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DRESDEN BERICHTET
032020
Mai/Juni27. Jahrgang
AKTUELLE FORSCHUNGSERGEBNISSE
Stabile Demokratie in Krisenzeiten: Lokale Coronafälle haben bei der bayerischen Kommunal wahl die Wähler nicht abgeschreckt Sebastian Blesse, Philipp Kerler und Felix Rösel
Aus Nord und Süd und Ost und West – Wie Wanderungsverhalten in Deutschland von regionalen Mentalitäten abhängtAnna Kremer
Der bereinigte Gender Pay Gap: Warum Frauen in Sachsen eigentlich mehr verdienen müssten als MännerMichaela Fuchs, Corinna Lawitzki, Anja Rossen und Antje Weyh
IM BLICKPUNKT
Auf die lange Bank geschoben: Zum Abschlussbericht der Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“Joachim Ragnitz
Kaum mehr als ein Strohfeuer – Evaluationsstudien zu Abwrackprämien im ÜberblickChristopher Leisinger und Felix Rösel
DATEN UND PROGNOSEN
Vierteljährliche VGR für Sachsen
ifo Konjunkturumfragen Ostdeutschland und Sachsen
AKTUELLE FORSCHUNGSERGEBNISSE
Wer macht den Anfang? Regierungsformen und die Reaktionen auf COVID19Mona Förtsch und Stefanie Knoll
ifo Dresden berichtetISSN 0945-592227. Jahrgang (2020)Herausgeber: ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e. V.,Niederlassung Dresden, Einsteinstraße 3, 01069 DresdenTelefon: 0351 26476-0, Telefax: 0351 26476-20E-Mail: [email protected]: Joachim RagnitzTechnische Leitung: Katrin BehmVertrieb: ifo Institut, Niederlassung DresdenErscheinungsweise: zweimonatlichBezugspreis jährlich: 25,00 EuroPreis des Einzelheftes: 5,00 EuroPreise einschl. Mehrwertsteuer, zzgl. VersandkostenGrafik Design: © ifo Institut MünchenSatz und Druck: c-macs publishingservice DresdenNachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise): Nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplars
Im Internet: http://www.ifo-dresden.de
Die Niederlassung Dresden des ifo Instituts wird mitfinanziert mit Steuermitteln auf Grund-lage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushaltes.
1ifo Dresden berichtet 3/2020
ifo DRESDEN BERICHTET 03/2020
AKTUELLE FORSCHUNGSERGEBNISSE
Wer macht den Anfang? – Regierungsformen und die Reaktionen auf COVID-19 3 Mona Förtsch und Stefanie Knoll
Demokratische Länder zögerten länger, um einige „Social distancing“-Maßnahmen wie Schulschließungen gegen die Aus-breitung des Coronavirus zu verordnen, als autoritäre Staaten. Der Zeitabstand betrug ein bis zwei Wochen. Bei anderen BeschränkungenwieinternationalenReisekontrollenfindenwirkeinezeitlichenUnterschiede.Zudemhabenföderalorgani-sierte Länder wie Deutschland nicht langsamer gehandelt als Einheitsstaaten wie Frankreich.
Stabile Demokratie in Krisenzeiten: Lokale Coronafälle haben bei der bayerischen Kommunalwahl die Wähler nicht abgeschreckt 7 Sebastian Blesse, Philipp Kerler und Felix Rösel
Am15.März2020fandeninBayerndieKommunalwahlenstatt–mittenindenAnfangswochenderCoronapandemieinDeutsch-land.InetwaeinemFünftelderbayerischenLandkreisegabeszudiesemZeitpunktabernochkeinenbestätigtenCoronafall.WirvergleichendasWahlverhaltenindiesenLandkreisenmitbayerischenLandkreisen,indenenbereitsCoronanachgewiesenwurde.UnsereErgebnissedeutennichtdaraufhin,dasslokaleCoronafälledieWahlbeteiligungnegativbeeinflussthaben.DieWähler haben sich nicht abschrecken lassen.
Aus Nord und Süd und Ost und West – Wie Wanderungsverhalten in Deutschland von regionalen Mentalitäten abhängt 11 Anna Kremer
Ostdeutsche waren nach der Wiedervereinigung deutlich stärker zur Binnenmigration bereit als Westdeutsche. Diese Abwan-derungstendenzhatdenAufholprozessderostdeutschenLändergehemmt.Gemeinhinwirdangenommen,dassdiestarkeAbwanderungausOstdeutschlandüberwiegendaufwirtschaftlicheGründezurückzuführenist.ObökonomischeWanderungs-anreize aber auch tatsächlich vorwiegend Wanderungsentscheidungen bestimmen, ist keineswegs ausgemacht. Daher unter-suchtdieserArtikel,obnebendenbekanntenUrsachenwieArbeitslosigkeit,AlterundBildungauchregionsspezifischekultu-relleUnterschiededieBinnenmigration inDeutschlandbeeinflussen.Die Ergebnisse zeigen, dass nord- undostdeutscheMigrierendestärkeraufökonomischeAnreizereagierenalssüd-undwestdeutscheMigrierende.ZudemhabenOstdeutscheeinegenerellhöhereMigrationsbereitschaft,welchedieAbwanderungausOstdeutschlandverstärkthat.
Der bereinigte Gender Pay Gap: Warum Frauen in Sachsen eigentlich mehr verdienen müssten als Männer 15 Michaela Fuchs, Corinna Lawitzki, Anja Rossen und Antje Weyh
InSachsenverdienenvollzeitbeschäftigteFrauen7,5%wenigerLohnalsvollzeitbeschäftigteMänner.DergrößteUnterschiedin der Entlohnung existiert in Zwickau mit 11,6%, der geringste in Görlitz mit 2,1%. Diese regionalen Unterschiede im sogenanntenunbereinigtenGenderPayGapsindvorallemdurchdieVariationindenLöhnenderMännergetrieben.Vergleichtman Männer und Frauen, die hinsichtlich ihrer individuellen, betrieblichen und regionalen Merkmale gleich ausgestattet sind, fällt der bereinigte Lohnunterschiedmit 11,4%höher als der unbereinigte (7,5%) aus. Somit sind Frauenbezüglich ihrer Merkmale besser ausgestattet als Männer. Sie müssten eigentlich mehr verdienen. Warum das dennoch nicht der Fall ist, zeigt dieser Beitrag.
2 ifo Dresden berichtet 3/2020
IM BLICKPUNKT
Auf die lange Bank geschoben: Zum Abschlussbericht der Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ 22 Joachim Ragnitz
DieBundesregierunghatdieKommission„VerlässlicherGenerationenvertrag“damitbeauftragt,EmpfehlungenzurSicherungderNachhaltigkeitderRentenfinanzenzuentwickeln.DerKommissionsberichtbleibtdeutlichhinterdenhochgestecktenErwartungenzurück.DievorgeschlagenenMaßnahmenwerdendieFinanzierungsproblemederGesetzlichenRentenversiche-rungnichtlösen,sondernführenletztenEndesnurdazu,dassderBundeszuschussandieRentenversicherungerhöhtwerdenmuss.OhneeineweitereVerlängerungderLebensarbeitszeitwirdsichdasFinanzierungsproblemderRentenversicherungnichtlösenlassen,daesfürdieerwerbsfähigeGenerationunerheblichist,obsieüberSteuernoderSozialversicherungsbeiträgefürdieRentneraufzukommenhat.
Kaum mehr als ein Strohfeuer – Evaluationsstudien zu Abwrackprämien im Überblick 25 Christopher Leisinger und Felix Rösel
WirgebeneinenÜberblicküberStudienzurWirkungvonAbwrack-undKaufprämienfürAutos.DiesePrämienkurbelnkurz-fristigdieAutoverkäufean.MittelfristigwerdenaberkaummehrAutosverkauft.VieleVerbraucherhättensichohnehinein Autogekauft,ziehendenKaufdurchdiePrämievor,odergebennachdemAutokaufwenigerGeldfürandereKonsumgüteraus.DieUmweltwirkungvonKaufprämienistunklar.
DATEN UND PROGNOSEN
Vierteljährliche VGR für Sachsen: Ergebnisse für das vierte Quartal 2019 28 Wolfgang Nierhaus
ifo Konjunkturumfragen Ostdeutschland und Sachsen 30 Niels Gillmann und Jannik A. Nauerth
AUS DEM ifo DRESDEN
ifo Veranstaltungen 33
ifo Vorträge 33
ifo Veröffentlichungen 34
ifo in den Medien 34
3
AKTUELLE FORSCHUNGSERGEBNISSE
ifo Dresden berichtet 3/2020
Mona Förtsch und Stefanie Knoll *
Wer macht den Anfang? – Regierungs formen und die Reaktionen auf COVID-19
Demokratische Länder zögerten länger, um einige „Social distancing“-Maßnahmen wie Schulschließun-gen gegen die Ausbreitung des Coronavirus zu verordnen, als autoritäre Staaten. Der Zeitabstand betrug ein bis zwei Wochen. Bei anderen Beschränkungen wie internationalen Reisekontrollen finden wir keine zeitlichen Unterschiede. Zudem haben föderal organisierte Länder wie Deutschland nicht langsamer ge-handelt als Einheitsstaaten wie Frankreich.
InKrisenzeitenbevorzugtdieBevölkerungstarkepolitischeFührungsqualitätenundhofft,dassdieRegierungallenot-wendigenSchritteergreift,umdieKriseundihrenegativengesundheitlichen,sozialenundwirtschaftlichenFolgensogutwiemöglicheinzudämmen(Amatetal.2020).Beideraktuel-lenCoronapandemieverfolgendieRegierungenverschiede-ner Länder insbesondere zwei Ziele. Zum einen versuchen sie, dieVerbreitungdesViruszuverlangsamen,umdieGesund-heitderBevölkerungzuschützenunddasGesundheitssystemnicht zu überlasten. Zum anderen möchten sie die Bevölke-runginsozialerHinsichtunddieUnternehmeninwirtschaft-licherHinsichtunterstützen.SoergreifensieaktuelleineViel-zahl denkbarer Maßnahmen von verstärktem Testen von Menschen,dieSymptomeaufweisen,überAusgangbeschrän-kungen, Schulschließungen oder mehrwöchige Quarantäne-regelungen für Infizierte bis hin zu finanziellen Hilfen fürUnternehmenundHaushalte.
Jede Regierung geht dabei unterschiedlich schnell und mit unterschiedlicher Regulierungsintensität vor. China rea-gierte – nachdem die Vertuschung in Wuhan bekannt ge-wordenwar–hart,währendderautoritärregierendeweiß-russische Präsident bisher kaum restriktive Maßnahmenerließ,umderPandemieentgegenzuwirken.Spanienführteschnell einen weitreichenden Shutdown ein, wohingegen SchwedenaufFreiwilligkeitsetzte,umdiePandemieabzu-schwächen. Aus der anekdotischen Evidenz einzelner Länder lässt sich jedenfallsnochkeineindeutigerZusammenhangzwischenderRegierungsformundderReaktionaufdenAus-bruchdesCoronavirusfeststellen.Erwartbarwäre,dassauto-ritäreRegimedasöffentlicheLebenschnellerbeschränkten,dafürsiederRückhaltderBevölkerungwenigerwichtigistalsin Demokratien. Möglicherweise berücksichtigten auto ritäre StaatenauchdieKosten,diemitdenMaßnahmenfürdieBe-völkerung ent stehen, weniger.
AllerdingsunterschiedensichdieReaktionenaufdieCo-ronakrise nicht nur zwischen verschiedenen Staaten, sondern auch innerhalb der jeweiligen Länder. In Deutschland war Sachsen-Anhalt zu Beginn der Krise bspw. weniger starkbetroffenalsBayern,weshalbdieBundesländerunterschied-liche Strategien anwendeten, umdie Krise regional zu be-kämpfen.Daher istdenkbar,dassdieGeschwindigkeit,mitderrestriktiveMaßnahmenaufnationalerEbeneeingeführt
wurden auch damit zusammenhängt, wie dezentral ein Land regiert wird.
IndiesemBeitragversuchenwirsystematischzuerklä-ren,obDemokratiesowieföderaleStruktureneinenEinflussaufdieGeschwindigkeithatten,mitderverschiedeneStaatenaufnationalerEbenerestriktiveMaßnahmenalsAntwortaufdenerstenbestätigtenCOVID-19-FallinihremLandergriffen.Wir beobachten, dass demokratische Staaten länger zöger-ten, um dem Virusmit Schulschließungen oder Veranstal-tungsverboten entgegenzuwirken. In dezentral organisierten Ländern sehen wir hinsichtlich aller Maßnahmen keine lang-samere Reaktionszeit als in Zentralstaaten.
DEMOKRATISCHE STAATEN ZÖGERN HINSICHTLICH SCHULSCHLIESSUNGEN
EinerestriktiveMaßnahme,mitdervieleLänderaufdenAus-bruchderCoronapandemiereagierten,istdieSchließungvonSchulen. Dies ist eine besonders einschneidende Maßnahme, daSchulschließungenlangfristigeFolgenfürKindervorallemausbildungsfernenFamilienhabenkönnen.DieverschiedenenStaaten ließen dabei unterschiedlich viele Tage zwischen dem erstenbekanntenCOVID-19-FallinihremLandunddenanschlie-ßenden Schulschließungen vergehen. Abbildung 1 zeigt diesen Zu sam menhang mit dem Demokratieindex der Economist In-telligenceUnitanderhorizontalenAchse.DerpositiveTrendindenDatenlegtnahe,dassmitzunehmendausgeprägterDemo-kratie auch die Dauer, bis Schulen geschlossen wurden, steigt.
DiegraphischeDarstellungberücksichtigtallerdingsnicht,dass sich das Coronavirus nicht in allen Ländern zeitgleich ausbreitete.Länder,derenersterFallimweltweitenVergleichrelativspätauftrat,wareninderLageschnellerrestriktiveMaß-nahmen einzuführen, da sie aus den Erfahrungen andererLänderlernenkonnten.DaherführenwirRegressionsanalysen(vgl.Infobox1)durch,umausschließenzukönnen,dassdiespätereReaktionvoneherdemokratischenStaatennurdaraufzurückzuführenist,dassdieerstenFälledortzumBeispielimVergleichzuChinaerstvergleichsweisespätauftraten.
* MonaFörtschundStefanieKnollsindDoktorandinnenanderNiederlassungDresdendesifoInstituts–Leibniz-InstitutfürWirtschaftsforschunganderUniversitätMünchene.V.
AKTUELLE FORSCHUNGSERGEBNISSE
4 ifo Dresden berichtet 3/2020
Abb. 1Zögerliche Reaktion demokratischer Staaten hinsichtlich Schulschließungen
Anmerkung: Die Abbildung zeigt den Zusammenhang zwischen der Reaktionsgeschwindigkeit hinsichtlich Schulschließungen in verschiedenen LändernundderenDemokratieindex.DieReaktionsgeschwindigkeitistdiezeitlicheDifferenzzwischendemerstenCOVID-19-FallineinemLandunddernationalenSchließungvonSchulen.DerDemokratieindexgibtaufeinerSkalavon1bis10an,wiedemokratischeinLandist. Je höher der Indexwert, desto demokratischer ist das Land. Die graue Linie zeigt den Trend der Daten.
Quelle:Haleetal.(2020),DarstellungdesifoInstituts. ©ifoInstitut
Infobox 1: Methodik und Daten
In unseren Analysen interessieren wir uns für den Zu-sammen hang zwischen Demokratie bzw. Dezentralität und der Geschwindigkeit, mit der Regierungen auf denAusbruch des Coronavirus im eigenen Land reagieren. WirnutzendieDatendesOxfordCoronavirusGovernmentResponseTracker,welcherweltweitepolitischeReaktio-nenhinsichtlichderVerbreitungdesCoronavirussowiedieFall-undTodeszahlentagesgenauverfolgt(Haleetal.2020).Die Reak tionsgeschwindigkeit einer Regierung berechnen wiralszeitlicheDifferenz(inTagen)zwischendemerstenbekanntenCOVID-19-Fall ineinemLandundderEinfüh-rung der jeweiligen restriktiven Maßnahme. Letztere stellt inunsererRegressionsanalysedieabhängigeVariabledar.ZurErklärungdieserVariablenutzenwireineReiheunab-hängigerVariablen:dieZeitdifferenzzwischendemerstenbestätigtenCOVID-19-FallinChinaunddemerstenFallimjeweiligenLand,dieEinwohnerzahl,dasBruttoinlandspro-duktproKopf,denUrbanisierungsgradsowiedieSäuglings-sterblichkeit,diealsProxyfürdieQualitätdesjeweiligenGesundheitssystemsdient.AußerdemnutzenwirdieZeit-spannezwischendemerstenundfünfzigstengemeldetenCOVID-19-FallimjeweiligenLandalsMaßfürdieAusbrei-tungsgeschwindigkeitdesVirus.Diebeidenzentralenunab-hängigenVariablensindderDemokratieindexderEconomistIntelligenceUnitvon2019sowieeinIndexfürDezentralität.DerDemokratieindexwirdaufeinerSkalavon1bis10gemes-senundbasiertaufdenfolgendenfünfKategorien:Wahl-prozessundPluralismus,FunktionsweisederRegierung,
PolitischeTeilhabe,PolitischeKultur,Bürgerrechte(Unit2020).DerDezentralitätsindexmisstaufeinerSkalavon0bis30die Autorität von Regionalregierungen in vollständigen undunvollständigenDemokratienentlangderfolgendenfiskalischenundpolitischenDimensionen:institutionelleTiefe,politischeReichweite,fiskalischeAutonomie,Kredit-aufnahmeautonomie,Repräsentation,Rechtsetzung,exe-kutive Kontrolle, fiskalische Kontrolle, Kreditaufnahme-kontrolleundVerfassungsreform(Hoogheetal.2016).
Tabelle 1 verdeutlicht, dass demokratischere Staaten tenden-ziellspätermitSchulschließungenaufdieCoronapandemiereagierten(Spalte[1]).DieserEffektbleibterhalten,wennan-derepotenzielle Einflussfaktoren,wiedas generell spätereAuftretendesVirusimLandoderlandesspezifischeCharak-teristika,berücksichtigtwerden(Spalte[2]).Würdesichbspw.derDemokratieindexderUkraineaufdasDemokratieniveauDeutsch lands erhöhen, wäre das mit einer etwa vier Tage späterenSchulschließungverbunden.1
In einem weiteren Schritt untersuchen wir, ob sich die Reaktionsgeschwindigkeit demokratischer Länder unter schei-det, je nachdem wie zentral oder dezentral das jeweilige Land organisiertist.WennwirfürunterschiedlicheEinflussfaktorenkontrollieren, sehen wir keinen Zusammenhang zwischen Reaktionsgeschwindigkeit undDezentralität (Spalte [4]). InstärkerdezentralisiertenStaatenwurdenSchulenaufnatio-naler Ebene also nicht schneller oder langsamer geschlossen als in Zentralstaaten.2
DEU
–60
–40
–20
0
20
40
60
80
100
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10Demokratieindex
Reaktionsgeschwindigkeit in Tagen
5
AKTUELLE FORSCHUNGSERGEBNISSE
ifo Dresden berichtet 3/2020
Tab. 1Zusammenhang zwischen Staatsform und Schulschließungen
Anmerkung:DieTabellezeigtdiegeschätztenEffektederzeitlichenDifferenzzwischendemerstenCOVID-19-FallundSchulschließungenaufeinenDemokratieindex(Spalten[1]und[2])bzw.einenDezentralisierungsindex(Spalten[3]und[4]).IndenSchätzungeninSpalte[2]und[4]kontrollierenwirzusätzlichfürdieZeitdifferenzzwischendemerstenbestätigtenCOVID-19-FallinChinaunddemerstenFallimjeweiligenLand,dieEinwohnerzahl,dasBruttoinlandsproduktproKopf,denGradderUrbanisierung,dieSäuglingssterblichkeitsowiedieZeitspannezwischendemerstenundfünfzigstengemeldetenCOVID-19-FallimjeweiligenLand.RobusteStandardfehlersindinKlammernangegeben.Koeffizientengekennzeichnetmit***sindsignifikantaufdem1-%-Level,mit**sindsignifikantaufdem5-%-Levelundmit*sindsignifikantaufdem10-%-Level.
Quelle:BerechnungenundDarstellungdesifoInstituts. ©ifoInstitut
DEMOKRATISCHE LÄNDER REAGIERTEN NICHT IMMER LANGSAMER
Neben Schulschließungen wurden in vielen Staaten noch wei-tereMaßnahmenergriffen,umdieVerbreitungdesCorona-virus einzudämmen. Daher untersuchen wir auch, ob sich die Reaktion zwischen den Ländern bei diesen Maßnahmen unter- scheidet. Tabelle 2 zeigt, dass der Zusammenhang von Demo-kratieindexundderGeschwindigkeit,mitderverschiedeneMaßnahmenimplementiertwurden,nichteindeutigist.3Unter-schiedlicheReaktionszeitenzwischendenRegierungsformen
beobachten wir nicht nur bei Schulschließungen, sondern auch beiderAbsageöffentlicherVeranstaltungen.DemokratischeStaaten haben demnach nach dem Auftreten des erstenCOVID-19-FallsimeigenenLandauchlängergezögert,Veran-staltungen zu verbieten. Hinsichtlich des Verbots größererPersonengruppen,Betriebsschließungen,Ausgangs-oderReise-beschränkungensehenwirkeinezeitlichenUnterschiede.
Bei allen von uns betrachteten Maßnahmen unterschei-detsich–genausowiebeiSchulschließungen–dieReaktions-geschwindigkeit dezentral organisierter Länder nicht von der in eher zentral reagierten Demokratien.
Tab. 2Zusammenhang zwischen Staatsform und Durchsetzungsgeschwindigkeit verschiedener Maßnahmen
Anmerkung:DieTabellezeigtdiegeschätztenEffektederzeitlichenDifferenzzwischendemerstenCOVID-19FallundSchulschließungen(Spalte[1]),derAbsageöffentlicherVeranstaltungen(Spalte[2]),internationalenReisekontrollen(Spalte[3]),demVerbotgrößererPersonengruppen(Spalte[4]),Betriebsschließungen(Spalte[5])sowieAusgangsbeschränkungen(Spalte[6])aufeinenDemokratieindex.InallenSchätzungenkontrollierenwirzusätzlichfürdieZeitdifferenzzwischendemerstenbestätigtenCOVID-19-FallinChinaunddemerstenFallimjeweiligenLand,dieEinwohnerzahl,dasBruttoinlandsproduktproKopf,denGradderUrbanisierung,dieSäuglingssterblichkeitsowiedieZeitspannezwischendemerstenundfünfzigstengemeldetenCOVID-19-FallimjeweiligenLand.RobusteStandardfehlersindinKlammernangegeben.Koeffizientengekennzeichnetmit***sindsignifikantaufdem1-%-Level,mit**sindsignifikantaufdem5-%-Levelundmit*sindsignifikantaufdem10-%-Level.
Quelle:BerechnungenundDarstellungdesifoInstituts. ©ifoInstitut
AbhängigeVariable:zeitlicheDifferenzzwischendemerstenCOVID-19-FallundSchulschließungen
[1] [2] [3] [4]
Demokratieindex 2,395***(0,622)
1,290**(0,493)
Dezentralitätsindex 0,979***(0,164)
0,063(0,203)
Datensatz Gesamter Datensatz
Gesamter Datensatz
Nur vollständige und unvollständige
Demokratien
Nur vollständige und unvollständige
Demokratien
MittelwertabhängigerVariable 11,177 12,670 17,571 17,571
MittelwertunabhängigeVariable 5,664 5,832 10,778 10,778
Beobachtungsanzahl 130 112 49 49
Kontrollvariablen Nein Ja Nein Ja
R² 0,091 0,735 0,304 0,826
AbhängigeVariable:Differenzzwischenerstem Fall und
Schul-schließungen
Absage öffentlicher
Veranstaltungen
Internationale Reisekontrollen
VerbotgrößererPersonen-gruppen
Betriebs-schließungen
Ausgangs-beschrän kungen
[1] [2] [3] [4] [5] [6]
Demokratieindex 1,290**(0,493)
1,178**(0,555)
0,943(0,939)
–0,224(1,618)
1,031(0,702)
0,850(0,912)
MittelwertabhängigerVariable 12,670 13,473 2,733 20,686 22,854 24,740
MittelwertunabhängigerVariable 5,832 5,831 5,976 6,358 5,933 6,033
Beobachtungsanzahl 112 112 101 70 96 50
Kontrollvariablen Ja Ja Ja Ja Ja Ja
R² 0,735 0,762 0,402 0,467 0,724 0,757
AKTUELLE FORSCHUNGSERGEBNISSE
6 ifo Dresden berichtet 3/2020
DISKUSSION DER ERGEBNISSE
Die von uns verwendeten Daten hinsichtlich der Regierungs-maßnahmen könnten unter Umständen verzerrt sein. Ins-besondere ist unklar, inwieweit bestimmte Staaten Berichte zurnationalenAusbreitungderPandemieunterdrückten.Ge-nausokönntenunterschiedlicheTestkapazitätenbzw.-bereit-schaftendazuführen,dassersteauftretendeFälleineinigenStaatenlängerunentdecktblieben.UmdiesebeidenProble- me teilweise zu umgehen, berechnen wir die Reaktions-geschwindigkeitauchbasierendaufdemerstenTodesfallimjeweiligenLand.DieErgebnisseunsererAnalyseändernsichdadurch nicht: Demokratischere Staaten reagieren hinsicht-lichSchulschließungenundVeranstaltungsverbotentenden-ziellspäteraufdenAusbruchdesCoronavirus.Zudemkon-zentriert sich unsere Analyse auf Maßnahmen, die aufnationalerEbeneeingeführtwurden.Esistmöglich,dassineher dezentralen Staaten bereits vorher regionale Maßnah-menzurEindämmungdesVirusergriffenwurden.DieseMaß-nahmenwerdeninunsererAnalysenichtberücksichtigt.
Aussagen darüber, ob eine schnellere oder auch generell dieEinführungrestriktiverMaßnahmenzueinererfolgreiche-renEindämmungderCoronapandemiebeiträgt,könnenwiraufGrundlageunsererAnalysenichttreffen.DielangfristigenAuswirkungenaufdieWirtschaft,dieGesellschaftoderdasGesundheitssystem können erst in der Zukunft analysiertwerden.DieseUntersuchunggingauchnichtderFragenach,obdieMaßnahmeneffektivwarenundwasdierichtigeGe-schwindigkeitderPolitikreaktionist.AllerdingszeigenFreyetal.(2020),dassautoritäreRegierungenstrengereMaßnahmenerließen, um die Mobilität ihrer Bevölkerung zu reduzieren. Jedoch gelang die Mobilitätsreduktion in demokratischen Ländern mit weniger strikten Beschränkungen besser.
FAZIT
Die meisten Staaten versuchen, die Ausbreitung des Corona-virusdurchdieEinführung restriktiverMaßnahmen zu ver-langsamen. Wir haben gezeigt, dass demokratisch regierte
Länder tendenziell zögerlicher mit besonders einschränken-denMaßnahmenwieSchulschließungenundVeranstaltungs-verbotenaufdieVerbreitungdesCoronavirusreagiertenalsautoritäre Staaten. Bei anderen Maßnahmen wie Reise- und Ausgangsbeschränkungen reagierten demokratische und autoritäre Staaten ähnlich schnell. Die Reaktionsgeschwindig-keitistunabhängigvomGradderDezentralisierunginnerhalbder demokratischen Staaten. Eine Erklärung dafür könntesein,dassdemokratischgewähltePolitikerundPolitikerinnenstärkeraufdieUnterstützungderBevölkerungangewiesensindundauchdieKostenvonMinderheitenberücksichtigen.DaherversuchendiesedieBevölkerunglängeraufeinschrän-kende Maßnahmen vorzubereiten, um diese erträglicher zu machen.
LITERATUR
Amat,F.,Arenas,A.,Falcó-Gimeno,A.undJ.Muñoz(2020),Pandemicsmeetdemocracy,ExperimentalevidencefromtheCOVID-19crisisinSpain.
Frey,C.B.,Chinchih,C.undG.Presidente(2020),„Democracy,culture,andcontagion:Politicalregimesandcountries'responsivenesstoCovid-19“, CovidEconomics,18,S.222–238.
Hale,T.,Webster,S.,Petherick,A.,Phillips,T.undB.Kira(2020),OxfordCOVID-19GovernmentResponseTracker,BlavatnikSchoolofGovernment,Datausepolicy:CreativeCommonsAttributionCCBYstandard.
Hooghe,L.,Marks,G.,Schakel,A.H.,Niedzwiecki,S.,OsterkatzChapman,S.undS.Shair-Rosenfield(2016),MeasuringRegionalAuthority:APostfunctio-nalistTheoryofGovernance,Vol.I.OxfordUniversityPress,Oxford.
Unit,E.I.(2020),Democracyindex2019:Ayearofdemocraticsetbacksandpopularprotest.
1 DerDemokratieindexderUkraineentsprichtmiteinemWertvon5,9etwademMittelwertderbetrachtetenLänderinSpalte[2]vonTabelle1.Deutschlands Demokratieindex liegt bei einem Wert von 8,68.
2 DezentralisierunglässtsichauchüberfiskalischeMaßebestimmen. WennwirinderAnalysedieIndizesfürEinnahmen-oderAusgabendezen-tralisierungdesInternationalenWährungsfondsnutzen,kommenwirzugleichen Ergebnissen.
3 FüreineausführlicheBeschreibungderunterschiedlichenpolitischenMaßnahmensieheHaleetal.(2020).
7
AKTUELLE FORSCHUNGSERGEBNISSE
ifo Dresden berichtet 3/2020
Sebastian Blesse, Philipp Kerler und Felix Rösel *
Stabile Demokratie in Krisenzeiten: Lokale Coronafälle haben bei der bayerischen Kommunalwahl die Wähler nicht abgeschreckt
Am 15. März 2020 fanden in Bayern die Kommunalwahlen statt – mitten in den Anfangswochen der Coronapandemie in Deutschland. In etwa einem Fünftel der bayerischen Landkreise gab es zu diesem Zeitpunkt aber noch keinen bestätigten Coronafall. Wir vergleichen das Wahlverhalten in diesen Land-kreisen mit bayerischen Landkreisen, in denen bereits Corona nachgewiesen wurde. Unsere Ergebnisse deuten nicht darauf hin, dass lokale Coronafälle die Wahlbeteiligung negativ beeinflusst haben. Die Wähler haben sich nicht abschrecken lassen.
Aktuell stellt die weltweite Coronapandemie modernedemokratischeGesellschaftenvorungeahnteHerausforde-rungen.DieUnsicherheitüberLängeundAusmaßderPan-demie und die damit verbundenen gesellschaftlichen undökonomischenSchädenhabenzumassivenpolitischenEin-griffengeführt (füreineÜbersichtvonCoronamaßnahmen,vgl. IMF 2020). Das fast vollständige Herunterfahren desöffentlichenLebensundRestriktionen fürsozialeKontaktesolldieAusbreitungdesViruseindämmen.RegierungenundZentralbankenbekämpfengleichzeitigmitRettungsschirmenundLiquiditätshilfendieruinösenwirtschaftlichenDimensio-nen der Krise. Die einschneidenden Eingriffe der Politik inbürgerlicheFreiheiten,aberauchdieTiefederzuerwarten-denwirtschaftlichenKrise,machendieCoronapandemieda-mit zu einem bedeutenden Stresstest für die Demokratie.
KrisenunterschiedlicherArthabenschonhäufigdemo-kratische Gesellschaften vor Belastungsproben gestellt.FinanzkrisenführenoftzusteigenderUnsicherheit,erschüt-tern das Vertrauen in etablierte Institutionen und bietenrechtspopulistischenParteieneinenfruchtbarenNährboden(Funkeetal.2016).AndererseitsbietenKrisendenbestehen-denRegierungeneineChance,sichindenAugenderÖffent-lichkeit als „Krisenmanager“ zu bewähren. In schwierigenZeiten solidarisiert man sich mit den handelnden Akteuren, dieNeigungzumpolitischenWechselsinkt.MehrereStudienfindenBelege,dassetwaKatastrophenhilfendieWiederwahl-chancenvonAmtsinhabernerhöhen(z.B.HealyundMalhotra2009sowieBechtelundHainmueller2011).
DieWirkungvonPandemienaufdiepolitischePartizipa-tion wurde bisher nicht untersucht. In diesem Beitrag unter-suchenwir,wiesichdieaufziehendeCoronapandemieaufdasWahlverhaltenauswirkt.Am15.März2020fandeninBayerndieKommunalwahlenstatt–mittenindenAnfangswochenderCoronapandemieinDeutschland.Befürchtetwurde,dasssomancherWähleraufgrundderAnsteckungsgefahrlieberzuHausebleibenwürde.InetwaeinemFünftelderbayerischen
LandkreisegabeszumZeitpunktderWahlabernochkeinenbestätigtenCoronafall (dunkelgrüne Landkreise in Abb. 1).Wir vergleichen das Wahlverhalten in diesen Landkreisen mit bayerischenLandkreisen, indenenbereitsCoronanachge-wiesenwurde(hellgrüneLandkreiseinAbb.1).UnsereErgeb-nisse deuten nicht darauf hin, dass lokale Coronafälle dieWahlbeteiligungnegativbeeinflussthaben,ganzimGegen-teil. Die Wähler haben sich nicht von der Seuche abschrecken lassenundgingen–jenachverwendeterDatenquelle–sogaretwas zahlreicher zur Wahlurne.
METHODIK
FürdieseUntersuchunghabenwireinenneuenDatensatzauszwei Quellen zusammengestellt. Erstens verwenden wir die Situationsberichte des Robert-Koch-Instituts (RKI) für täg-licheZahlenCoronafällenindenbayerischenLandkreisen.DaeshäufigzuNachmeldungenundnachträglichenÄnderungender Fallzahlen kam, verwenden wir sowohl tages aktuelle Echtzeitdaten als auch die später publizierten revidierten Daten.1ZeitlichverzögerteErfassungenvonInfektionszahlendurchdasRKIentstehendurchdiegesetzlicheMeldekette.GrundsätzlichmüssenCOVID-19-Verdachtsfälleund-erkran-kungen zuerst an das zuständige Gesundheitsamt vor Ortübermitteltwerden,welchesdannspätestensamTagdaraufdieseInformationen(meistmanuell)andiezuständigenLan-desbehörden übermittelt. Von dort aus werden die Daten andasRKIübermittelt,wodieCorona-Infektionszahlenein-mal täglich aktualisiert werden. Da durch diese oft mehr-tägigeMeldekettedieoffiziellenZahlendesRKIdentatsäch-lichenInfektionszahlenetwashinterherlaufen,könnenlokal
* SebastianBlesseistDoktorandamZEW–Leibniz-ZentrumfürEuropäischeWirtschaftsforschungMannheim,PhilippKerleristDoktorandanderUniversitätZürichundDr.FelixRöselistwissenschaftlicherMitarbeiteranderNiederlassungDresdendesifoInstituts–Leibniz-InstitutfürWirtschafts-forschunganderUniversitätMünchene. V.
AKTUELLE FORSCHUNGSERGEBNISSE
8 ifo Dresden berichtet 3/2020
Abb. 1Verbreitung des Coronavirus am Tag der bayerischen Kommunal-wahlen 2020 (15. März 2020)
Hinweis:DieAbbildungzeigtdieVerbreitungdesCoronavirusamTagderbayerischenKommunalwahlen2020(Datenstand16.März2020).DiedunkelgrünenLandkreisehattenamTagderKommunalwahlen2020(15.März2020)nochkeinenbestätigtenCoronafall(n=22).Inden hellgrünen Landkreisen bestand mindestens ein bestätigter Co-ronafall bis zum14.März 2020 (n=74).DieDatenbasishierfür sindEchtzeitdatendesRobert-Koch-Instituts(RKI).
Quelle:EigeneDarstellung. ©ifoInstitut
aktuellereInformationenvorliegen.InformationsquellensinddabeiGesundheits-undLandkreisämtervorOrt,diebereitsfrühzeitig Informationen publizieren, die Lokalpresse, diefrühzeitigüberVerdachtsfälleberichtet,undauchdiesozialenNetzwerke und Online-Plattformen, über die sich solcheInformation in Echtzeit verbreiten. Demgegenüber stehen die Zahlen des RKI, die bundesweit die wichtigste Infor-mationsgrundlagefüraktuelle„Pegelstandsmessungen“zurCoronakrisesind.WelcheRolledieunterschiedlichen Infor-mationsquellen bei der Meinungsbildung über die lokale Gefährdungslageindividuellspielen,istunklar.Umsowichtiger ist es, zu kontrastieren, welche Veränderung im Wahlver-haltenunterwelcherInformationslagemessbarist.
WirverknüpfendiezweiverschiedenenInformationenzudenInfektionszahlenmitDatenzurWahlbeteiligungbeidensechsbayerischenKommunalwahlenzwischen1984und2020aufEbenederkreisfreienStädteundLandkreise.2 Diese lange Zeitreihe erlaubt es uns zu testen, ob sich 2020 die Wahlbetei-ligunginStädtenundLandkreisenmitCoronafällenandersentwickelthatalsinKommunenohnebestätigtenCoronafall. HierzuverwendenwireinenDifferences-in-differences-Ansatz (Differenzen-von-Differenzen).DieIntuitiondafüristsimpel:DieLandkreiseunterschiedensichauchbereitsvorderKriseinderWahlbeteiligung.DiesesystematischenUnterschiederechnen wir heraus und testen, ob sich bei der Wahl 2020 ein zusätzlicherEffektinLandkreisenmitCoronafälleneinstellt.
WirschätzendaherdiefolgendeRegressionsgleichung:
Wahlbeteiligungit = β (Coronai × Wahl2020t )+ αi + δt + εit
DieLandkreis-undWahl-fixenEffekteαi und δt eliminieren systematischeUnterschiedeimWahlverhaltenzwischendenLandkreisenbzw.imZeitverlauf.βisoliertdaherdenEffektvonlokalenCoronafällenaufdieWahlbeteiligung.Coronai ist eineDummy-Variable,diedenWert1fürLandkreiseannimmt,diezumZeitpunktderWahl(vordem15.März2020)bereitsmindestenseinenbestätigtenCoronafallhatten,sonstistdieVariable0.DieDummy-VariableWahl2020t nimmt den Wert 1 anfürdieKommunalwahl2020,vorheristsie0.UnterderAn-nahme, dass sich ohne Corona die Wahlbeteiligung in allen Landkreisen mit ihren Vorkrisen-Trends entwickelt hätte,kannderSchätzerfürdenKoeffizientenβalskausalerEffektdeslokalenCoronaausbruchsaufdieWahlbeteiligunginter-pretiertwerden.
ERGEBNISSE
ZunächstbetrachtenwirdiezweiGruppenvonLandkreisen–LandkreisemitCoronafällenundLandkreiseohneCorona-fälle (vgl.nochmalsdieKarte inAbb.1)– ineinerGraphik.Abbildung2stelltdieWahlbeteiligungbeiKommunalwahleninbeidenLandkreisgruppenzwischen1984und2020dar.Zuerkennen ist in der linken Abbildung, dass Landkreise ohne Coronafälle zum Zeitpunkt der Kommunalwahl 2020 eineniedrigere Wahlbeteiligung hatten als Landkreise mit Corona-fällen (57%bzw. 60%). Allerdings bestand einUnterschiedauch schon vor dem Coronaausbruch. In Landkreisen ohne CoronafälleistdieWahlbeteiligungum3Prozentpunktege-stiegen, inLandkreisenmitCoronafällen jedochum4Pro-zentpunkte.EinähnlichesBildergibtsich,wennwirunserenDatensatz auf Landkreise beschränken, die knappumdenWahltagherum ihrenerstenCoronafallberichteten (rechteSeite inAbb.2).DieseLandkreisesolltensichnochwenigersystematisch voneinander unterscheiden. Auch hier sehenwir,dasslokaleCoronafällemiteinemleichthöherenAnstiegder Wahlbeteiligung einhergingen als in Landkreisen ohne Coronafallbiszum15.März2020.Wir überprüfen unseren optischen Eindruck mithilfe vonRegressionsanalysen.Wir schätzen dabei das in der oben-stehenden Regressionsgleichung beschriebene Modell in vier Spezifikationen. Zunächst verwenden wir wie in denAbbildungen1und2dievomRKIpubliziertenEchtzeitdaten,dadiesedenzentralenInformationsstandzumZeitpunktderKommunalwahlabbilden(vgl.Tab.1,linkesPanel).Hierdo-kumentieren wir einen leichten Anstieg der Wahlbe teiligung (0,7 Prozentpunkte bis 1 Prozentpunkt) aufgrund lokalerCoronafälle, der jedoch statistisch nicht signifikant von 0 unterscheidbar ist.3ImVergleichdazuzeigenwirdieErgeb-nisse unter Verwendung der revidierten Daten im rechtenPanelderTabelle 1.Hierfindenwir einen statistisch signi-fikantenAnstiegderWahlbeteiligungzwischen2,2Prozent-punkten und 2,4 Prozentpunkten. ZusammengenommenlegendieErgebnissenahe,dassdiebefürchteteZurückhal-tung bei derWahlbeteiligung aufgrund lokaler Coronafälleausgebliebenist.Tendenziellhabensichlokale CoronafällesogareherpositivaufdieWahlbeteiligungausgewirkt.
Mit Corona
Ohne Corona
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ifo Dresden berichtet 3/2020
SCHLUSSFOLGERUNGEN
Wirhabengezeigt,dasssichdieWählerbeiderbayerischenKommunalwahl2020nichtvonlokalenCoronafällenhabenabschreckenlassen.GanzimGegenteil–eherbeobachtenwireinen stärkeren Anstieg der Wahlbeteiligung in Landkreisen, dieamWahltagbereitseinenbestätigtenCoronafallhatten.DieWählerscheinenihrelokalenBehördenundpolitischen
Institutionenstärkenzuwollen.DieserEffektwurdebereitsbei der skandalträchtigen Bundespräsidentenwahl 2016 inÖsterreichbeobachtet(PotrafkeundRösel2019).Inunsiche-renZeitenversprechendieaktuellimAmtbefindlichenRegie-rungenStabilitätundgenießenZulauf(dersogenannte„Rally-around-the-flag“-Effekt).DazupasstauchdasErgebnisvonLeiningerundSchaub(2020),dieeinenpositivenEffektlokalerCoronafall-Betroffenheit auf die Stimmanteile der CSU bei
Abb. 2Wahlbeteiligung in Landkreisen mit und ohne Coronafälle am Wahltag (in %)
5660
5457
45
50
55
60
65
70
75
80
1984 1990 1996 2002 2008 2014 2020
Alle Landkreise
5761
5558
45
50
55
60
65
70
75
80
1984 1990 1996 2002 2008 2014 2020
Mit Corona Ohne Corona
Erster Coronafall ±4 Tage um Wahltag
Hinweis:DieAbbildungzeigtdieEntwicklungderWahlbeteiligungbeidenbayerischenKommunalwahlenzwischen1984und2020.Diehell-grüneLinieentsprichtdemMittelwertallerLandkreise,dieamTagderKommunalwahlen2020 (15.März2020)nochkeinenbestätigtenCoronafallhatten.DiedunkelgrüneLiniezeigtdieWahlbeteiligunginLandkreisenmitmindestenseinembestätigtenCoronafallbiszum14.März2020(basierendaufEchtzeitdaten,dieam16.März2020und21.März2020vonderWebseitedesRobert-Koch-Institutsherunter-geladenwurden).InderlinkenAbbildungverwendenwirallebayerischenLandkreise(n=96),inderrechtenAbbildungnurLandkreise,diedenerstenbestätigtenCoronafallineinemZeitfenstervon±4TagenumdenWahlterminhatten(n=68).
Quelle:EigeneDarstellung. ©ifoInstitut
Tab. 1Effekte von lokalen Coronafällen auf Wahlbeteiligung (in %)
Echtzeitdaten Revidierte Daten
Alle Landkreise ErsterCoronafall ±4TageumWahltag
Alle Landkreise ErsterCoronafall ±4TageumWahltag
[1] [2] [3] [4]
Corona 0,967(0,773)
0,669(0,930)
2,386**(0,982)
2,176*(1,158)
Landkreis-fixeEffekte Ja Ja Ja Ja
Jahr-fixeEffekte Ja Ja Ja Ja
MittelwertderabhängigenVariable 65,658 66,433 65,658 65,367
Landkreise 96 68 96 42
Beobachtungen 672 476 672 294
Adj. R² 0,907 0,897 0,908 0,925
Hinweis:DieTabellezeigtdengeschätztenEffektvonlokalenCoronafällenaufdieWahlbeteiligungbeidenbayerischenKommunalwahlen.DieBeobachtungseinheitsinddie96LandkreiseBayernswährendderKommunalwahlen1984,1990,1996,2002,2008,2014und2020.DieVariableCoronanimmtdenWert1anfürLandkreise,dieamTagvorderKommunalwahl2020(14.März2020)mindestenseinenbestätigtenCoronafallhatten,undsonst0.Echtzeitdatenwurdenam16.März2020und21.März2020vonderWebseitedesRobert-Koch-Institutsheruntergeladen,revidierteDatenstammenvomRobertKoch-InstitutundBundesamtfürKartographieundGeodäsie(Quellenvermerk:dl-de/by2-0).StandardfehlerinKlammern(geclustertaufLandkreis-Ebene):***0,1,**0,05,***0,01.
Quelle:EigeneDarstellung. ©ifoInstitut
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10 ifo Dresden berichtet 3/2020
denbayerischenKommunalwahlen2020finden.DerjüngsteStimmenanstiegfürdie„Kanzlerin-Parteien“CDUundCSUindenWahlumfragenseitBeginnderCoronakrise,dieweltweitgestiegenenZufriedenheitswertemitdennationalenRegie-rungensowiediestarkgestiegeneNachfragenachetabliertenTageszeitungenundprofessionellemJournalismusergänzendieses Bild.
Weitere Forschung zu den längerfristigen Folgen vonCoronafürdemokratischeGesellschaftenistnötig.4 In unserer StudiekönnenwirnurlokaleUnterschiedeinderBetroffen-heitdurchCoronaauswerten.KeineAussageistunsdagegenmöglich,obdieWahlbeteiligungbeiderKommunalwahl2020ineinergänzlich„Coronafreien“Weltnichtinsgesamthöherausgefallenwäre.ZudemfanddieKommunalwahlzuBeginnder Pandemie statt, als es in Deutschland noch weniger als 7500 Coronafälle gab. Wie eine Wahl in Coronazeiten aussehen könnte, lässt sich vielleicht bald in Österreich und Polenbeobachten.Dieursprünglicham22.März2020ange-setzteGemeinderatswahl inderSteiermarkkönntenun imJuli2020stattfinden.Bizarrdabei:EinTeilderWählerhattebei einem vorgezogenen Wahltag am 13. März bereits ihre Stimmeabgegeben,bevordieHauptwahlabgesagtwurde.InPolen soll die Präsidentschaftswahl im Mai abgehaltenwerden–jedochnuralsBriefwahl.UnsstehendigitaleWahl-kämpfe bevor. Ob dies der Demokratie aber nützt oder schadet, kann erst die Zeit zeigen.
LITERATUR
Bechtel,M.undJ.Hainmueller(2011),„HowLastingIsVoterGratitude?AnAnalysisoftheShort-andLong-TermElectoralReturnstoBeneficialPolicy“,AmericanJournalofPoliticalScience55(4),S.852–868.
Bursztyn,L.,Roth,C.,Rao,A.undD.Yanagizawa-Drott(2020),MisinformationDuringaPandemic,BeckerFriedmanInstituteforResearchinEconomicsWorkingPaper44,Chicago.
Funke,M.,Schularick,M.undC.Trebesch(2016),„GoingtoExtremes:PoliticsafterFinancialCrises,1870–2014“,EuropeanEconomicReview88,S.227–260.
Healy,A.undN.Malhotra(2009),„MyopicVotersandNaturalDisasterPolicy“,AmericanPoliticalScienceReview103(3),S.387–406.
IMF–InternationalMonetaryFund(Hrsg.)(2020),PolicyResponsestoCOVID-19. Policytracker,onlineabrufbarunterhttps://www.imf.org/en/Topics/imf-and-covid19/Policy-Responses-to-COVID-19.
Leininger,A.undM.Schaub(2020),VotingattheDawnofaGlobalPandemic,WorkingPaper,UniversitätKonstanz.
Potrafke,N.undF.Rösel(2019),„ABananaRepublic?TheEffectsofInconsist-enciesintheCountingofVotesonVotingBehavior“,PublicChoice178(1–2),S.231–265.
Wrede,M.(2020),HatdieKommunalwahlinBayernam15.03.2020dieAnzahlderCoronavirus-Infektionenerhöht?,WorkingPaper,UniversitätNürnberg-Erlangen.
1 Tagesaktuelle„Echtzeit-Daten“wurdenam16.März2020(fürDatenzwischendem09.und15.März2020)sowieam21.März2020(fürDatenzwischendem16.und20.März2020)vonderWebseitedesRobert-Koch-Institutsheruntergeladen(https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Archiv.html).Dieendgültigen,revidiertenDatenstammenvomRobert-Koch-InstitutundvomBundesamtfürKartographieundGeodäsie(abgerufenam8.April2020vonhttps://www.arcgis.com/sharing/rest/content/items/f10774f1c63e40168479a1feb6c7ca74/data,Quellenvermerk:dl-de/by2-0).
2 DieDatenhierfürstammenvomBayerischenLandesamtfürStatistik(Kreis-tagswahlen:Kreise,Wahlberechtigte,Wähler,Wahlbeteiligung,Stichtag;14411-001r;abgerufenam16.März2020überhttps://www.statistikdaten.bayern.de)sowievonderWebseitezurKommunalwahl2020desBayerischenLandesamtfürStatistik(Kommunalwahlam15.03.2020;WahlderStadträteundKreistage(VorläufigesErgebnis);abgerufenam21.Februar2020überhttps://www.kommunalwahl2020.bayern.de/uebersicht_gremien_stimmen.html).InformationenzurNutzungderBriefwahlliegenunsnichtvor.
3 EinenpositivenPunktschätzererhaltenwirauch,wennwirdieIntensitätderBetroffenheit(CoronafällejeEinwohner)alserklärendeVariableverwenden.
4 Wrede(2020)hatbspw.denumgekehrtenKanaluntersucht,obdieKom-munalwahl2020zueinerhöherenZahlvonCoronafälleninBayerngeführthat.EinanderesaktuellesPapieruntersuchtdieVerbreitungvonFehlinfor-mationenüberCovid-19undderenWirkungaufindividuellesVerhaltenundGesundheitsergebnisse(Bursztynetal2020).
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Anna Kremer *
Aus Nord und Süd und Ost und West – Wie Wanderungsverhalten in Deutschland von regionalen Mentalitäten abhängt
Ostdeutsche waren nach der Wiedervereinigung deutlich stärker zur Binnenmigration bereit als Westdeutsche. Diese Abwanderungstendenz hat den Aufholprozess der ostdeutschen Länder gehemmt. Gemeinhin wird angenommen, dass die starke Abwanderung aus Ostdeutschland überwiegend auf wirtschaftliche Gründe zurückzuführen ist. Ob ökonomische Wanderungsanreize aber auch tatsächlich vorwiegend Wanderungsentscheidungen bestimmen, ist keineswegs ausgemacht. Daher untersucht dieser Artikel, ob neben den bekannten Ursachen wie Arbeitslosigkeit, Alter und Bildung auch regions-spezifische kulturelle Unterschiede die Binnenmigration in Deutschland beeinflussen. Die Ergebnisse zeigen, dass nord- und ostdeutsche Migrierende stärker auf ökonomische Anreize reagieren als süd- und westdeutsche Migrierende. Zudem haben Ostdeutsche eine generell höhere Migrationsbereitschaft, welche die Abwanderung aus Ostdeutschland verstärkt hat.
Binnenmigrationsströme innerhalb eines Landes sind durch Zu- und Abwanderung mitverantwortlich, ob eine Region zukunftsfähig ist oder sich langsamerals andereRegionenentwickelt.Diesgiltinsbesonderefürdieländlichgeprägtenostdeutschen Regionen, in denen sich eine schwache wirt-schaftliche Entwicklung und Abwanderungen gegenseitignegativbeeinflussthabendürften.IndiesemZusammenhangstellt sich die Frage, ob ausschließlich eine ungünstige wirt-schaftlicheLageundnegativeZukunftsperspektivenfürdieWegzüge aus Ostdeutschland verantwortlich sind oder ob es in Deutschland eine regional unterschiedliche Wanderungs-bereitschaftgibt.WenninOstdeutschlandeinegrundsätzlichhöhereBereitschaftzurBinnenmigrationvorliegenwürdealsin Westdeutschland, dann hätte diese die Abwanderung seit der Wiedervereinigung verstärkt.
AmBeispielOstdeutschlandswirdzudemdeutlich,wel-che Folgen massive Abwanderung hat: Die Region verlor seit derWiedervereinigungbis2017stetigEinwohner*innen–unddamitArbeitskräfte–durchAbwanderungenindenWesten(Rösel2019).DadurchkameszueinemTeufelskreisausschwa-cherwirtschaftlicherLeistung,einemMangelanPerspektivenundweitererAbwanderungindieprosperierendenRegionen,insbesondere der jungen und gut ausgebildeten Menschen. DieoftdiskutierteWahrnehmung,dassdieOstdeutschen„zu-rückgelassen werden“, ist ein Resultat davon und wird in der gesellschaftlichenDebattehäufigalseineErklärungfürdasextremere Wahlverhalten in Ostdeutschland gesehen.
Migrationsentscheidungen hängen zum Teil, aber nicht ausschließlich von ökonomischen Faktoren ab. Auch indivi-duelle Charakteristika, die persönliche ErwartungsbildungundbestehendesozialeKontaktespieleneineRolle.Einbis-herweniguntersuchterEinflussfaktoraufdasBinnenwande-rungs verhalten in Deutschland ist die Bedeutung der regio nalen Kulturmit inSozialisationsprozessenerworbenenÜberzeu-gungen und Wertorientierungen. Die verschiedenen deutschen
Regionen weisen unterschiedliche regionale Kulturen auf.ObwohldieDeutscheneineSpracheteilen,istdasLandnichthomogen,daDeutschlandlangeauseinem„Flickenteppich“bestand.Kleinere räumlicheEinheitenweisendaherhisto-risch bedingt kulturelle Eigenheiten, wie Dialekte und Menta-litäten, auf. Mentalitätsunterschiede bleiben häufig überGenerationenhinwegerhalten,auchwennsichdieRahmen-bedingungen ändern, und sie werden auch durch Wanderun-genselbsthöchstenslangfristigabgeschliffen.
Dieser Artikel untersucht daher, ob regionsspezifischekulturelleUnterschiededieBinnenmigrationinDeutschlandbeeinflussen.MeineErgebnissezeigen,dassMenschenausNorddeutschland in ihren Wanderungsentscheidungen stär-keraufökonomischeAnreizereagierenalsMenschenausSüd-deutschland.AuchfürMigrierendeausOstdeutschlandsindwirtschaftliche Aspekte wichtiger als für Migrierende ausWestdeutschland. Zudem haben die Ostdeutschen eine hö-heregenerelleMigrationsbereitschaftalsdieWestdeutschen.
DETERMINANTEN DER BINNENMIGRATION INNERHALB DEUTSCHLANDS
In der bisherigen Literatur wurden bereits zahlreiche Faktoren untersucht, die (Binnen-)Migrationsentscheidungen beein-flussen.ZudiesenzählenökonomischeFaktoren,wiebspw.Arbeitslosigkeit und Löhne (Hicks 1932,Harris und Todaro1970sowieKrugman1990),physischeundkulturelleDistanz(Falcketal.2012),aberauchpersönlicheEigenschaftenwieAlter,GeschlechtundBildungsstand (McCann2013,Green-wood1997).AußerdemspielenUnsicherheitenüberdieZu-kunft, imperfekte Informationen und soziale BeziehungeneineRolle(Molho2013).
* AnnaKremeristDoktorandinanderNiederlassungDresdendesifoInstituts–Leibniz-InstitutfürWirtschaftsforschunganderUniversitätMünchene.V.
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12 ifo Dresden berichtet 3/2020
Die meisten Studien zu Binnenmigration in Deutschland unter suchen Migrationsströme zwischen Ost- und West-deutschland. Sie zeigen, dass nach der Wiedervereinigung eine hohe regionale Arbeitslosenquote in der Ursprungs-region Abwanderung begünstigte. Hohe Löhne hingegen hemmten die Abwanderung (Parikh und van Leuvensteijn2003,Aleckeetal.2010).ZusätzlichbelegendieStudiendenEinfluss individueller Faktoren: Junge ostdeutsche Frauensindmobiler als junge ostdeutscheMänner (Leibert 2016),eine abgeschlossene Sekundarschulbildung erhöht die Wan-derungsbereitschaft (Melzer2011)undÄlterewerdenmehrvon Arbeitslosigkeit und Jüngere mehr von Löhnen in ihrer Binnenwanderungsentscheidung beeinflusst (Hunt 2006). Zudem war Deutschland zunächst durch eine Abwanderung auf das Land in den 1990er Jahren und dann durch einezunehmende Urbanisierung in den 2000er Jahren geprägt(Sander2014).
EineersteUntersuchungzudenAuswirkungenkulturellerUnterschiede auf Binnenmigrationsströme in DeutschlandnehmenFalcketal.(2012)vor,indemsiediedurchschnittlichedeutsche Binnenmigration zwischen 2000 und 2006 abhängig vonDialektunterschiedenschätzen.Siezeigen,dassUnter-schiede in Dialekten die Binnenwanderung zwischen Regio-nenhemmen.ZudemzeigendieForschungHofstedes(2001)zuortspezifischenkulturellenWertenunddieErgebnissederEuropeanValueStudy(Kaasaetal.2016),dassesinDeutsch-land regionale kulturelle Unterschiede über die Dialektehinaus gibt. MeineHypothese ist daher, dass auch anderekulturelle Unterschiede die Binnenmigration verschieden-artigbeeinflussen.
Infobox: Datenbasis und Methodik
DieseStudieberuhtaufdemGerman InternalMigrationDatensatz(Sander,2014),welchervonNikolaSanderzurVerfügunggestelltwurdeundaufderWanderungsstatistikdes Bundes und der Länder (Bundesinstitut der Bau-,Stadt-undRaumforschung,Bonn)beruht.ErbeinhaltetdieAnzahlallerUmzügezwischendendeutschenLandkreisenundkreisfreienStädten.FürdieAnalysewähleichdenZeit-raum 2000 bis 2010, da in dieser Zeitspanne von einergewissenNormalisierungderUmzügenachderWiederver-einigungausgegangenwerdenkann.DieabhängigeVariab-lederUmzügezwischendenKreisenwirdinderSchätzungdurchdieDifferenzvonFaktorenderHerkunfts-undZiel-region erklärt, welche Binnenmigration in Deutschland beeinflussen. Hierzu zählen die räumliche Distanz zwi-schen den Kreisen, Unterschiede in den Dialekten (vgl.Falck et al. 2012; zur Verfügunggestellt von JensSüde-kum),UnterschiedeindenEinkommenundderArbeitslo-sigkeit,UnterschiedeinderregionalenWirtschaftsstruktursowiedersiedlungsstrukturelleTypderRegion.DanebenfließenFaktorenvordemUmzugein,welchedieWande-rungsbereitschaft beeinflussen, wie der Bildungsstand,dasDurchschnittsalterunddieGeschlechterverteilungindenRegionen.DieseDatenwurdendenStatistikportalenINKAR, Genesis, den VolkswirtschaftlichenGesamtrech-nungen der Länder und der Statistik der Arbeitsagentur
entnommen.ZusätzlichverwendeichregionalefixeEffek-te,welcheunbeobachteteEinflüsseabbilden,wiebspw.unterschiedliche Migrationsmuster. Da sich die kulturellen Unterschiedeauchdadurchausdrücken,wieEinwohnerinverschiedenenRegionenbspw.aufLohnunterschiederea gieren, werden zudem Interaktionsvariablen der erklä-rendenVariablenmitdenregionalenDummyvariablenein-gefügt.SokannetwadiewestdeutscheReaktionaufLohn-differenzen im Unterschied zur ostdeutschen geschätztwerden. Für die Schätzungwird das Gravitationsmodell von An-derson (2011) genutzt. Dieses Modell beruht auf einer Nutzenmaximierung des Individuums, welches die ver-schiedenen Faktoren aller Regionen abwägt. Die Wahr-scheinlichkeit eines Umzugs wird dann über alle Indi-viduen einer Region aggregiert. Als Schätzmethode wird einPseudo-Poisson-Maximum-Likelihood-Schätzer(PPML-Schätzer)genutzt.DieseristbeiderSchätzungvonfixenEffekten konsistent, wird nicht durch Nullen in der ab-hängigenVariablenverzerrtundistnichtnurfürnormal-verteilteVariablengeeignet(Shepherd2016).Daherwird erstandardmäßiginderSchätzungvonGravitationsmo-dellen verwendet.
WIE KULTURELLE UNTERSCHIEDE DIE DEUTSCHE BINNENMIGRATION BEEINFLUSSEN
InmeinerUntersuchungverwendeichverschiedeneAggrega-tionslevelzurAbgrenzungvonRegionen(vgl.Abb.1undzu-sätzlichdieBundesländer),davieleregionalenEbenen,wieGemeinden,Kreise,BundesländerundderNation,einenEin-flussaufdieMenschenhabenundMigrationsentscheidungenverändern können.
Die Einteilung in einen west- und ostdeutschen Landes-teilberuhtdabeizumeinenaufderhistorischenTeilungundzumanderenaufderTatsache,dassauchindergesellschaft-lichen Debatte Mentalitätsunterschiede zwischen diesen bei-den Regionen diskutiert werden.
AnhandderSprachräumedernieder-,mittel-undober-deutschen Dialekte können Unterschiede zwischen Nord-,Zentral- und Süddeutschland abgegrenzt werden. Da die LautverschiebungenvongeographischenLinienbeeinflusstwurdenundSpracheundKulturengverwobensind,istzuer-warten,dasssichauchdieKulturzwischendiesenRegionenunterscheidet.
DieSprachräumewurdenimZeitverlaufvondenVerwal-tungseinheitenüberlagert.DieheutigenpolitischenGrenzensollten demnach ebenfalls einen Einfluss auf Migrations-entscheidungen haben. Daher untersuche ich mithilfe derEinteilunginNord-,Zentral-undSüddeutschlanddieDiffe-renzenzwischendenBundesländern,dieanderKüsteliegenbzw.andieAlpengrenzensowieabermalsdendazwischen-liegenden Raum.
Außerdem werden die Bundesländer als regionale Ab-grenzung verwendet, da die meisten Länder seit dem Zweiten WeltkriegbestehenundteilweiseebenfallsdurcheineeigeneKulturgeprägtsind.
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Abb. 1In der Analyse verwendete Einteilungen der Regionen Deutschlands
Quelle:DarstellungdesifoInstituts. ©ifoInstitut
REGIONALE VERTEILUNG DER WANDERUNGSBEREITSCHAFT
Abbildung 2 zeigt die durchschnittliche Binnenmigrationsten-denzderBevölkerungallerdeutschenKreiseundKreisregio-nen.UmdieseTendenzabzubilden,werdendieWegzügeausdenRegioneninAbhängigkeitdererklärendenVariablendesHerkunftsortesmiteinemkreisfixenEffektgeschätzt.DanurdieWegzügebetrachtetwerden,werdendieGravitationsvari-ablen zu Distanz und Dialektunterschieden außer Acht gelas-senundeineeinfacheSchätzungaufBasisderMethodederkleinstenQuadrate(OLS)genutzt.Hierdurchwerden99%derUmzügeerklärt,wobeidiehoheErklärbarkeitmaßgeblichaufdenfixenEffektenberuht.
Aus Abbildung 2 ist zu erkennen, dass Deutschland in der TateinheterogenesMigrationsmusteraufweist,welchesnichtaufsozioökonomischeUnterschiedezurückzuführenist.FürdiedunkelgrüngefärbtenRegionenfallendieWegzügebiszu215% größer aus, als es auf Grundlage der sozioökonomi-schenFaktorenerwartbarwäre.FürdiehellgrüngefärbtenRegionengilt,dassdieWegzügeumbiszu73%geringersindalsaufBasisdersozioökonomischenFaktorenangenommen.DaichdiewesentlichenökonomischenEinflussfaktorenvonBinnenmigration indieSchätzungeinfließen lasse,könnendieinAbbildung2dargestelltenUnterschiedezumGroßteilaufregionalekulturelleAspektezurückgeführtwerden.
MansiehtinAbbildung2,dassingroßenTeilenBayernssowie im Nordosten und in der Region um die hessisch-thü-ringischeGrenzedieWegzügegeringerausfallen,alsesdieregionalen sozioökonomischen Gegebenheiten vermutenlassen.AndererseitssinddieGegendenumdieStädteMün-chen, Nürnberg, Stuttgart, Berlin, Bremen, Hamburg sowie die Rhein-Ruhr- und die Rhein-Neckar-Region eher zum WegzugbereitalsandereGegenden.InweiterführendenAna-lysenerweisensichdieErgebnissealsweitestgehendrobust.DieGebietemithöherodergeringerausfallendenWegzügen
alsaufGrundlagedersozioökonomischenStrukturangenom-men stimmen jedoch nicht eindeutig mit den in Abbildung 1 dargestelltengeographischenoderkulturellenGrenzenüber-ein. Dennoch können größere zusammenhängende Regionen mit einem gewissen Maß an Heterogenität erkannt werden. Diese werden im Folgenden kurz vorgestellt.
Abb. 2Wegzugsbereitschaft aus den deutschen Kreisen und kreisfreien Städten, 2000–2010
Anmerkungen:JehellerdasGrün,destoheimatverbundenersinddieMenschen relativ zu den sozioökonomischen Faktoren. Je dunkler dasGrün,destobereitwilligerverlassendieMigrierendendieRegion.Bei einem Wert von 0 sind genauso viele Menschen abgewandert, wie aufgrund der sozioökonomischen Faktoren erwartbar war. Die inschwarzdargestelltenRegionendienenalsVergleichsregionenundwurdenaufgrundvonMultikollinearitätausgelassen.
Quelle:DarstellungdesifoInstitutsaufGrundlagedesGermanInternalMigrationDatensatzes(2014). ©ifoInstitut
West- und Ostdeutschland
nieder-, mittel- undoberdeutsche Dialekte
Nord-, Zentral- undSüddeutschland
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Ost und westdeutsche AbwandererOstdeutsche haben generell eine höhere Abwanderungs-bereitschaftalsWestdeutsche.ZudemreagierensiestärkeraufökonomischeAnreize,wasdieBevölkerungaufgrundderwirtschaftlich schlechteren Lage in Ostdeutschland weiterver ringert hat. Anders als die Ergebnisse anderer Autoren (Leibert 2016, Hunt, 2006) zeigen meine Ergebnisse, dass Männer im Osten eine höhere Abwanderungstendenz haben als Männer im Westen und Frauen generell. Zudem ist die LandfluchtrelativzudensozioökonomischenCharakteristikaimWestenstärkerausgeprägtalsimOsten.
Abwanderer aus Nord, Zentral und SüddeutschlandMeineAnalysezeigtkeineeindeutigenUnterschiedeinderAb-wanderungsbereitschaftzwischenRegionenderdialektalenundpolitischenEinteilunginNord-,Zentral-undSüddeutsch-land. Jedoch reagieren die Menschen in diesen Regionen unterschiedlichaufdiesozioökonomischenGegebenheiten.DerNordenreagiertstärkeraufökonomischeAnreizeundlegtgrößerenWert auf Dialektähnlichkeit, während der Süden„ökonomisch irrationaler“ abwandert. Auch Frauen sind hier mobiler als im Norden. Der mittlere Teil Deutschlands da-gegenweistdurchschnittlicheAbwanderungstendenzenauf.Dies könnte damit begründet werden, dass Zentraldeutsch-land in gewisser Weise der Übergang zwischen Nord- und Süd-deutschland ist. Zudem ist Zentraldeutschland kulturell hete-rogener als Nord- oder Süddeutschland. Die Betrachtung derBundesländeralsUntersuchungseinheitdeutetaufeine Robustheit der Ergebnisse hin.
FAZIT
In diesem Beitrag habe ich gezeigt, dass es in Deutschland regionaleUnterschiedeimAbwanderungsverhaltenaufgrundder regionalen Mentalitäten gibt, die nicht mit den gängigen sozioökonomischen Faktoren erklärt werden können. Dabei zeigeichsowohleinOst-West-alsaucheinNord-Süd-GefälleimAbwanderungsverhaltenauf.ZusätzlichreagierenOst-undNorddeutschestärkeraufökonomischeAnreizealsWest-undSüddeutsche.AufgrunddieserstärkerausgeprägtenAbwan-derungsmentalität waren die ostdeutschen Regionen nach
derWiedervereinigungstärkervonAbwanderungbetroffen,als es westdeutsche Regionen in einer vergleichbaren Situa-tion gewesen wären.
LITERATUR
Alecke,B.,Mitze,T.undG.Untiedt(2010),„Internalmigration,regionallabourmarketdynamicsandimplicationsforGermanEast-Westdisparities:resultsfromaPanelVAR“,JahrbuchfürRegionalwissenschaft,30(2),S.159–189.
Falck,O.,Heblich,S.,Lameli,A.undJ.Südekum(2012),„Dialects,culturalidentity,andeconomicexchange“,JournalofUrbanEconomics,72(2–3),S.225–239.
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Michaela Fuchs, Corinna Lawitzky, Anja Rossen und Antje Weyh *
Der bereinigte Gender Pay Gap: Warum Frauen in Sachsen eigentlich mehr verdienen müssten als Männer
In Sachsen verdienen vollzeitbeschäftigte Frauen 7,5% weniger Lohn als vollzeitbeschäftigte Männer. Der größte Unterschied in der Entlohnung existiert in Zwickau mit 11,6%, der geringste in Görlitz mit 2,1%. Diese regionalen Unterschiede im sogenannten unbereinigten Gender Pay Gap sind vor allem durch die Variation in den Löhnen der Männer getrieben. Vergleicht man Männer und Frauen, die hinsichtlich ihrer individuellen, betrieblichen und regionalen Merkmale gleich ausgestattet sind, fällt der bereinigte Lohn unterschied mit 11,4% höher als der unbereinigte (7,5%) aus. Somit sind Frauen bezüglich ihrer Merkmale besser ausgestattet als Männer. Sie müssten eigentlich mehr verdienen. Warum das dennoch nicht der Fall ist, zeigt dieser Beitrag.
Dass Frauen in Deutschland nach wie vor weniger verdienen alsMänner,istjedesJahrThemaamsogenanntenEqualPayDay.DieserfielimJahr2020aufden17.Märzundkennzeich-net den Tag, bis zu dem Frauen umsonst arbeiten, während Männer bereits ab dem ersten Januar bezahlt werden. Trotz häufigerDiskussionderungleichenEntlohnungvonFrauenundMännerninPolitikundGesellschafthatsichindenletztenJahrennursehrweniganderUngleichheitgeändert.Nachwievor liegt die durchschnittliche Entlohnung der Frauen bei rund8o%desVerdienstniveausderMännerinDeutschland.DabeiistdersogenannteGenderPayGap(GPG)indenaltenBundesländern rund dreimal so hoch wie in den ostdeutschen Flächenländern und Berlin.1
ZieldesvorliegendenBeitragsistes,denGPGinSachsendarzustellen und zu erklären, worauf die unterschiedlicheEntlohnungderFrauenundMännerzurückzuführenist.DafürwirdeineZerlegungdesGPGineinenerklärtenundeinenun-erklärten Teil vorgenommen. Der erklärte Teil ist derjenige Teil der Lohnlücke, der sich anhand der unterschiedlichen beo bachtbaren Charakteristika von Frauen und Männern er-klären lässt.DerunerklärteTeilumfassthingegendenTeil der Lohnlücke, der übrigbleibt, wenn Frauen und Männer mit ähnlichen Charakteristika verglichen werden und der sich daher aufgrund von nicht beobachteten Merkmalen und Diskriminierung ergibt.
MÖGLICHE GRÜNDE FÜR DIE UNGLEICHE ENTLOHNUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
DieGründefüreineungleicheEntlohnungvonMännernundFrauensindvielfältig.SowirdinderLiteratureineVielzahlanindividuellenundbetriebsspezifischenFaktorendiskutiert.Bei kleinräumigeren Betrachtungen von Lohnunterschieden besitzenzudemauchregionaleGegebenheiteneinenEinfluss.
AlseinHauptgrundfürLohnungleichheitengiltdiebe-ruflicheSegregation–alsodieungleicheVerteilungderGe-schlechter auf die Berufe. Frauen sind in sozialen Berufen
oderBüroberufenüberrepräsentiert,währendesnureinengeringen Frauenanteil in technischen und verarbeitenden Berufengibt(HausmannundKleinert2014).Solcheberufs-strukturellenMuster tragenzueinemhöherenGPGbei,datypische Frauenberufe meist geringer entlohnt werden(Achatz et al. 2005). Die Ursachen für berufliche Segre-gation können zum einen darin liegen, dass Frauen eher solche Berufe wählen, die eine bessere Vereinbarkeit vonFamilieundBeruferlauben(BegallundMills2013).Zuman-deren können aber auch die geschlechtsspezifische Sozia-lisation bzw. gesellschaftliche Rollenerwartungen von Be-deutungsein(Achatz2018).Sichtbarwirddiesu.a.dadurch,dass Frauen trotz entsprechenderQualifikationenwenigerhäufigeineFührungspositioninnehabenalsMänner(BuschundHolst2013).
WeiterhinkönnenalsGründe fürdieungleicheEntloh-nung von Männern und Frauen unterschiedliche Arbeitszeiten unddieDauerundHäufigkeitvonErwerbsunterbrechungenangeführtwerden. Frauenarbeitenhäufiger inTeilzeit, dieoftmalsmitdergeschlechtertypischenRollenerwartungbeiderfamiliärenAufgabenteilungzusammenhängt(Klenneretal.2010).SelbstwennFrauennacheinerfamiliärenErwerbs-unterbrechungwiedereineVollzeittätigkeitausüben,istdieEntlohnung teils niedriger als vor der Erwerbsunterbrechung (Bebloetal.2006).WichtigandieserStellezuerwähnensinddiegrundsätzlichenUnterschiedeinderGleichstellungunddem Selbstverständnis der Geschlechter auf dem Arbeits-markt zwischen Ost- undWestdeutschland. Die Vollzeiter-werbstätigkeitvonFrauenmitKindernstellteinderDDReineSelbstverständlichkeit dar, während die in der BRD weitver-breitete Teilzeittätigkeit als atypische Beschäftigungsformwahrgenommenwurde(KreyenfeldundGeisler2006).Nach
* Dr.MichaelaFuchsistwissenschaftlicheMitarbeiterinamInstitutfürArbeits-markt-undBerufsforschung(IAB)Sachsen-Anhalt-ThüringeninHalle(Saale),Dr.AnjaRossenistwissenschaftlicheMitarbeiterinamIABBayerninNürnberg,CorinnaLawitzkyarbeitetalsMitarbeiterinundDr.AntjeWeyhalswissen-schaftlicheMitarbeiterinamIABSachseninChemnitz.
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dem Fall der Mauer haben ostdeutsche Frauen ihre hohe Erwerbsbeteiligung im Wesentlichen beibehalten, die west-deutschen Frauen haben hingegen deutlich aufgeholt. DieErwerbsquotenlagenin2017bei77%bzw.73%(WSI2020). In Bezug auf Müttererwerbstätigkeit und Kinderbetreuungexistieren jedoch immernochmarkanteUnterschiede zwi-schenOst-undWestdeutschland(vgl.BMFSFJ2015).
AlsindividuelleFaktoren,dieeinenEinflussaufdieLohn-unterschiede von Männern und Frauen besitzen, jedoch nur schwer oder gar nicht messbar sind, gelten unterschiedliche Formen von Diskriminierung gegenüber weiblicher Arbeit. Vorurteile gegenüber einer bestimmten Gruppe, hier derFrauen,könnenzueinerBevorzugungeineranderenGruppe,hier der Männer, führen (Becker 1971). Zum Beispiel wirdFrauenaufgrundfamiliärerVerpflichtungenmöglicherweiseeine geringere Arbeitsleistung unterstellt, die im Ergebnis dazu führt,Männer vorzuziehen. Eineweitere Form ist diesogenanntestatistischeDiskriminierung(Arrow1974).Bspw.können aufgrund von Informationsasymmetrien zum Zeit-punktvonRekrutierungsentscheidungenArbeitgeberunbe-wusststattderkonkretenPersoneinfachdenDurchschnitteiner jeweiligen Gruppe heranziehen. LohndiskriminierungvonFrauenfindetindiesemFalldeswegenstatt,weilFrauenimDurchschnitthäufigeraufgrundderFürsorge fürKinderundAngehörigeErwerbsunterbrechungenaufweisen.Sicht-bar wird die statistische Diskriminierung auch bei Oesch et al. (2017),diezeigen,dassdieLohneinbußebei jungenFrauenmitKinderngrößeristalsbeiMüttern,dieüber40Jahrealtsind,weilbeijüngerenFrauenmitKindernimDurchschnittmit weiteren Erwerbsunterbrechungen gerechnet wird. Da-nebenexistiertnochdieevaluativeDiskriminierung(PetersenundMorgan1995),inderesumdieunterschiedlicheBewer-tung der Arbeit von Frauen und Männern geht. Hierbei wird FraueninderGesellschaftimVergleichzuMännerneinnied-rigerer sozialer Status zugesprochen. InBezugauf Entgelt-unterschiede wurde dies in der sogenannten Devaluations-hypotheseformuliert:DieunterschiedlichenKompetenz-undStatuszuweisungenbeeinflussendieVerdiensteintypischenFrauen-undMännerberufen(England1992).DabeiüberträgtsichderniedrigereStatusvonFrauenaufdievonihnenausge-übtenTätigkeiten,waszueinergeringerenEntlohnungführt.FürgleicheodergleichwertigeberuflicheAnforderungenundBelastungen werden Frauen geringer entlohnt als Männer (Klammeretal.2018).
NebendenbeschriebenenFaktoren,diesichaufdiein-dividuelleEbenebeziehen,gibtesauchbetriebsspezifischeFaktoren, die die Lohnungleichheit von Frauen und Männern beeinflussen.UnklarbleibtdabeiderEinflussderBetriebs-größe. Einerseits können unter kleinen Betrieben eine stär-kereberuflicheSegregation(HammermannundSchmidt2015)sowie fehlendeTarifverträgeundBetriebsräte (HeinzeundWolf2006)zueinemhöherenWertdesGPGführen.Anderer-seits nimmt das Entgelt von Männern mit steigender Betriebs-größe zu, während sich die Löhne von Frauen kaum nach der Betriebsgrößeunterscheiden (Frodermannetal. 2018).MitgeringerenAufstiegschancenunddemZugangzuhöherent-lohnten Tätigkeiten hängt ein weiteres betriebliches Merkmal, nämlich das allgemeine Lohnniveau im Betrieb, zusammen. In BetriebenmithohemLohnniveauistderGPGhöher(Heinze
und Wolf 2006). Ein Grund hierfür ist, dass Männer meistbessereAufstiegschancenimUnternehmenhabenalsFrauen.DaderEntgeltunterschiedzwischenhochqualifiziertenFrauenundhochqualifiziertenMännerngrößeristalsbeigeringemundmittleremQualifikationsniveau(Bolletal.2016), istzuerwarten,dassmiteinemhöherenAnteilHochqualifizierterimBetriebauchderGPGgrößerist.
BetrachtetmandenGPGaufderkleinräumigenEbene,sospielenregionaleMerkmaleebenfallseineRolle(Fuchsetal.2019).Bisherkonntegezeigtwerden,dassderGPGinGroß-städtenundBallungsgebietengeringeristalsaufdemLand(BuschundHolst2008).Dieshängtauchdamitzusammen,dass Frauen seltener als Männer dazu bereit sind, für dieArbeitzupendeln(DauthundHaller2018).DaFrauenmeistaufgrund größerer familiärer Verpflichtungen auf eine Be-schäftigung in wohnortnahen Betrieben angewiesen sind,schlägtsichdasdurchMonopolstellungenderArbeitgeberinländlichen Räumen in einer geringeren Entlohnung von Frauen nieder(Hirschetal.2009).
DATEN UND METHODE
Der Berechnung des regionalen Entgeltunterschiedes zwi-schendenGeschlechternliegtdieBeschäftigtenhistorik(BeH)desInstitutsfürArbeitsmarkt-undBerufsforschung(IAB)zuGrunde.DiesebeinhaltettaggenaueMeldungenderArbeit-geberzuallensozialversicherungspflichtig(SV-)Beschäftigtenseit1975undzuallengeringfügigentlohntenBeschäftigtenseit1999.FürdievorliegendeAnalysewerdendieInformationenzurPerson,zurBeschäftigungundzumEntgeltzumStichtag30.Juni2017betrachtet.Nebendiesenundanderenindivi-duellen Faktoren werden sämtliche Merkmale des Betriebes, indemeinePersontätigist,indieUntersuchungeinbezogen:u.a.dieQualifikationsstrukturoderdieBranchenzugehörig-keit.GenerellbetrachtenwirhiernurSV-BeschäftigteimAltervon 18 bis unter 65 Jahren in einer Vollzeitbeschäftigung.DieseEinschränkungderPersonengruppeistnotwendig,daeineTeilzeitbeschäftigungindenDatenzwarerfasstist,überdenzeitlichenUmfangdieserTeilzeitbeschäftigungaberkeineInformationenvorhandensind.DaweiterhindieArbeitgeberEntgelte nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze melden müs-sen,führtdiesbeiNichtberücksichtigungindenAnalysenzueinerVerzerrungimoberenLohnbereich.Deswegenbereini-genwirmittelsImputationdiezensiertenEntgeltenachdemVerfahrenvonGartner(2005).RelevantfürunsereUntersu-chungdesGPGistnatürlichnichtnurdieInformationzumo.g.Stichtag,sondernauchdiefrühereErwerbsbiographie,wes-wegenInformationenz.B.zuErwerbsunterbrechungenausdenIntegriertenErwerbsbiografien(IEB)desIABergänztwerden.RegionaleInformationenstammenvomStatistischenBundes-amt, der Statistik der Bundesagentur für Arbeit und demBundesinstitutfürBau-,Stadt-undRaumforschung.
Für die Berechnung des unbereinigten GPG wird dieDifferenzausdendurchschnittlichenlogarithmiertenTages-entgelten der Männer und Frauen gebildet und mit dem Fak-tor100multipliziert.EinnegativerWertbesagtdabei,dassFrauen mehr als Männer verdienen. Der beobachtete Entgelt-unterschied(unbereinigterGPG)wirdmitHilfedersogenanntenOaxaca-Blinder-Zerlegung in einen erklärten (Ausstattung)
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undeinenunerklärtenTeil(BewertungoderbereinigterGPG)zerlegt (Blinder 1973 und Oaxaca 1973). Der erklärte TeilumfasstdenTeildesGPG,dersichaufgrundderunterschied-lichen Ausstattung und der damit verbundenen unterschied-lichen Entlohnung von Frauen und Männern ergibt. Der be-reinigteGPGbeziffertdenLohnunterschied,derselbstdannnoch besteht, wenn Frauen und Männer mit gleichen Merk-malen verglichen werden. Somit sagt dieser etwas über die unterschiedlicheBewertungfürsonstgleicheMerkmaleaus.ZudementhältderunerklärteTeildieKonstante,diesolcheFaktorenumfasst,welcheinderBerechnungaufgrundfeh-lender Informationen nicht berücksichtigt werden können(z.B.dieDurchsetzungsfähigkeitbeiGehaltsverhandlungen).Die Oaxaca-Blinder-Zerlegung wird für Deutschland, Ost-deutschland,SachsenunddieeinzelnensächsischenKreisedurchgeführt.
DER UNBEREINIGTE UND BEREINIGTE GPG IN SACHSEN UND DEUTSCHLAND
InSachsenverdienenFrauenimDurchschnitt7,5%wenigeralsMänner. Sachsenweistdamit einenunbereinigtenGPGauf, der deutlich unter dem deutschen Durchschnitt von20,8%liegt.DerUnterschiedimbereinigtenGPGistzwischenSachsen und Deutschland wesentlich geringer (Sachsen:11,4%,Deutschland:14,7%).
Abbildung 1 zeigt die Ergebnisse der Oaxaca-Blinder-Zerle-gungfürSachsen,OstdeutschlandundDeutschland.Derer-klärteTeilliegtinSachsenbei–3,9Prozentpunkten.Dasbe-deutet, dass Frauen bezüglich ihrer Summe der beobachteten individuellen, betrieblichen und regionalen Merkmale besser ausgestattet sind als Männer und deswegen eigentlich mehr verdienen müssten als diese. Der unerklärte Teil, also der bereinigteGPG,liegtbei11,4Prozentpunkten.Dabeifindet j edoch hinsichtlich der beobachteten Faktoren keine Diskri-minierungstatt–dieBewertungdereinbezogenenMerkmalefälltzuGunstenderFrauenaus(–6,4%).Dasbedeutet,dassFrauen,diegleicheEigenschaftenaufweisenwieihremänn-lichenKollegen,nichtaufgrundeinergeringerenBewertungdieserEigenschaftenschlechterentlohntwerden.DieKonstantealseineKomponentedesunerklärtenTeilshatdem gegenüber mit17,8ProzentpunkteneinenhohenAnteilambereinigtenGPG.Nichtbeobachtbarebzw.nichtmessbareFaktorensinddamitfürdenLohnunterschiedvonMännernundFraueninSachsenverantwortlich.DieserrechthoheAnteilderKons-tante ist bei den verwendeten Daten nicht überraschend. So fehlenz.B.InformationenzumFamilienstandoderderHaus-haltskonstellation–zumTeilzentraleFaktoren,diebeiLohn-unterschiedenzwischenFrauenundMännerneineRollespielen.Alternative Datensätze, wie z. B. das Sozio- Ökonomische Panel(SOEP),enthaltenzwarsolcheInformationen,könnenfürkleinräumigeAnalysenallerdingsnichtverwendetwerden.
Abb. 1GPG in Sachsen, Ostdeutschland und Deutschland – Ergebnisse der Oaxaca-Blinder-Zerlegung
Anmerkung:DieBerechnungenbeziehensichaufVollzeitbeschäftigte(ohneAuszubildende)imAltervon18bisunter65JahrenzumStichtag30.Juni2017.
Quelle:BeschäftigtenhistorikdesIAB;eigeneBerechnungen. ©IAB
–3,9 –4,8
6,211,4 10,9
14,7
7,56,1
20,8
Sachsen Ostdeutschland Deutschland
Erklärter Teil Unerklärter Teil Gender Pay Gap
23,2
–11,5
17,8
–6,4
42,1
–24,6
Bewertung der einbezogenen FaktorenKonstante
Bewertung der einbezogenen FaktorenKonstante
Bewertung der einbezogenen FaktorenKonstante
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Beim Vergleich zwischen Sachsen und Ostdeutschland er-gebensichnurminimaleUnterschiede.DererklärteTeilistinSachsen etwas geringer, während der unerklärte Teil gering-fügig höher als inOstdeutschland ausfällt. GrößereUnter-schiede zeigen sich vielmehr bei einem Vergleichmit demgesamtdeutschenGPG.DieunterschiedlicheAusstattungvonFrauen und Männern hinsichtlich der einbezogenen Merkmale wirktinDeutschlandinsgesamtzuUngunstenderFrauen.DieBewertungderFaktorenfälltzwarzuGunstenderFrauenausundwirkt GPG-reduzierend. Dennoch bleibt die bereinigteLohnlückepositiv,daauchhiernichtbeobachtbareundnichtmessbareFaktoreneinegroßeRollespielen.DamitistauchderbereinigteGPGimdeutschenDurchschnittgrößeralsimsächsischen Schnitt. Wichtiger ist jedoch, dass die in die Ana-lyseeinbezogenenFaktoren inSummeinDeutschlandundSachsen vollkommen gegenteilig wirken und Frauen damit in SachseneigentlichmehralsMännerverdienenmüssten(vgl.Fuchsetal.2019).DieslässtsichimÜbrigenauchfürallean-derenostdeutschenBundesländerfeststellen.Die inAbbil-dung1dargestelltenUnterschiedezwischenOstdeutschlandund Deutschland insgesamt lassen sich dabei zu einem großen TeilaufdieunterschiedlichenGleichstellungsarrangementsinOst-undWestdeutschlandsowieaufUnterschiedeindenlohnrelevantenEigenschaftenvonFrauenundMännernzurück-führen.Minkusetal. (2018)zeigen,dass inOstdeutschland
FraueneinebessereAusstattungmitHumankapitalaufweisenals Männer, was zu dem negativen erklärten Teil des GPGführt.InWestdeutschlandhingegenhabenFraueninsbeson-derewenigerBerufserfahrungalsMänner,wassichdort indempositivenerklärtenTeilwiderspiegelt.
Abbildung2zeigtimDetaildenEinflussindividueller,be-trieblicher und regionaler Merkmale auf den sächsischenGPG.UnterdenindividuellenFaktorenhabenderBerufunddieQualifikationeinerPersondengrößtenEinfluss.Dienega-tivenVorzeichenbedeuten,dassFrauenhinsichtlichdieserMerkmalebesserausgestattetsindalsMännerundderGPGalleineaufBasisdieserMerkmalenegativ ist.DasnegativeVorzeichenderBerufsvariablekannzudemdaraufhinweisen,dass in den neuen Bundesländern gut bezahlte Jobs in der Industrie(wieessieinWestdeutschlandgibt),vondenenvorallemMännerprofitieren,fehlen(vgl.Fuchsetal.2019).EinebessereAusstattungvonFrauengegenüberMännernfindetsichauchhinsichtlichderregionalenArbeitsmarkterfahrung(hierdefiniertalsderAnteil,dendiePerson inden letzten 20JahreninderRegionverbrachthat)undderBetriebszu-gehö rigkeitsdauer. Im Einklang mit der Literatur steht die schlechtere Ausstattung von Frauen hinsichtlich Erwerbsun-terbrechungenunddemInnehabeneinerFührungsposition.AuchdieimVergleichzuMännerngeringerenMöglichkeitenzupendeln,erhöhendenGPG.
Abb. 2Erklärungsfaktoren (sog. Ausstattungseffekt) des GPG in Sachsen
Anmerkung:DieBerechnungenbeziehensichaufVollzeitbeschäftigte(ohneAuszubildende)imAltervon18bisunter65JahrenzumStichtag30.Juni2017.
Quelle:BeschäftigtenhistorikdesIAB;eigeneBerechnungen. ©IAB
0,270,000,00
–0,06–0,29
0,850,39
–0,01–0,77
–0,840,27
0,160,15
0,070,05
0,02–0,06
–0,23–0,34
–1,55–2,12
ArbeitsplatzdichteArbeitslosenquote
Anteil römisch-katholischBetriebsdichte
ArbeitsortAnteil mittlere Qualifikation
Anteil hohe QualifikationBetriebsgröße
Lohn im BetriebStreuung des Lohns im Betrieb
PendlerAlter
BefristungFührungsposition
ErwerbsunterbrechungRegionswechsel
Deutsche StaatsangehörigkeitBetriebszugehörigkeitsdauer
Regionale ArbeitsmarkterfahrungQualifikation
Beruf
Regionale MerkmaleBetriebliche MerkmaleIndividuelle Merkmale
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HinsichtlichbetrieblicherMerkmalewirktsichfürFrauendieLohnhöhe sowie die Streuung des Lohnes innerhalb eines Betriebesebenfallsvorteilhaftaus.DiebetrieblicheLohnhöhewurdealseinMaßfürdieProduktivitätdesBetriebesindieZerlegungdesGPGaufgenommen.MitHilfederLohnstreuungineinemBetriebsollenz.B.dieKarrieremöglichkeiteninner-halb des Betriebes abgebildet werden. Frauen scheinen sich inSachsenalsohäufigerinproduktivereBetriebemitmehrKarrieremöglichkeiteneinzusortierenalsMänner.Sehrwahr-schein lich steht dies im Zusammenhang mit dem negativen VorzeichenbeiderBerufsvariable. ImGegensatzdazusindFrauenbeidenbetrieblichenMerkmalenAnteilhoheQualifika-tionundAnteilmittlereQualifikationschlechter„ausgestattet“.DieswirktzuUngunstenderFrauenunderhöhtdenGPG.
Wie in der Abbildung 2 ersichtlich, üben die regionalen MerkmaledirektnureinensehrgeringenEffektaufdieLohn-lücke aus bzw. heben sich in Summe untereinander auf.WährenddieArbeitsplatzdichtedenLohnunterschiedzuUn-gunstender Frauenerhöht, reduziertderKreisdummy (Ar-beitsort),derallenichtbeobachtbarenMerkmalederRegionbeinhaltet, diesen. In Summe spielen regionale Merkmalesomit lediglicheineuntergeordneteRolle fürdieErklärung
der Entgeltunterschiede zwischen Frauen und Männern in Sachsen bzw. die einbezogenen individuellen und betrieb-lichenFaktorenspiegelndievorOrtvorhandenenWirtschafts-und Betriebsstrukturen teils bereits wider. Allerdings gibt es aufgrund derwenigen Kreise auch nurwenig beobachteteEinheiten innerhalbSachsens, sodassdieVariation indenRegionalvariablenrechtgeringausfällt.
DER UNBEREINIGTE UND BEREINIGTE GPG IN DEN SÄCHSISCHEN KREISEN
Die Entgeltlücke zwischen Frauen und Männern unterscheidet sichrechtstarkzwischendensächsischenKreisen.WährendinGörlitzFrauenimDurchschnittnur2,1%wenigeralsMännerverdienen,istderGPGmit11,6%inZwickauvergleichsweisehoch(vgl.Abb.3).DennochfallendieseWerteimVergleichmitallenKreisenDeutschlandsimmernochrechtgeringaus.Soverdienenz.B. imBodenseekreisFrauenüber40%wenigeralsMänner(vgl.Fuchsetal.2019).Interessantist,dasssichdasinderLiteraturgefundeneMustereinesniedrigerenGPGinStädtenbzw.eineshöherenGPGinländlichenRäumenfürSachsen nicht zeigt.
Abb. 3Unbereinigter GPG in den sächsischen Kreisen
Anmerkung:DieBerechnungenbeziehensichaufVollzeitbeschäftigte(ohneAuszubildende)imAltervon18bisunter65JahrenzumStichtag30.Juni2017.
Quelle:BeschäftigtenhistorikdesIAB;eigeneBerechnungen. ©IAB
Bautzen4,7 %
Görlitz2,1 %
Leipzig5,9 %
Meißen6,9 %
Mittelsachsen10,0 %
Leipzig (Stadt)9,7 %
Chemnitz9,3 %
Erzgebirgskreis8,6 %
Zwickau11,6 %
Nordsachsen6,5 %
Vogtlandkreis7,9 %
Sächs. Schweiz-Osterzgebirge8,6 %
Dresden10,1 %
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DieZerlegungderLohnlückezeigtimGroßenundGanzenfürdiesächsischenKreisedasselbeBildwiefürSachseninsge-samt. Der erklärte Teil ist überall negativ, so dass der berei-nigteGPGüberallgrößeristalsderunbereinigte(vgl.Weyhet.al.2019).InallensächsischenKreisensindFrauenalsobezüg-lich ihrer Summe aus individuellen und betrieblichen Merk-malen besser ausgestattet und müssten eigentlich mehr verdienenalsMänner.Dabeiwirkenwiederumhauptsäch-lichdergewählteBerufunddieQualifikationzuGunstenderEnt lohnung von Frauen.
Die Zerlegung teilt den übrigbleibenden bereinigten GPG noch in die beiden Bestandteile „Bewertung der ein-bezogenenFaktoren“und„Konstante“auf(vgl.auchAbb.1).
Hierbei zeigt sich, dass das große Bild über alle sächsischen Kreise sich doch auf recht unterschiedliche Weise ergibt. In7der13 sächsischenKreise fälltdieBewertungderein-bezogenen Faktoren zu Gunsten der Frauen aus und der höhere Wert des bereinigten gegenüber dem unbereinigten GPG ist allein auf Faktoren zurückzuführen, die in dieserAnalysenichtenthaltensind (vgl.Weyhetal. 2019). IndenanderensechsKreisenfälltdieBewertungdereinbezogenenFaktorenzuUngunstenderFrauenaus.Besondersgroßist dieDifferenz zwischendemunbereinigtenundbereinigtenGPG in den Landkreisen Görlitz und Bautzen, sehr klein in den beiden kreisfreien Städten Dresden und Leipzig (vgl.Abb.4).
Abb. 4Bereinigter GPG in den sächsischen Kreisen
Anmerkung:DieBerechnungenbeziehensichaufVollzeitbeschäftigte(ohneAuszubildende)imAltervon18bisunter65JahrenzumStichtag30.Juni2017.
Quelle:BeschäftigtenhistorikdesIAB;eigeneBerechnungen. ©IAB
FAZIT
InSachsenverdienenvollzeitbeschäftigteFrauen7,5%weni-gerLohnalsvollzeitbeschäftigteMänner.Damitfälltderunbe-reinigteGPGinSachsendeutlichgeringerausalsderdeut-scheDurchschnittvon20,8%.DergrößteGPGistdabeimit11,6%inZwickauzufinden.DengeringstenWertweistderKreisGörlitzmit2,1%auf.
DieseBetrachtungdessogenanntenunbereinigtenGPGbe-rücksichtigt nicht, dass Frauen und Männer unterschiedliche BerufeausübenoderunterschiedlichePositioneninnerhalbeinesUnternehmensinnehaben.MitHilfederOaxaca-Blinder-ZerlegungfindetdiesBerücksichtigung.Dersogenanntebe-reinigteGPGerreichtinSachsen11,4%undistdamitsogarhöheralsderunbereinigteGPG.ImGegensatzdazuistdeutsch-landweitderbereinigteGPGmit14,7%deutlichgeringerals
Bautzen12,8 %
Görlitz8,4 %
Leipzig10,4 %
Meißen12,2 %
Mittelsachsen13,4 %
Leipzig (Stadt)10,2 %
Chemnitz12,1 %
Erzgebirgskreis12,9 %
Zwickau12,8 %
Nordsachsen11,3 %
Vogtlandkreis12,3 %
Sächs. Schweiz-Osterzgebirge10,2 %
Dresden10,4 %
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derunbereinigteWert.FrauenverfügensomitinSachsenüberlohnrelevanteEigenschaften,diedenEntgeltunterschiedzuihrenGunstenreduzieren.Andersausgedrückt,Frauenmüss-teninSachsenaufgrundihrerMerkmaleeigentlichmehrver-dienen als Männer. Der Großteil der beobachtbaren Lohn-lückeistdamitaufFaktorenzurückzuführen,dienichtindieAnalyseeinbezogenbzw.nichtmessbarsind.DiessprichtfürdasVorhandenseininstitutionellerundkulturellerRahmen-bedingungen, die sich in einer indirekten Benachteiligung vonFrauenaufdemArbeitsmarktinSachsenäußernundzugeringeren Löhnen führenkönnen. Es gilt somit,weiter an derberuflichenGleichstellungvonFrauenundMännernzuarbeiten.InVerbindunghiermitisteswichtig,dassdieAuf-stiegschancennichtüberdieGeschlechterungleichverteiltsind.Hinzukommt,dassErwerbstätigkeitundMutterschaftnoch besser vereinbar sein müssten, auch wenn Sachsen und die ostdeutschen Bundesländer hier eine Vorreiterrolle inDeutschland innehaben. Zudem sollte es auch für Männerbesser möglich sein, Erwerbsunterbrechungen zur Fürsorge fürdieKinderundAngehörigevorzunehmen.Essollteneben-fallssowohlfürFrauenalsauchfürMännerAnreizegebotenwerden,Berufe ingeschlechtsuntypischenBranchenzuer-greifen,umdieberuflicheSegregationzuverringernundGe-schlechterstereotypenaufdemArbeitsmarktentgegenzutre-ten.GenerellmüssenweiterhinMaßnahmenergriffenwerden,um mögliche Diskriminierungen gegen Frauen abzubauen undderenPositiongegenüberArbeitgebernzustärken.
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1 Vgl.PressemitteilungNr.097vom16.März2020desStatistischenBundes-amtes,https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/03/PD20_097_621.html(zuletztabgerufenam31.März2020).
22 ifo Dresden berichtet 3/2020
IMBLICKPUNKT
Joachim Ragnitz *
Auf die lange Bank geschoben: Zum Abschlussbericht der Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“1
Die Bundesregierung hat die Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ damit beauftragt, Empfeh-lungen zur Sicherung der Nachhaltigkeit der Rentenfinanzen zu entwickeln. Der Kommissionsbericht bleibt deutlich hinter den hochgesteckten Erwartungen zurück. Die vorgeschlagenen Maßnahmen werden die Finanzierungsprobleme der Gesetzlichen Rentenversicherung nicht lösen, sondern führen letzten Endes nur dazu, dass der Bundeszuschuss an die Rentenversicherung erhöht werden muss. Ohne eine weitere Verlängerung der Lebensarbeitszeit wird sich das Finanzierungsproblem der Rentenversicherung nicht lösen lassen, da es für die erwerbsfähige Generation unerheblich ist, ob sie über Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge für die Rentner aufzukommen hat.
In ihrem Koalitionsvertrag2 hatte die Große Koalition ausCDU/CSUundSPDdieEinsetzungeinerRentenkommission„VerlässlicherGenerationenvertrag“vereinbart,dieEmpfeh-lungenfürdienachhaltigeSicherungundFortentwicklungderbestehendenAlterssicherungssysteme(GesetzlicheRenten-versicherung,betrieblicheAlterssicherungundprivateAlters-vorsorge)vorlegensollte.Insbesonderesollteesdarumgehen,dieStellschraubenderGesetzlichenRentenversicherung(GRV)ineinlangfristigtragfähigesGleichgewichtzubringen,ohnedieBeitragszahlerzuüberfordernoderdiePartizipationderRentneranderallgemeinenWirtschaftsentwicklung zuge-fährden. Die Kommission hat ihren Abschlussbericht vor wenigen Wochen3vorgelegt–wasaberangesichtsderaktu-ellenDiskussionumdieFolgenderCoronapandemieinderöffentlichenWahrnehmung indenHintergrundgerückt ist.AngesichtsderlangfristigenBedeutungdesThemasistdiesbedauerlich.
Worumgehtes?DieBevölkerunginDeutschlandwirdindenkommendenJahrzehntenmassivaltern,weildieGebur-tenrate schon seit dem Ende der 1960er Jahre unter demBestandserhaltungsniveau von zwei Kindern je Frau liegt.Aktuellliegtsiebeiknapp1,6KindernjeFrau.JedeGenera-tionistdamitumbeinaheeinViertelkleineralsdiejeweiligeElterngeneration,wasdazuführt,dassdieZahlderPersonenimerwerbsfähigenAlterzumindestfüreineÜbergangsphaseschneller zurückgeht als die Zahl der Rentner: Der Alters-koeffizient,derdieRelationdieserbeidenGrößenausdrückt,wirddeshalbnachder14.KoordiniertenBevölkerungsvoraus-berechnung des Statistischen Bundesamtes von derzeit etwa 36biszumEndeder2030erJahreaufdannrund54zuneh-men.4ReichendieSteuer-undBeitragszahlungeneinerPer-sonimerwerbsfähigenAlterheutenochzurDeckungderEin-kommenvondreiPersonen imRentenalteraus,sokönnendamit zum Ende des kommenden Jahrzehnts nur noch zwei Rentnerfinanziertwerden.Esistoffenkundig,dassdiesbeigrundsätzlicherBeibehaltungdesbestehendenSystemsderGRV(BeschäftigtefinanzierendurchihrelaufendenRenten-
versicherungsbeiträgeundSteuerndielaufendenRentenaus-zahlungen an die ältere Generation) nur aufrechterhaltenwerden kann, wenn entweder die Rentenversicherungsbei-träge bzw. die steuerfinanzierten Bundeszuschüsse an dieGRVangehobenwerden,die(relative)Rentenhöheabgesenktwird oder die Lebensarbeitszeit verlängert wird.
Im ersten Fall trägt allein die jeweilige Erwerbsgenera-tion die Last, im zweiten Fall die jeweilige Rentnergeneration, undimdrittenFalldiekünftigenRentner(wasdenheutigenErwerbstätigenentspricht).5 Eine andere Lösung gibt es grund-sätzlichnicht,solangemannichtvomgeltendenGrundsatzder „Beitragsäquivalenz“ in der GRV abweichen will.6 Denn auch wenn man kurzzeitig Entlastung durch eine Erhöhung der Erwerbsquote, durch Einbeziehung von Beamten und SelbständigenindieGRVoderauchdurchvermehrteZuwan-derung von Erwerbspersonen nach Deutschland schaffenkönnte,werdendieselangfristigaucheigeneRentenansprü-cheerwerben,sodassdasProblemderfehlendenNachhaltig-keitderGRVlediglichzeitlichverschoben,abernichtgelöstwürde.
DieRentenkommissionstelltdieseTatbeständezutref-fenddar,dieEmpfehlungen,diesiedarausableitet,sindaberkaum geeignet, für die genannten Probleme der GRV eineLösungzufinden.Dieswirderkennbar,wennmandievonderKommission„VerlässlicherGenerationenvertrag“vorgeschla-genen Maßnahmen im Detail betrachtet. Relevant sind in diesemZusammenhangdabeilediglichdiebeidenfolgendenEmpfehlungen7:
Dasderzeitige Systemder „verbindlichen“bzw. „pers-pektivischen“HaltelinienfürRentenniveauundBeitrags-satz soll auch nach 2025 beibehalten werden. Dabei wird für die verbindliche Haltelinie des Standardrentenni-veaus(vorSteuern)biszumJahr2032eineSpannbreite
* Prof.JoachimRagnitziststellvertretenderGeschäftsführerderNiederlassungDresdendesifoInstituts–Leibniz-InstitutfürWirtschaftsforschunganderUniversitätMünchene.V.
23ifo Dresden berichtet 3/2020
IMBLICKPUNKT
von 44% bis 49% des durchschnittlichen verfügbarenEinkommens(aktuell:48%)vorgeschlagen,fürdenBei-tragssatzeinWertvon20%bis24%(aktuell:20%).8 Damit sollen die Belastungen der zunehmenden Alterung ganz offenkundigzwischenBeitragszahlernundRentnernge-teilt werden. Letzten Endes erscheint dies auch durchaus vertretbar. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die GenerationderBeitragszahlerzusätzlichauchdurchdieFinanzierungdessteuerfinanziertenBundeszuschussesandieGRVüberproportionalbelastetist,dernachdenSchätzungenderKommissionindenkommendenJahrenohnehin deutlich steigen wird.9
Kritischistallerdingszusehen,dassdieSpannbreitenfürSi-cherungsniveau und Beitragssatz recht breit angelegt sind undnurfüreinekurzeFrist(7Jahre)vorgegebenwerdensollen.WiedievonderKommissionvorgelegtenProjektionsrechnun-gen zeigen, wird das Rentenniveau schon zur Mitte der 2030er JahreunterdieUntergrenzedesvorgeschlagenenKorridorsfallen.InsoweiterfülltdieKommissionandieserStelleihrenAuftragganzoffensichtlichnicht,VorschlägefürdieStabilisie-rungdesRentensystemsinderlangenFristvorzulegen.
DerbereitsexistierendeSozialbeiratsollnachdenVor-stellungen der Kommission10 zu einem „Alterssiche-rungsbeirat“ weiterentwickelt werden. Dieser soll u. a. EmpfehlungenzudenHaltelinienundzurweiterenAn-passungdesRenteneintrittsaltersabgeben,jedocherstzuBeginndesJahres2026.MitBlickaufdiePlanungssi-cherheitvonUnternehmenundVersichertenerscheintdieszuspät.
WeitereAnpassungenzurSicherungderNachhaltigkeitdesAlterssicherungssystemswerdenvonderKommissionzwardiskutiert;eswerdenjedochkeine(abschließenden)Empfeh-lungen abgegeben:
Als erste Möglichkeit wird eine Beschränkung des Ren-tenzuwachsesfürdieBestandsrentneraufdieInflations-rate diskutiert.11 Dies hätte zur Folge, dass zwar die reale KaufkraftderRentenerhaltenbliebe,jedochdieBeziehervon Altersrenten nicht mehr an den allgemeinen Wohl-fahrtssteigerungen (wie seit der Rentenreform 1957praktiziert)partizipierenkönnten.DieBestandsrentnerhätten somit im Vergleich zum geltenden Recht einenhöheren Beitrag an den Kosten der Alterung zu über-nehmen,derBeitragssatzkönnteaufniedrigeremNiveaustabilisiertwerden.Problematischerscheintallerdings,dassnachdemdiskutiertenKommissionsmodelldieAn-passungderRentenanwartschaftenweiterhinentspre-chendder Lohnsteigerungenerfolgen soll, sodassdieindividuelle Rentebei gleicher Entgeltpunktzahl umsohöherausfällt, jespäterderRenteneintritterfolgt.DasPrinzip der „Teilhabeäquivalenz“ würde damit außerKraftgesetzt.Diessprächeeherdafür,denAnstiegdesRentenwertsfüralleGruppen(BestandsrentnerundNeu-rentner)zubegrenzen,z.B.durcheinestärkereBerück-sichtigung des Nachhaltigkeitsfaktors in der Renten-anpassungsformel.12
Seltsamkurz fallendieÜberlegungenderKommissionzurAnpassungderRegelaltersgrenzeabdemJahr2031aus. Zugestanden wird lediglich, dass angesichts weiter steigenderLebenserwartungdiefinanzielleTragfähigkeitumlagefinanzierterRentensystemenichtgewährleistetist;13weitergehendeSchlussfolgerungenwerdenhierausabernichtgezogen.Vielmehrwirddaraufverwiesen,dassbei einer Entscheidung hierüber die Arbeitsmarktbe din-gungenfürältereBeschäftigtesowiefürbesondereRisi-kogruppen(z.B.fürPersonenmitkörperlichanspruchs-vollen Tätigkeiten) besonders berücksichtigt werdenmüsstenunddassauchdie„sozialdifferenzielle“Lebens-erwartung(alsodassbestimmtePersonengruppenauf-grundihrerEinkommenssituationoderihrerBerufswahleinegeringeLebenserwartungaufweisenunddeswegeninihrerGesamtlebenszeitniedrigereRentenauszahlun-genhinzunehmenhabenalsGruppenmit längerer Le-benserwartung)beieinerEntscheidungsfindungeinzu-beziehensei.EmpfehlungenzurweiterenAnhebungderRegelaltersgrenze sollen hingegen dem noch zu grün-dendenAlterssicherungsbeirat(abdemJahr2026)vor-behalten bleiben. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren,dassdieKommissionsmitglieder14 angesichts unterschiedlicher Interessenlagen sich an dieser Stelle nichtzueinerklarerenEmpfehlunghabendurchringenkönnen und deswegen die Entscheidung hierüber vertagt haben.15
Die in der öffentlichen Diskussion vielfach geforderte obligatorische Einbeziehung von Selbständigen und Be-amtenindieGRVwirdvonderKommission16 aus gutem Grundabgelehnt.AbgesehenvontechnischenSchwierig-keitenwürdediesbestenfallskurzfristigdieFinanzlageder Rentenversicherung entspannen, da dem länger-fristigdannhöhereRentenausgabengegenüberstehen.ZudemdürfteselbstdertemporäreEinspareffektfürdieöffentlichenHaushalteinsgesamtwenigerstarkausfallenalsvielfachvermutet,daderBundundaucheinigeLän-derbereitsheutefürdiekünftigenPensionslastenihrerBeamteneineVersorgungsrücklageaufbauen.
SchließlichbeschäftigtsichdieKommission–wennaucheheramRande–mitderbetrieblichenAltersvorsorgeso-wiederFörderungprivaterVorsorge.DieEmpfehlungenbeschränkensichaberimWesentlichenaufPrüfanträge;Entscheidungen(z.B.überdieEinführungeinerPflichtzur zusätzlichen Altersvorsorge) sollen nach Kommis-sionsauffassungerstnachdemJahr2025beschlossenwerden.
AllesinallembleibtderKommissionsberichtdamithinterdenErwartungenzurück,diederKoalitionsvertraggeweckthat.Die vorgeschlagenen Maßnahmen werden die Finanzierungs-probleme der GRV nicht lösen, sondern verschieben siebestenfallsaufdieBundesebene,dadieFestlegungverbind-licher Haltelinien für Beitragssatz und Rentenhöhe letztenEndesdazuführt,dassderBundeszuschussandieRentenver-sicherungerhöhtwerdenmuss–mitVerteilungs-undWachs-tumswirkungen, die von der Kommission überhaupt nicht
24 ifo Dresden berichtet 3/2020
IMBLICKPUNKT
thematisiertwerden.DievonderKommissionangeführtenProjektionsrechnungen zeigen, dass der Finanzbedarf derGRVselbstdannstarkzunehmenwird,wennkeineweiterge-hendenReformenumgesetztwerden.Dassesfürdieerwerbs-fähige Generation allerdings unerheblich ist, ob sie überSteuern oder Sozialversicherungsbeiträge für die Rentneraufzukommenhat,wirdnichtthematisiert–allenfallssprichtfüreineverstärkteSteuerfinanzierungderRente,dassdamitdie Finanzierungslasten breiter verteilt werden können;systemgerechtistdiesabernicht.
BegründetwirdderVerzichtaufweitergehendeEmpfeh-lungen damit, dass diese „komplexe Folgewirkungen nachsichziehenwürden,die(…)teilweisepositiv,imHinblickaufandere Auswirkungen aber auch negativ bewertet wurden.“17 Dass es zu solchen Folgewirkungen kommt, ist dabei nicht weiterverwunderlich;dassdieKommissionsichabernichteinmalzuEmpfehlungenhatdurchringenkönnen(diejanochkeinepolitischeEntscheidungimplizieren),istärgerlich.IhremAuftragwurdedieKommissiondamitganzoffenkundignichtgerecht.Eswäreschön,wenneswenigstensinder(wissen-schaftlichenundpolitischen)ÖffentlichkeitimNachgangzueiner Diskussion käme, die dieses so wichtige Thema weiter-bringt und Lösungen vorbereitet, die dann weit vor dem Jahr 2026(demvonderKommissiongenanntenDatum)umgesetztwerden können.
1 EineersteFassungdiesesBeitragserschienam9.Mai2020alsOnline-Fassungin„WirtschaftlicheFreiheit–DasordnungspolitischeJournal“,vgl.http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=27177#more-27177
2 Vgl.CDU/CSUundSPD(Hrsg.)(2018),Koalitionsvertragfürdie19.Legislaturperiode,Berlin,S.92.
3 Vgl.Kommission„VerlässlicherGenerationenvertrag“(Hrsg.)(2020),AbschlussberichtTeil1:Empfehlungen,27.März2020,Berlin(imFolgendenzitiertals„Kommissionsbericht“).
4 Vgl.Kommissionsbericht,S.49.Zubeachtenistdabei,dassdiesem„Alterskoeffizient“eineRegelaltersgrenzevon65Jahrenzugrundeliegt.DiebereitsbeschlosseneAnhebungdesRenteneintrittsaltersauf67JahrebiszumJahr2031dämpftzwardenAnstiegdesAlterskoeffizienten,ändertabernichtsandergrundsätzlichenProblematik.
5 DieheutigenBeschäftigtenarbeitenzwarlänger,erwerbenaberdadurchauchhöheremonatlicheRentenansprüche.DadieRentenbezugsdaueraber abnimmt, sinkt insgesamt der Barwert der Rentenzahlungen. Deswegen wird die Belastung in diesem Fall ausschließlich von den zukünftigenRentnerngetragen.Vgl.Schubert,A.(2012),„Rentemit67:AuswirkungenaufdieHöhedesRentenanspruchs“,ifoDresdenberichtet,Heft6/2012,S.9–13.
6 UnterBeitragsäquivalenzverstehtmandenGrundsatz,dassdieHöhederindividuellenRenteproportionalzurHöhederinderErwerbsphasegezahlten Beiträge sein soll. Denkbar wäre es, die Höhe der Rente nach obenzubegrenzen,alsoein(zusätzliches)UmverteilungselementindieGRVeinzuführen.
7 WeitereEmpfehlungenderKommissionbeziehensichaufdieNeudefinitiondersozialstaatlichenBezugsgrößen(S.69ff.),zurunterjährigenLiquidi-tätssicherung(S.94ff.),zurVerbesserungderArbeitsmarktintegrationvonÄlteren(S.105ff.)undzurGesundheitsprävention(S.107ff.).
8 DiegleichenKorridorewerdenauchfürdieperspektivischenHaltelinienbiszumJahr2040vorgeschlagen.
9 Vgl.Kommissionsbericht,S.61.
10 Vgl.Kommissionsbericht,S.75.
11 Vgl.KommissionsberichtS.80–82.DanebenwerdenauchMischmodellepräsentiert,dieElementederLohnorientierungwiederInflations-orientierungdesRentenanstiegskombinieren,bspw.durchBeibehaltungdergeltendenBerechnungsweisenurfüreinenTeildererworbenenRentenansprüche,vgl.Kommissionsbericht,S.82–90.
12 DerNachhaltigkeitsfaktorbegrenztdenAnstiegdesRentenwerts,wennsich die Relation von Rentnern zu Beitragszahlern ungünstig entwickelt. Allerdings wird der Anstieg des Rentnerquotienten derzeit nur mit einem Viertelberücksichtigt.DieserGewichtungsfaktorwäredannentsprechendzu erhöhen.
13 Vgl.Kommissionsbericht,S.92.
14 VondenzehnKommissionsmitgliedernwarenfünfaktiveoderfrüherePolitiker,zweiVertreterderSozialpartnersowiedreiWissenschaftler.
15 IndieseRichtunglassensichjedenfallsPresseberichtezurKommissions-arbeitdeuten;vgl.z.B.Waschinski,G.(2020),„DieRentenkommissionstehtvordemScheitern“,Handelsblattvom17.Februar2020, www.handelsblatt.com/politik/deutschland/alterssicherung-die-rentenkommission-steht-vor-dem-scheitern-und-mit-ihr-die-rentenpolitik-der-groko/25551478.html?ticket=ST-1623140-6PUpQF3fln2mQtuzF65g-ap4
16 Vgl.Kommissionsbericht,S.98–104.
17 Vgl.Kommissionsbericht,S.76.
25ifo Dresden berichtet 3/2020
IMBLICKPUNKT
Christopher Leisinger und Felix Rösel *
Kaum mehr als ein Strohfeuer – Evaluations studien zu Abwrackprämien im Überblick
Wir geben einen Überblick über Studien zur Wirkung von Abwrack- und Kaufprämien für Autos. Diese Prämien kurbeln kurzfristig die Autoverkäufe an. Mittelfristig werden aber kaum mehr Autos verkauft. Viele Verbraucher hätten sich ohnehin ein Auto gekauft, ziehen den Kauf durch die Prämie vor, oder geben nach dem Autokauf weniger Geld für andere Konsumgüter aus. Die Umweltwirkung von Kaufprämien ist unklar.
Im April 2020, demwohl bisher am stärksten von Corona-SchutzmaßnahmengeprägtenMonatdesJahres,stürztendieFahrzeugneuzulassungeninDeutschlandum40%zumVor-monatundummehrals60%zumVorjahresmonatab(KBA2020).VordiesemHintergrundundangesichtsderweltweiteinbrechendenKonjunkturwerdeninzwischenwiederForde-rungennacheinerNeuauflagederAbwrackprämievon2009laut.InderFinanz-undWirtschaftskrisevon2008/2009führ-tenzahlreicheLändereinenZuschussfürdenErwerbeinesNeufahrzeugsgegendieVerschrottungdesaltenAutosein.Inzwischen wurden zahlreiche datengestützte Studien vor-gelegt,diedieEffektedieserAbwrack-bzw.Kaufprämieneva-luiert haben. Dieser Beitrag gibt einen kurzen Überblick über dieseStudien(vgl.Tab.1).
MEHR AUTOS HEUTE, ABER WENIGER AUTOS MORGEN
AllevonunsgesichtetenStudienzeigen,dassKaufprämienkurzfristigzumehrAutoverkäufenführen.AufdiePartyfolgtjedochderKater.StudienzurdeutschenundUS-amerikani-schenAbwrackprämiebelegen,dassnachAuslaufenderPrä-miendieAutoverkäufespürbareinbrechen.AbwrackprämienbedeutenmehrAutokäufeheute,aberwenigermorgen.VieleVerbraucherhättensichaußerdemohnehineinAutogekauft(„Mitnahmeeffekt“)oderhabenihrenAutokaufeinfachvorge-zogen („Vorzieheffekt“). Copeland und Kahn (2012) zeigenzudem,dassdieUS-KaufprämienichtinderLagewar,diePro-duktionanzukurbeln.VerkäufewurdenvorallemausBestän-dengetätigt.EinigeStudienfindenaberauch,dassdurchdiePrämieunterdemStrichmehrAutosverkauftwurden.
(ZU) TEURER UMWELTSCHUTZ
KlößnerundPfeifer(2018)berechnen,dasssichdurchdieAb-wrackprämiederCO₂-AusstoßderdeutschenFahrzeugflotteerhöht hat, da trotz der offiziellen Bezeichnung „Umwelt-prämie“kaumAnreizezumKaufverbrauchsarmerFahrzeugebestanden.InanderenLändernwarendiePrämienstärkeranUmweltkriteriengeknüpft.DieVerbraucherfolgtendiesenAn-reizenundkauftenbevorzugtkleinereundverbrauchsärmere
Autos.MitkuriosenEffekten:FürdieUSAfindenHoekstraetal.(2017),dassdurchdenWechselaufkleinereFahrzeugedieAutoausgabenderVerbraucherstärkersankenalsdurchdiestaatlichePrämiezusätzlichindenMarktgepumptwurde.FürdieUSAkönnenStudiendurchdas„Downgrading“derFlotteauchsubstanzielleEinsparungenbeiEmissionenundKraft-stoffverbrauchbelegen.MehrereStudienzeigenjedoch,dassdieCO₂-Einsparungteuererkauftwurde.InanderenSektorenhättemit den gleichen StaatsausgabendeutlichmehrCO₂eingespartwerdenkönnen.
PREISEFFEKTE UNKLAR
DieEffektederAbwrackprämieaufdieAutopreisesindnichteindeutigbelegt.Kauletal.(2016)finden,dassinDeutschlanddieAbwrackprämieimSchnittandieVerbraucherweiterge-geben wurde – in niedrigeren Preissegmenten sanken dieAutopreiseallerdingswenigeralsdieHöhederPrämie.AuchinSpanienkompensiertenAutohändlerdieAbwrackprämiedurcheinePreissteigerunginfastgleicherHöhedesPrämien-beitragsderAutomobilindustrie(Jiménezetal.2016).Zudemhinterlässt die Abwrackprämie auf dem Gebrauchtwagen-marktSpuren.DiePreise„abwrackfähiger“Autosstiegen;diePreisejüngerergebrauchterAutos,fürderenVerschrottungkeinePrämiegezahltwordenwäre,sankenhingegen.
VERBRAUCHER KAUFEN MEHR AUTOS, ABER WENIGER MÖBEL
KaufprämienfürAutoshabenbranchenübergreifendeNeben-wirkungen.Wenndie Verbraucher ihreAusgaben für Autoserhöhen,sinkendieAusgabenfürandereKonsumgüterwieMöbel oder Elektronikartikel, wie Studien zeigen konnten. Das Instrument wirkt aber auch grenzüberschreitend. Ein beachtlicher Teil der deutschen Abwrackprämie kam dertschechischenWirtschaftzuGute(MalečekundMelcher2016).
* ChristopherLeisingerwarPraktikant,Dr.FelixRöselistwissenschaftlicherMitarbeiteranderNiederlassungDresdendesifoInstituts–Leibniz-InstitutfürWirtschaftsforschunganderUniversitätMünchene.V.
26 ifo Dresden berichtet 3/2020
IMBLICKPUNKT
Notation: ▲=Anstieg/Vorhandensein;▼=Reduktion/Nicht-Vorhandensein;•=geringeodermehrdeutigeEffekte.a)AR:AutoregressivesModell;VAR:VektorautoregressivesModell;DiD:Differenz-von-Differenzen-Modell;Reg:KonventionellesRegressionsmodellohnefixeEffekte(OLS,Probit,Tobit);VECM:Vektor-Fehlerkorrekturmodell;SYN:SynthetischeKontrollgruppe;ARIMA:Autoregressives-Integriertes-Moving-Average-Modell;FE:Fixed-Effects-Modell;RDD:Regressions-Diskontinuitäten-Design;PG:PartiellesGleichgewichtsmodell
Quelle:ifoInstitut. ©ifoInstitut
Studie
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6)
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Land DEU DEU DEU DEU DEU DEU OECD EU USA USA USA USA USA ESP ESP
Methodikᵃ AR, VAR DiD Reg VECM SYN ARI-
MA FE DiD FE DiD,VECM DiD RDD PG Reg DiD
Neuwagenabsatz, -zulassungen, -nachfrage oder -produktion
WährendFörderperiode ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲
NachEndederFörderperiode • ▼ ▼ • • ▼ ▼ ▼ ▼ ▼
WährendundnachFörderperiode(netto) ▲ ▲ ▲ ▲ • • • • •„Vorzieheffekte“ • ▲ ▲ • ▲ ▲ ▲ ▲ ▲
„Mitnahmeeffekte“ ▲ ▲ ▲ ▲
Umwelt
(Flotten-)Emission ▲ ▼ • •Kraftstoffverbrauch • ▼
KosteneffizienzderEmissionsreduktion ▼ ▼
Verbraucherverhalten
GeförderteFahrzeugtypen • ▲
Inländische Fahrzeugmarken ▲ •ZahlungsbereitschaftfürAutos ▼ ▼
Preise
Neuwagen ▼ ▲
Gebrauchtwagen„abwrackfähig“ ▲
Gebrauchtwagennicht„abwrackfähig“ ▼
Gesamtwirtschaft
AndererKonsumgüter ▼ ▼
WirtschaftswachstumimeigenenLand •WirtschaftswachstumimNachbarland ▲
Arbeitslosigkeit,Immobilienpreise, Verbraucherinsolvenzen •
Tab. 1Ökonomische Effekte von Abwrackprämien
27ifo Dresden berichtet 3/2020
IMBLICKPUNKT
Die fehlende gesamtwirtschaftliche Treffsicherheit der Ab-wrackprämiekönnteerklären,warumStudienkeinensignifi-kantenBeitragderPrämiezurReduktionderArbeitslosigkeitundVerbraucherinsolvenzenoderÄnderungenvonImmobili-enpreisennachweisenkönnen.
FAZIT
DieIdeeeinerAbwrack-oderKaufprämiefürAutosisteinfach,diewirtschaftlichenFolgensindjedochkomplex,vielschichtigundnichtzwingendzumVorteilderAutomobilindustrie.Ab-wrackprämienkurbelnzwarkurzfristigdieAutoverkäufean,mittelfristigwerdenaberinsgesamtkaummehrAutosverkauft.KaufprämienentfachenalsotendenziellehereinStrohfeuer.Ob die Prämie langfristig zur Nachhaltigkeit des Verkehrs-sektorsbeiträgt,istunklar.MitdemgleichenGeldkönnteinanderenBereichenmehrCO₂eingespartwerden.VerbraucherreduzierenaußerdemdieAusgabenfüranderehochwertigeKonsumgüterwieMöbel,weshalbauchdiegesamtwirtschaft-lichenKonjunktureffekteunklarsind.SchließlichreduziertdasVerschrottenvonfunktionsfähigenFahrzeugendenvolkswirt-schaftlichenKapitalstock.Esdürfteeffizientereundtreffsi-cherereMaßnahmenzurStimulierungderKonjunkturgeben.
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Grigolon,L.,Leheyda,N.undF.Verboven(2016),„ScrappingSubsidiesDuringtheFinancialCrisis–EvidencefromEurope“,InternationalJournalofIndustrialOrganization44,S.41–59.
Gürtler,M.,Gutknecht,S.undM.T.Hibbeln(2016),ThePriceEffectofSupplyandDemandShocksonSecondaryMarkets–Evidencefromthe„Cash-for-Clunkers“PrograminGermany,onlineabrufbarunterhttps://ssrn.com/ abstract=2740925.
Heimeshoff,U.undA.Müller(2013),EvaluatingtheCausalEffectsofCash-for-ClunkersProgramsinSelectedCountries:SuccessorFailure?,BeiträgezurJahrestagungdesVereinsfürSocialpolitik2013:WettbewerbspolitikundRegulierungineinerglobalenWirtschaftsordnung–Session:Empirics:MarketsandMediaF13-V3,DeutscheZentralbibliothekfürWirtschaftswissenschaften,Leibniz-InformationszentrumWirtschaft,KielundHamburg.
Hoekstra,M.,Puller,S.L.undJ.West(2017),„CashforCorollas:WhenStimulusRe-ducesSpending“,AmericanEconomicJournal:AppliedEconomics9(3),S.1–35.
Jiménez,J.L.,Perdiguero,J.undC.García(2016),„EvaluationofSubsidiesProgramstoSellGreenCars:ImpactonPrices,QuantitiesandEfficiency“,TransportPolicy47,S.105–118.
Kaul,A.,Pfeifer,G.undS.Witte(2016),„TheIncidenceofCashforClunkers:Evidencefromthe2009CarScrappageSchemeinGermany“,InternationalTaxandPublicFinance23(6),S.1093–1125.
KBA(Hrsg.)(2020),„PressemitteilungNr.12/2020:FahrzeugzulassungenimApril2020“,onlineabrufbarunterhttps://www.kba.de/SharedDocs/ Pressemitteilungen/DE/2020/pm_12_2020_fahrzeugzulassungen_04_2020_pdf.pdf?__blob=publicationFile&v=5.
Klößner,S.undG.Pfeifer(2018),SynthesizingCashforClunkers:StabilizingtheCarMarket,HurtingtheEnvironment?,MPRAPaper88175,München.
Leuwer,D.undB.Süssmuth(2018),AssessingTemporaryProduct-SpecificSubsidies:ATimeSeriesInterventionAnalysis,CESifoWorkingPaper6946,München.
Li,S.,Linn,J.undE.Spiller(2013),„Evaluating‘Cash-for-Clunkers’:ProgramEffectsonAutoSalesandtheEnvironment“,JournalofEnvironmentalEconomicsandManagement65(2),S.175–193.
Maleček,P.undO.Melcher(2016),„Cross-BorderEffectsofCarScrappingSchemes:TheCaseoftheGermanCarScrappingProgrammeanditsEffectsontheCzechEconomy“,PragueEconomicPapers25(5),S.560–576.
Mian,A.undA.Sufi(2012),„TheEffectsofFiscalStimulus:Evidencefromthe2009CashforClunkersProgram“,TheQuarterlyJournalofEconomics127(3),S.1107–1142.
Miller,K.S.,Wilson,W.W.undN.G.Wood(2020),„Environmentalism,Stimulus,andInequalityReductionthroughIndustrialPolicy:DidCashforClunkersAchievetheTrifecta?“,EconomicInquiry58,S.1109–1128.
28 ifo Dresden berichtet 3/2020
DATENUNDPROGNOSEN
Wolfgang Nierhaus *
Vierteljährliche VGR für Sachsen: Ergebnisse für das vierte Quartal 20191
DaspreisbereinigteBruttoinlandsprodukt(BIP)istimviertenVierteljahr2020nur0,4%gestiegen,nacheinemdeutlichenAn-stiegvon1,2%imdrittenQuartal(vgl.Tab.1).ImJahresdurch-schnittbeläuftsichdieZuwachsrateauf0,5%.ImProduzieren-denGewerbe(ohneBaugewerbe)hatsichderRückgangder
Bruttowertschöpfungwiederbeschleunigt.ImBaugewerbekonntedasVorjahresniveauerstmalsnichtmehrerreichtwer-den(–3,8%).DieTrend-Konjunktur-KomponentedesBIPistgegen Jahresende leicht abwärtsgerichtet, nach einem leich-tenAnstiegindenerstendreiQuartalen2019(vgl.Abb.1).
Tab. 1Bruttoinlandsprodukt und Bruttowertschöpfung in Sachsen (preisbereinigt)
Jahr, Quartal
Brutto- inlands- produkt
Gütersteuernabzüglich Subven- tionen
Bruttowert- schöpfung
aller Wirtschafts-
bereiche
Bruttowertschöpfung
Land- und Forstwirt- schaft,
Fischerei
Produzieren-desGewerbe
ohne Baugewerbe
Baugewerbe
Handel,Ver-kehr,Gastge-werbe,Infor-mation und Kommuni-
kation
Grundstücks-u. Wohnungs-
wesen, Finanz-u.Un-ternehmens-
dienstl.
Öffentl.u.sonstige
Dienstleister, Erziehung u. Gesundheit
VeränderungsrategegenüberdemVorjahrin%
2017 2,1 1,4 2,2 –7,8 3,3 –1,5 3,8 0,8 2,5
2018 1,2 1,5 1,1 –4,4 0,7 3,2 1,6 0,8 1,1
2019 0,5 1,4 0,4 1,3 –3,9 4,5 2,8 1,1 0,9
1I2017 2,9 2,0 3,1 –2,8 4,8 –1,8 5,0 1,5 3,0
2I2017 0,8 2,1 0,7 –9,3 –0,2 –2,1 2,7 –0,8 2,2
3I2017 1,9 0,6 2,0 –8,4 2,3 –1,2 4,0 1,1 2,4
4I2017 2,8 1,1 3,0 –10,3 6,4 –0,9 3,4 1,2 2,4
1 I 2018 1,3 0,2 1,5 –5,3 2,1 0,8 2,1 1,1 1,3
2 I 2018 2,3 2,5 2,3 –3,9 4,0 3,2 2,3 1,5 1,2
3 I 2018 0,9 2,1 0,7 –4,4 0,0 3,3 0,9 0,4 1,0
4I2018 0,2 1,3 0,0 –4,0 –3,2 5,3 1,2 0,2 1,0
1I2019 0,8 1,9 0,6 –0,8 –3,0 7,8 2,6 0,6 1,1
2I2019 –0,4 0,3 –0,4 0,6 –6,6 4,3 2,4 0,8 0,9
3I2019 1,2 2,3 1,1 2,4 –2,2 4,4 3,7 1,4 0,9
4I2019 0,4 1,3 0,3 2,9 –3,8 2,1 2,4 1,7 0,6
Quelle:ArbeitskreisVolkswirtschaftlicheGesamtrechnungenderLänder,BerechnungendesifoInstituts. ©ifoInstitut
* Dr.WolfgangNierhausistwissenschaftlicherMitarbeiterdesifoInstituts– Leibniz-InstitutfürWirtschaftsforschungMünchenanderUniversitätMünchene.V.
1 DieBereitstellungvierteljährlicherErgebnissefürSachsenerfolgtinVerantwortungdesifoInstituts.DieBerechnungenfußenaufdenamtlichenLänderdaten,dievomArbeitskreisVGRderLänderermitteltwerden.Zudemwerden seitens des Statistischen Landesamtes des Freistaates Sachsen aktuellekonjunkturstatistischeInformationenbereitgestellt.DieserfolgtimRahmender2007unterzeichnetenKooperationsvereinbarungmitderNiederlassungDresdendesifoInstituts.IndieserAusgabewerdenerstmalsdieErgebnissefürdasvierteVierteljahr2019nachgewiesen.DieBerechnungensindabgestimmtaufdievomArbeitskreisVGRderLänderam30.März2020veröffentlichtenJahresergebnisse,diemethodischaufderGeneralrevisionderVGR2019beruhen.AllerdingsunterbleibteinebundesweiteKoordinierung,
wie dies bei den amtlichen Daten des Arbeitskreises üblich ist. Der voll ständige DatensatzfürdenZeitraumQ1/1996bisQ4/2019stehtaufderifoDresdenHomepagezumDownloadzurVerfügung.ZurMethodikvgl.Nierhaus,W.(2019),„VierteljährlicheVolkswirtschaftlicheGesamtrechnungenfürdenFreistaatSachsenmitHilfetemporalerDisaggregation“,StatistikinSachsen,1/2008,S.1–15.
29ifo Dresden berichtet 3/2020
DATENUNDPROGNOSEN
Abb. 1Trend-Konjunktur-Komponenten von Bruttoinlandsprodukt und Bruttowertschöpfung in ausgewählten Wirtschaftsbereichen in Sachsen (preisbereinigt, verkettet)a
–4
–2
0
2
4
95
98
100
103
105
2014 2015 2016 2017 2018 2019
Grundstücks und Wohnungswesenc
Kettenindex, 2015 = 100 %
Laufende Rate(rechte Skala)
–2
–1
0
1
2
95
100
105
110
115
2014 2015 2016 2017 2018 2019
Kettenindex, 2015 = 100 %
Laufende Rate(rechte Skala)
Öffentliche und sonstige Dienstleisterd
–4
–2
0
2
4
90
95
105
100
110
115
2014 2015 2016 2017 2018 2019
BaugewerbeKettenindex, 2015 = 100 %
–4
–2
0
2
4
80
90
100
110
120
2014 2015 2016 2017 2018 2019
Handel, Verkehr, Gastgewerbeb
Kettenindex, 2015 = 100 %
Laufende Rate(rechte Skala)
Laufende Rate(rechte Skala)
–2
–1
0
1
2
90
95
100
105
110
2014 2015 2016 2017 2018 2019
BruttoinlandsproduktKettenindex, 2015 = 100 %
–6
–3
0
3
6
80
90
100
110
120
2014 2015 2016 2017 2018 2019
Produzierendes Gewerbe ohne BauKettenindex, 2015 = 100 %
Laufende Rate(rechte Skala)
Laufende Rate(rechte Skala)
a)SaisonbereinigtnachCensusX-12-ARIMA.–b)EinschließlichInformationundKommunikation.– c)EinschließlichFinanz-undUnternehmensdienstleister.–d)EinschließlichErziehungundGesundheit.
Quelle:ArbeitskreisVolkswirtschaftlicheGesamtrechnungenderLänder,BerechnungendesifoInstituts. ©ifoInstitut
30 ifo Dresden berichtet 3/2020
DATENUNDPROGNOSEN
Niels Gillmann und Jannik A. Nauerth *
ifo Konjunkturumfragen Ostdeutschland und Sachsen
Das ifo Geschäftsklima Ostdeutschland basiert auf ca. 1 700 monatlichen Meldungen von Unternehmen, von denen ca. 500 aus Sachsen stammen. Die Befragungsteilnehmer kommen aus dem Verarbeitenden Gewerbe, dem Dienstleistungssektor, dem Handel und dem Bauhauptgewerbe. Die Unternehmer werden gebeten, ihre gegenwärtige Geschäftslage zu beurteilen und ihre Erwartungen für die nächsten sechs Monate mitzuteilen.
* NielsGillmannundJannikA.NauerthsindDoktorandenanderNieder-lassungDresdendesifoInstituts–Leibniz-InstitutfürWirtschaftsforschunganderUniversitätMünchene.V.
Abb. 1ifo Geschäftsklima Ostdeutschland und Sachsen (2015=100,saisonbereinigt)
2017 2018 2019 2020
Geschäftsklima Geschäftslage Geschäftserwartungen
Ostdeutschland
2017 2018 2019 2020
Sachsen
Indexwerte, 2015 = 100
Geschäftsklima Geschäftslage GeschäftserwartungenIndexwerte, 2015 = 100
70
75
80
85
90
95
100
105
110
115
70
75
80
85
90
95
100
105
110
115
Quelle:ifoKonjunkturumfragen,Mai2020. ©ifoInstitut
31ifo Dresden berichtet 3/2020
DATENUNDPROGNOSEN
Abb. 2ifo Geschäftsklima nach Wirtschaftsbereichen (Salden,saisonbereinigtundgeglättet)
Quelle:ifoKonjunkturumfragen,Mai2020. ©ifoInstitut
Abb. 3ifo Beschäftigungserwartungen (Salden,saisonbereinigtundgeglättet)
2017 2018 2019 2020
Ostdeutschland SachsenIndexwerte, 2015 = 100, Saisonbereinigt
85
90
95
100
105
110
Quelle:ifoKonjunkturumfragen,Mai2020. ©ifoInstitut
2017 2018 2019 2020
Verarbeitendes Gewerbe BauhauptgewerbeHandel Dienstleistungssektor
Ostdeutschland
Salden
–30
–20
–10
0
10
20
30
2017 2018 2019 2020
Verarbeitendes Gewerbe BauhauptgewerbeHandel Dienstleistungssektor
Sachsen
Salden
–30
–20
–10
0
10
20
30
32 ifo Dresden berichtet 3/2020
DATENUNDPROGNOSEN
Quelle:ifoKonjunkturumfragen,Mai2020. ©ifoInstitut
Abb. 4Ausgewählte Indikatoren aus dem ifo Konjunkturtest für Ostdeutschland und Sachsen Saisonbereinigt(außerHandelsumsätze)undgeglättet
2017 2018 2019 20202017 2018 2019 2020
2017 2018 2019 20202017 2018 2019 2020
2017 2018 2019 20202017 2018 2019 2020
Geräteauslastung im Bauhauptgewerbe
in %
76
78
80
82
84
86
Kapazitätsauslastung im Verarbeitenden Gewerbe
in %
2,5
3,0
3,5
4,0
4,5
Auftragsbestand imVerarbeitenden Gewerbe
Monate
2,5
3,0
3,5
4,0
4,5
Auftragsbestand im Bauhauptgewerbe
Monate
Exporterwartungen im Verarbeitenden Gewerbe
Salden
–20
–5
–10
–15
0
5
10
15
20
25
Handelsumsatz imVergleich zum Vorjahresmonat
Salden OstdeutschlandSachsen
OstdeutschlandSachsen
OstdeutschlandSachsen
OstdeutschlandSachsen
OstdeutschlandSachsen
OstdeutschlandSachsen
–20
–25
–30
–15
–10
–5
0
5
10
15
74
76
78
80
82
87
33ifo Dresden berichtet 3/2020
AUSDEMifo DRESDEN
ifo Veranstaltungen
Derfürden3.und4.September2020geplanteifo Dresden Workshop Regional Economy ist abgesagt. Wann bzw. ob die abgesagtenVeranstaltungennachgeholtwerden,findenSiezueinemspäterenZeitpunktaufderHomepagevonifoDresden(www.ifo-dresden.de)unterderRubrikVeranstaltungen.
ifo Vorträge
Ragnitz, Joachim: „Und was wird morgen sein? Shared Economy und Strukturwandel – erleben wir das Ende des Ka pi talismus?“,Online-PodiumsdiskussionderSächsischenLandeszentrale für Politische Bildung, 27. April 2020 und 19. Mai 2020, Dresden.
Ragnitz, Joachim: „Fiskalischer Handlungsbedarf im Frei-staat Sachsen nach der Corona Krise“,VortraganlässlicheinerTagungdesHaushaltsausschussesderCDU-Landtags-fraktionSachsen,11. Mai 2020, Dresden.
Ragnitz, Joachim: „Auswirkungen der Coronapandemie auf Ostdeutschland und wirtschaftspolitischer Handlungs - be darf“, Webinar des Ostdeutschen Bankenverbands, 14. Mai 2020, Dresden.
Ragnitz, Joachim: „Raus aus dem Corona-Loch!“,Podiums-diskussionbeimIndustrie-undInnovationsausschussderIHKChemnitz(Online-Veranstaltung),28. Mai 2020, Chemnitz.
Rösel, Felix: „Forced migration, stayers, and new societies: Evidence from ethnic cleansing in Czechoslovakia“, Online- Vortrag beim 3rd UZHWorkshop on Political Economy andDevelopment,29. Mai 2020, Zürich.
Ragnitz, Joachim: „Regionalentwicklung außerhalb von Me-tropolregionen“,Podiumsdiskussion,UnternehmerverbandAltenburg, 5. Juni 2020, Altenburg.
34 ifo Dresden berichtet 3/2020
AUSDEMifo DRESDEN
ifo Veröffentlichungen
Dorn,Florian,Gäbler,StefanieundFelixRösel(2020),„Ineffec-tive fiscal rules? The effect of public sector accountingstandards on budgets, efficiency, and accountability“, PublicChoice,imErscheinen.
Farzanegan,MohammadundMarcelThum(2020),„DoesOilRents Dependency Reduce the Quality of Education?“,EmpiricalEconomics58,S.1863–1911.
Frei, Xenia, Langer, Sebastian, Lehmann, Robert und Felix Rösel (2020), „Electoral externalities in federations – Evidence from German opinion polls“, Kyklos 73 (2), S.227–252.
Knabe, Andreas, Schöb, Ronnie und Marcel Thum (2020),„Alles imgrünenBereich?“, ifo Schnelldienst 73 (4), S.3–6.
Knabe, Andreas, Schöb, Ronnie und Marcel Thum (2020),„AllesimgrünenBereich?PrognistizierteundtatsächlicheBe-schäftigungswirkungendesMindestlohns“,Ökonomenstimme,14.Mai2020,onlineabrufbarunteroekonomenstimme.org.
Knabe, Andreas, Schöb, Ronnie und Marcel Thum (2020),„PrognosenundempirischeBefunde:WiegroßistdieKluftbeimMindestlohn wirklich?, Perspektiven der Wirtschafts-politik,21(1),S.25–29.
Konrad,KaiA.undMarcelThum(2020),„NeverLetaGoodCrisisGotoWaste!“,SUERFPolicyBriefs6,May2020.
Konrad,KaiA.undMarcelThum(2020),„TheBetterRoutetoGlobal Tax Coordination: Gradualism or Multilateralism?“,CanadianJournalofEconomics,imErscheinen.
Lehmann,RobertundJoachimRagnitz (2020),„Wirtschaft-liche Folgen der Coronakrise: Szenarienrechnung für dieeinzelnenBundesländer“,ifoSchnelldienstdigital73(4).
Ochsner,ChristianundFelixRösel (2020),„Migratingextre-mists“, The Economic Journal, im Erscheinen.
Pilny,AdamundFelixRösel(2020),„AreDoctorsBetterHealthMinisters?“,AmericanJournalofHealthEconomics,imErscheinen.
Pilny,AdamundFelixRösel(2020),AreDoctorsBetterHealthMinisters?,ifoWorkingPaper328,München.
Potrafke, Niklas und Felix Rösel (2020), „Opening hours ofpollingstationsandvoterturnout:Evidencefromanaturalexperiment“,TheReviewofInternationalOrganizations15(1),S.133–163.
Ragnitz,Joachim(2020),„AuferstandenausRuinen–Sachsennach der Wiedervereinigung“, in: Spring, Thomas (Hrsg.),Boom. 500 Jahre Industriekultur in Sachsen. Sandstein Verlag,Dresden,S.315–322.
Thum,MarcelundAlfonsWeichenrieder(2020),„Corona-BondsundihreAlternativen“,SAFEPolicyLetters83.
ifo in den Medien
Heisig,KatharinaundLarissaZierow,„First12MonthswithMum:WillYouBeHappierLaterOn?“,Podcast,DIAL,8.April2020.
Herbst, Torsten und Joachim Ragnitz, „Wie bedrohlich ist die CoronakrisefürSachsensWirtschaft?“,Videochatunterwww.fpd-sachsen.de,16.April2020.
Rösel,Felix,„GebtdenDörferndieMachtzurück!“,PodcastDigitaleProvinz,4.März2020.
Thum,Marcel undKai A.Konrad, „Corona und der Tunnel-blick“,FrankfurterAllgemeineZeitung,3.April2020.
Hinweis für externe Autor*innenDie Redaktion von „ifo Dresden berichtet“ möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es auch für externe Autor*innen die Möglichkeit gibt, in unserer Zeitschrift zu publizieren. Wir möchten ausdrücklich dazu ermuntern, neue wissenschaftliche Befunde in unserem Medium zu veröffentlichen. Vorzugsweise sollte es sich um Beiträge handeln, die sich mit regionalökonomischen Themen mit Ostdeutschlandbezug befassen.Mögliche Beiträge können jederzeit per E-Mail an die Niederlassung Dresden unter [email protected] eingereicht werden. Die eingereichten Aufsätze durchlaufen ein Auswahl-verfahren durch die Redaktion der Zeitschrift „ifo Dresden berichtet“.
Formale Anforderungen:
Der Leser*innenkreis der Zeitschrift „ifo Dresden berichtet“ umfasst neben Akademiker*innen vor allem Entscheider*innen aus Unternehmen, Behörden, Politik und Presse in Ostdeutsch-land. Sie sind an Ergebnissen interessiert und weniger an der methodischen Vorgehensweise. Daher sollte der Schwerpunkt des Textes ergebnisorientiert sein. Die Datengewinnung und methodische Vorgehensweisen dürfen kurz abgehandelt werden. Der Text sollte auch für interessierte Laien verständlich sein.
Es sollte auf ein ausgewogenes Verhältnis von Text und Abbildungen geachtet werden. Gibt es zu viele Abbildungen für zu wenig Text, rutschen Abbildungen mehrere Seiten nach hinten und der Aufsatz wird sehr schwer lesbar.
• Textlänge zwischen 5 und 10 Seiten• Text als Word-Datei (Fließtext einspaltig)• Abbildungen und Tabellen als Excel-Dateien (mit zugrundeliegenden Daten)• Grafiken als pdf- oder jpg-Dateien in möglichst hoher Auflösung• Das Heft erscheint in den Farben Schwarz/Grün (bitte beim Einfärben der Abbildungen
und Grafiken beachten)
Die Autor*innen werden immer ausschließlich nach dem Alphabet sortiert, nicht nach „Rang“ der Autoren oder Anteil der Mitarbeit am Text.
Für jede ifo Publikation bitten wir um die Anfertigung eines Abstracts, dies meint eine kurze inhaltliche Zusammenfassung von maximal 12 Zeilen Umfang.
Da die Beiträge nicht sehr lang sind, sollten die Überschriften möglichst nicht nummeriert werden (nur gleichrangige Teilüberschriften, nicht zu viele Stufungen verwenden).