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Die langsame Entwicklung der Rechte der Frauen1
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GESELLSCHAFTEN ZWISCHEN KONTINUITÄT UND WANDEL (1815–1939)Kapitel
6 1815–1850 1850–1880 1880–1918 1918–1939
DossierDie Entwicklung der Rolle der Frau in der Gesellschaft
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts wurde der Frau in der europäischen
Gesellschaft ein dem Mann, Ehegatten und
Vater nachgeordneter Platz zugewiesen.
Obwohl Frauen im Wirtschaftsleben sowohl
auf dem Land als auch in der Stadt (vor allem
durch ihre Arbeit) eine wichtige Rolle spielten,
hatten sie keinen politischen Einfluss.
Am Ende des 19. Jahrhunderts nahmen
jedoch die Forderungen nach politischer
Gleichheit zu. Ferner forderten die Frauen das
Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper
und ihre Sexualität. Doch diese Bemühungen
hatten nicht den gleichen Erfolg wie der po-
litische Kampf, sodass sich die Situation am
Vorabend des Zweiten Weltkrieges kaum
verändert hatte. Obwohl es auch zu Rück-
schritten kam, brachte die Emanzipation einen
allmählichen Wandel des Frauenbildes mit
sich.
Forderung politischer Rechte
Auf Initiative der deutschen Sozialistin Clara Zetkin (1857–1933) beschlossdie internationale Frauenkonferenz in Kopenhagen, einen internationalenFrauentag zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts zu organisieren. DieserTag fand erstmals am 19. März 1911 statt (Deutschland, Österreich,Dänemark, Schweiz), 1921 erhob Lenin den 8. März zum Frauentag. 1977wurde der 8. März von den Vereinten Nationen zum Frauentag erklärt.
Um die Einführung des politischen Frauenwahlrechts zu beschleu-nigen, ist es die Pflicht der sozialistischen Frauen aller Länder, denobenstehenden Grundsätzen entsprechend eine unermüdliche auf-klärende Agitation über die soziale Berechtigung und Bedeutung derpolitischen Emanzipation des weiblichen Geschlechts in Wort undSchrift unter die breitesten Massen zu tragen und jede sich darbietendeGelegenheit zu diesem Zwecke auszunutzen. Insbesondere müssen sieWahlen zu politischen und öffentlichen Körperschaften jedweder Artdieser Agitation dienstbar machen. Im Falle, dass dem weiblichenGeschlecht das Wahlrecht zu solchen Körperschaften zusteht –Kommunal- und Provinzialvertretungen, Gewerbegerichte, Kranken-kassen usw. –, müssen die Frauen veranlasst werden, dieses ihr Rechtrestlos und einsichtsvoll zu gebrauchen, im Falle, dass die Frauen dabeiganz oder teilweise Rechtlose sind, müssen sie von den Sozialistinnen
zum Kampfe für ihr Recht gesammelt und geführt werden; unter allenUmständen ist bei dieser Betätigung auch die Forderung des vollenpolitischen Frauenwahlrechts nachdrücklich zu vertreten.
Bei der alljährlichen Maifeier – ganz gleich, in welcher Form siestattfindet – muss die Forderung der vollen politischen Rechtsgleichheitder Geschlechter betont und begründet werden. Im Einvernehmen mitden klassenbewussten politischen und gewerkschaftlichenOrganisationen des Proletariats in ihrem Lande veranstalten diesozialistischen Frauen aller Länder jedes Jahr einen Frauentag, der inerster Linie der Agitation für das Frauenwahlrecht dient. Die Forderungmuss in ihrem Zusammenhang mit der ganzen Frauenfrage dersozialistischen Auffassung gemäß beleuchtet werden. Der Frauentag musseinen internationalen Charakter tragen und ist sorgfältig vorzubereiten.
Clara Zetkin, Käte Duncker und Genossinnen.
Zweite Internationale Konferenz sozialistischer Frauen in Kopenhagen […],den 26.und 27.August 1910,Anträge und Resolutionen zur Tagesordnung,S.3,
zit. nach: http://library.fes.de/zweiint/f19.pdf (20.02.2008)
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1804 Napoleons Code Civil macht die Frau von ihrem Mann abhängig.
1844 In den britischen Fabriken wird die Arbeitszeit für die Frauen auf 12 Stunden täglich
reduziert.
1867 Erste Petition der Suffragetten in Großbritannien.
1893 Neuseeland gibt als erstes Land der Welt den Frauen das Stimmrecht.
1904 Die französischen Frauen werden im Code Civil nicht mehr als Unmündige eingestuft,
haben aber immer noch geringere Rechte als der Mann.
1906 Finnland erkennt als erstes europäisches Land den Frauen das Stimmrecht zu;
die erste Abgeordnete wird 1907 gewählt.
1911 Feministischer Hungerstreik in Großbritannien.
1913 In Norwegen (das sich 1905 von Schweden abgespalten hat) wird den Frauen das
Stimmrecht gegeben, 1915 in Dänemark.
1917 Die Russische Revolution verkündet die vollständige Gleichheit zwischen den
Geschlechtern.
1918 In Kanada und in Großbritannien erhalten die Frauen das Stimmrecht.
1919 Zahlreiche europäische Staaten gestehen den Frauen das Stimmrecht zu, vor allem
Deutschland.
1920 Die US-Amerikanerinnen erhalten das Stimmrecht.
1929 Erstmals wird eine Frau in Großbritannien in ein Ministeramt berufen.
1936 Erstmals werden Frauen in Frankreich zu Staatssekretärinnen ernannt, während die
Frauen immer noch nicht das Stimmrecht haben.
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Porträt der Journalistin Sylvia von Harden
Ölgemälde von Otto Dix, 1926, 89x121cm, Centre Georges Pompidou,Paris.
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GESELLSCHAFTEN ZWISCHEN KONTINUITÄT UND WANDEL (1815–1939)
Der ausgestellte weibliche Körper
Werbeplakat für die Bräunungscreme „Ambre Solaire“, 1937.
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Die Arbeit der Frauen in der Zwischenkriegszeit: Notwendigkeit oderMittelder Emanzipation
Simone de Beauvoir, geboren 1908 in eine Familie der Pariser Bourgeoise, deren Schicksal nach demErsten Weltkrieg gefährdet war.
In meinen Kreisen fand man es unangemessen, dass ein junges Mädchen ernsthafte Studienbetrieb. Einen Beruf ergreifen bedeutete Abstieg. Es versteht sich von selbst, dass mein Vater leiden-schaftlich gegen die Frauenbewegung war […]; seiner Meinung nach war der Platz der Frau in denSalons und am häuslichen Herd. […] Nach dem Kriege lächelte ihm die Zukunft; er hoffte auf eineerfolgreiche Karriere, auf glückliche Spekulationen und darauf, meine Schwester und mich in diegute Gesellschaft einheiraten zu sehen. Um in ihr zu glänzen, musste eine Frau seiner Meinungnach nicht nur über Schönheit und Eleganz verfügen, sondern auch Konversation machen könnenund eine gewisse Belesenheit haben, daher freute er sich zunächst über meine Schulmädchenerfolge;in körperlicher Hinsicht ließen sich einige Erwartungen auf mich setzen; wenn ich dazu noch klugund gebildet wäre, würde ich mit Glanz einen Platz in der besten Gesellschaft ausfüllen können.Wenn aber mein Vater geistreiche Frauen liebte, so hatte er doch keinerlei Sinn für Blaustrümpfe.Wenn er erklärte: „Ihr, meine Kleinen, werdet euch nicht verheiraten, ihr müsst arbeiten“, so lagBitterkeit in seiner Stimme. Ich glaubte dann, er bedaure uns; aber nein, in dieser unsererarbeitsamen Zukunft las er nur die Bestätigung seines eigenen Versagens; er haderte mit demungerechten Geschick, das ihn dazu verdammte, Deklassierte zu Töchtern zu haben.
Er fügt sich nur der Notwendigkeit. Der Krieg war vorüber und hatte ihn ruiniert, seine Träume,seine mythischen Vorstellungen, seine Rechtfertigungen, seine Hoffnungen hinweggefegt. […]
„Wie schade, dass Simone nicht ein junger Mann ist: Sie hätte auf die Ecole Polytechniquegehen können!“ Ich hatte oft meine Eltern ihr Bedauern darüber mit Seufzen ausdrücken hören.Ein Polytechniker war in ihren Augen etwas Besonderes. Aber mein Geschlecht verbot einen sohohen Ehrgeiz für mich, und mein Vater ersah mich klüglich für den Staatsdienst […].
Simone de Beauvoir, Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, Hamburg 2004.Übers. von E. Rechel-Mertens, S. 251f., 254.
Fragen und Anregungen
1. Nennen Sie die Länder und Berei-che, in denen die Durchsetzung vonFrauenrechten seit dem 19. Jahrhun-dert wesentliche Fortschritte gemachthat. (M1)
2. Inwieweit konnte der Sozialismusdie Sache der Frauen zu Beginn des20. Jahrhunderts fördern? (M2)
3. Vergleichen Sie die beiden Bilder:Stellen Sie fest, welche Aspekte derBefreiung der Frauen dargestelltwerden und welche Widersprüchefestzumachen sind. (M3 und M4)
4. Charakterisieren Sie die bürgerli-chen Vorurteile,welche die Emanzipa-tion der Frauen durch Berufstätigkeitbehinderten. Stellen Sie einen Ver-gleich mit der Situation von Frauenaus anderen Bevölkerungsschichtenan. (M5)
5. Versetzen Sie sich in die späten1930er-Jahre. Hat sich die Situationder Frauen aus ihrer Sicht seit demfrühen 19. Jahrhundert verbessert?
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