10
Sonderdrudc ans: ZEITSCHRIFT FUR LOGIK, METHODENLEHKE KYBERNETIK UKD SOZIOLOGIE DES REGHTS Ilerausgegeben von Karl Engiach, H. L. A. Ilart, Hans Kelsen-j- Ulrich Klug, Sir Karl R. Popper 10. Band 1979 Heft 4 DUNCKER & HUMBLO Ï / BERLIN

DUNCKER & HUMBLOÏ / BERLIN...Es ist klar, daB wir aus Grûnden der Gerechtigkeit oder Gleichbehand lung eine Verteilung von 2,2,2 eincr von 3,3,0 vorziehen werden, wenn 6 Einheiten

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: DUNCKER & HUMBLOÏ / BERLIN...Es ist klar, daB wir aus Grûnden der Gerechtigkeit oder Gleichbehand lung eine Verteilung von 2,2,2 eincr von 3,3,0 vorziehen werden, wenn 6 Einheiten

Sonderdrudc ans:

Z E I T S C H R I F T F U R L O G I K , M E T H O D E N L E H K E

K Y B E R N E T I K U K D S O Z I O L O G I E D E S R E G H T S

Ilerausgegeben von

Karl Engiach, H. L. A. Ilart, Hans Kelsen-j-

Ulrich Klug, Sir Karl R. Popper

10. Band 1979 Heft 4

D U N C K E R & H U M B L O Ï / B E R L I N

Page 2: DUNCKER & HUMBLOÏ / BERLIN...Es ist klar, daB wir aus Grûnden der Gerechtigkeit oder Gleichbehand lung eine Verteilung von 2,2,2 eincr von 3,3,0 vorziehen werden, wenn 6 Einheiten

R E C I T T S T i l E O H I K

Zeitschrift fur I.ogik, Mothodcnlelue, Kybcrnotik und Soziologic des Redits

Herausgogcbcn von Prof. Dr. Karl Engisdi, I leidelbera / Prof. Dr. H. L. A. Harl, Oxford / Prof. Dr. Hans Kelscn t, Berkeley / Prof. Dr. Ulrich Klug, Kôln Prof. Dr . Dr . Karl R. Poppcr , London.

R e d a k t i o n : Piof . Dr. Klaus Adomcit, FU Berlin, F"achbereich Rcchts-wissenschaft , van-t'Hoff-StraCe 8, 1000 Berlin 33; Prof. Dr. Dr. Wei-ner Krawietz, Universital, FadibereicJi Rcditswissen.schaft, BispinRliof 24/25, 4400 Munster (f/e.';ch(/Jt.<;/n/irer!d); Prof. Dr. Dr. Adalbert Podledi,. Tochnisdie Hochsdiule, Fadigebiel Offentl idics Redit, Hoch.sduiistr. l/III, 6100 Dannstadt.

Vcrlag: Duncker & Huimblot, Dletridi-Schâfer-Weg 9, 1 lîerlin 41 (Stcylltz), Ruf; 7 91 20 2G Die Zeitschrift erschcint vlcrmal jiihrlich Im Gesamtumfang von ca. 51? Selten.

Alionneniuntsprcls halbjahrUch rJM 64,— zuzUfillch Pnrlo. Aile Redite, auch dic des auszugsweiscn Nachdruckes, rier pholoiriccliaiilsclion

V/ledergabe und der Uberselzung, ftlr s.Tiiitliclie Belti age voi bolialten. © 19S0 Duncker fl: Humblot, Berlin. Druck; Alb, .Sayffaei lh - E. 1,. Krohn, Bei l in 61.

I n 11 a 11

Abliandlungcn und Aufsa tzc

Chaim Perelman, Gleichheit und Gerechtigkeit : 385

Ota WciiiberÊfer, .Wissen' und ,Nicht-Wissen' in der praktischen Argu­mentation. "Oberlegungen zu cinem Grundlagenproblem der Moral-thcorie und Rechlspolitik 391

Friedrich Kaidbach, Recht und Moral in der rechlspliilosophischen Si tua-lion der Gegcnwart 409

Wolfgartg Marx, Uber Notwendigkeit und Struktur einer ethischen Funda-mentaltheorie 431

Berichlc und Kr i t ik . ^i..,,

José de Sousa e Brito, Hart's Criticism of Bentham 449

Walther Kummcrnvi, Vertrag und Vertragstreue als Bedingungen der Legitimitat des Staatos. Die .staatsphilosophischcn Vertragstheorien und ihre naturrcchtliche Grundlage 462

Thomas Schlapp, Zur Untersdieidung von Objektsprache und Metasprache 502

Fortsetzung 3. Umschlagseite

Page 3: DUNCKER & HUMBLOÏ / BERLIN...Es ist klar, daB wir aus Grûnden der Gerechtigkeit oder Gleichbehand lung eine Verteilung von 2,2,2 eincr von 3,3,0 vorziehen werden, wenn 6 Einheiten

GLEICIIHEIT UND GERECHTIGKEIT*

Von Chaim Pere lman, Brûssel

Obwohl de r Begrilf de r Geredi t igke i t eincr de r ums t r i t t ens t en Dé­g r i f f é zu sein schcint, seit s t re i tende Pa r t e i en beanspruchen, allein ih re Sache sei gereclit, ist der Begriff der Gleichhcit doch e iner f o rma len u n d nicht kont roversen Définition zuganglich. Es erscheint reizvoll, beide Dé­gr i f fé zusammenzubr ingen und den eincn durch den ande ren zu e r l àu-tern . Verschiedene Anhânger des Sozialismus, wie e twa George Bernard Shaw, dessen Vor t rage ùber Gleichheit 1971 verôffent l icht w u r d e n ' , h a -ben dies in der Ta t versucht.

S h a w behandc l t Gleichheit als ein Idéal, das durch die sozialistische Révolution rcal is ier t wird . In seiner Vor t ragssammlung heiBt es: „Durch Revolut ionen kônnen wi r den vol lkommenen S taa t erreichen, wobei das Kr i t e r i um der Vollkommenlieit Gleidihei t i s t^" In e inem Vortrag, de r von ihm im J a h r e 1884 un te r dem Titel „Die sozialistische Dewegung ist n u r die Ver tc idigung unsere r letzten Elire" gehal ten wurde , sagt ShaW; das Wor t „Ehre" bedeute, daB „wenn ein Mann eine S tunde f u r e inen anderen gcarbei te t hat, dieser andere nicht weniger als eine S tunde f u r j enen arbe i ten soll"^. Und un te r der Uberschr i f t „Gle id ihei t" heiBt es in e inem anderen Vor t rag : „Frag t m a n den ers ten besten, was Sozial ismus ist, so wird er sagen, daB es ein Zustand der Gesel lschaft ist, in dem das gesamte Einkommen des Landes auf aile in genau gleichen Ante i len ve r -teil t ist, ohne Ansehen ihres FleiBes, ihres Charak te r s oder i rgendeiner anderen E r w â g u n g auBer der jenigen, daB aile Lebewcsen sind"*." Dièse wenigen Deispicle, in denen gleiche und gerechte Behand lung identifi.-ziert werden , zeigen zugleich, wie die Idée der Gleichheit modihzier t wird , w e n n m a n sie zur Gerechtigkei t in Beziehung setzt.

Der Begriff de r Gleidihei t ermôglicht, w e n n er f o r m a i ar i thmet isch def inier t wird, zu beweisen, daB 2 + 2 = 4:, aber daB aucli 2 + 2^5 ist. Wir kônnen zeigen, daB wi r hier zwei w a h r e Aussagen haben, in denen

* Vortrag, gehalten auf Einladung der Westfal isdien Scktion der Internatio-naleri Vereinigung fiir Redi ts - und Sozialphilosophie (IVR) an der Universitat Munster am 16. Februar 1979.. Ins Deutsche ûbertragen von Dieter Wyduckel und Werner Krawietz.

' George Bernard Shaw, The Road to Equality. Ten unpublished Lectures and Essays 1884 - 1918. Ed. by Louis Crompton, Boston 1971.

2 Shaw, a.a.O., S. 62. » Ebd., S. 1. « Ebd., S. 155.

25 Rechtstheorie 4/79

Page 4: DUNCKER & HUMBLOÏ / BERLIN...Es ist klar, daB wir aus Grûnden der Gerechtigkeit oder Gleichbehand lung eine Verteilung von 2,2,2 eincr von 3,3,0 vorziehen werden, wenn 6 Einheiten

886 Chaiiii Perelman

es nichl d a r u m geht, ob Gleichheit oder Ungleichhei t den Vorzug h a b e n soll. Es genûgt h ie r fostzustel lcn, daB w e n n die S u m m e zweie r Zah len e iner d r i t t en gleich ist, sie nicht i rgcndc inc r a n d e r e n S u m m e gleich sein kann , die von (îer l e tz te rcn verscliieden ist. D e n n ohne F r a g e k a n n aus diesem Z u s a m m e n h a n g keine ande re Gle id ihe i t h e r v o r g e h e n als d i e j e -nige, die ohneh in sd ion exis t ier t .

Die A r t von Gle id ihei t , die m a n seit Ar is to te les zum Begriff d e r Ge-red i t igke i t in Bez iehung gesetzt ha t , ist die d e r G le id ibehand lung . H i e r -be i geh t es, wie Bernard Shaw fests tel l t , d a r u m , mcnsd i l i che Lebewesen gle ichzubehandeln .

In demse lben Sinn, abe r wen ige r dogmatisch, sd i r e ib t Jsaiah Berlin in se inem Aufsa tz „Gleichheit": „Gleichhcit bedarf ke ine r B e g r û n d u n g ; n u r Ungleichhei t muB b e g r û n d e t w e r d e n ' . " Gleichhei t benôt ig t ke ine Red i t f e r t i gung , denn sie w i rd f i ir ge red i t angesehen; auf d e r a n d e r e n Sei te w i r d die Ungleidnheit , die nicht gerech t fe r t ig t ist, wi l lkùr l ich u n d d a m i t ungercch t erscheinen. In genau demse lben S inn s d i r e i b t John Rawls in se iner Théor ie d e r Gerccht igkci t : „Alle sozialcn W e r t e — Fre ihe i t , Chancen, E inkommen , Vermôgcn und die sozialen G r u n d l a g e n d e r Sc lbs tach tung -— sind gleidimaBig zu ver te i len , sowei t n i d i t e ine ungleiche Ver te i lung j e d e r m a n n zum Vortei l gereicht"." Es w i r d in die-sen be iden F? il en zuges tandcn, dafi G r û n d e eine ungleiche B e h a n d l u n g rech t fe r t igen konnen u n d — d a r a u s fo lgend — dafi Gleichhei t ke in W e r t ist, d e m in j edem P'alle Genûge ge tan w e r d e n muB.

In me inem ers ten Werk ûbe r Gered i t i gke i t h a b e i d i 6 F o r m e l n d is t r i -b u t i v e r Gered i t igke i t un terschieden: — J e d e m das Gleidie . — J e d e m nach seinen Verd iens ten . — J e d e m nach seinen Werken . — J e d e m nach seinen Bedùr fn i s sen . — J e d e m nach seinem Range. — J e d e m nach dem, w a s das Red i t best immt^.

Auf d e r Suche nach e inem al len geme insamen E l é m e n t k o n n t e ich eine i o r m a l e Gerecht igkei ts regel isolieren, die als ein H a n d l u n g s p r i n z i p def in ier t ist, a u f g r u n d dessen Lebewesen oder S i tua t idnen , d ie e i n a n d e r wesent l ich gleidien, in gleicher Weise zu b e h a n d e l n s ind ' . Die verschie-denen F o r m e l n d i s t r ibu t ive r Gerecht igkei t b ie ten die Kr i t e r i en , nach de-n e n s id i die Unterschiede b e s t i m m c n lassen, we ld i e f u r die wesent l iche Gleichhei t von Lebewesen oder S i tua t ionen r e l evan t bzw. i r r e l evan t

' Isaiah Berlin, Equality. I n : Proceedings of the Aristotelian Society 56 (1056), S. 301 - 326 (305).

« John Rawls, Eine Théorie de r Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975, S. 83. ' Chaim Perelman, t l b c r die Gerechtigkeit, M u n d i e n 1967, S. 16 f f . * Perelman, a.a.O., S. 45.

Page 5: DUNCKER & HUMBLOÏ / BERLIN...Es ist klar, daB wir aus Grûnden der Gerechtigkeit oder Gleichbehand lung eine Verteilung von 2,2,2 eincr von 3,3,0 vorziehen werden, wenn 6 Einheiten

Gleidiheit und Gcrechfiskcit 387

sind. Dcr Vorzug dcr letzten Formel, jeden iiach MaBgabc des Rechts zu behandeln , licgt in dcr rcchtlichen Aufe r lcgung der rc levanten Kr i t e -rien, denn sie verpllichtet uns, aile d ie jenigen gleichzubehandeln, fur die das Recht kc ine Untcrscheidung vorsieht : in parihus causis, paria iura.

Einige behaupten , dal?> die Regel fo rmale r Gerecht igkei t nicht m e h r ist als ein Gesctz der Logilc, das gleidie Behand lung f u r ai le d ie jenigen fordcr t , auf welche dieselbe Regel A n w e n d u n g findet. A b e r es gibt zwei Einwande gegcnûber dieser Sidi tweise.

Der erste ist, daB ein Gesetz der Logik, das no twendig gilt, keine Aus-n a h m c n zulaBt. Aber wir kônnen namens der Bill igkeit f onne l l e Ge­rechtigkeit zurûckweisen. So w û r d e ich, w e n n ich obers ter Gesetzgeber in Saudi -Arabien wâre, wo f u r m e h r als tausend J a h r e Dieben in tTber-e ins t immung mi t dem Koran die l inke Hand abgeschlagen wurde , dieser Ar t der Bes t r a fung des Diebstahls entgegentre ten . In A b a n d e r u n g die­ser Regel w û r d e ich mi t der Vergangenhei t gebrochen und so wesentlich gleiche Fâl le unterschiedlich behandel t haben. Es ist a l lerdings wahr , daB das Recht die Ju r i s t en konservat iv madi t , denn es fo rde r t von ihnen, nach Prâzedenzfâ l lcn zu suchen und, bei Fehlen guter Grùnde , dies nicht zu tun, die gcgenwart igcn Fàlle in derselben Weise zu behande ln wie wesentl ich gleiche Fâlle der Vergangenhei t . Aber j ede r Ju r i s t wird e inraumen, daB m a n Pràzcdenzfâl le mi t gu ten G r û n d c n vernachlassigen kann .

Der zwcite E inwand gegenûb? ' de r Identif ikat ion einer fo rmel len Ge-rechtigkeitsregel mit einem logischen Gesetz ist der, daB es sich u m eine Gerechtigkeitsregel handelt , die nu r dann a n w e n d b a r ist, w e n n es auf die Gerechtigkei t ankommt. Wenn die Bauer in ein einzelnes H u h n aus 100 auswâhl t , um es zu schlachten und zum sonntagl id ien Mi t tagsmahl zu servieren, ist sie nicht verpflichtet, die verb le ibendcn 99, die von dem eincn ununtcrscheidbar sind, in der gleichen Weise zu behande ln . Ge-rccht igkei tserwagungen spielen f u r ihre Handlungsweise keine Rolle, und sie ist nicht verpflichtet, aile H û h n e r g le id izubehandeln .

Die Belgische Verfassung bestimmt in Art ikel 6, daB „alle Belgier vor dem Gesetz gleich sind" und weis t so jene Pr ivi legien zurûck, die das ,Ancien Régime' Adel und Geistlichkeit im Hinblick auf Steuern , Zu-gang zu ôffentl ichen Amtern und zum Redi t g e w â h r t ha t te . Jedoch w u r ­de den F rauen dcr Zugang zu Pa r l amen t und Just iz f u r nahezu ein J a h r -h u n d e r t verweiger t . Und f u r m e h r als ein J a h r h u n d e r t w u r d e i hnen das Recht abgesprochen zu wâhlen, ungeachtet de r Existenz dièses Art ikels . So sehen wir, daB die al lgemeine Fordc rung nach Gle id ihe i t n iemals aus e twas anderem bcs tcht als der Zurûdcweisung bes t immte r spezifischer Ungleichheiten und nicht aller vors te l lbaren Ungleichheiten.

Einige Verfassungen, so die Osterreichs von 1934, gehen weiter , indem sie nicht nur den R id i t e rn vorsdireiben, solche Fa l le gleichzubehandeln,

Ï6»

Page 6: DUNCKER & HUMBLOÏ / BERLIN...Es ist klar, daB wir aus Grûnden der Gerechtigkeit oder Gleichbehand lung eine Verteilung von 2,2,2 eincr von 3,3,0 vorziehen werden, wenn 6 Einheiten

388 Chaim Perelman

in dencn dcr Gcsetzgeber kcine Unterscheidung macht, sondern d a r û b e r h inaus die E i n f û h r u n g wi l lk ih l icher Unterscheidungen durcli Gesetz verbieten, es sci denn, dicse sind durch objckt ivc G r ù n d e gercdi t fe r t ig t . Fe rne r untersagon zahlreiche Entscheidungcn des Bundcsvcr fassungs-gerichts in dcr Bundcsrepubl ik ]5cutschland dem Gcsetzgeber, wcsen t -lich gleiche Fal le ungleich zu bchandeln . Eine Unterscl ieidung wi rd als wil lkûrl ich behandel t , w e n n kein k la rc r und guter G r u n d crsichtlich ist, wclcher sie nach dcr Na tu r dcr Sache odcr gemâfS ciner vernùnf t igcn , re levanten odcr wenigstens nicht unve rnûn f t i gen E r w a g u n g zu un te r -s tûtzen gecignet ist". Aber was ein guter G r u n d ist, de r eine Unglcich-behand lung rcchtfert igt , untcr l icgt dem gescUschaftlichen und geschicht-lichen Wandel . Obwohl es dem Obersten Gcrichtshof Belgiens in seinem Urtei l vom 11. November 1889 natûr l ich erschien, F r a u e n mi t de r Be-g r û n d u n g von der Just iz auszusclilieCen, de r Gcsetzgeber „habe die Ta t -sachc, daO die Just iz den Mannern vorbeha l ten sei, f u r ein zu augen-fall iges Axiom erachtet, um es ausdrûcklich anzuordnen" , wi i rde aus heut iger Sicht ein seiches A r g u m e n t nicht n u r vôllig u n a n n e h m b a r , son­de rn m e h r noch vol lkommen unvern i inf t ig erscheinen. Es ist intéressant , in Gesetzgebung und Ju r i sp rudenz verschiedener Pucchtssysteme zu ver -folgcn, wie die zur Rechtfer t igung von Diskr imin ie rungen ange fùh r -ten G r ù n d e sich entw^ickelt haben. Seit solche Entwicklungsablâufe mi t denen der Ideologien ve rbundcn sind, laCt die Ar t und Weise, in de r Ungleichheiten auf rech te rha l ten werden, ein bezcichnendes L id i t auf die Entwic ldung von Geis teshal tungen in e iner gegebenen Gesel l sd iaf t fal len.

Man k a n n in diesen Fâl len sehen, welche Wer te gegenûber e iner als F o r m von Gerechtigkeit be t rachte ten Gleichbehandlung als vor rangig angesehen werden . Nicholas Rescher h a t in seinem Buch „Distr ibut ive Jus t ice" in dieser A r t und Weise die Konfliktc untersucht , die zwischen Gerechtigkei t und Uti l i tar ismus cnts lehen kônnen '" .

Es ist klar , daB wi r aus Grûnden der Gerecht igkei t oder Gleichbehand­lung eine Verte i lung von 2,2,2 e incr von 3,3,0 vorziehen werden , w e n n 6 Einhei ten eines posit iven Werts un te r dre i Personen A, B, C, zwischen denen kein wesentl icher Unterschied besteht , aufzute i len sind. Es ist klar , daB wi r nach uti l i tarist ischen Ges id i t spunkten eine Ver te i lung von 3,3,3 gegenûber einer Verte i lung von 2,2,2 den Vorzug geben. A b e r nach MaBgabe we ld i e r Kr l te r ien wiire eine Ver te i lung von 3,3,X e incr soldien von 2,2,2 vorzuziehen?

• Vgl. Wemer Bôckenfôrde, Der al lgemcine Gleichheitsgrundsatz und die Aufgabe des Riditers, Berlin 1957, S. 62 f. Siehe hierzu auch meinen Artikel „Egalité et valeurs". In: Egalité I, Bruxel les 1971, S. 323.

"* Nicholas Rescher, Dislributive Justice. A Constructive Critique of the Utilitarian Theory of Distribution, Indianapolis 1906.

Page 7: DUNCKER & HUMBLOÏ / BERLIN...Es ist klar, daB wir aus Grûnden der Gerechtigkeit oder Gleichbehand lung eine Verteilung von 2,2,2 eincr von 3,3,0 vorziehen werden, wenn 6 Einheiten

Gleidiheit und Gereditigkeit 389

Rescher gibt cin Beispicl, in dcm Gcrecht igkci t — nâmlich Gleichbe­h a n d l u n g — cher aus utilitaristisclicn G r û n d e n denn aus Bil l igkeitser-v/agungen aufgcgcbcn werden kann .

Aber die schwicrigsten Problème tauchen in Vcrb indung mit der Ka te -gorie der Gleichbehandlung auf . Herkommlicherweise zielt in unse re r individualist ischcn Zivilisation die Gleichbehandlung auf menschlichc Lebcwesen. Abcr dieser S t andpunk t ist ein schr spezieller. K a n n man nicht auch ein Konzept der Gleichbehandlung f u r Famil ien, Stàdtc , Na-tionen, Rassen, Staaten, Universi tâ ten, Berufe , soziale Klassen usw. ent-wer fen?

In den USA wi rd der Zugang zu einigen Univers i tâ ten nicht durch eine Auswahl de r bcston Kandida ten geregelt, die nahezu aile schwarzen S tuden ten ausschlieBen wùrde , sondcm durch eine quotenmaBigo Zutei-lung von Pla tzen an die schwarzen Studenten, selbst w e n n dadurcli bes-ser geeignete weiBe S tudenten zurûckgewiesen werden . Fernor, wenn m a n zwei Gemcinschaf ten gleiclibehandeln will (so die flamisch u n d die franzôsisch sprechenden Volksgcmcinschaften in Belgien), so w i rd sich notwendig herausstel len, daB Individuen auf der einen gegeniiber sol-chen auf de r anderen Seite bevorzugt werden . In einem foderalistischcn System wie dem der USA wi rd dieselbe Anzahl von Senatoren durch jeden S taa t gewahlt , unabhang ig davon, ob dieser n u r hundcr t t ausend oder m e h r als zwanzig Millionen Einwohner hat . Aber dièse Ungleich-hei t w i rd ausgeglichen durch die Wahl von Reprasen tan ten im Verha l t -nis zur jeweil igen Bevôlkerung. Man kann an diesem Beispiel sehen, wie unterschiedliche Anwendungen des Gleichhcitsprinzips mi te inander kol-l idieren und durch jede Ar t von KompromiB mi t e inande r in Einklang gebracht we rden kônnen.

Aber die wirkliche Schwierigkeit in dieser F rage geht aus dem Wider-spruch zwischen zv/ei Konzepten der Gleichheit hervor , dem der Gleich­behand lung und dem der Gleichheit de r Zus tande .

Gleichheit, wie sie in der Franzosischen Révolut ion u n d im 19. J a h r -h u n d e r t ausgcbildct wurde , w a r vor allem Gleichbehandlung, die sich in der Abschaf fung der Privi legien mani fes t ie r te ; dai^aus ervvuclis das in den l iberalen Demokra t ien al lgemein akzept ie r te Pr inz ip der Gleich­hei t vor dem Gesetz. Aber die Vorstellung, die heu te zunehmcnd d u r d i -dr ingt , ist die der Rcduzierung von Ungleichhei ten u n t e r den Mitglie-de rn e iner Gesellschaft oder zwischen Nat ionen u n d Staaten, deren Ent -wicklung noch niclit wei t for tgeschri t ten ist, indem m a n den in der schwâcheren Position Befindlichen Pr ivi legien ver le iht . Erleichterungcn, Zuschùsse und spcziclle Hil fen we rden den jen igen gewâhr t , die en twe-der durch die Na tu r oder durch die Gesellschaft bcnachtcil igt sind. In Hande l sver t râgen zwisclien S taa ten w e r d e n solche Privi legien an die

Page 8: DUNCKER & HUMBLOÏ / BERLIN...Es ist klar, daB wir aus Grûnden der Gerechtigkeit oder Gleichbehand lung eine Verteilung von 2,2,2 eincr von 3,3,0 vorziehen werden, wenn 6 Einheiten

390 Chaim Perelman

gegoben, deren Wir tschaf t schwadi oder un te ren twid te l t ist. Worauf es heu te ankommt, ist wenigcr Gerechtigkeit im Sinne von Gleichbchnnd-lung als v ie lmehr Gerechtigkeit , vers tandcn als Abbau ôfi 'entlicher Un-gleichheitcn gogcbener Zustiinde und Si tual ionen.

Selbst cine so kurze Untorsuchung der Bedingungen, auf die Gleich­he i t als ein Wert angewandt wird, liiBt erkennon, wie unangemessen es ist, soziale Gleichheit als ein Zcichen der Vervo l lkommnung anzusehen. T u t m a n dies, so unterschlagt m a n nicht n u r die Existenz andere r Werte, w ie die der Effizienz oder des sozialcn Nutzens, sondern a u d i die Ta t -sadie, dais Gleichheit sowohl auf Individuen als auch auf Gruppen jcder A r t bezogen werden kann, sowie den Umstand, daB die Gleichbehand-lung de r Gleichheit der Zus tânde gegenûbei-gestollt we rden kann.

Deshalb ist es nicht befr iedigend, Gleichheit mi t Gerechtigkei t zu iden-tifiziercn, w e n n gute Grùnde f u r eine Rechtfer t igung von Unglcichheit fehlen. Denn es ist notwendig, ers t e inmal zu klâren, u m welche A r t von Gleichheit es ûbe rhaup t geht.

Wir haben gesehen, daB die gleiche Behand lung wesentl ich gleicher Fâlle, gestûtzt auf Prâzcdenzerwâgungen, Ju r i s t en konserva t iv macht, w e n n m a n als konservat iv jcne bezeichnet, f u r die nu r de r Wandel ge-rechtfer t ig t werden muB, wahrend der s ta tus quo ke iner Recht fer t igung bedar f . Kein ve rnûnf t ige r Mensch stellt Regeln und akzept ier te Wcr te ohne gutc Grunde in Frage; und einer dicser G r û n d e iot eine u n a n n e h m -b a r e Vei-schicdenheit und Ungleichheit der UmstÉinde.

Die SchluBfolgerung, die sich aus dieser Analyse ergibt , ist die, daB bere i t s die Untersuchung der Ar t und Weise, in der unterschiedliche so­ziale Wer te d u r d i Moral, Recht oder Religion prakt isch umgosetzt w e r ­den, eine nicht reduzierbare Vielfal t von Gesichtspunkten und Zielen aufdeckt . Eine derar t ige Vielfal t e r laubt es uns nicht, eine einzige W a h r -he i t anzustreben, die jederzeit auf aile a n w e n d b a r ist, sondern n u r eine komplexe Abwâgung, die uns heJfen kann, die Viel fa l t von Kul tu ren , Ideologien, Religionen und Philosophien zu vers tehen. Es ist von diesem S t a n d p u n k t aus unannehmbar , die Idée der Gerechtigkei t auf die der Gleichheit zu reduzieren.

Page 9: DUNCKER & HUMBLOÏ / BERLIN...Es ist klar, daB wir aus Grûnden der Gerechtigkeit oder Gleichbehand lung eine Verteilung von 2,2,2 eincr von 3,3,0 vorziehen werden, wenn 6 Einheiten

Butijbcsprcchungcn

Vranken, Johann(-s Bointiruus Marie, Kritiek en méthode in de rechts-vinding. Een ojiderzock naar de lietokenis van de liermcnculilc van H. G. Gadamor voor de analyse van tiet rechtcrlijk besl iss ingsgebeuren (Werner Kruioietz) 507

Stahlmann, Gùnther, Zur Théorie des ZiviiprozeBrcchts. — Von der Légi­timation durch Erkenntnis zur Légitimation durch Verlahren (Gerhard Struck) 507

Poeschel, Jijrgen, Anthropologisclu; Voraussetzungen der Staatsl l ieorie Rudolf Smends. Die elemcntai-en Kategorien Lcbcn und Lcistung (Edzard Schmidt-Jortzig) 510

Ansclirifton der Mitarbcitcr

Prof. Dr. Chaim Perelman, 32 rue de la Pêcherie, B-1180 Bruxel les

Prof. DDr. Ota Weinberger, Universitat Graz, Institut fur Rechtsphilosophie, UniversitatsstraCe 27/11, A-8010 Graz

Prof. Dr. Dr. Friedrich Kaulhach, WicliernstraBe 13, 4400 Munster

Prof. Dr. Woligung Marx, Universitat Bonn, Philosophisches Seminar, A m Hof, 5300 Bonn

Dr. José de Sousa e Brito, Faculdade de Direito da Universidade de Lisboa, IGOO Lisboa, Portugal

VVaUhcr Kiimmerow, In der Neckarhelle 07, 6900 Heidelberg . '

Thoman Schlapp, FichtestraCe 20, 6072 Dreieich-Sprendlingen

Bei l agenh inwe i s : Diesem Heft licg(;n Prospekte der Encyclopaedia Britannica, Diisseldorf, und des Springer Verlagcs, Wien • N e w York, boi.

Page 10: DUNCKER & HUMBLOÏ / BERLIN...Es ist klar, daB wir aus Grûnden der Gerechtigkeit oder Gleichbehand lung eine Verteilung von 2,2,2 eincr von 3,3,0 vorziehen werden, wenn 6 Einheiten