“41). Auch Aleida Assmann spricht vom „Archiv als

Gedächtnis der Herrschaft“42 unter Bezug auf Jacques Derrida („Es gibt keine politische Macht

ohne Kontrolle über die Archive, ohne Kontrolle über das Gedächnits.“43). Ein Staatsarchiv

ist somit zunächst als Funktionsgedächtnis im Sinne Aleida Assmanns zu verstehen. Staats-

archive können allerdings auch den Zustand eines Speichergedächtnisses annehmen, etwa

nach einer politischen Revolution, sofern die vormalig ausschließlich zur Legitimation des

Herrschaftssystems eingelagerten Urkunden nicht vernichtet, sondern als Zeugen der Vergan-

genheit, als Wissensdokumente und mögliche Quellen für Historiker weiterhin aufbewahrt,

gespeichert werden. Je nach Staatsform deVniert sich die potentielle Eignung eines Staatsar-

chivs als kulturelles (Speicher-)Gedächtnis also vor allem durch seine Zugänglichkeit. Demo-

kratische Staatssysteme ermöglichen öUentlichen ZugriU auch auf Dokumente vergangener

politischer Epochen (im Speichergedächtnis des Archivs), totalitäre Systeme untersagen dies

zumeist und ermöglichen allenfalls den ZugriU auf ihr Funktionsgedächtnis.44 Ein Archiv kann

40 Vgl. Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses, S. 85.41 Michel Foucault: Archäologie des Wissens, aus dem Französischen übers. v. Ulrich Köppen, 4. AuW., 1973, Ndr.

Frankfurt/Main 1990, S. 187.42 Assmann: Erinnerungsräume, S. 343.43 Jacques Derrida: Archive Fever. A Freudian Impression, in: Diacritics 25.2 (1995), S. 9–63, hier S. 10 f., zit. nach

Assmann: Erinnerungsräume, S. 344.44 Aleida Assmann nennt das (nun öUentlich einsehbare) Stasi-Archiv und die französische Revolution als Bei-

spiele für ÖUnungen vormals geheimer Archive, vgl. ebd., S. 344 f., auch Ernst behandelt am Beispiel der

10

Page 13: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

daher nur schwer ausschließlich entweder dem Funktions- oder dem Speichergedächtnis zu-

geordnet werden.

Archive sammeln nicht das, was in anderen kulturellen Agenturen noch nicht gesammelt wurde.Freie Sammlung ist das Kennzeichen von Museum und Bibliothek, während das Archiv als adminis-trative Institution – zumal in Deutschland – an die Maßgabe der Provenienz, also der Übernahmedessen gekoppelt ist, was Behörden ihm in festgelegter Form liefern. [. . . ] Staatsarchive etwa ha-ben eben keinen Vollständigkeitsauftrag, sondern im Gegenteil die PWicht zur Kassation, d. h. zurLöschung überkommender Aktenberge. Hier, in der Selektion, nicht in der Speicherung liegt dieeigentliche Aufgabe des klassischen Archivs.45

Die hier von Ernst beschriebenene „PWicht zur Kassation“, der ausschließenden Selektion

erwünschter und der Löschung veralteter, bzw. unerwünschter Inhalte, beschreibt ein wei-

teres Charakteristikum des traditionellen Archivs. Die Auswahl des Wissens, das weiterhin

gespeichert und desjenigen, das vernichtet wird, erfolgt nach bestimmten Kriterien, auch hier

im Sinne Foucaults „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“. Die traditionelle Institution des

Archivs und ihre Merkmale hängen somit eng mit der emphatischen Funktionsweise eines

Gedächtnisses als Doppelfunktion des Erinnerns und Vergessens (nach von Foerster) zusam-

men. Ein Archiv stellt eine Möglichkeitsbedingung dar, hat das Potential zum kulturellen Ge-

dächtnis zu werden, sofern das gespeicherte Wissen öUentlich zugänglich ist und auch ältere

Dokumente nicht der Kassation zum Opfer fallen.

3.2 Die Bibliothek

Die zweite große Institution des vordigitalen Zeitalters stellt die Bibliothek dar. Sie unterschei-

det sich in einigen Punkten von der Institution des Archivs. Im eingangs des vorhergehenden

Abschnitt erwähnten Zitat hat Ernst als Kennzeichen einer Bibiliothek die „freie Sammlung“

genannt. Der wohl auUälligste Unterschied ergibt sich daher, wenn man bedenkt, dass eine Bi-

bliothek im Gegensatz zu einem Staatsarchiv in den meisten Fällen nicht direkt der politischen

Administration untersteht, sondern stattdessen ein Ort der Wissenschaft ist. Als solcher sam-

melt die Bibliothek diejenigen VeröUentlichungen, die ihrem Fachbereich entsprechen. Somit

wird klar, dass, obwohl sie nicht direkt der politischen Administration untersteht, dennoch

auch in der traditionellen Bibliothek eine einschränkende Auswahl stattVndet. Auch in der

Bibliothek gilt also Foucaults diskursives „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“.

Neben der Auswahl nach Themengebieten gilt für die Bibliothek jedoch noch ein weiteres

Ausschlusskriterium: was nicht aufgeschrieben wurde oder – seit Beginn des Buchdrucks zu-

nehmend – was keinen Verlag gefunden hat, folglich nicht gedruckt wurde und somit nicht

DDR-Archive den Wandel eines Archivs vom Funktions- zum Speichergedächtnis, vgl. Ernst: Das Gesetz desGedächtnisses, S. 80–85.

45 Ebd., S. 64.

11

Page 14: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

in Buchform vorliegt, kann sie nicht speichern. Es entfällt jedoch der Kassationszwang des

Archivs. Ziel einer Bibliothek ist das auf Dauer stellen des geschriebenen oder gedruckten

Wissens mit dem emphatischen Ziel der Konservierung für die Ewigkeit. Ernst pointiert dies

am Beispiel des Dokumentar- und KurzVlms Toute la mémoire du monde46 über die Pariser

Nationalbibliothek:

Die Bibliothek fungiert in Toute la mémoire nicht nur als Wissensspeicher, sondern auch als Gefäng-nis des Wissens; in einem System der Kontrolle sind Bücher zugleich Gefangene. [. . . ] Als Festungbietet die Bibliothèque Nationale der Zerstörung gebundener Erinnerung Einhalt (das katechon desSpeichers), in einer quasi-militärischen Formation des Gedächtnisses.47

Die Bibliothek ist folglich nahezu als Reinform eines Speichergedächtnisses zu verstehen.

Ein in ihr gespeichertes Buch kann lediglich durch Wieder-holung zur Erinnerung beitragen.

„Die Aktualisierung des Speichers Vndet erst im Lesesaal statt.“48

Sowohl Archiv als auch Bibliothek haben jedoch eines gemein: die Ordnung ihres jewei-

ligen Speichers in systematischen Katalogen über Stichwörter, Signaturen und fortlaufende

Nummern (numerus currens).49 Beide Institutionen nutzen diese Systeme der Adressierung,

um ihre Bestände auXndbar zu halten. Ohne diese Verfahren wären Archive und Bibliothe-

ken nicht operabel.50 „Alles was nicht adressierbar ist, so könnte man überspitzt behaupten,

kann eine Kultur nicht erinnern und das Geschriebene oder Gedruckte ist, obwohl gespei-

chert, vergessen.“51 In dieser Hinsicht unterscheiden sich Archiv und Bibliothek essentiell vom

Gedächtnisraum des Museums.

3.3 Das Museum

In einem Diskussionsbeitrag, veröUentlicht 1971 in einer Zeitschrift für Archivwissenschaft,

beschreibt Ingo Rösler treUend die speziVsche Funktion des Museums gegenüber den beiden

anderen kulturellen Gedächtnisorten:

Gegenüber den Archiven und Bibliotheken besteht die speziVsche gesellschaftliche Funktion derMuseen vor allem darin, (originale) „Sachzeugen“ („Monumente“) zu sammeln, um die Entwicklunginsbesondere der materiellen Kultur und Natur im Wege der Ausstellung zu demonstrieren, zu ver-anschaulichen. Als solche Gegenstände, die wegen ihres materiellen Charakters (d. h. nicht primär

46 Alain Resnais, Frankreich 1956, 21min.47 Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses, S. 87 f.48 Ebd., S. 88.49 Vgl. z. B. Axel Roch: Adressierung von Texten als Signale über Bilder, in: Verstärker. Von Strömungen, Span-

nungen und überschreibenden Bewegungen 2.2 (Mai 1997), hg. v. Markus Krajewski/Harun Maye, url: http://www.culture.hu-berlin.de/verstaerker/vs002/ (ZugriU am 09. 04. 2010).

50 Vgl. Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses, S. 90.51 Roch: Adressierung von Texten als Signale über Bilder.

12

Page 15: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

unter dem Blickpunkt ihrer dokumentarischen Beweisfunktion historisch interessieren, können auch(Schrift-)Dokumente und Bilder im Museum ihren Zweck erfüllen.52

Museen – in ihrem Medium der Ausstellung materieller Kulturzeugnisse – operieren folg-

lich im Gegensatz zu Archiven und Bibliotheken, die zunächst lediglich speichern, bereits in

der Form der (historischen) Erzählung. Man könnte folglich überspitzt behaupten, dass Mu-

seen potentiell aktiv Erinnerung praktizieren; zur Kompensation der von Manfred Osten be-

schriebenen Geschichte des Vergessens als Kennzeichen der modernen Kultur, die sich selbst

durch Vergleiche, durch historische Analyse, konstituiert.53

Das Ausrangierte – das scheinbar Vergessene – Vndet ZuWucht in den Museen. [. . . ] Modern istder Homo faber gleichzeitig Homo conservator; und zur modernen Wegwerfgesellschaft gehört –und zwar als notwendige Kompensation – die genuin moderne Ausbildung der Bewahruns- undErinnerungskultur.54

Die im Museum ausgestellten Objekte erhalten ihren kulturellen Erinnerungswert nicht

durch ihren Inhalt (ihr Wissen, das sie als Dokument enthalten können, nimmt man eine mit-

telalterliche Handschrift als Beispiel), sondern explizit durch sich selbst als Monument.55 Man

kannMuseen also hauptsächlich als Gedächtnisräume des Funktionsgedächtnisses bezeichnen.

Sämtliche in diesem Kapitel vorgestellten Räume des kulturellen Gedächtnisses operieren

also mal stärker, mal schwächer im Funktions-, bzw. im Speichergedächtnis. Sowohl Archiv

und gerade die Bibliothek haben sich in der Funktion des Speichergedächtnisses als sehr ver-

lässlich erwiesen, was die Konservierung von Wissen über einen langen Zeitraum betriUt,

klammert man totalitäre Regimes und mit ihnen einhergehende Vernichtung von Wissen (wie

z. B. die Bücherverbrennungen im 3. Reich) oder niemals auszuschließende Katastrophen wie

Bibliotheksbrände einmal aus.56 Osten berichtet beispielsweise von einem gut erhaltenen 900

Jahre alten Buch aus Schottland.57 Im folgenden Kapitel wird nun versucht, die noch verhält-

nismäßig neuen Möglichkeiten digitaler Speicherung ebenfalls auf ihre Kriterien der Auswahl,

Konservierung und Verfügbarkeit von Wissen, mithin ihrer potentiellen Eignung zum Raum

des kulturellen Gedächtnis hin zu analysieren.

52 Ingo Rösler: Die Dokumentationsbereiche Archiv, Bibliothek und Museum. Ein Diskussionsbeitrag, in: Archiv-mitteilungen. Zeitschrift für Theorie und Praxis des Archivwesens 21.4 (1971), S. 128–132, hier S. 129.

53 „Kulturvergleiche inhibieren in einem zuvor unbekannten Umfang das Vergessen“ Luhmann: Die Gesellschaftder Gesellschaft, S. 591.

54 Odo Marquard: Philosophie des Stattdessen, Stuttgart 2000, S. 52 f.55 Zum Unterschied vonMonument und Dokument (vorrangig aus dem Standpunkt der Medienarchäologie, aber

dennoch treUend) vgl. auch Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses, S. 34 f.56 Vgl. Osten: Das geraubte Gedächtnis, S. 37. Freilich können z. B. auch schlecht gesicherte U-Bahn-Baustellen,

wie 2009 in Köln, Bibliotheken und damit Büchern gefährlich werden.57 Vgl. ebd., S. 85 f.

13

Page 16: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

4 Digitale Gedächtnisräume

Auch wenn der BegriU des Gedächtnisraums bezogen auf digitale Systeme (und hier vor allem

dem Internet) in seiner dezentralen Organisation allenfalls metaphorisch zu verstehen ist, so

soll in diesem Kapitel dennoch der Versuch gemacht werden, das kulturelle Gedächtnis auch

in digitalen Medien auszumachen (um nicht zu sagen: zu lokalisieren).

4.1 Das Internet

Die dem Internet zugrundeliegenden Ideen sind Vannevar Bushs Konzept einer assoziativen

Gedächtnismaschine namens Memex und Ted Nelsons darauf aufbauende Idee des verknüp-

fenden Hypertextes. Diese führten auf Seiten der Amerikaner während des Kalten Krieges zur

Einrichtung des dezentralen ARPANETs. Durch dieses sollte es möglich sein, die militärische

Kontrolle auch dann noch aufrecht zu erhalten, wenn im Falle eines Atomkrieges die Komma-

dozentrale, das Pentagon, vernichtet würde. Hieraus entwickelt sich – wiederum ausgehend

vom europäischen Kernforschungszentrum CERN – letztendlich das öUentliche World Wide

Web (www), das Internet.58

Der Vorteil des Internets gegenüber den traditionellen Archiven, Bilbiotheken und Museen

ist also zunächst seine dezentrale Struktur. Es besteht ausschließlich aus der Gesamtzahl der

miteinander vernetzten Computer, die ohne eine zentral überwachende Institution über so-

genannte Protokolle miteinander kommunizieren.59 Diese dezentrale Struktur der im Internet

vernetzten Rechner wirft das Problem auf, wie auf die über die einzelnen Computer verteilten

Daten zugegriUen werden kann, denn „was nicht adressierbar ist, [. . . ] ist, obwohl gespeichert,

vergessen.“60 Die Adressierung, die in den tradtitionellen Archiven und Bibliotheken über die

Registratur und ihre Signatursysteme geschieht, erfolgt im Internet über Suchmaschinen. Die-

se speziellen Programme waren zunächst ähnlich einem traditionellen Archiv institutionali-

siert, denn der von ihnen erstellte Index verfügbarer Daten wurde anfangs zentral gespeichert

und verwaltet.61 Dieses Prinzip war jedoch zum Scheitern verurteilt, denn in Anbetracht der

ab dem Ende der 1980er Jahre exponentiell wachsenden Zahl der Internetzugänge war die

proportional dazu immer unübersichtlichere Datenmenge über einen statischen, nur unregel-

58 Vgl. Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses, S. 273 f.59 Protokolle sind „kleine Befehlsroutinen, in denen [. . . ] einzelne Computer [. . . ], sich wechselseitig anerkennen

und auf ein Verfahren zur Übertragung der Daten einigen.“ Stefan Heidenreich: FlipFlop. Digitale Datenströmeund die Kultur des 21. Jahrhunderts, München und Wien 2004, S. 32 f.

60 Siehe Anm. 49.61 TreUenderweise hieß diese erste Suchmaschine dann auch „Archie“, vgl. Heidenreich: FlipFlop, S. 34 f.

14

Page 17: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

mäßig aktualisierten Index nicht mehr aktuell zu halten. Stattdessen setzten sich dynamische

Indizes durch, die sich die Berechenbarkeit digitaler Information zunutze machen. „Die Ord-

nung eines Speichers steht nicht mehr fest, wie in einem Lexikon oder einem Papierarchiv,

sondern jeder Suchvorgang gibt die Daten vollkommen neu sortiert wieder.“62 Indiziert wer-

den nicht mehr ausschließlich die Titel der Dokumente. Der dynamische, durch jede akute

Suchanfrage neu aufgebaute Index heutiger Suchmaschinen wie Google erlaubt den gezielten

Sprung per Hyperlink auf bestimmte (Voll-)Textstellen, „jedes Datum, jedes bit [wird] digital

adressierbar.“63

Dank des universalen binären Codes kann das so adressierte Dokument nicht nur Text, son-

dern auch Bild, Musikstück oder Film sein; lediglich die Übertragungszeit variiert aufgrund

unterschiedlicher Datenvolumen.64 Obendrein verfügt der Nutzer nach Beendigung der Infor-

mationsübertragung – dem Download, den der Sprungbefehl auslöst – über eine verlustfreie

und exakte Kopie der übertragenen Information auf seinem Computer. Diese wird auch nach

mehrfachen Kopiervorgängen niemals undeutlich, wie dies noch beim Kopieren mit optischen

Kopiergeräten der Fall war (z. B. bei Kopien einer Buchseite). Jede digitale Kopie ist ihrem

Original identisch, weil lediglich Information dupliziert wird.65

4.2 „Vom Speichern zum Übertragen“

Die im vorigen Abschnitt hervorgehobenen vermeintlichen Vorteile des Internets in Bezug auf

freien ZugriU und die Fülle der verfügbaren Inhalte erweisen sich in der Praxis jedoch als äu-

ßerst problematisch. Ein prominentes Beispiel stellt die eingangs schon erwähnte Wikipedia

dar.66 Die Online-Enzyklopädie taucht in den letzten Jahren immer häuVger als Quellenangabe

auch in wissenschaftlichen Publikationen an Universitäten und Hochschulen auf, mittlerweile

wird sie sogar in Schulbüchern referenziert.67 Hier zeigt sich eine Verwechslung des Internets

mit dem traditionellen Archiv als legtitimiertem Wissensspeicher. Weit verbreitet ist die An-

nahme, die auf Wikipedia – und auch überall sonst im Internet – gefundene Information sei

unter ihrer Adresse stets identisch verfügbar und somit verlässlich referenzierbar, so wie man

dies von einem in einer traditionellen Bibliothek verzeichneten Buch oder sonstigem Doku-

ment zu Recht erwartet.68 Diese Annahme, so weit verbreitet sie im kollektiven Bewusstsein

62 Heidenreich: FlipFlop, S. 132.63 Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses, S. 61.64 „‚Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte‘, heißt es, doch schluckt es damit im ditigalen Raum auch [. . . ] mehr

Speicherplatz“ ebd., S. 294 und benötigt also im Internet mehr Zeit zur Übertragung als ein Text.65 Dies führt logischerweise zu Problemen des Urheberrechts, die hier aus Gründen des begrenzten Umfangs

nicht näher betrachtet werden können. Siehe hierzu Heidenreich: FlipFlop, S. 135–173; 198–207.66 Eine umfassende Untersuchung der Wikipedia Vndet sich bei Lorenz: Wikipedia als „Wissensspeicher“ der

Menschheit.67 Vgl. ebd., S. 214.68 Vgl. Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses, S. 280.

15

Page 18: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

unserer Gesellschaft mittlerweile auch sein mag, ist jedoch falsch. „Im aktuellen Gebrauch

sind elektronische Daten zwar verfügbarer als es Daten im analogen Zeitalter je waren, doch

zugleich ist Information im digitalen Zustand Wüchtiger und empVndlicher denn je zuvor.“69

Das Dokument, das eben noch verfügbar war, kann schon im nächsten Augenblick gelöscht

und damit vergessen werden, vorhandene Hyperlinks auf dieses Dokument führen fortan ins

Leere.70 Ernst gibt die durchschnittliche Lebensdauer von Inhalten im Internet mit gerade

einmal 70 Tagen an,71 was man mit Meyer an den nutzergenerierten Inhalten des „Web 2.0“

festmachen kann, die sich zumeist dem Tagesgeschehen widmen.72

Und auch wenn versucht wird, digitale Daten (z. B. aus dem Internet) oYine „auf Dauer

zu stellen“, die abgerufenen Daten z. B. auf CD brennt, ist deren Lebenszeit begrenzt – mit

lediglich 15 Jahren im Vergleich zu einem gedruckten Buch sogar verschwindend gering.73 Zur

Diskussion steht daher mittlerweile ein dynamisches digitales Archiv, das die gespeicherten

Daten vor Ablauf der Lebensdauer ihrer Speicher vollautomatisch, d. h. ohne notwendigen

menschlichen EingriU auf neue Datenträger kopiert. „Ein vollautomatisches Archiv, dass selbst

vergessen und sich erinnern kann, funktioniert wie ein Megahirn.“74 Durch diese automatische

Übertragung der Information auf neue Datenträger würde somit die dem Tagesgeschehen gel-

tende Kommunikation im Internet buchstäblich auf Dauer gestellt. Auf diese Weise verwisch-

ten die BegriUsgrenzen zwischen dem kulturellen und dem kommunikativen Gedächtnis der

Gesellschaft, denn:

Insofern die kommemorative Kommunikation der Zeitgenossen nicht nur gespeichert wird, sonderndie nutzergenerierten Inhalte auch langfristig online rezipiert werden können, wird hier die Unter-scheidung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis tendenziell aufgehoben.75

Zusammefassend wandelt sich in digitalen Systemen der BegriU des Speicherns zu einem

BegriU des Zwischenspeicherns oder verschwindet gänzlich – mit Ernst gesprochen – im BegriU

der ständigen dynamischen Übertragung.76 Diese Eigenschaften digitaler Medien, vergleicht

man sie mit denen der traditionellen Schriftkultur, haben fatale Folgen für das kulturelle Ge-

dächtnis als Speichergedächtnis, „das Bild vom Archiv als einem kulturellen Gedächtnis-Ort

des Bewahrens in räumlicher Abgeschiedenheit [löst sich] auf.“77 In digitalen Systemen wie

69 Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses, S. 306.70 Dies zeigt Lorenz am Beispiel der Wikipedia, vgl. Lorenz: Wikipedia als „Wissensspeicher“ der Menschheit,

S. 225.71 Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses, S. 87.72 Vgl. Meyer: Erinnerungskultur 2.0?, S. 195.73 Vgl. Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses, S. 306.74 Aleida Assmann: Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedächtnisses, in: Schnittstelle. Medien

und Kulturwissenschaften, hg. v. Wilhelm Voßkamp/Georg Stanitzek, Köln 2001, S. 268–280, hier S. 277 f.75 Meyer: Erinnerungskultur 2.0?, S. 196.76 „An die Stelle des resistenten emphatischen Speichers rückt der dynamische Zwischenspeicher, der Übertra-

gungskanal selbst [. . . ] als dynamisches Archiv.“ Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses, S. 313.77 Assmann: Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedächtnisses, S. 278.

16

Page 19: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

dem Internet nähert sich der BegriU des Speichergedächtnisses immer mehr dem des Funkti-

onsgedächtnisses an, sodass eine eindeutige Trennung – wenn überhaupt – nur noch schwer

möglich ist.

17

Page 20: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

5 Fazit

Die momentan sowohl auf kulturtheoretischer wie auf medienwissenschaftlicher Seite vor-

herrschenden Warnungen vor digitalen Speichermedien zur Wahrung unseres momentanen

kulturellen Gedächtnisses ist zusammenfassend also keinsfalls unbegründet. Dennoch erinnert

der Diskurs zwischen den Apokalyptikern und Evangelisten der digitalen Technologie nicht

nur entfernt an die zunächst vorherrschende Ablehnung der Schrift als Medium unmittelbar

nach ihrer ErVndung.

Das neue kulturelle Gedächtnis (die Bibliothek) konnte sich nur langsam durchsetzen, denn es hattegegen das vorangegangene orale Gedächtnis (Mythus) und materielle Gedächtnis (Magie) in kom-plexem Wechselverhältnis zu kämpfen. Im Verlauf dieses langsamen Durchsetzens kam es zu einerideologischen Sakralisierung der Bibliothek, welche die okzidentale Kultur bis heute kennzeichnet.78

Apokalyptiker sprechen vom Verlust, von der Zerstörung des Gedächtnisses, Evangelis-

ten propagieren ein demokratisches Weltgedächtnis.79 Mit großer Wahrscheinlichkeit liegt die

„Wahrheit“ irgendwo in der Mitte dieser beiden Antipoden.

Die nach wie vor vorherrschende ideologische Sakralisierung der traditionellen Gedächt-

nisräume darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch Bibliotheken und Archive, die unser

kulturelles Gedächtnis nun seit ca. 3000 Jahren prägen, sowie die noch deutlich jüngeren Mu-

seen80 ebenfalls immer schon begrenzende Kriterien der Auswahl besaßen, mithin derer auch

sie „sie am Rande einer ungeheuren Leere operieren.“81 Dass für die Beschreibung digitaler

Systeme – allen voran dem Internet in seiner (im)materiellen Flüchtigkeit und seiner Dynamik

– der traditionelle BegriU des institutionell legitimierten, ewigen Archivs äußerst problema-

tisch ist, wurde ebenfalls gezeigt. Die Erkenntnis, dass eine Leere sogar notwendig ist um als

kulturelles Gedächtnis funktionsfähig zu bleiben, hat sich im kulturwissenschaftlichen Diskurs

mittlerweile durchgesetzt (siehe vor allem Luhmann). Digitale Systeme haben andere Struk-

turen der Auswahl als ihre Vorgänger, dementsprechend wird sich das kulturelle Gedächtnis

wandeln. Über dessen zukünftige Struktur kann zum jetzigen Zeitpunkt noch keine endgültige

Aussage gemacht werden, mögliche Optionen können jedoch genannt werden:

Bislang ist das Archiv die metaphorische Botschaf des Internet im Sinne McLuhans, der darauf hin-wies, daß die Botschaft eines Mediums immer das vorherige ist. [. . . ] Eine genuine Option in der

78 Vilém Flusser: Gedächtnisse, in: Philosophien der neuen Technologie, hg. v. ARS ELECTRONICA, Berlin 1989,S. 41–55, hier S. 46.

79 Vgl. Osten: Das geraubte Gedächtnis, S. 76 f.80 Vgl. Marquard: Philosophie des Stattdessen, S. 52.81 Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses, S. 278.

18

Page 21: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

digitalen Topologie (nicht länger „Raum“) des Archivs liegt in der nicht mehr nur lesenden und se-henden (optischen), sondern auch akustischen und damit zeitsensiblen Navigation (SoniVkation).82

Die Sorge vor einer endgültigen Ablösung der traditionellen Gedächtnisräume durch digi-

tale ist jedoch unbegründet, bedenkt man, dass auch vorschriftliche orale Gedächtnisformen

(z. B. die oben erwähnten Mythen) niemals ausgestorben, sondern allenfalls ins latente Spei-

chergedächtnis gewandert sind. Wir kommunizieren schließlich noch immer größtenteils oral.

Dennoch ist Vorsicht geboten. Es muss bedacht werden, dass kulturgeschichtlicheMonumente,

wie sie in unseren Museen ausgestellt werden, zwar fotograVert, zu virtuellen Abbildern und

damit digital speicherbar werden können, doch ändert dies nichts daran, dass auf diesem Weg

lediglich Abbilder, Dokumente, Information gespeichert wird. Möchte die Gesellschaft ihr bis-

heriges Speichergedächtnis – das eben auch die Monumente umfasst – nicht verlieren, hieße

dies, entgegen digitaler Euphorie die traditionellen Archive, Bibliotheken und Museen „nicht

im Sinne der digitalen Räume zu mobilisieren, sondern sie als medientechnisch konservatives

Gegengewicht zu erhalten, in ihrer einfachen Mechanik gegenüber elektronischer Informati-

on“.83

Und trotz aller Ähnlichkeit der prognostizierten digitalen „Megahirne“ mit unserem bio-

logischen Gedächtnis, darf ein zentraler Unterschied nicht vergesssen werden: „Der Com-

puter speichert, er memoriert nicht.“84 Erinnerungen bleiben speziVsch gesellschaftliche und

menschliche Kommunikationsprozesse. Wir müssen uns nur darüber im Klaren sein, dass die

Auswahl unserer Speichermedien uns vorgeben, was genau wir erinnern können, sprich, wie

unser kulturelles Gedächtnis in Zukunft aussehen wird.

82 Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses, S. 314 f.83 Ebd., S. 73.84 Osten: Das geraubte Gedächtnis, S. 78.

19

Page 22: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

Literatur

Assmann, Aleida: Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedächtnisses, in: Schnitt-

stelle. Medien und Kulturwissenschaften, hg. v. Wilhelm Voßkamp und Georg Stanitzek,

Köln 2001, S. 268–280.

Dies.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München

1999.

Assmann, Aleida und Jan Assmann: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis,

in: DieWirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, hg. v.

Klaus Merten, Opladen 1994, S. 114–140.

Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen

Hochkulturen, München 1992.

Ders.: Der BegriU des kulturellen Gedächtnisses, in: Kulturelles Gedächtnis im 21. Jahrhun-

dert. Tagungsband des internationalen Symposiums, 23. April 2005, Karlsruhe, hg. v. Tho-

mas Dreier und Ellen Euler (Schriften des Zentrums für angewandte Rechtswissenschaft 1),

Karlsruhe 2005, S. 21–29, url: http://www.uvka.de/univerlag/volltexte/2005/91/pdf/ZAR_

Schriftenreihe_1.pdf (ZugriU am 23. 02. 2010).

Derrida, Jacques: Archive Fever. A Freudian Impression, in: Diacritics 25.2 (1995), S. 9–63.

Ernst, Wolfgang: Das Gesetz des Gedächtnisses. Medien und Archive am Ende (des 20. Jahr-

hunderts), Berlin 2007.

Flusser, Vilém: Gedächtnisse, in: Philosophien der neuen Technologie, hg. v. ARS ELECTRO-

NICA, Berlin 1989, S. 41–55.

Foerster, Heinz von: Das Gedächtnis. Eine quantenphysikalische Untersuchung, Wien 1948.

Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, aus dem Französischen übers. v. Ulrich Köppen,

4. AuW., 1973, Ndr. Frankfurt/Main 1990.

Heidenreich, Stefan: FlipFlop. Digitale Datenströme und die Kultur des 21. Jahrhunderts, Mün-

chen und Wien 2004.

Lorenz, Maren: Wikipedia als „Wissensspeicher“ der Menschheit. Genial, gefährlich oder ba-

nal?, in: Meyer: Erinnerungskultur 2.0, S. 207–235.

Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1998.

Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Ge-

sellschaft, Bd. 4, Frankfurt/Main 1999.

Marquard, Odo: Philosophie des Stattdessen, Stuttgart 2000.

Meyer, Erik: Erinnerungskultur 2.0? Zur Transformation kommemorativer Kommunikation in

digitalen, interaktiven Medien, in: Ders.: Erinnerungskultur 2.0, S. 175–203.

20

Page 23: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

Meyer, Erik (Hrsg.): Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Me-

dien, Frankfurt/Main 2009.

Osten, Manfred: Das geraubte Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinne-

rungskultur, Frankfurt/Main und Leipzig 2004.

Roch, Axel: Adressierung von Texten als Signale über Bilder, in: Verstärker. Von Strömungen,

Spannungen und überschreibenden Bewegungen 2.2 (Mai 1997), hg. v. Markus Krajewski

und Harun Maye, url: http://www.culture.hu-berlin.de/verstaerker/vs002/ (ZugriU am

09. 04. 2010).

Rösler, Ingo: Die Dokumentationsbereiche Archiv, Bibliothek und Museum. Ein Diskussions-

beitrag, in: Archivmitteilungen. Zeitschrift für Theorie und Praxis des Archivwesens 21.4

(1971), S. 128–132.

Schmidt, Siegfried: Kalte Faszination. Medien – Kultur – Wissenschaft in der Mediengesell-

schaft, Weilerswist 2000.

21

Page 24: Digitale Gedächtnisräume - · PDF file> Einleitung Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben

Erklärung selbstständiger Arbeit

Hiermit versichere ich, dass ich diese Hausarbeit selbstständig verfasst, keine anderen als die

angegebenen Hilfsmittel verwendet habe und das sämtliche Stellen, die benutzten Werken im

Wortlaut oder dem Sinn nach entnommen wurden, mit Quellenangaben kenntlich gemacht

wurden.

Berlin, den 14. April 2010

Johannes Maibaum

22