20

dXkX - pubengine2.s3.eu-central-1.amazonaws.com · Keine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung. Dr. Agnes Holling (Vechta), Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens (M n- chen) und

Embed Size (px)

Citation preview

Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata

Kaiser-Titelei.indd 1 14.04.2008 08:37:15

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

Praxis der Paar- und FamilientherapieBand 6 Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata von Prof. Dr. Peter Kaiser

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Manfred Cierpka, PD Dr. Astrid Riehl-Emde, Dr. Martin Schmidt, Prof. Dr. Klaus A. Schneewind

Kaiser-Titelei.indd 2 14.04.2008 08:37:15

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

von

Peter Kaiser

Therapeutische Wirkfaktoren und Wirkdimensionen

GÖTTINGEN · BERN · WIEN · PARIS · OXFORD · PRAG TORONTO · CAMBRIDGE, MA · AMSTERDAM · KOPENHAGEN

Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata

Kaiser-Titelei.indd 3 14.04.2008 08:37:15

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

Prof. Dr. Peter Kaiser, geb. 1950. 1970-1976 Studium der Psychologie und Philosophie in Hei-delberg. 1982 Promotion. 1989 Habilitation. 1979-1991 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent an der Universität Oldenburg. 1991-2005 Professor für Psychologie an der Katholi-schen Fachhochschule Osnabrück. 1999 Approbation als Psychotherapeut. Seit 2005 Universi-tätsprofessor für Psychologie an der Hochschule Vechta. Leiter des Arbeitsbereichs Klinische Psychologie und Psychotherapie des Instituts für Familienpsychologie sowie der Familienthe-rapeutischen Ambulanz Oldenburg. Forschungsschwerpunkte: Psychologie der Mehrgeneratio-nenfamilie und anderer sozialer Systeme.

Umschlaggrafik: Gabriele von Roden, Göttingen Satz: Grafik-Design Fischer, WeimarDruck: Druckerei Kaestner, RosdorfPrinted in GermanyAuf säurefreiem Papier gedruckt ISBN 978-3-8017-2131-2

http://www.hogrefe.de Aktuelle Informationen • Weitere Titel zum Thema • Ergänzende Materialien

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbe-sondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGGöttingen • Bern • Wien • Paris • Oxford • Prag Toronto • Cambridge, MA • Amsterdam • KopenhagenRohnsweg 25, 37085 Göttingen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Kaiser-Titelei.indd 4 14.04.2008 08:37:16

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

Teil IPsychologie neuropsychischer Schemata

1 Neuropsychische Schemata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

1.1 Biopsychosoziale Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81.2 Neuropsychische Schemata als Basis innerer Modelle

und Lebenskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

Teil IIDie Mehrgenerationenfamilie und ihre Subsysteme

2 Lebensqualität der Mehrgenerationenfamilieund transgenerationale Interaktionen . . . . . . . . . . . . . . . 28

2.1 Kernfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342.2 Einelternfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352.3 Stieffamilien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372.4 Pflege- und Adoptivfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382.5 Familien mit behinderten oder chronisch kranken

Angehörigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392.6 Polygame Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

3 Transgenerationale Entwicklungund Familienzyklus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

3.1 Die Generationenfolge: Genetische und soziale Vererbung . . . 423.2 Entwicklung im Familienzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

V

01 Kaiser_Teil I-III 07.04.2008 17:23 Uhr Seite V

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

4 Transgenerationale Interaktionen undfamiliale Funktionsfähigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

4.1 Werte, Normen und Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494.2 Familienwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514.3 Familiale Lebenskonzepte und Modellvorstellungen . . . . . . . . 514.4 Kommunikations-, Entscheidungs- und Steuerungsstrukturen. . . 584.5 Rollen-, Ressort- und Aufgabenverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . 634.6 Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664.7 Beziehungs- und Bindungsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694.8 Beitrag der Subsysteme und Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . 754.8.1 Systemische Funktionsfähigkeit der Paar- und Elterndyaden . . . . 754.8.2 Kompetenz der Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784.9 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

5 Umweltbedingungen verschiedener Ebenen . . . . . . . . 86

5.1 Makroebene: Transgenerationale Effekte deutscher Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

5.2 Mesoebene: Transgenerationale Effekte der Arbeitswelt . . . . . 905.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

6 Zur Prozessqualität transgenerationalerInteraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

6.1 Zufriedenheitsfaktoren des Familienlebens . . . . . . . . . . . . . . . . 926.2 Unzufriedenheitsfaktoren des Familienlebens. . . . . . . . . . . . . . 936.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

7 Ergebnisqualität transgenerationalerInteraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

7.1 Auswirkungen von Abwesenheit und Verlust von Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

7.2 Auswirkungen von Trennung und Scheidung . . . . . . . . . . . . . . 987.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Teil IIIAnalyse und Optimierung familialer Interaktionen

8 Psychologische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

8.1 Historische Entwicklung der Mehrgenerationen-familientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

8.2 Systemische und genografische Mehrebenenanalyse . . . . . . . . 109

VI

01 Kaiser_Teil I-III 07.04.2008 17:23 Uhr Seite VI

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

8.3 Zukunftsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1198.4 Analyse und Optimierung neuropsychischer Schemata . . . . . . 1218.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

9 Qualitätsaspekte im therapeutischen Prozess . . . . . . . 126

9.1 Methodenprobleme in der Psychotherapieforschung . . . . . . . . 1269.2 Hauptergebnisse der Therapieforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1299.3 Wirkfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1329.4 Wirkdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1479.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

Teil IVPraktisches Vorgehen

10 Psychologische Strategien und Methoden . . . . . . . . . . 162

10.1 Klärungsorientierte Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16210.2 Aufstellen von Familienskulpturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16610.3 Kompetenztraining. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17010.4 Konfliktmanagement und Mediation zwischen

den Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17210.5 Umgang mit schwierigen Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17510.6 Medikamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17710.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

11 Praktische Fragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

11.1 Ethische und rechtliche Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17911.2 Auswahl der professionellen Settings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18011.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

12 Rahmenbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

12.1 Zeitlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18612.2 Formen von Co-Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18712.3 Therapeutischer Systemkontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18812.4 Fort- und Weiterbildung, Supervision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18812.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

VII

01 Kaiser_Teil I-III 07.04.2008 17:23 Uhr Seite VII

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

Vorwort

In den letzten Jahren habe ich viel darüber nachgedacht, wie Psycho-therapie und Gesundheitsförderung mit Einzelpersonen, Paaren und Fa-milien stärker von der familienpsychologischen Forschung und die Arbeitmit Paaren und Familien stärker von neuro-, entwicklungs- und persön-lichkeitspsychologischen Erkenntnissen profitieren können. Forschung,Praxis und Literatur zu Psychotherapie und Familientherapie nehmen ja traditionell wenig Kenntnis von den Erkenntnissen der akademischenPsychologie. Entwicklung und Lebensqualität des Individuums sind nichtisoliert von seiner Familie zu sehen. Umgekehrt funktioniert das Zu-sammenleben im Verband der Mehrgenerationenfamilie nur aufgrundder Beiträge der Angehörigen. Familienpsychologische und individu-elle (neuro-)psychische Funktionen interagieren in faszinierender Weise.Meine eigenen wissenschaftlichen und praktischen Erfahrungen habenmir immer wieder gezeigt, wie fruchtbar auf der einen und wie schwie-rig es auf der anderen Seite sein kann, diese Bereiche systematischer mit-einander zu verbinden. Dennoch können Klienten und Öffentlichkeit mitRecht erwarten, dass Gesundheitsförderung, Paar- und Familientherapieund Psychotherapie nach dem jeweils neuestem Stand der Erkenntnis inallen für sie relevanten Forschungsbereichen gestaltet und in wirksamerund ökonomischer Weise angeboten werden. Ich möchte daher versu-chen, wichtige Perspektiven und Befunde aus Familienpsychologie, Neu-ropsychologie und anderen Bereichen der Psychologie sowie der The-rapieforschung überschaubar zu machen, miteinander in Verbindung zubringen und für die Praxis aufzubereiten. Dabei konnte ich auf verschie-dene eigene Schriften der vergangenen Jahre zurückgreifen. Um den Rah-men überschaubar zu halten, wurden nur die wichtigsten Quellen und Be-funde ausgewählt. Für Anregungen, Korrekturen und Ergänzungen bin ichdankbar.

Herzlich danken möchte ich Herrn Prof. Dr. Klaus A. Schneewind undHerrn Dr. Martin Schmidt (München) für die Einladung, diesen Band zuschreiben, die gute Zusammenarbeit und die freundliche Unterstützungsowie Herrn Dr. Vogtmeier vom Hogrefe Verlag für die freundliche undkompetente Betreuung. Frau cand. psych. Phoebe Fleischer danke ichfür die Bearbeitung des Stichwort- und des Literaturverzeichnisses. Prof.

1

01 Kaiser_Teil I-III 07.04.2008 17:23 Uhr Seite 1

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

Dr. Agnes Holling (Vechta), Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens (Mün-chen) und Petra Münich danke ich für ihre hilfreichen Kommentare undihre Ermutigung.

Vechta und Oldenburg, im September 2007 Peter Kaiser

2

01 Kaiser_Teil I-III 07.04.2008 17:23 Uhr Seite 2

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

Einleitung

Noch bevor eine weiter reichende klinische Forschung zu transgeneratio-nalen Interaktionen einsetzen konnte, wandten sich die meisten Familien-therapeuten der konstruktivistischen „Kybernetik II. Ordnung“ zu (z. B.Boscolo et al., 1988; Tomm, 1996). Diese fand zu systemisch-paradoxalen,narrativen und lösungsorientierten Verfahren, die sich nicht mehr für his-torische (diachrone) Entwicklungen interessierten (z. B. Talmon, 1996). DieZauberformel lautete nun, die Lösung habe mit dem Problemhintergrund we-nig zu tun, man müsse nur einen neuen „Dreh“ finden, um selbst schwie-rigste Probleme und schwere psychische Störungen zu beseitigen. Auf dieseWeise hoffte man damals sogar, Schizophrene in fünf bis sechs Sitzungenheilen zu können, so Mara Selvini Palazzoli 1987 in einem Interview. Ätio-logische Denkweisen waren „out“, die Familiengeschichte uninteressant(vgl. auch Buchholz, 1995). Die so entstandene Lücke füllte alsbald derTheologe und ehemalige Missionar Bert Hellinger, der auf ebenso unbe-kümmerte wie virtuose Weise die Bedeutung seiner „Ordnungen der Liebe“(1994), des familialen Erbes und Schicksals reklamierte (vgl. z. B. Simon &Retzer, 1998). Der kometenhafte Aufstieg dieses „Baghwan“ der 90er Jahreund seine Massenwirkung zeigen eindrücklich das verbreitete Bedürfnisnach intensiver Beschäftigung mit familialem Erbe, das von der seriösenPsychotherapie bzw. Familienpsychologie anscheinend nicht genügend be-dient wird.

Parallel zu dieser Entwicklung fanden Familie und transgenerationale Inter-aktionen zunehmendes Interesse in der sozialwissenschaftlichen und derentwicklungs- und sozialpsychologischen Forschung. Die Mehrgeneratio-nenfamilie ist ja für die Mehrzahl der Menschen die wichtigste Primär-gruppe und von zentraler Bedeutung für Entwicklung und Sozialisation,für Gesundheit und Wohlergehen: Hier werden genetisches wie sozialesErbe und folglich auch familiale Muster weitergegeben. Die Interaktion derAngehörigen ist zeitlebens meist eng. Befunde über die transgenerationaleTradierung von Bindungsverhalten, sozialer Kompetenz oder Scheidungs-anfälligkeit bereichern das Wissen über familiale Lebensqualität und dieHintergründe psychosozialer Störungen.

Die neuere Hirnforschung erweiterte unser Wissen entscheidend um Er-kenntnisse über Genexpression sowie die Eigendynamik und Plastizitätneuronaler Strukturen, die dem mehrgenerationalen Systemkontext für die

3

01 Kaiser_Teil I-III 07.04.2008 17:23 Uhr Seite 3

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

frühe wie die lebenslange Entwicklung des Menschen zusätzliche Bedeu-tung verleihen. Genetisches und soziales Erbe verschmelzen im Familien-erbe. Für die Gesundheits- und Entwicklungsförderung wie für die Psycho-therapie ergeben sich hier neue Herausforderungen.

Sollen die Befunde der Grundlagenforschung für die therapeutische Pra-xis genutzt werden, müssen wir uns fragen, wie wirksam, effektiv und ef-fizient dies der Lebensqualität der Betroffenen zugute kommt. Den Befun-den der Evaluationsforschung zufolge haben Interventionsverfahren derverschiedenen Schulen weniger Bedeutung für den Interventionserfolg alsden verschiedenen Verfahren gemeinsame Wirkfaktoren und Wirkdimen-sionen, mit denen wir uns näher zu beschäftigen haben (vgl. Kap. 9.2). Datherapeutisches Denken und Handeln in Systemzusammenhängen unter-schiedlicher Ebenen und Zeitepochen wegen seiner Komplexität zügigerErforschung nicht so leicht zugänglich ist, klaffen in diesem Feld beträcht-liche Forschungslücken. Gleichwohl stehen professionelle Helfer vor derAufgabe, auf Basis der jeweiligen Forschungslage möglichst gute Arbeitzu leisten. Dies bedeutet, sich an der Lebensqualität der Patienten und ihrerAngehörigen zu orientieren (The WHOQOL Group, 1995; Zapf, 1984; Kai-ser, 1989; Bullinger et al., 2000). Die Kriterien hierfür ergeben sich für dieBeteiligten aus ihren individuellen und familialen Bedürfnissen, mit denenwir uns noch ausführlich zu befassen haben (vgl. Kap. 1).

4

Abbildung 1:Strukturschema individueller und familialer Lebensqualität

Qualität der individuellen und Systemstrukturen

Zukunftsperspektiven –

Transgenerationelle Perspektiven

Prozessqualität

Ergebnis: Lebensqualität im Systemkontext

Zufriedenheitsfaktoren Unzufriedenheitsfaktoren

Umstände Einstellungen

01 Kaiser_Teil I-III 07.04.2008 17:23 Uhr Seite 4

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

Wie in der Qualitätsforschung üblich, werde ich im Folgenden Struktur-und Prozesskomponenten unterscheiden, die im Ergebnis die Qualität derGenerationenbeziehungen und die Lebensqualität der einzelnen Angehöri-gen mit ihren neuropsychischen Schemata bestimmen.

Von der Ergebnisqualität sind dann die Kontaktdichte und die Stabilität derBeziehungen abhängig, was wiederum von Umständen sowie Einstellun-gen der Beteiligten beeinflusst wird (vgl. Abb. 1; vgl. Donabedian, 1980;Paulus, 1994; Bradbury & Karney, 1998; Braukhaus et al., 2000; Kaiser,2006a, b).

Betrachten wir die Lebensqualität der einzelnen Angehörigen einer Mehr-generationenfamilie, so werden sich möglicherweise sehr unterschiedlicheBewertungen ergeben.

Überblick

In Teil I stelle ich zunächst neuere Ansätze und Befunde zur Psychologieneuropsychischer Schemata dar. Am Umgang mit den Grundbedürfnissenin der Familie entscheidet sich sehr früh, welche Schemata, und sodann,welche Lebenskonzepte und Modellvorstellungen das Individuum entwi-ckeln kann. Diese Erfahrungen haben Auswirkungen auf die Persönlich-keits- und Kompetenzentwicklung und den späteren Beitrag des Individu-ums zur systemischen Funktionsfähigkeit der Familie.

Um die Interaktionen zwischen den Generationen genauer zu erfassen, habeich in Teil II in den Kapiteln 3 bis 7 wichtige Ansätze und Befunde überdie Psychologie der Familie und die komplexen Wechselwirkungen zwi-schen deren Subsystemen und Angehörigen verschiedener Generationenaufbereitet. Jeder Familientyp hat ja seine Besonderheiten, die für die Le-bensqualität der Angehörigen relevant sind.

Familie ist kein statisches Phänomen, sondern befindet sich in stetiger Ent-wicklung im Lebensverlauf der Angehörigen, des Familienzyklus und derGenerationenfolge. Die dabei entstehenden Herausforderungen kennzeich-nen strukturelle Konstellationen familialen Lebens, die ich im 3. Kapitelbehandle. Im Anschluss daran, gebe ich einen Überblick über wichtige De-terminanten familialer Funktionsfähigkeit des Familienverbandes und derSubsysteme sowie individueller Beiträge der Angehörigen.

Dass Strukturen und Entwicklungsverläufe in Mehrgenerationenfamilien inverschiedenen Epochen durch Umweltgegebenheiten verschiedener Ebenenwesentlich geprägt werden, zeigt sich in Kapitel 5 v. a. am Beispiel der NS-Zeit sowie des Arbeitslebens. Da in der therapeutischen Arbeit der kon-kreten Familiengeschichte ohnehin genauer nachzugehen ist, belasse iches bei einer exemplarischen Beleuchtung eines Makro- und eines Meso-bereichs.

5

01 Kaiser_Teil I-III 07.04.2008 17:23 Uhr Seite 5

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

Wie bei der Qualitätsanalyse üblich, ziehe ich aus den vorliegenden Befun-den Schlussfolgerungen für die Ermittlung der Prozessqualität familialenLebens (vgl. Kap. 6). Dabei unterscheide ich zwischen Zufriedenheitsfak-toren und Unzufriedenheitsfaktoren, die vor dem Hintergrund der intra-und extrafamilialen Strukturen und Vorgeschichte zu sehen sind. Aus Vor-geschichte, Strukturen und Prozessen ergibt sich schließlich die Ergebnis-qualität des aktuellen Lebens, die ich am Beispiel der Effekte kritischerLebenssituationen und Verläufe darstelle (vgl. Kap. 7).

Das im I. und II. Teil präsentierte Grundlagenwissen erleichtert, relevanteneuropsychische Schemata und transgenerationale Interaktionen aufzuspü-ren und im Zusammenhang zu bearbeiten. Dies kann präventiv oder kura-tiv, mit Einzelnen, Paaren oder kompletten Mehrgenerationenfamilien ge-schehen. Mittels ausführlicher Fallbeispiele werden jeweils Ansatzpunktefür geeignete Interventionen aufgezeigt, die im II. Teil näher behandeltwerden.

Im III. Teil gehe ich zunächst auf die wesentlichen Zugangsweisen zu trans-generationalen Interaktionen ein: Ich stelle unsere Konzeption der Geno-grafischen Mehrebenenanalyse dar, die ich mit ausführlichen Fallbeispielenunterlegt habe. Aus den Befunden dieser Analysen werden dann therapeu-tische Schlussfolgerungen gezogen und zur Optimierung der Lebensquali-tät mit Zukunftsperspektiven verknüpft, die mit der Methode der Zukunfts-arbeit ermittelt werden. Gute Zukunftsperspektiven lassen sich individuellnur realisieren, wenn die neuropsychischen Schemata des Individuums dazukompatibel sind. Daher beschäftigen wir uns ausführlich mit Analyse undVeränderung neuropsychischer Schemata (vgl. Kap. 8.4). Dabei rückenauch Qualitätsaspekte therapeutischer Prozesse ins Blickfeld.

Werden zur wissenschaftlichen Fundierung professioneller Interventionverschiedene Methoden der Evaluationsforschung herangezogen, so istauch zu prüfen, wie es um die Qualität dieser Methoden bestellt ist. Hiergibt es einen „Goldstandard“, von dessen Glanz man sich aber nicht blen-den lassen sollte. Daher habe ich wichtige Fragen der Evaluationsforschungzusammengestellt und kommentiert. Nach den Methoden beschäftigen wiruns dann mit Inhalten und Ergebnissen der Therapieforschung, die fürunsere praktische Arbeit wichtige Orientierungshinweise liefern. Die viel-fältigen Befunde haben eine Reihe von Wirkfaktoren und Wirkdimensio-nen ergeben, mit denen sich die Erfolgswahrscheinlichkeit professionel-ler Arbeit zum Vorteil der Klienten verbessern lässt. Im Anschluss daranhabe ich im IV. Teil bewährte Strategien und Arrangements beschrie-ben, die für die Praxis nützlich sein können. Daraus kann man sich für denEinzelfall geeignete Gesichtspunkte und Vorgehensweisen zusammen-stellen.

In einem Epilog habe ich Überlegungen zur weiteren Erforschung der unsinteressierenden neuropsychischen und familialen Interaktionen, zur The-

6

01 Kaiser_Teil I-III 07.04.2008 17:23 Uhr Seite 6

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

rapieforschung sowie zur Gesundheitsförderung und Prävention angestellt.Weiterhin habe ich versucht, Schlussfolgerungen für Aus- und Weiterbil-dung sowie Supervision zu ziehen. Je mehr wir über Determinanten vonLebensqualität und therapeutische Prozesse wissen, desto höher werden jadie Ansprüche an die Qualität professioneller Arbeit.

7

01 Kaiser_Teil I-III 07.04.2008 17:23 Uhr Seite 7

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

Teil I Psychologie neuropsychischer Schemata

Psychologische Arbeit zur Verbesserung individueller und familialer Lebens-qualität verspricht umso mehr Erfolg, je mehr relevante Facetten dabei Be-rücksichtigung finden. Ein forschungsgestützter Klärungsprozess kann An-gehörigen und Therapeuten helfen, die Situation genauer zu erkunden undHintergründe zu erhellen. Im Vordergrund steht dabei das heuristische Ver-stehen jedes Angehörigen ebenso wie des gesamten Familiensystems, um dieLebensqualität anhand empirisch ermittelter Wirkfaktoren und Wirkdimen-sionen verbessern zu helfen (vgl. Teil III). Eine wesentliche Dimension in-dividueller Entwicklung im Systemkontext der Mehrgenerationenfamilie istder Aufbau der neuropsychischen Mechanismen, die Handeln und Erlebensteuern und die später auf das Funktionieren der Familie zurückwirken.

1 Neuropsychische Schemata

Schemata gelten als Grundeinheiten psychischer Prozesse und verdienenwegen ihrer therapeutischen Bedeutung besondere Aufmerksamkeit. Sche-mata sind mentale Strukturen oder innere Modelle, die mittels automati-siert ablaufender Reaktionsmuster ermöglichen, Lebenssituationen und Auf-gaben leichter zu bewältigen. Schemata entwickeln sich in der Interaktionmit der (v. a. familialen) Umwelt und liegen dieser zugrunde. Schemata ent-stehen, indem Erfahrungen zu komplexen neuropsychischen Netzwerkenverbunden werden. Wegen der bedeutsamen neurophysiologischen Kom-ponenten mit ihrer ausgeprägten Eigendynamik spreche ich im Folgendenvon „neuropsychischen“ Schemata. Sind sie auf positive Befriedigung inden Hirnstrukturen angelegter Grundbedürfnisse gerichtet, werden sie An-näherungsschemata, sind sie auf Vermeidung von Verletzung, Enttäuschungoder Bedrohung spezialisiert, werden sie Vermeidungsschemata genannt(Grawe, 2004). Zu einzelnen neuropsychischen Schemata gehören jeweilsentsprechende Erwartungen und Verhaltensrepertoires mit den zugehörigenneuronalen und physiologischen Substraten, die im Laufe der Entwicklungimmer differenzierter werden. Dabei spielen Veranlagung und Entwick-lungsbedingungen eine wesentliche Rolle.

1.1 Biopsychosoziale Grundlagen

Die Hirnforschung der letzten 20 Jahre hat gezeigt, dass genetische Anla-gen und Hirnstrukturen das Individuum keineswegs so starr festlegen, wiehäufig angenommen. Man darf heute von einer erheblichen Formbarkeit

Annäherungs-und

Vermeidungs-schemata

8

01 Kaiser_Teil I-III 07.04.2008 17:23 Uhr Seite 8

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

neuronaler Strukturen durch Erfahrungen ausgehen. Grawe hat in seinemletzten Buch daraus den Schluss gezogen, Psychotherapie könne nur wirk-sam sein, weil die neuropsychischen Strukturen eine hohe Plastizität auf-weisen. Wenn Psychotherapie keine neuropsychischen Veränderungen her-beiführe, sei sie auch nicht wirksam (Grawe, 2004). Diese Erkenntnis giltfolglich auch für Gesundheits- und Entwicklungsförderung, schließlich fürjegliches Lernen.

Vereinfacht ausgedrückt, erzeugen Gene Proteine, die steuern, wie Ner-venzellen sich entwickeln und sich miteinander „verschalten“. Neben denallen Menschen gemeinsamen artspezifischen Genen gibt es solche, die zueinzigartigen Merkmalsausprägungen führen und sich umwelt-/erfahrungs-abhängig in spezifischer Weise auswirken. Diese genetischen Anlagen sindals Potenziale bzw. Risikofaktoren zu betrachten, die indes nur zur Wir-kung gelangen, wenn entsprechende Entwicklungsbedingungen vorliegen(Genexpression; Rowe, 1997; Spitzer, 2002; Bauer, 2002; LeDoux, 2003).Zu den wichtigsten Einflussgrößen gehören familiale Strukturen und Pro-zesse, die über Sinneserfahrungen Leben und Entwicklung der Angehöri-gen prägen. Zugleich tragen die Angehörigen zur Gestaltung dieser Struk-turen und Prozesse im Rahmen autopoietischer (von griech. autos = selbst,poiem = schaffen) Systeminteraktionen aktiv bei.

Abbildung 2:Anlage, Umwelt und Synapsen (LeDoux, 2003, S. 13)

Die synaptische Struktur des Gehirns entwickelt und verändert sich auf derGrundlage des genetischen Potenzials durch Sinneseindrücke d. h. Lebens-erfahrungen (vgl. Abb. 2). Ob Synapsen durch Gene oder Umwelt beein-flusst werden, ist dabei gleichgültig, letztlich kommt es auf die synapti-schen Strukturen an, die sich interaktiv entwickeln (LeDoux, 2003).

Manche Menschen haben eine genetisch bedingte Tendenz zu negativenEmotionen und zur leichten Aktivierbarkeit des Vermeidungssystems (Tel-legen et al., 1988). In welchem Maße sich diese angeborene Tendenz durch-setzen kann, hängt von der Expression bestimmter Gene durch externe

Plastizität neuro-psychischerStrukturen

FrühkindlicheSchädigungenals Risiko-faktoren

Genexpression

9

Anlage Umwelt

Synapsen

Mentale Prozesse und Verhalten/Persönlichkeit

01 Kaiser_Teil I-III 07.04.2008 17:23 Uhr Seite 9

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

Stimulation ab. Zu den Genen, deren Expression beeinflussbar ist, gehörtdas von Lesch et al. (1996) identifizierte Serotonin-Transporter-Gen. BeiMenschen mit dem weniger effizienten „kurzen“ HTT-Allel kommt eswahrscheinlich aufgrund geringerer Expression dieses Gens zu einer ver-minderten Serotoninproduktion. Serotonin ist ein Neurotransmitter mit aus-gleichender, beruhigender Wirkung. Ein Kind mit einem kurzen Allel desSerotonintransporter-Gens ist daher schwer zu beruhigen und stellt höhereAnforderungen an seine Betreuer, die mit dem „schwierigen“ Kind leichtüberfordert sind.

Die Entwicklung grundlegender Regulationsprozesse und Strukturen imneurophysiologischen System vollzieht sich in den ersten Lebensjahren.Erfahrungen unkontrollierbarer Frustration, d. h. Inkongruenz von Bedürf-nissen und deren Befriedigung, sind regelmäßig von einer Ausschüttungvon Stresshormonen begleitet: So kommt es zu Schädigungen des Gehirnsdurch einen dauerhaft zu hohen Cortisolspiegel. Die damit verbundeneGlutamatproduktion führt insbesondere zu einer Schrumpfung des Hippo-campus, was die Bildung expliziter Gedächtnisinhalte sowie die Orientie-rung in Raum und Zeit beeinträchtigt. Dadurch kann es gegebenenfalls zuüberschießenden emotionalen Reaktionen kommen (LeDoux, 2003; Grawe,2004). Durch die dauernden Bahnungen werden die Synapsen in den fürnegative Emotionen zuständigen Hirnregionen immer leitfähiger und ent-wickeln sich in besonderem Maße (vgl. Abb. 3). Betroffen sind v. a. Re-gionen der Amygdala und der ventromediale und dorsolaterale Teil desrechten präfrontalen Cortex (PFC). Im Alter von zehn Monaten hat sichaus dieser Anlage und diesen Lebenserfahrungen bereits eine dauerhafteneuronale Struktur ausgebildet; diese erlaubt vorherzusagen, wie das Kindkünftig auf belastende Situationen reagieren wird (Costa & McCrae, 1988;Bauer, 2002; Grawe, 2004). Bei andauernder unkontrollierbarer Inkon-gruenz kann das Behavioral Inhibition System leicht aktiviert werden,und es kommt zu einer lebenslang erhöhten Anfälligkeit für Stress (vgl.Kap. 1.1): Heim et al. (2000) haben z. B. bei missbrauchten Frauen eineum das Sechsfache erhöhte Stressreaktion auf mittlere soziale Belastungengefunden. Viele dieser Frauen waren depressiv, was mit Hippocampus-atrophie einhergeht. Solche Erfahrungen werden über neuronale Vernet-zungen in impliziten Gedächtnissystemen gespeichert und sind prinzipiellnicht erinnerbar und im expliziten Funktionsmodus nicht wahrnehmbar.Diese impliziten Strukturen bestimmen Erleben und Verhalten maßgeblich.Weil implizite Gedächtnisinhalte nicht erinnerbar sind, können Patientenüber die wirklichen Grundlagen ihrer Störungen nur in sehr eingeschränk-tem Umfang Angaben machen. Hat ein Kind mit Anlagen zum Vermei-dungstemperament eine kompetente feinfühlige Mutter, die sich zuverläs-sig liebevoll zuwendet und sich nicht durch seine negativen Emotionenirritieren lässt, hat es trotz seiner schlechten Voraussetzungen die Chance,sein Bindungs- und Kontrollbedürfnis zu befriedigen. Auch wenn ein Kind

Hirnschädendurch Stress

10

01 Kaiser_Teil I-III 07.04.2008 17:23 Uhr Seite 10

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

ein kurzes Allel des Serotonintransporter-Gens geerbt hat, ist eine Expres-sion der serotonergen Funktion nicht unmöglich. Dieser genetische Nach-teil kann und sollte durch optimierte Sozialisationsbedingungen ausge-glichen werden: Wenn das Kind über einen längeren Zeitraum hinwegpositive Bindungs- und Kontrollerfahrungen machen kann, können sichgleichwohl eine gute Stresstoleranz und Emotionsregulation, positive neu-ronale Strukturen und Regulationsmechanismen entwickeln. So kann eslebenslang resistenter gegen Belastungen bleiben, als dies bei günstigenErbanlagen mit einer weniger fürsorglichen Mutter der Fall wäre (Grawe,

Ausgleich genetischerNachteile

11

Abbildung 3:Entwicklung von Stresserfahrungen zu dauerhaften Hirn- und Erlebnisstrukturen

(Kaiser, 2006b; vgl. Bauer, 2002; LeDoux, 2003; Grawe, 2004)

Erfahrungen unkontrollierbarer emotionaler Mangelzustände

Ausschüttung von Stresshormonen, Anschaltung der Stressgene, Abschaltung des Immunsystems

kurzes Allel des Serotonintransporter-Gens (ererbte Anlage)

kaum Selbstberuhigung möglich; dauernde Bahnungen von Erregung

immer übertragungsbereitere Synapsen v. a. der Amygdala und des ventro-medialen und dorsolateralen Teils des rechten präfrontalen Cortex

dauerhaft zu hoher Cortisolspiegel

Schädigungen des Gehirns: Schrumpfung des Hippocampus, Bildung expliziter Gedächtnisinhalte und Verortung in Raum und Zeit beeinträchtigt

überschießende emotionale Reaktionen, hohe Erregungsbereitschaft

dauerhafte neuronale Struktur und Vernetzungen in impliziten Gedächtnis-systemen bereits im Alter von zehn Monaten gespeichert –

prinzipiell nicht erinnerbar und im expliziten Funktionsmodus nicht wahrnehmbar

ungünstige neuronale Strukturen und Regulationsmechanismen, niedrige Belastbarkeit; lebenslang erhöhte Anfälligkeit für Stress,

Depressionen und andere psychische Störungen

➞➞

➞➞

➞➞

➞➞

01 Kaiser_Teil I-III 07.04.2008 17:23 Uhr Seite 11

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.

Psychische Grundbedürfnisse (Epstein & Morling, 1995)

– Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle– Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung– Bedürfnis nach Selbstwertsteigerung– Bedürfnis nach Bindung

2004). Wird nach der Geburt z. B. eine intensivmedizinische Behandlungdes Kindes erforderlich, ist eine räumliche Trennung von der Mutter viel-fach unvermeidbar. In diesem Falle können sich bereits traumatische Bin-dungsverluste einstellen, die emotionale Mangelzustände auslösen und dieEntwicklung der Gehirnstrukturen über eine Fehlentwicklung der Neuro-nenverbindungen einschränken. Dadurch kann wiederum das Immunsys-tem beeinträchtigt werden.

Gesundheitliche Mangelzustände des Kindes können wiederum bei denAngehörigen erheblichen Stress auslösen (Schepank, 1987; Birbaumer &Schmidt, 1996; Bauer, 2002; LeDoux, 2003; Grawe, 2004; Hagedorn, 2006).

Die Bedeutung der Veranlagung und früh erworbener Dispositionen nimmtim Lebensverlauf zu, weil das Individuum sich Nischen sucht, die zu sei-nen Dispositionen passen (Rowe, 1997). Daher kommt frühzeitiger Inter-vention ein hoher Stellenwert zu, um günstige Entwicklungen zu fördernund ungünstige Genexpression möglichst zu verhindern. Dies wird aller-dings erschwert, wenn Erfahrungen in impliziten Gedächtnissystemengespeichert sind, was über prinzipiell nicht erinnerbare neuronale Vernet-zungen geschieht (Grawe, 2004). Beispiele sind prä- und perinatale Be-einträchtigungen: Während der Schwangerschaft oder im Laufe der Geburt(perinatal) kommt es nicht selten durch mechanische Einwirkungen, Unter-brechung der Sauerstoffzufuhr, Stress oder ähnliche Komplikationen zuSchädigungen des Fötus, die sich später in Form besonderer Reizbarkeitbemerkbar und den Umgang mit dem Kind schwierig machen können (Sche-pank, 1987, 1996; Saum-Aldehoff, 1998; Rowe, 1997; Cicchetti, 1999; Ha-mer & Copeland, 1998; Mundlos, 2001; Rauh, 2002; Grawe, 2004; Brisch &Hellbrügge, 2005; Moehler et al., 2006). Ein „schwieriges“ Kind hat we-niger Belohnungswert für seine Betreuer und riskiert damit eine wenigergute Versorgung und Bedürfnisbefriedigung.

Angeborene neuronale Mechanismen machen bedürftig nach bestimmtenLebenserfahrungen, die als psychische Grundbedürfnisse bezeichnet wer-den. Diese sind im Gehirn in eigenen neuronalen Schaltkreisen verankert,die untereinander vernetzt sind und sich gegenseitig aktivieren, wenn einGrundbedürfnis bedroht ist. Aus angeborenen Grundbedürfnissen entwi-ckeln sich bald nach der Geburt die ersten umgebungsbezogenen Ziele.Epstein (1979, 1993; Epstein & Morling, 1995) unterscheidet vier empi-risch fundierte Psychische Grundbedürfnisse (vgl. Kasten).

12

01 Kaiser_Teil I-III 07.04.2008 17:23 Uhr Seite 12

Peter Kaiser: Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2008© 2008 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGKeine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfätigung.