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VON CHRISTOPH LAUE A uf der Engerstraße nicht weit von Kö- nig&Böschke (heute Sparkasse) drängen sich die Menschen und jubeln ei- nem Auto-Corso zu: Arbeiterin- nen in Kitteln stehen da, Mitar- beiter der Stadtverwaltung, Hausfrauen, viele Kinder. Or- densfrauen recken aus offenen Cabrios winkenden Männern in Uniform die Arme zum Hitler- Gruß entgegen. Die Szene vom 16. Juni 1939 hat der Fotograf Fenske festgehalten. Sie ist Teil einer Ausstellung, die ab 21. März in der Gedenkstätte Zellen- trakt im Rathaus zu sehen ist. Sie erinnert an die Jahre zwi- schen 1933 und 1939. Es ist die Zeit zwischen der „Machtergrei- fung“ im Januar und dem mit dem Überfall auf Polen begin- nenden 2. Weltkrieg – nur zehn Wochen nach der Jubel-Szene auf der Engerstraße. An diesem Tag ließ sich die „Alte Garde“ der NSDAP in Her- ford feiern. Sie setzte sich aus den Parteimitgliedern mit einer Mitgliedsnummer unter 100.000 zusammen. Auch der Herforder Druckereibesitzer Tit- gemeyer (Seite 4 dieser Aus- gabe) gehörte als Nummer 37.455 dazu. Über 700 „Altgar- disten“ nahmen an einer Fahrt durch ganz Westfalen teil. Die Begeisterung war echt. Al- lerdings war der Besuch minu- tiös vorbereitet. Nach sechs Jah- ren NS-Herrschaft waren die Herforder nahezu vollständig in das System eingebunden. Es gab ein Gefühl von Aufbruch und Aufstieg, der Beendigung der „Schmach von Versailles“ und des Wiedererstarkens Deutsch- lands unter dem charismati- schen Führer Adolf Hitler. Kreispropagandaleiter Bruno Otto Schulze hatte die Organisa- tion des Besuchs übernommen. Alle Schüler der Schulen in Stadt und Kreis bekamen schulfrei, um an den Straßen Spalier zu ste- hen, ebenso die Beschäftigten al- ler kommunalen und staatli- chen Behörden. Die Einheiten von Hitlerjugend (HJ), Jung- volk und Bund Deutscher Mäd- chen (BDM) wurden verpflich- tet. Belegschaften von Firmen nahmen geschlossen teil. Einige nutzten den Auftritt am Straßen- besuch sogar zur Werbung für ihre Produkte. Hausbesitzer wurden zum Schmücken aufgefordert. Die Straßen waren mit Bannern überspannt: „Der Kreis Herford des Landes Widukind grüßt die Alte Garde“ oder „Die Otto- Weddigen-Stadt grüßt die Alte Garde“ war zu lesen. Am Morgen des 16. Juni emp- fing Kreisleiter Nolting die Fahr- zeuge an der Stadtgrenze und ge- sellte sich im ersten offenen Wa- gen zur Prominenz, darunter Reichsorganisationsleiter Dr. Ley und Gauleiter Dr. Meyer. An der Schleife – Engerstraße, Richtung Enger – standen beson- ders viele Schaulustige, hier war- ben die Unternehmen Schwaco, Stüker und die Herforder Braue- rei für ihre Produkte. Durch Herford fuhr der Kon- voi ohne Halt durch, in Enger hielt die Kolonne an der gerade neu eröffneten „Widukind-Ge- dächtnisstätte“. Am Ende des Ta- ges fanden in Herford und En- ger große Volksfeste zur Ehren der längst entschwundenen „Al- ten Garde“ statt. In der Ausstellung „Herford gehört(e) dem Führer?“ geht es vor allem um den Alltag jener Jahre. Die Gedenkstätte Zellen- trakt zeigt auch an vielen ande- ren Beispielen, wie es in den sechs Jahren nach der Machter- greifung gelungen war, die Men- schen im Raum Herford zu „na- zifizieren“. ¦ Mehr über die Ausstellung auf den Seiten 4 und 5 dieser Aus- gabe Herausgegeben von Kreisheimatverein Herford und Neue Westfälisch e HF Magazin Ma g azin H EIMATKUNDLICHE BEITRÄGE AUS DEM KREIS HERFORD www.kreisheimatverein.de Dem Führer verschworen Eine Ausstellung in der Gedenkstätte Zellentrakt zeigt die Entwicklung Herfords zwischen 1933 bis 1939 Jubeln für die Alte Garde: An der Schleife Engerstraße stadtauswärts (hinten rechts im Bild die Firma König&Böschke)lassen sich Veteranen der NSDAP auf ihrer Fahrt durch Westfalen von Hitlerjugend, Bund deutscher Mädels, Nonnen und Firmenbelegschaften feiern. FOTO: KAHS Wer die Jugend besitzt, hat die Zukunft: Herforder „Pimpfe“ (10- bis 14-Jährige) in einem Lager des „Hit- lerjugend-Bannes 183 Herzog Wittekind“ 1938. DONNERSTAG, 14. MÄRZ 2013 – Nr. 84

DONNERSTAG,14.MÄRZ2013–Nr.84 DemFührerverschworen...ins Elverdisser Bauernviertel. Auf diesen Touren versuchte er einigeHabseligkeiteninLebens-mittel umzutauschen. Einmal ließ

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  • VON CHRISTOPH LAUE

    Auf der Engerstraßenicht weit von Kö-nig&Böschke (heuteSparkasse) drängen

    sich die Menschen und jubeln ei-nem Auto-Corso zu: Arbeiterin-nen in Kitteln stehen da, Mitar-beiter der Stadtverwaltung,Hausfrauen, viele Kinder. Or-densfrauen recken aus offenenCabrios winkenden Männern inUniform die Arme zum Hitler-Gruß entgegen. Die Szene vom16. Juni 1939 hat der FotografFenske festgehalten. Sie ist Teileiner Ausstellung, die ab 21.März in der Gedenkstätte Zellen-trakt im Rathaus zu sehen ist.

    Sie erinnert an die Jahre zwi-schen 1933 und 1939. Es ist dieZeit zwischen der „Machtergrei-fung“ im Januar und dem mitdem Überfall auf Polen begin-nenden 2. Weltkrieg – nur zehnWochen nach der Jubel-Szeneauf der Engerstraße.

    An diesem Tag ließ sich die„Alte Garde“ der NSDAP in Her-ford feiern. Sie setzte sich ausden Parteimitgliedern mit einerMitgliedsnummer unter100.000 zusammen. Auch derHerforderDruckereibesitzer Tit-gemeyer (Seite 4 dieser Aus-gabe) gehörte als Nummer37.455 dazu. Über 700 „Altgar-disten“ nahmen an einer Fahrtdurch ganz Westfalen teil.

    Die Begeisterung war echt. Al-lerdings war der Besuch minu-tiös vorbereitet. Nach sechs Jah-ren NS-Herrschaft waren dieHerforder nahezu vollständig indas System eingebunden. Es gabein Gefühl von Aufbruch undAufstieg, der Beendigung der„Schmach von Versailles“ unddes Wiedererstarkens Deutsch-lands unter dem charismati-schen Führer Adolf Hitler.

    Kreispropagandaleiter BrunoOtto Schulze hatte die Organisa-tion des Besuchs übernommen.Alle Schüler der Schulen in Stadtund Kreis bekamen schulfrei,um anden Straßen Spalier zu ste-hen, ebenso die Beschäftigten al-ler kommunalen und staatli-chen Behörden. Die Einheitenvon Hitlerjugend (HJ), Jung-volk und Bund Deutscher Mäd-chen (BDM) wurden verpflich-tet. Belegschaften von Firmennahmen geschlossen teil. Einige

    nutztenden Auftritt am Straßen-besuch sogar zur Werbung fürihre Produkte.

    Hausbesitzer wurden zumSchmücken aufgefordert. DieStraßen waren mit Bannern

    überspannt: „Der Kreis Herforddes Landes Widukind grüßt dieAlte Garde“ oder „Die Otto-Weddigen-Stadt grüßt die AlteGarde“ war zu lesen.

    Am Morgen des 16. Juni emp-

    fing Kreisleiter Nolting die Fahr-zeuge an der Stadtgrenze und ge-sellte sich im ersten offenen Wa-gen zur Prominenz, darunterReichsorganisationsleiter Dr.Ley und Gauleiter Dr. Meyer.

    An der Schleife – Engerstraße,Richtung Enger – standen beson-ders viele Schaulustige, hier war-ben die Unternehmen Schwaco,Stüker und die Herforder Braue-rei für ihre Produkte.

    Durch Herford fuhr der Kon-voi ohne Halt durch, in Engerhielt die Kolonne an der geradeneu eröffneten „Widukind-Ge-dächtnisstätte“.Am Endedes Ta-ges fanden in Herford und En-ger große Volksfeste zur Ehrender längst entschwundenen „Al-ten Garde“ statt.

    In der Ausstellung „Herfordgehört(e) dem Führer?“ geht esvor allem um den Alltag jenerJahre. Die Gedenkstätte Zellen-trakt zeigt auch an vielen ande-ren Beispielen, wie es in densechs Jahren nach der Machter-greifung gelungen war, die Men-schen im Raum Herford zu „na-zifizieren“.

    ¦ Mehr über die Ausstellungauf den Seiten 4 und 5 dieser Aus-gabe

    Her ausge geben von Kreisheimatverein Her ford und Neue Westfäl isch e

    HFMagazinMagazinHEIMATKUNDLICHEBEITRÄGEAUS DEM KREISHERFORDwww.kreisheim atverein.de

    DemFührerverschworenEine Ausstellung in der Gedenkstätte Zellentrakt zeigt die Entwicklung Herfords zwischen 1933 bis 1939

    JubelnfürdieAlteGarde: An der Schleife Engerstraße stadtauswärts (hinten rechts im Bild die Firma König&Böschke)lassen sich Veteranender NSDAP auf ihrer Fahrt durch Westfalen von Hitlerjugend, Bund deutscher Mädels, Nonnen und Firmenbelegschaften feiern. FOTO: KAHS

    WerdieJugendbesitzt,hatdieZukunft: Herforder „Pimpfe“ (10- bis 14-Jährige) in einem Lager des „Hit-lerjugend-Bannes 183 Herzog Wittekind“ 1938.

    DONNERSTAG, 14. MÄRZ 2013 – Nr. 84

  • Als der Krieg zuende war, hat-ten die Leute in der Winter-kälte nichts zu heizen. Kaufenkonnte man nichts. So zogen siemorgens um drei oder vier Uhrmit dem Bollerwagen los zumKohlen klauen. An der Ring-straße, wo heute die HerforderKläranlage ist, war an der Bahn-strecke ein Signal, da musstendie Kohlezüge aus dem Ruhrge-biet warten. Sofort kletterte ei-ner auf den Wagen und warf diedicken Kohlebrocken herunter.Die anderen schafften sie die ge-waltige Böschung herunter undluden den Bollerwagen so voll,wie es ging. Dann sahen sie zu,dass sie mit der schweren Karrevor dem Hellwerden wieder zuHause waren. Mit dem Hammerschlugen sie die Brocken kleinund teilten sich die Beute. Ein-mal ist mein Vater mit gewesen;es war ihm aber dann doch zuheikel.

    Günter Wörmann, Hidden-hausen

    Esmuss um 1950 herum gewe-sen sein, da hatten wir nachder Ernte im Herbst Roggen ge-droschen. Der musste zurMühle gebracht werden. UnsereFamilie wohnte in Eilshausenund bis zur Windmühle warenes nur einige hundert Meter.Wir wollten alles mit einem Malerledigen und so packten wir dieSäcke auf den Handwagen – zu-sammen sechs Zentner. Überden Erdweg konnten wir nicht,da hätte sich der Wagen festge-fahren. Auf dem Schotterwegging es besser. Vater, eine oderzwei meiner Schwestern und ichzogen und schoben die Fuhre,zum Schluss mit Macht bergauf.Ich war gut zwanzig Jahre alt, dawusste ich kaum, wohin mit derKraft.

    Heinrich Oberschmidt, Hid-denhausen

    Es muss so um 1960 gewesensein, ich lebte bei meinen El-tern in Marburg. Meine Mutterbestellte, wie damals üblich, ei-nen Schrebergarten etwas außer-halb der Stadt, um die Familiemit frischem Gemüse und Obstzu versorgen. Das Gartenhaus,im Familienjargon nur „DasHäuschen" genannt, diente da-rüber hinaus der Erholung. In ei-nem angebauten Schuppenstand ein Bollerwagen mit eisen-bereiften Holzspeichenrädern

    und hölzernem Wagenkasten,schon ziemlich alt und grau. Mitdiesem Bollerwagen sammelteich die ersten Erfahrungen mitselbstfahrenden Fahrzeugen.„Selbstfahrend“ war der Boller-wagen, wenn ich ihn einen nahe-gelegenen geschotterten Wegbergauf zog, wendete und dannpolternd und klappernd wiederhinunter fuhr. Einfluss auf dieFahrtrichtung zu nehmen warnur eingeschränkt möglich, in-dem ich versuchte, mit der zwi-schen den Beinen eingeklemm-ten Deichsel zu lenken. Bremsengab es nicht, glücklicherweisewar der Weg lang genug und liefeben aus. Ich fühlte mich jeden-falls damals wie Juan ManuelFangio am Steuer seines Mase-rati, mit dem er 1957 die Welt-meisterschaft errang.

    Dr. Werner Best, Spenge

    Als Jungs hatten wir uns im-mer mal wieder irgendwel-che Fahrzeuge besorgt, um da-mit die Talstraße in Ennigloh he-runter zu fahren. Weil kaum Au-toverkehr war, spielten wir oftauf der Straße. Wir fuhren meistzu mehreren, deshalb hielten dieGeräte nicht lange. Schrotthänd-ler Möllenberg hatte einen altenBollerwagen herumstehen, dendurften wir nehmen. Die Seiten-bretter schraubten wir ab, dannging’s zu dritt oder mit nochmehr Jungs obendrauf zu Tal.

    Am Ende bogen wir in eine Sei-tenstraße ab, da war Sand undwir kippten mitsamt Wagen um.Der Wagen hat das erstaunlichlange ausgehalten.

    Peter Lange, Bünde

    Die Familie meines OpasWerner war groß, mit vie-len Kindern, Riesengarten, etli-chen Ziegen und Schafen –Selbstversorger, wie viele andereauch. Zusammen mit seinemBruder Heinz musste er des öfte-ren zur Tante achtern Biargenach Twiehausen fahren. Im-mer war irgendwas zu holenoder zu bringen, Pflanzkartof-feln zum Beispiel. Von Quern-heim aus waren das ungefährfünfzehn Kilometer. Sie spann-ten sich eine Ziege vor den Wa-gen, zogen los und übernachte-ten einmal in Twiehausen. Eskonnte sein, dass die Ziege beider Gelegenheit gleich zumBock kam. Am nächsten Tagging’s wieder retour. Einmalsind sie überfallen worden:Oben auf dem Berg hat man ih-nen alle Kartoffeln abgenom-men und sie kamen mit leeremBollerwagen wieder zu Hausean.

    Hans Kleemeier, Quernheim

    Zu meiner Kinderzeit wohn-ten wir in der Bachstraße inSpenge, da war es nicht weit zumWerburger Wald. Mein Vater

    nahm mich oft mitzum Holz ho-len. Dann packten wir den Bol-lerwagen mit Knüppelholz sovoll, wie es eben ging. Hatten wirein Schwein geschlachtet, kamvielFleisch in Blechdosen. Zwan-zig, dreißig oder noch mehrfrisch gefüllte Dosen packtenwir auf den Bollerwagen und zo-gen damit los zu Onkel August,der in Neuenfelde ein Fahrradge-schäft hatte und ein Gerät zumDosenverschließen. Mit den ver-deckelten Dosen im Wagenmachten wir uns wieder auf denRückweg. Das waren sechs Kilo-meter hin und zurück.

    Monika Ellerbrock, Spenge

    Als wir Kinder und auch nochJugendliche waren, spieltenwir oft mit den Bollerwagen. Dieabsolute Mutprobe war es, ste-hend in dem Wagen einen Brinkan der Oberringstraße runterzu-fahren. Das Problem bestand da-rin, dass derWagen mit der senk-recht hochstehenden Deichselnur schlecht zu lenken war. Denschmalen Querholm fest in denHänden standen wir leicht inden Knien federnd– und ab gingdie Post immer schnellerbergab. Etwa 50 Meter lang wardie Piste. Aber wehe, wenn einesder schmalen Räder einen har-ten Maulwurfshaufen traf: Eswar kaum möglich, den Boller-wagen vor dem Kippen zu be-wahren. Die Freunde johlten.

    Eckhard Möller, Herford

    Wenn wir Altmaterial sam-melten, zogen wir in klei-nen Gruppen mit Bollerwagenlos und sangen: „Lumpen, Ei-sen, Knochen und Papier, Her-mann Göring, wir helfen dir“,oder manchmal hieß die letzteZeile auch: „Ausgeschlag’neZähne sammeln wir“. Und jedeMenge Heilkräuter und wasnicht alles. Es war lustig. Nichtalle machten das gern, aber ich.“Zeitzeugin Elfie H. in Spanuthin ihrer Biografie einer Mäd-chenklasse des Herforder Köni-gin-Mathilde-Gymnasiums(1937-1945)

    Die Jahre direkt nach demzweiten Weltkrieg bezeich-neten meine Großeltern oft mit„die schlechte Zeit, wo es nichtsgab“. In dieser Zeit fuhr meinGroßvater manchmal mit demBollerwagen zum „Hamstern“ins Elverdisser Bauernviertel.Auf diesen Touren versuchte ereinige Habseligkeiten in Lebens-mittel umzutauschen. Einmalließ er beim letzten Bauern wieüblich den Bollerwagen mitschon getauschten Lebensmit-teln vor der Tür stehen und gingins Haus. Als er zurückkam, warbeides weg, der Bollerwagenund die Lebensmittel.

    Britta Schröter, Knetter-heide

    KHV

    Sechs Sack Roggen auf Schotter bergaufHF-Leser erinnern sich an Erlebnisse mit ihrem Bollerwagen

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    MitdemBollerwagenunterwegs: Diese Kinder kommen mit frischem Futterschrot von der Mühle Baumeister in Eilshausen, die oberhalb derevangelischen Kirche stand. Hilfe von Erwachsenen brauchten sie nicht. Das Bild stammt aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg. FOTO: PRIVAT

  • VON CHRISTOPH MÖRSTEDT (TEXT)

    UND FRANK-MICHAEL

    KIEL-STEINKAMP (FOTOS)

    Meine Güte, ist dasschwer. Es gehtbergauf. ImSchlepp: Ein ganz

    gewöhnlicher hölzerner Boller-wagen, darin zwei Säcke mit Ge-treide. Die linke Hand zieht amGriffholz, die rechte am Seil, dieHolzschuhe an den Füßenschmieren durch den Lehm. DerFeldweg ist vom Tauwetter nochweich, wir suchen Halt auf Gras-nabe und Ziegelbruch in derFahrspur. Schon nach hundertMetern Fahrstrecke kommt derBollerwagenzieher aus dem Keu-chen nicht mehr heraus. ZumGlück schiebt Tom am hinterenEnde der Fuhre. Ohne ihn kä-men wir hier nicht weiter.

    Tom Schorre ist nicht bange,dafür aber kräftig und so hilft erbei unserem kleinen Fahrver-such. Mit seinen fast zwölf Jah-ren gehört er zu den jüngsten Ak-tiven im Verein „Vom Kornzum Brot“, der die Rürups-mühle in Löhne-Wittel betreibt.Auf der Deele des Heuerlings-hauses, dem größten Gebäudeder Mühlenhofanlage, stehenmehrere Bollerwagen. Sie wer-den für die kleinen Transporte

    gebraucht: Getreide zur Mühle,Schrot zum Backhaus, Brenn-holz hierhin und dahin. Ausdem Sortiment haben wir uns ei-nen Wagen ausgesucht, der mitseiner grauen Patina beträcht-lich alt aussieht. Wie alt er wirk-lich ist, weiß niemand. Erstammt aus Ostpreußen und hateiner Flüchtlingsfamilie auf demTreck nach Westen gute, viel-leicht überlebenswichtigeDienste getan. Deshalb wird erbis heute in Ehren gehalten.

    Vor der Fahrt hat Vereins-freund Uli Flachmann Radna-ben und Lenkung geölt unddazu den Wagen auf die Seite ge-kippt. Dabei fiel unversehensder Wagenkasten komplett aus-einander. Nach dem erstenSchreck war klar: Das soll so.Der Kasten ist nur zusammenge-steckt, damit man ihn bei Bedarfganz oder teilweise weglassenkann. So trägt er wahlweise Jau-chefass, Langholz, Runkelblät-ter, Kartoffelkörbe, Obst, Kin-der, Möbel oder ein halbes Kalb.Er übernahm alles, was nichtaufs Fahrrad passte – ein echtesVielseitigkeitsgefährt.

    Nach zwei weiteren Ver-schnaufpausen haben wir dasGröbste geschafft. Wo der Golf-platz Widukind-Land anfängt,hört der Feldweg auf. Auf der

    Höhe und über Asphalt rollt un-ser Getreidetransport schon vielleichter. Unsere Rückenpartiekann trocknen. Auf dem Park-platz erinnern sich zwei stau-nende Golfer an die Zeit, als sieselbst mit Holzschuhen undHandwagen unterwegs waren.Ihre Augen leuchten so.

    Auf der Mittelbachstraßegeht es bergab. Das letzte Stückbis zur Taakenmühle, der obers-ten Wassermühle am Mittel-bach, wird immer steiler. Weilder Wagen keine Bremse hat,müssen wir ihn muskulär aufhal-ten – Tom hält jetzt hinten amSeil, vorne stemmen wir uns mitdem unteren Rückgrat gegen dieDeichsel. Es hilft, die Räder derrechtenSeite über den Randstrei-fen rollen zu lassen. Kaffee-und-Kuchen-Pause bei Familie Sett.

    Heinrich Oberschmidt ausEilshausen ist 85 Jahre alt und ge-lernter Tischler. Bei TischlereiLaege in Oetinghausen hat ernach dem Krieg ganze Serienvon Bollerwagen gebaut. DasAufwendigste daran waren dieRäder.Die Naben wurden ausEi-che gedrechselt und hochprä-zise, aber von Hand konisch aus-gebohrt. Die inneren Enden derSpeichenkamen vordemEinpas-sen in kochendes Wasser, das äu-ßere Ende fräßte der Tischler

    rund. Um das Bereifen küm-merte sich der Schmied. So kos-tete am Ende ein Bollerwagendas Dreifache einer Schiebkarre.Etwa 140 Reichsmark mussteder Kunde auf den Tisch legen –und ein, zwei Kisten Zigarren.Damit hatte Meister Laege etwaszum Tauschen und Kungeln mitdem Holzhändler. Mit der Wäh-rungsreform 1949 war Schlussmit Bollerwagen. Es gab wiederKautschuk für Gummireifenund die Zeit der eisenbereiftenWagen war vorbei.

    „Das ist aber viel lauter jetzt.“Tom sagt es. Unbeladen, wie erist, poltert und knirscht der Wa-gen auf dem Heimweg überStraße, Stock und Stein undmacht seinem Namen alle Ehre.Tom probiert, wie es ist, sich fah-ren zu lassen: Nach gefühltenzwanzig Metern verzichtet erdankend auf das harte Geschüt-tel. Ohnehin steht er lieber mitbeiden Beinen auf dem Boden.

    Nach einer halben Stunde ha-ben wir die zweieinhalb Kilome-ter entspannt geschafft. Auf Rü-rupsmühle rangieren wir denostpreußischen Oldtimer wie-der auf die Deele. Die Tour hater unbeeindruckt überstanden.

    Seltsam: Für Alles gibt es Bast-ler, Sammler, Fanclubs. Für alteBollerwagen nicht.

    KHV

    Radnabe: Gut geölt läuft der Bol-lerwagen auch bei schwerer Last.

    ZweiZentnerGetreideimSack: HF-Autor Christoph Mörstedt (mit Holzschuhen) auf dem Weg zur Taakenmühle in Exter. Tom Schorre (11) muss helfen, allein geht es nicht.

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    Reisefertig: Ulrich Flachmannbindet die Getreidesäcke zu.

    BerganaufmatschigemBoden: Das Zugseil hilft, die Kraft besser ein-zusetzen.

    Raffiniert konstruiert: Der Wagenkasten ist von der Unterkonstruk-tion aus Buchenholz mit Drehschemel-Lenkung komplett abnehmbar.

    Großes Lob dem BollerwagenDer historische Fahrbericht: Eisenbereifter Handwagen unbekannten Alters

    Hölzerner, eisenbereifter Hand-wagenAlter: mindestens 70 JahreLänge über alles: 225 cmBreite über alles: 85 cmAchslänge: 80 cmSpurweite: 61 cmHolzräder eisenbereift, je 5 Fel-gensegmente mit je 2 Speichen,Raddurchmesser vorn/hinten:50/58 cmLenkung: DrehschemelKasten abnehmbar, Länge: 100cm, Breite unten/oben: 35/53cm

    TechnischeDaten

  • VON CHRISTOPH LAUE

    In der Geschichte der Partei-presse wird der Name CarlTitgemeyer immereineneh-renvollen Platz behalten.“

    So steht es im Nachruf in derNSDAP-Zeitung WestfälischeNeueste Nachrichten. Doch so„ehrenvoll“, wie die Würdigungam 24. Dezember 1943 aussah,ist Carl Titgemeyer von seinerPartei nicht immer behandeltworden. Ab 1933 führte er einenverzweifelten Kampf um den Er-halt seines Blattes, des „Westfäli-schen Beobachters“.

    Titgemeyer war Besitzer derVerlagsanstalt Carl TitgemeyerEnger Westfalen (Vactew), mitder er 1921 nach Herford umge-zogen war. Er ist Nationalsozia-list der ersten Stunde, gehört zuden ersten sieben Mitgliedernder NSDAP in Herford. SeineWochenzeitschrift „Der Heimat-freund“ stellt er ganz in denDienst der neuen „Bewegung“.

    Ab 1930 produziert er auchden „Westfälischen Beobach-ter“, das offizielle Parteiblatt fürden Gau Westfalen-Nord derNSDAP mit mehreren Lokalaus-gaben, so dem Bielefelder oderMindener Beobachter; ab Fe-bruar1932 gibtes auchden „Her-forder Beobachter“. Herausge-ber ist Gauleiter Dr. AlfredMeyer persönlich, Redakteurfür Politik ist Dr. Lück, für Loka-les, Kunst und Wissenschaftzeichnet H. Haase verantwort-lich, für Sport und Unterhal-tung R. Schröder und die Anzei-genverwaltung macht Carl Tigte-meyer selbst.

    Doch als am 13. Dezember1933 in Bielefeld erstmals dasNS-Volksblatt erscheint – eshatte Räume und Technik derverbotenen sozialdemokrati-schen „Volkswacht“ übernom-men, entbrennt ein Kampf umdie Pressehoheit in der Region.

    Jetzt teilt die örtliche NS-Spitze allen Parteigenossen mit,endlich sei durch den Gauleiter„die lange gewünschte nat. soz.Zeitung für das östliche Westfa-len geschaffen“ worden, das„N.S. Volksblatt für Westfalen“.„Es ist ein schönes Blatt, ganznach unseren Wünschen,“ auchwenn „Böse Wühler und Nei-der“ es „unsympathisch“ ma-chen wollten, unter anderdemmit der Behauptung, der Haupt-schriftleiter Dr. Herzberg sei einJude. Sie fordert die Parteigenos-sen auf, „dass bis 31. Dezember1933 jede Ortsgruppe mindes-tens soviele Abonnenten mel-det, als sie Parteimitglieder hat.“

    Doch Carl Titgemeyer willnicht kampflos aufgeben: Er hältEnde Dezember mit einem eige-nen Bestellschein dagegen: Der

    Westfälische Beobachter sei als„älteste nationalsozialistischeZeitung im Gau Westfalen-Nord“ immer „Euer Kampfblattim besten Sinne des Wortes“ ge-wesen, das „unbeirrt seinen Wegtrotz der wort- und geldgewalti-gen Schreier von rechts undlinks“ gegangen wäre. Er for-dert, auch im nächsten Jahrseine Zeitung zulesen und zu ver-breiten.

    Dies war einHöhepunkt ei-ner schon einJahr währendenAuseinanderset-zung, derenwahre Hinter-gründe unklarbleiben. Bereitsam 28. Dezem-ber 1932 hatteGauleiter Dr.Meyer Titge-meyer mitgeteilt,dass zum 1. Ja-nuar 1933 dasVertragsverhält-nis zwischendem Gau undihm gekündigtwerde, er ihn da-her nicht mehrals Herausgeberund das Blattnicht mehr alsparteioffiziell be-nennen dürfe.

    Titgemeyer be-hält trotzdemden Titel „partei-offiziell“ bei undzeigt sich mutig:Am 16. Mai 1933– wenige Monatenach der „Macht-ergreifung“ –schickt er ein Te-legramm anAdolf Hitler per-sönlich: „SOSRuf des Verlegersdes Westfäli-schen Beobach-ters. Wann undwo darf ich Füh-rer sprechen?“

    Ihm wird mit-geteilt, der Füh-rer habe keineZeit, er solle seinAnliegen schrift-lich darlegen. BisAugust wird ervertröstet und an den Verlagsdi-rektor Amman in München als„Reichsleiter der deutschenPresse“ verwiesen. Diesem teilter mit, er habe von der Gaulei-tung ein Ultimatum, erhalten,das „parteiamtlich“ aus demKopf der Zeitung zu streichen,wolle aber seine jahrzehntelan-gen Opfer gewürdigt wissen. Erbleibt ohne Antwort.

    Stattdessen schreibt ihm Gau-pressewart Schröder, seine Zei-tung könne nicht mehr partei-amtlich sein, da es dem Gau„stets Knüppel zwischen dieBeine geworfen“ und „in vielenFällen den Anweisungen derGauleitung nicht Folge“ geleis-tet habe. Jetzt streicht Titge-meyer das „parteiamtlich“ tat-

    sächlich aus dem Kopf. Die Gau-leitung nimmt dies erfreut wahrund erlaubt im Gegenzug, dasHakenkreuz „bis auf Weiteres“zu benutzen.

    Doch Titgemeyer gibt nichtauf und schreibt weitere Bitt-briefe an Ammann, den Reichs-presschef Dr. Dietrich in Berlinund den Chef der Deutschen Ar-beitsfrontDr. Ley. Am 6. Dezem-

    ber 1933 geht noch einmal – un-ter Angabe seiner Mitgliedsnum-mer - ein Telegramm an denReichskanzlerheraus: „Bittemei-nen Führer um baldigen Emp-fang und Vortrag im Namen ei-ner grossen Anzahl von Zei-tungsverlegern in Minden-Ra-vensberg, die sich durch bevor-stehende Gründung eines neuen

    Gau-Organs inihrer ExistenzaufsÄusserste be-droht fühlen.“

    Zurück be-kommt er einevorgedruckte„Danksagungdes Führers füreine Aufmerk-samkeit“. Nachseiner Be-schwerde dage-gen wird er am23. Dezemberaufgefordert, dasTelegrammnoch-mals einzurei-chen.

    Im Hinter-grund sammelter Beweise. Sowird ihm bestä-tigt, dass derLandtagsange-ordneteund Gau-inspektor Heide-mann am 13. No-vember 1933 ge-sagt hätte, dassder WestfälischeBeobachter ein„Scheißblatt sei“und von „jehergegen die Bewe-gung gekämpfthabe.“

    Am23.Dezem-ber 1933 teiltseine RedaktionMinden mit, dassviele Abonnen-ten ihre Kündi-gung zurückge-nommen hätten,da in der neuenZeitung „angeb-lich diealten sozi-aldemokrati-schen ‚Bonzen’weiter beschäf-tigt würden“.

    Am HeiligenAbend 1933 wen-det sich derVactew-Eigentü-

    mer an die ReichspressestelleBerlin. Er will zumindest für denKreis Herford wieder das partei-amtliche Blatt werden. Doch aufTitgemeyers Beschwerde anKreisleiter Nolting wegen unlau-terer Werbemethoden des NS-Volksblattes erlässt dieser einenerneuten Aufruf, dass NS-Volks-blatt zu beziehen. Der Herforderwird nun sogar angewiesen, die

    Bezeichnung „älteste nationalso-zialistische Zeitung in WestfalenNord“ zu löschen.

    Am 26. Februar 1934 kündigtihm Maggi die Werbeaufträge.Eine Woche später wird er we-gen seiner Aufrufe gegen dasNS-Volksblatt „letztmalig“ ver-warnt. Er muss versprechen,jede Polemik einzustellen.

    In weiterer Korrespondenzmit dem Reichsverband derdeutschen Zeitungsverleger unddem Verwaltungsamt desReichsleiters für die Presse bitteter „aus trostloser Lage befreit“zu werden.

    Im Mai wird ihm erneut einZeugenbericht zugespielt. Land-rat und Gauinspektor Hart-mann soll gesagt haben: „Hierbin ich AdolfHitler, in dieser An-gelegenheit lasse ich mir auchnicht von der Reichsleitungdreinreden.“

    Ende Mai schaltet sich dieNSDAP-Reichsleitung an. Sieweist Hartmann an, „dass in Zu-kunft alle Differenzen zwischendem NS-Volksblatt und demWestfälischen Beobachter nichtin den Zeitungen ausgetragenwerden“ sollen. Titgemeyer be-kommtdie Erlaubnis, parteiamt-liche Nachrichten mit dem Hin-weis „aus parteiamtlichen Mel-dungen entnommen“ zu kenn-zeichnen.

    Vom 3. Juli 1934 datiert seine„letzte Bitte an den Führer“ zugerechter Beurteilung. Es gäbeein „verwerfliches Treiben desNS-Volksblatt“ gegen ihn mitGerüchten, dass der Beobachterübernommen werde. Trotzdemständen 90 Prozent der Bevölke-rung auf seiner Seite.

    Alles Streiten bleibt erfolglos,ab 1. August 1934 muss Titge-meyerdas Verlagsrecht desWest-fälischen Beobachters an denVerlag des NS-Volksblattes inBielefeld abgeben. Im Gegenzugbekommt er als Abfindung eine„Rente“, die er selbst als völligungerecht und unangemessenbeurteilt.

    Vier Jahre später beklagt ersich beim Reichsleiter der Presseder NSDAP noch einmal darü-ber, dass er als „aus der Kampf-zeit bekannter und gehaßterMann“ keine Aufträge mehr be-käme und selbst die Druckauf-träge der Partei-Dienststellenheute an „Kollegen, die früherGegner und nicht einmalFreunde unserer Bewegung wa-ren“ gehen würden.

    Übrigens geriet auch das NS-Volksblatt schnell in wirtschaftli-che Schwierigkeiten und musstesich Mitte 1935mit den Westfäli-schen NeuestenNachrichten ver-einigen. Dieser Titel setzte sichdann durch und wurde offiziel-les Parteiblatt.

    KHVD O N N E R S T A G , 1 4 . M Ä R Z 2 0 1 3

    Kampfumden„Beobachter“. . .Der Herforder Zeitungsverleger Carl Titgemeyer telegrafiert dem Führer Adolf Hitler

    KampfblattausHerford: Ab Februar 1932 gibt es den „Westfäli-schen Beobachter“ mit einer Herforder Lokalausgabe. FOTOS:KAH

    Verleger: Carl Titgemeyer, In-haber der Vactew-Druckerei.

    ZeitweiligHerausgeber: Gau-leiter: Dr. Alfred Meyer

  • Nach 80 Jahren widmet sich eineAusstellungdem Nationalsozialis-mus in Herford. Warum?CHRISTOPH LAUE: Es gibtseit Mitte der 1980er Jahre zahl-reiche Forschungen und Ausstel-lungen zu einzelnen Aspektenaus der NS-Zeit, aber noch keinehat sich umfassend dieser Frage-stellung gewidmet.

    Was waren die Motive für dasTeam, das das Projekt ehrenamt-lich realisiert hat?LAUE: 80 Jahre nach der Macht-ergreifung wollen wir darstellen,wie es dem neuen Regime (nichtnur) im Raum Herford gelun-gen ist, seine Herrschaft in weni-gen Jahren so zu stabilisieren,dass die Mehrheit nach kurzerZeit mitmachte und dem offenrepressiven System nichts mehrentgegen setzte.

    Sie haben der Ausstellung einenreichlich provozierenden Titel ge-geben: „Herford gehört(e) demFührer . . .“LAUE: Er gründet sich auf ein ineinem Album eines NSDAP-Ortsgruppenleiters gefundenesFoto, auf dem ein Banner amRenntor mit der Aufschrift „Her-ford gehört dem Führer“ zu se-hen ist. Natürlich stellen wir dasin Frage. Auch wenn die Mehr-heit Adolf Hitler folgte, gehör-ten ihm weder Stadt noch KreisHerford wirklich.

    Herford war eine tief protestanti-sche, durchaus industriell ge-prägte Kleinstadt. Was ist da pas-siert nach dem 30. Januar 1933?Es muss eine gewaltige Aufbruch-stimmung gegeben haben?LAUE: Herford ist keine Aus-nahme. Es gelang der NSDAPauch hier – auf der Grundlageder in Berlin erlassenen Verord-nungen und durch Terror – inkürzester Zeit alle demokrati-schen Strukturen zu zerstören.Die Partei hatte schnell dieMacht über die Verwaltungenund alle Institutionen übernom-men. Der Alltag war ideologischgeprägt. Die NSDAP und ihreUntergliederungen fanden hierwie überall äußerst bereitwilligeMitmacher.

    Was waren die Instrumente die-ses „Aufbruchs“?LAUE: Wirtschaftsförderung,Feiern, GemeinschaftSammlun-gen, Siedlungsbau, Wohlfahrt,Kultur und Sport dienten dazu,die Menschen zu „bestechen“.Die Masse der Bevölkerung ließsich von den Wohltaten blendenund verschloss die Augen vorder offenen Unterdrückung An-dersdenkender und dem Aus-schluss von Juden, Kranken undsozial Schwachen aus der Gesell-schaft. Wer nicht mitmachte,

    wurde offen ausgegrenzt, so ent-stand Angst vor Resistenz odergar Widerstand. All das ging er-staunlich schnell, eskalierte unddiente zur Vorbereitung deskommenden Krieges und derVernichtungsmaschinerie.

    Auf welche Quellen und For-schungen stützen Sie sich?LAUE: Wir konnten uns auf dieForschungen von Norbert Sahr-hage und weitere wissenschaftli-che Arbeiten, zum Beispiel zurNS-Frauenschaft, stützen. Neuausgewertet haben wir die Foto-sammlungen von MeinhardFenske und Hans Wagner sowiezahlreiche Erwerbungen, Nach-lässe und Materialsammlungen,die dem Archiv aus Privatbesitzin den letzten Jahren zur Verfü-gung gestellt wurden, so vor kur-zem noch Schulaufsatzhefte undLehrbücher.

    Die Ausstellung soll ein Beitrag

    sein,vor rechtsradikalen Tenden-zen zu schützen. Was soll man ausihr lernen?LAUE: Uns geht es darum, dieMechanismen der Herrschaftspürbar und die Faszination er-lebbar zumachen. Wir gehen da-bei bewusst das Risiko ein, dasssich einige Zeitgenossen an denNazisymbolen ergötzen könn-ten. Natürlich war das Systemfür die Masse verlockend. Aberwir brechen mit Inszenierung,Text und Bild diese Faszination.So wird an jeder Stelle deutlich,dass mit dem Aufbruch nach1933 auch immer die Ausgren-zung anderer verbunden war. Esgeht uns aber vor allem um die„Achtsamkeit“, das Erkennender Anfänge solcher Tendenzenim Alltag – etwa der Ausgren-zung von Fremden, Krankenoder Auffälligen zum Beispiel inder Schule.

    Die Fragen stellte NW-Redak-teur Hartmut Braun

    ´„Herford gehört(e) dem Füh-rer? – Die Nazifizierung des All-tags im Raum Herford“ ist eineAusstellung des Kuratoriums

    Erinnern, Forschen, Gedenkenund des Stadtarchivs in der Ge-denkstätte Zellentrakt im Her-forder Rathaus, zu sehen vom21. März bis 15. Dezember2013´Recherche und Texte: HelgaDiestelmeier und ChristophLaue; Gestaltung Elke Brune-graf; Mitarbeit: Renée Clau-dine Bredt, Helga Kohne, JuttaHeckmanns, Friedel Böhse.´Finanziell unterstützt wirdsie durch die Landeszentralefür politische Bildung.´Öffnungszeiten Sa und So 14- 16 Uhr, für Gruppen undSchulklassen nach Vereinba-rung, Tel. 05221-189257, Fax05221-132252, [email protected], www.zellentrakt.de

    Ausstellungs-ÎnfoNazifizierung desAlltags

    KHV

    . . .dieFaszinationdererstenJahreHF-Interview mit Christoph Laue über die Herforder NS-Ausstellung im Zellentrakt

    D O N N E R S T A G , 1 4 . M Ä R Z 2 0 1 3

    DieSoldatensindda: Das Infanterieregiment 58 kehrt von einer Übung im Stuckenberg in die Kasernen auf dem Stiftberg zurück. FOTOS: KAH

    GlaubeundSchönheit: Tanz ander Aa (1938), Höhe Marta

    Wernichtfürunsist: Aufforde-rung zum Hitlergruß am Tresen.

    Stadtarchivar: ChristophLaue. FOTO: KIEL-STEINKAMP

    UnsereArbeitsollKampfsein: Hier wird die „Gefolgschaft“ der Sperr-holzfabrik Rottmann an der Heidestraße von der Arbeitsfront geschult.

  • Nach drei Jahren und 64 Ar-beitssitzungen ist dasTeam, das Erwin Möllers Platt-deutsches Wörterbuch neu he-rausbringen will, in der Zielgera-den: Egon Brandmeier (Röding-hausen), Heinrich Bringewatt(Westkilver), Gerhard Heining(Bardüttingdorf), MagdalenaObrock (Schwenningdorf) undWilhelm Schürmann (Westkil-ver) haben das 400-Seiten-Werküberarbeitet. Rolf Botzet, Histo-riker und Kulturreferent der Ge-meinde Rödinghausen, hat dieSchriftleitung in Händen.

    Die Bearbeiter überprüftendas Wörterbuch auf fehlendeWörter, die dann ergänzt wur-den. Überraschend viele Wörterwaren auch im einen Teil des

    Wörterbuches vorhanden, fehl-ten aber im anderen Teil. Hierwurde ebenfalls ergänzt.

    Erwin Möller hatte auch somanche plattdeutsche Redewen-dung nicht ins Hochdeutsche

    übersetzt,weil er sie fürselbstver-ständlichgehalten hatte. Im Inte-resse der jüngeren Generation

    wurden hier die Übersetzungeneingefügt.

    Schließlich haben die Bearbei-ter einige plattdeutsche Wörteranders geschrieben – und zwarso, wie sie ausgesprochen wer-den. Trotz dieser Überarbeitun-gen bleibt das Wörterbuch vonErwin Möller immer noch dasgute altvertraute Nachschlage-werk zum Ravensberger Platt.

    Die 3. Auflage von Erwin Möl-ler, „Sägg et up Platt“, wird vomKreisheimatverein Herford he-rausgegeben. Das Buch wird inder ersten Junihälfte über diePresse der Öffentlichkeit vorge-stellt. Während der Hansetagein Herford vom 13. bis 16. Juniwird es zum Verkauf angeboten.

    Rolf Botzet

    KHV

    VON JOACHIM KUSCHKE

    Mit neuer Daueraus-stellung präsentiertsichdas Heimatmu-seum Löhne – eines

    der interessantesten Museen imWittekindsland. Am 16. und 17.März wird es feierlich eröffnet.

    1984 war es vom Heimatver-ein unter dem unvergessenenKarl Sieveking als „Haus aufdem Hagen“ eröffnet worden.2005 wurde der Außenbereichdes Museums mit Eickenjäger-Speicher und Zigarrenmacher-haus neu gestaltet; zwei Jahrespäter folgte der Eingang.

    Jetzt ist auch die neue Dauer-ausstellung fertig. Ganz neu prä-sentiert sich nun ein Raum, derLöhner Geschichte(n) von derersten Besiedlung vor 6.000 Jah-ren bis zur Stadtgründung 1969in Schlaglichtern vorstellt.

    Es folgen einzelne Zeitab-schnitteund Themen in ausführ-licher Darstellung: Im AbschnittUr- und Frühgeschichte findendie Besucher 7.000 Jahre altekleine Feuersteinabschläge.

    Aus der Bronze- und Eisen-zeit liegen Funde vor, die zeigen,dass der Löhner Raum durchge-hend besiedelt war. Ein großarti-ger Fund ist ein Einbaum, der1893 bei Erdarbeiten zur Begra-digung der Werre bei Haus Goh-feld gefunden wurde.

    Es folgen Informationen überdas „Landleben“, wobei die so-zialen Unterschiede beachtetwerden. Die Arbeitsschritte imFlachsanbau und der –verarbei-tung werden im Raum „Rum-spinnen und Blaumachen“ aus-führlich beschrieben.

    Neue Einkommensquellen er-schlossen sich der verarmten Be-

    völkerung Mittedes 19. Jahrhun-dertsmit der aufkommenden Ta-bakindustrie, der ebenfalls einAusstellungsraum gewidmet ist.Bereits 1879 existierten inLöhne 31 Zigarrenfabriken, dieZahl erhöhte sich bis zum Jahr1905 auf 85 Fabriken mit 3451Beschäftigten. Neben der Fabrik-arbeit war vor allem die Herstel-lung der Zigarren in Heimatar-beit von großer Bedeutung.

    Ein ganz neuer Themenraumstellt die seit der zweiten Hälftedes 19. Jahrhunderts bedeutendwerdende Holzverarbeitungvor. Zunächst fertigten kleinereHandwerksbetriebe noch Mö-bel nach Maß; mit der Firma Bö-ker & Henning, die Zigarrenkis-ten produzierte, startete 1879

    aber der erste holzverarbeitendeIndustriebetrieb. Ein Vorreiterin der Möbelindustrie war Hein-rich Droste, der 1889 an der Her-forder Straße in Melbergen eineFabrik aufbaute.

    Ein Thema darf bei der Dar-stellung der Geschichte derStadt Löhne natürlich nicht feh-len:die Eisenbahn. Mit der Eröff-nung der Köln-Mindener Eisen-bahn im Jahr 1847 und den Aus-bauten der Strecken nach Osna-brück (1855) und Hameln(1875) entwickelte sich Löhnezum wichtigsten Umsteigebahn-hof zwischen Hamm und Han-nover und zum größten Ver-schiebebahnhof in der Region.

    Einen Blick in eine längst ver-gangene Zeit ermöglichen die

    wertvollen Fotos und Zeichnun-gen von Gottlieb und FriedrichSchäffer, die in der Galerie imMuseumsflur gezeigt werden.ImUntergeschoss erinnern Kno-chenfragmente eiszeitlicherGroßsäugetiere an die Zeit, alsin unserem Raum Mammute,Wollnashörner oder Höhlenbä-ren zu Hause waren.

    Ein Museumskoffer für Fami-lien mit Kindern, Mitmachsta-tionen oder auch die neuen Me-dienstationen laden zum Entde-cken, Erkunden und Begreifenein. Das Heimatmuseum Löhneist am EröffnungswochenendeSamstag von 14 bis 18 Uhr sowieamSonntag von 10 bis 18 Uhr ge-öffnet. Weitere Informationenunter 05732/100317 oder 3172.

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    PlattdeutschesWörterbuchaufderZielgeradenEin Expertenteam hat die Überarbeitung von „Möller“ bald abgeschlossen

    Wörterbuch-Team: (v.l.) Egon Brandmeier, Gerhard Heining, Rolf Botzet, Heinrich Bringewatt und Mag-dalena Obrock .

    LöhnerGeschichteneuerzähltVom Einbaum bis zur Eisenbahn / Eröffnung am 16. und 17. März Wenn vom 13. bis zum 16.Juni der Internationale

    Hansetag die Herforder Innen-stadt aufmischt, mischen derKreisheimatverein und seineFreunde kräftig mit. Von der Ge-schichtswerkstatt Exter und denAlttraktorenclubs Herford undDreyen reicht die Teilnehmer-liste bis zum Verkehrsverein Rö-dinghausen und der HerforderBriefmarkengilde.

    Dazu kommen jede MengeMuseen. Allein acht stammenaus dem Kreisgebiet, elf reisenvon weiter weg an: Bielefeld istmit der Naturkunde und derSammlung Huelsmann vertre-ten, die Mindener sind dabei,Detmold schickt sein Landesmu-seum, Fürstenberg sein Porzel-lan, Lemgo seine Weserrenais-sance und historische Autos.

    Das Kreismuseum Wewels-burg, das Museum für sakraleKunst aus Paderborn oder derRhadener Museumshof – sie alleversammeln sich Auf der Frei-heit zwischen Janup und Spar-kasse zur großen „OWL-Meile:Gestern.Heute.Morgen.“

    Am Freitagnachmittag, 14.Juni, tagt im Historischen Sit-zungssaal des Alten Kreishausesdie Fachstelle Niederdeutschdes Westfälischen Heimatbun-des. Dr. Robert Peters sprichtzum Thema: „Hanse-SprachePlatt“. Am Samstag, 18 Uhr be-ginnt ein Gottesdienst in St. Jo-hannis – in Niederdeutsch.

    Zu einer Tagung rund um dasZukunftsthema Energie ladendie Herforder Energiegenossenein. Gäste aus dem ganzen Han-seraum werden sich austau-schen: Am Freitag, 14. Juni ab11.00 Uhr in der Aula der VHSam Münsterkirchplatz beginntdie „Energie-Hanse“. C.M.

    ImneuenLöhnerMuseum: Am Wochenende wird die neue Dauerausstellung präsentiert.

    Hansetaghistorisch

  • Gerhard Bode ist der Uren-kel des ersten Herforder Aus-wanderers in die Südsee.Schilderungen seiner Großel-tern und ein Fundus von 60Stereo-Fotos sind seine Quel-len. Es gibt allerdings nocheine Kiste mit zahlreichenBriefen von Hermann-Hein-rich Müller, nach denen Bodeforscht. Außerdem plant ereine Reise in die Südsee.

    VON GERHARD BODE

    Er war 99 Tage auf hoherSee unterwegs gewesen,hatte von Liverpool ausKap Horn umrundet

    und dabei 46 Tage in Eis undSchnee verbracht. Jetzt, im Au-gust1887, erreichteOffizier Mül-ler auf seinem Handelsschiff dieStadt Talkahuano an der chileni-schen Küste. Jetzt hatte der23-jährige Herforder endlichZeit, einen Brief zu schreiben.Darin geht es um sein Lebens-glück.

    Der Brief ist ein ergreifendesLebenszeugnis des HerforderSeemanns und AuswanderersHerrmann-Heinrich Müller(1864-1931) und das letzte inHerford gebliebene schriftlicheDokument aus dem Leben einesaußergewöhnlich unterneh-menslustigen Zeitgenossen. Au-ßer dem Brief gibt es 60 Stereo-Fotos nebst Lesegerät, die umdas Jahr 1900 in der zeitweiligenWahlheimat Müllers aufgenom-men wurden, in Tonga Vava’oim Südpazifik. Für Müller wardie Insel „das schönste Fleck-chen der Erde“ und das Ziel allerseiner Wünsche.

    Als er 1864 in Herford gebo-ren wurde, schien die Stadt ohnePerspektive zu sein. Es gab fürViele noch die Erfahrung desHungers, Tausende Menschenaus Stadt und Umland entflo-hender Armut durch Auswande-rung nach Nordamerika. Müllerentschied sich für ein Leben aufhoher See. Er begann als Schiffs-junge, arbeitete sich hoch undhatte in Hamburg sein Kapitäns-diplom erworben, als er sich inGrete Grün verliebte.

    Eigentlich wollte er deren Fa-milie 1887 von Bremerhavenaus besuchen. Doch dannmusste es „Hals über Kopf“ mitdem Schiff nach Liverpool ge-hen. „Da hatte ich des Tages sehrviel zu tun mit der Beaufsichti-gung der Arbeiter beim Ladendes Schiffes. Und des Abends bisspät in die Nacht musste ich

    meine Schiffsbücher in Ord-nung bringen, so dass mir wirk-lich keine Zeit zum Briefe schrei-ben übrig bleibt“, schreibt er imAugust 1887 aus Talkahuano.

    Ergelobt Besserung undoffen-bart der künftigen Schwieger-mutter im Stil der Zeit seine Ge-fühle: „Seien Sie versichert, dassmein innigstes Bestreben seinwird, dass ich Ihre Tochter mitmeiner ganzen Kraft und derLiebe meines Herzens vor allemUnbill des Lebens bewahrenwill, so viel und lange es in mei-ner Macht liegt, wie es einem or-dentlichen Seemann und Gattenzukommt . . . .“

    Ein halbes Jahr später hofft er„meine süße Braut heimzufüh-ren“. Nicht lange danach berei-ten beide ihre Auswanderungauf eine der Tonga-Inseln in derSüdsee vor, das Müller auf frühe-

    ren Fahrten kennen lernte. 14Jahre lebten sie dort. Sie bautenzunächst eine Kokosnuss- undKakaoplantage auf. Die Früchtewurden an Hamburger Firmenwie Godefroy und HamburgSüd verkauft.

    Späterentschließt sich der Far-mer aus Herford, seine Pro-dukte zu veredeln. Er konstru-iert eine Spindelpresse, mit dersich Kokosöl gewinnen lässt.Das bringt mehr Geld, die Fami-lie – fünf Kinder wurden auf derInsel geboren – kommt zu eini-gem Wohlstand. Fotos zeigenein herrschaftliches Anwesen;die Kinder schwärmen spätervon der glücklichen Kindheit inder Südsee. Müller holt sich ne-ben Eingeborenen auch Weißeaus der Hafenstadt als Hilfs-kräfte. Die Kinder erinnern sich,dass der Vater wegen seiner tech-

    nischen Kenntnisse hoch ge-schätzt war

    Doch ein Lungenleidenmacht den Aufenthalt auf der In-sel unmöglich. Es wird durch fei-nen Korallenstaub hervor geru-fen, den der Wind vom Meer he-ranträgt. Herrmann-HeinrichMüller verkauft die Plantage1903 an eine Herforder Familie– die Schobers. Deren Sohn Kurtwird 1961 Bürgermeister vonHerford.

    Die Müllers kehren zurück.Drei Monate dauert die Seereiseauf dem Dampfsegler; es gehtums Kap der Guten Hoffnung.Herford ist inzwischen eine auf-strebende Industriestadt. Hein-rich richtet zwischen Enger-straße und Oetinghauser Wegeine Handelsfirma ein und bauteine Villa im Stil der Gründer-zeit an der Wittekindstraße. Er

    stirbt 1931.Teile der Plantage sind erhal-

    ten. Deutsche sind auf denTonga-Inseln bis heute gern ge-sehene Gäste.

    KHV

    INFODerAutor

    D O N N E R S T A G , 1 4 . M Ä R Z 2 0 1 3

    AusgewandertindieSüdseeFür Herrmann Müller aus Herford waren die Tonga-Inseln das schönste Fleckchen Erde

    AufderPlantage: Es gab auchweiße Helfer.

    Familienszene: Die Kinder sindeinbezogen.

    DerUrenkel: Gerhard Bode mit einem historischen Lesegerät für Stereobilder. Im Hintergrund ein Ölbild,das die Plantage seines Vorfahren auf den Tonga-Inseln zeigt. FOTO: KIEL-STEINKAMP

    DasEhepaar: Heinrich und Grete

    DerAuswanderer: Hermann-Heinrich Müller aus Herford.

    Eswirdgefeiert: Tanzszene vorei-ner Unterkunft

    Aufgang: Die Plantage ist von üp-pigen Gärten umgeben.

    BeiderErnte: Fünf Männer aufeiner Kokospalme.

  • KHV

    VON MONIKA GUIST

    Sattmacher, Seelennah-rung und Statussymbol -das Essen hat viele Funk-tionen und Facetten. Un-

    sere Ernährung und Esskulturhat sich in den letzten 100 Jah-ren schneller und stärker verän-dert als je zuvor – auch im Pi-ckertland, jenem Teil Westfa-lens zwischen Teuto und Wie-hen, der heute den Kreis Her-ford ausmacht.

    Das Leben im Wittekindslandwar nie einfach. Um Bodener-träge musste schon immer ge-rungen werden. Vor der Einfüh-rung der vielen motorbetriebe-nen Helfer, als es noch richtigeArbeitspferde gab, war körperli-che Arbeit an der Tagesord-nung, von früh bis spät, von Kin-desbeinen an bis ins hohe Alter.

    Die Menschen haben geges-sen wie die Scheunendrescher,um dafür genügend Energie zubekommen. Eine Suppe ohneFettaugen, ein mageres StückFleisch galten als ärmlich. Ku-chen wurde mit möglichst vielenEiern und Butter gebacken. Fettwar gleichbedeutend mit Wohl-stand, dicke Menschen waren„wohlbeleibt“.

    Früher kam das Obst und Ge-müse aus dem eigenen Nutzgar-ten oder zumindest reif geerntetaus der Region. Heute machenLebensmittel lange Wege mitdem Flugzeug und über Kühl-häuser, bis sie auf unserem Tel-ler im wahrsten Sinne des Wor-tes landen.

    Der Kreisheimatverein gehtmit seinem Ausstellungsprojekt„Im Pickertland. Vom Essenund Trinken zwischen Teutound Wiehen“ den Rezepten, Ge-wohnheiten, Sitten und Bräu-chen rund um die Ernährunggestern und heute auf denGrund. Wie und wann gehörtein unserer Region die „westfäli-sche Ananas“, das Möpkenbrot,der Pickert, das Blindhuhn, dieFitzebohnen oder das „GruiseGrettken“ auf den Tisch? Wasfüllt die heutigen Teller?

    Welche Rezepte sind typisch

    für das Ravensberger Land imGegensatz zu den westfälischenRezepten, die das Ruhrgebietebenso einbeziehen wie dasMünsterland?

    Die Macherinnen der Ausstel-lung fragen nach den Lebensge-fühlen, die sich mit Ess- undTrinkgewohnheiten verbindenund spüren längst vergessenenGewohnheiten und Einrichtun-gen nach. Beispielsweise den Ba-ckes, den nachbarschaftlich ge-nutzten Kühl- und Gefrierhäu-sern, dem Schlachtfest oder demKonservenmachen.

    In der Ausstellung, die beim10. Geschichtsfest des Kreishei-

    matvereins 2014 eine „großeSchau für alle Sinne“ sein soll,richtet sich der Blick auch aufNotzeiten in den Kriegen, aufdie Flucht nach dem ZweitenWeltkrieg und die knappenNachkriegsjahre.

    Das Ravensberger Land istseit der Industrialisierung fürMenschen unterschiedlicherHerkunft eine neue Heimat ge-worden. Es kamen Familien ausPommern, Schlesien, später ausPolen, Russland, Spanien, derTürkei und aus asiatischen Län-dern ins Wittekindsland. IhreRezepte hielten Einzug in unse-ren Speiseplan.

    Die Lieblingsgerichte der Kin-der heute sind Spaghetti undPizza. Den Eintopf gibt es fastnur noch bei Oma.

    Mit den veränderten Arbeits-und Lebensabläufen haben sichauch unsere Kücheneinrichtun-gen und Küchengeräte stark ver-ändert. Einmachen und Konser-vieren, Vorratshaltung und Ein-lagerungwaren im Jahreslauf un-serer Großeltern wichtige Ange-legenheiten. Der Tante –Emma-Laden wurde von den Super-märkten abgelöst, Ausflugslo-kale mit Hausmannskost vondem Italiener und dem Grie-chen ergänzt. Die thematischeBandbreite ist groß.

    Deshalb kümmern sich meh-rere ehrenamtlich tätige Arbeits-gruppen unter Anleitung desKreisheimatvereins um das Zu-sammentragen von Themenund Materialien: die eine sam-melt und probiert alte und aktu-elle Rezepte aus, eine andereträgt kulinarische plattdeutscheWörter und Redensarten zusam-men, die nächste stöbert in denArchiven nach passenden Doku-menten und Kuriositäten undeine Arbeitsgruppe beschäftigtsich mit der Konzeption derAus-stellung. Noch kann mitge-macht werden.

    Außerdem werden für dieAusstellung allerhand Exponateaus den Küchen und Kellern derletzten 100 Jahre gesucht - vonder Kochmaschine über denHenkelmann bis zum Fleisch-wolf. Regionale Familienre-zepte, alte Kochbücher, Fotos,Filme und selbst aufgeschrie-bene Geschichten sind ebensowillkommen wie Adressen vonExperten und alten Menschen,die uns von alten Abläufen wieder Hausschlachtung oder demEinmachen und Brotbacken er-zählen können.

    Tipps, Fundstücke, Küchen-schätze und Besonderheitennimmt der Kreisheimatverein je-derzeit gerne entgegen.

    Ebenso sind weitere Ausstel-lungsmitwirkende willkom-men. Mehr Infos: Monika Guist,Telefon 05221-131447.

    HF–Magazin, Beilage, hg. vomKreisheimatverein Herford (Red.Monika Guist, Christoph Laue, Eck-hard Möller, Christoph Mörstedt),verantwortlich für Redaktion Hart-mut Braun, Herford, für AnzeigenMichael-Joachim Appelt, Bielefeld;Herstellung J.D.Küster Nachf.+Pres-sedruck GmbH&Co KG Bielefeld

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    EinladunginsPickertlandVom Essen und Trinken zwischen Teuto und Wiehen: Mitwirkende gesucht

    AufdemGut ausdem 17. Jahr-hundert der Familie vonConsbruch in Hiddenhausensteht seit Kurzem neben dem ba-rocken Gutshaus, dem Holz-handwerksmuseumundder Kul-turwerkstatt ein schmuckes re-noviertes Fachwerkhaus in demgroßen Park der Anlage.

    Es ist die alte Werkstatt, diejetzt zu einem Café umgebautwird. Am 14. April ist die Eröff-nung.

    DasCafé ist gleichzeitig ein so-ziales Projekt. Der Verein zur Er-haltung des Parks und des Denk-malensembles zu Hiddenhau-sen wurde 2011 gegründet undsetzte sich mit Anna von Cons-bruch und Holger Kasfeld, Sozi-alpfarrer des Kirchenkreises,zum Ziel, das Café zu restaurie-ren und zu betreiben. Erlöse sol-len helfen, die öffentlich genutz-ten Denkmäler zu erhalten.

    Unter fachlicher Anleitungdes ZimmermannsHubert Hein-richs, der viele ähnliche Sozial-projekte begleitet hat, habenfünf arbeitslose Jugendliche fürein Jahr die Möglichkeit bekom-men, in sämtliche Arbeitsberei-che des Baus Einblick zu erhal-ten und Kompetenzen zu entwi-ckeln.Nunsteht das Haus, die Ju-gendlichen konnten vermitteltwerden in Umschulung, Ausbil-dung und Arbeit.

    Kooperationspartner für dasCafé sind das Johannes-Falk-Hausund dasAnna-Siemsen-Be-rufskolleg. Frisch eingerichtetfreut sich das Café „Alte Werk-statt“ nun ab Mitte April aufzahlreicheBesucher. Der hausge-backene Kuchen wird von ei-nem Bäckerinnenteam aus Hid-denhausen hergestellt.

    Öffnungszeiten sind Sonn-tags von 10-18 Uhr und Mittwochs von 14 -18 Uhr. An allenanderen Tagen sind Buchungenfür Gruppen sowohl zum Früh-stück als auch zum Kaffeetrin-ken möglich ab einer Teilneh-merzahl von 15 Personen.

    Anmeldung unter: 01725249499 [email protected]; www.cafe-hidden-hausen.de

    Kochenum1930: Längst nicht alle Haushalte waren damals schon sokomfortabel eingerichtet. FOTOS: KREISHEIMATVEREIN

    EinkaufenwiebeiTanteEmma: Bei Tengelmann am Gehrenberg(hier ein Foto aus dem Jahr 1935) war das möglich.

    DerSonntagstisch: Einmal in der Woche wird in der Küche gedeckt,hier vor einem klassischen Küchenschrank.

    Gutswerkstattwird zum

    Café

    Impressum

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