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Edmund Husserls ethische Untersuchungen

Edmund Husserls ethische Untersuchungen - Springer978-94-010-3654-2/1.pdf · des Husserl-Archives, nach den en jeweils zitiert wird. Einige Vorbemerkungen zu dem Inhalt der Manuskripte

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Edmund Husserls

ethische Untersuchungen

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PHAENOMENOLOGICA COLLECTION PUBLIEE SOUS LE PATRONAGE DES CENTRES

D'ARCHIVES-HUSSERL

7

ALOIS ROTH

Edmund Husserls ethische Untersuchungen

DARGESTELLT AN HAND SEINER

VORLESUNGSMANUSKRIPTE

Comite de redaction de la collection: President: H. L. Van Breda (Louvain);

Membres: M. Farber (Buffalo), E. Fink (Fribourg en Brisgau), J. Hyppolite (Paris), L. Landgrebe (Cologne), M. Merleau-Ponty (Paris), P. Ricreur (Paris), K. H. Volkmann-Schluck (Cologne), J. Wahl (Paris);

Secr6taire: J. Taminiaux (Louvain).

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ALOIS ROTH

Edmund Husserls

etbiscbe Untersucbungen D ARGESTELL T ANHAND SEINER

VORLESUNGSMANUSKRIPTE

• MARTINUS NI]HOFF I DEN HAAG I 1960

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ISBN-13: 978-94-010-3656-6 .-ISBN-13: 978-94-010-3654-2 001: 10.1007/978-94-010-3654-2

Copyright I960 by Martinus Nijhoff, The Hague, Netherlands Soflcover reprint of the hardcover 1st edition 1960

4ll rights reserved, including the right to translate or to reproduce this book or parts thereat in any form

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INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung IX

ERSTES KAPITEL

DIE STELLUNG DER ETHIK 1M RAHMEN DER PHANOMENOLOGIE

§ 1. Das Grundanliegen der Philosophie als Phanome-nologie 1

§ 2. Die phanomenologische Methode 3 § 3. Gliederung und Aufbau 4

ZWEITES KAPITEL

DIE IDEE EINER REINEN ETHIK

('1. ABSCHNITT»

DIE REINE ETHIK ALS APRIORISCHE WISSENSCHAFT

§ 4. Subjektivistische Grundauffassungen in der Ethik 8 § 5. Lust und Wert 8 § 6. Die Staatslehre Hobbes' als eine "einseitige Kon-

struktion einer bloB egoistisch fundierten Sozia-lWit" 16

§ 7. Egoistischer (Eudamonismus) und altruistischer Uti-litarismus 19

§ 8. Die Widerlegung eines jeglichen ethischen Skepti-zismus 23

§ 9. Ethischer Psychologismus und die Idee einer reinen Ethik 26

(<II. ABSCHNITT»

DIE REINE ETHIK ALS WISSENSCHAFT VON DER

WERTENDEN UND WOLLENDEN VERNUNFT

("GEMUTSMOMENTE IN DER ETHIK")

§ 10. Idealistische Grundauffassungen in der Ethik 29

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VI INHALTSVERZEICHNIS

A. Rationalismus in dey Ethik

§ 11. Parallelisierung der Ethik mit der Mathemathik -Urteilende und praktische Vernunft 30

§ 12. Ethischer Rationalismus und Theologismus 32 § 13. Sachgesetze und Wesensgesetze 33 § 14. Die reine Ethik als Korrelat der praktischen Vernunft 35

B. Der Formalismus in der Ethik

§ 15. Das "Gefiihl" und die Konstitution des Ethischen 37 § 16. Das Vermogen des Gefiihls und die materiale Bestim-

mung des Willens 43 § 17. Die Fundierung der Idee einer rein en Ethik in einer

"Gefiihlslogik" 50

«III. ABSCHNITT»

GEFUHLSMORAL UND PHANOMENOLOGISCHE ETHIK

§ 18. Das Apriori des Emotionalen 52 § 19. Gefiihlsethik und eudiimonistischer Egoismus 53 § 20. Moral als Sonderfall des Asthetischen 55 § 21. Das Prinzip der Sympathie als Grundprinzip der

MoralWit 55 § 22. Das Verhiiltnis von Verstand und Gefiihl 57

«IV. ABSCHNITT»

DIE IDEE DER REINEN ETHIK ALS THEORETISCHE

UND NORMATIVE DISZIPLIN

§ 23. Die Idee der reinen Ethik 61 § 24. Die Begriindung der Analogie zwischen der Idee der

reinen Ethik und der Idee der reinen Logik 65 § 25. Die reine Ethik als theoretische und normative

Wissenschaft 67

§ 26. Der Wert

DRITTES KAPITEL

DIE ETHIK 1M AUFRISS

«1. ABSCHNITT»

DIE REINE AXIOLOGIE

A. Formale Axiologie

§ 27. Die formale Axiologie als Analogon der formalen

73

Logik 77

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INHALTSVERZEICHNIS

§ 28. Der Wert als formal axiologischer Gegenstand als solcher

VII

78 § 29. Wertverhaltnisse 83 § 30. Wertsteigerungsverhaltnisse 90 § 31. Wertsummation 93 § 32. Wertganze und Wertteile - Wertkomposition und

Wertproduktion 96 § 33. Die Idee eines "Wertekosmos" - Teleologie in for­

maIer Sicht - Summum bonum formaliter spectatum 101

B . Wert und "Wertnekmen"

§ 34. Objektive Wertgesetze und Normen des Wertens 105 § 35. Normen richtigen Wertens 106 § 36. Wert und Werterfassen 109

c. Materiale Axiologie

§ 37. Die Forderung eines materialen Apriori in der axio-logischen Sphare III

§ 38. Der regionale Gedanke in der Philosophie Husserls -Gliederung des Wertbereichs im Hinblick auf die Werttrager 112

§ 39. Die eigentliche materiale Wertordnung 116 § 40. Asthetische und ethische Werte 120

«II. ABSCHNITT»

DIE REINE PRAKTIK

§ 41. Axiologie und Praktik 123

A. Formale Praktik

§ 42. Normen vernunftigen Wollens und Strebens 124 § 43. "Richtiger" und "unrichtiger" Wille - Das "Sein-

sollende" 127 § 44. Die Komponenten des objektiv Gesollten 128 § 45. Das hochste Gut als Norm des Handelns 131 § 46. Der beste Wille 133 § 47. Der kategorische Imperativ 136 § 48. Die formale Bestimmung des kategorischen Impe-

rativs und seine Beziehung zum handelnden Subjekt 138

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VIII INHALTSVERZEICHNIS

B. M ateriale Praktik

§ 49. Das ethische Subjekt in seiner Totalitat und Einheit als wertendes und handelndes Subjekt 141

§ SO. Strebende Akte als motivicrtc Akte 143 § 51. Die Selbstbestimmung des 1eh als zentrale ethisehe

Aufgabe des Menschen 149 § 52. Ethisches Subjekt und Schicksal 154 § 53. Sittliehkeit und Gluekseligkeit 158 § 54. Die Vollendung des ethischen Subjektes als Glied

einer ethischen Sozialitiit 160

Schluss 164

Literaturverzeichnis 169

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EINLEITUNG

Das Husserlbild der Gegenwart ist noch weitgehend gepragt von den erkenntnistheoretischen "Logischen Untersuchungen", durch die Husserl in weitem MaBe als Begriinder einer neuen objektiven Logik gilt. Mitunter wird er sogar als einseitig orien­tierter Rationalist und Aufklarer des 20. J ahrhunderts, als der "Cartesius unserer Tage" 1 angesehen.

Dieses Bild Husserls kann wohl jederzeit durch seine Veroffent­lichungen gerechtfertigt werden. Dennoch ist es einseitig und recht vordergriindig, da dabei voll und ganz iibersehen wird, daB auch der Bereich des Emotionalen flir HusserI ein entscheiden­des Interessengebiet darstellt, wovon bislang so gut wie nichts veroffentlicht worden ist. Wohl werden in seinen Schriften gclegentlich Fragen der Wertlehre, der Asthetik und Ethik angeschnitten 2, aber eine eingehende Auseinandersetzung mit derartigen Fragen liegt in keinem der veroffentlichten Werke vor.

In Wirklichkeit aber war ihm die Begriindung einer echten wissenschaftlichen Ethik immer ein ernstes philosophisches An­liegen. Bereits vor den "Logischen Untersuchungen" beschaf­tigte sich Husserl mit ethischen Grundproblemen 3. Welche

1 Vgl. Briick, Maria, Dr. phil, Ubey das Verhiiltnis Hllsserls zu Franz Brentano, vor­nehmlich mit Rucksicht auf Brentanos Psychologie, 1933, S. 7. Husserl selbst hat die Phiinomenologie in den "Cartesianischen Meditationen" (Husscrliana, Bd. I, 1950, S. 43) als "fast einen Neu-Cartesianismus" bezeichnet und sich im Hinblick auf den Ansatz seiner Philosophie unmittelbar auf Descartes berufen: " ... Denn Frankreichs grofiter Denker Rene Descartes hat ihr (der Phiinomenologie; d. Verf.) durch seine Meditationen neue Impulse gegeben, ihr Studium hat ganz direkt auf die Umgestal­tung der schon im Werden begriffenen Phiinomenologie zu einer neuen Form der Transzendentalphilosophie eingewirkt".

2 Husserl, Edmund, Idem I, Halle 1913, S. 197,307 f. und: "Philosophie als strenge Wissenschaft", in: Logos, Internationale Zeitschrift fur Philosophic der KuUur, Bd. I, 1910/1911, Heft 3, S. 295 und 298.

3 Ms. F I 24, S. 211: "Diese analogisierenden Betrachtungen haben mich schon vor meinen "Logischen Untersuchungen" (gesp. d. d. Verf.) zum Problem der

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x EINLEITUNG

bedeutende Stellung im Rahmen seines Gesamtschaffens die Fragen der Ethik einnehmen, zeigen recht deutlich die Vor­lesungsverzeichnisse aus den J ahren seiner Lehrtatigkeit:

W.S. 1889/90 "Ethik" 3 Wochen­stunden

S.S. 1891 "Grundprobleme der Ethik" S.S. 1893 "Die Grundprobleme der Ethik" S.S. 1894 "Ethik und Rechtsphilosophie" S.S. 1895 "Ethik" S.S. 1897 "Ethik und Rechtsphilosophie" S.S. 1902 "Grundfragen der Ethik" W.S. 1903/04 "Philosophische Ubungen liber Kants

,Kritik der praktischen Vernunft' "

2 2 3 2 2 2

W.S. 1908/09 "Grundprobleme der Ethik" 2 S.S. 1909 "Philosophische Ubungen im AnschluB

an Kants ,Grundlegung zur Metaphysik der Sitten' und seine ,Kritik der prakti-

S.S. 1911

S.S.1914

S.S. 1914

S.S. 1919

S.S. 1920 S.S. 1924

schen Vernunft' " 2 "Grundprobleme der Ethik und Wert-lehre" 2 "Grundfragen der Ethik und Wert-lehre" 2 "Philosophische Ubungen im AnschluB an Kants ,Kritik der praktischen Ver­nunft' und ,Grundlegung zur Meta-physik der Sitten' " 2 "Grundprobleme der Ethik in philoso-phischen Ubungen" 2 "Einleitung in die Ethik" 4 "Grundprobleme der Ethik" 4

" " "

" "

"

" " 1 "

Von diesen Vorlesungen ist eine Reihe von Manuskripten vor­handen, deren Inhalt in der vorliegenden Arbeit im Hinblick auf eine Systematik bearbeitet werden 5011. Wir halten uns bei der

Konstitution einer formalen Praktik gefiihrt, und ich habe in meinen Gottinger Vor­lesungen seit 1902 zu zeigen versucht, daB in der Tat ein ernst zu nehmendes, wirklich fundament ales Desiderat vorliegt, dessen Erfiillung keineswegs aussichtslos ist".

IDie Aufstellung fuBt auf den Unterlagen des Husserl-Archivs.

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EINLEITUNG XI

Darstellung im einzelnen an die authentischen Transkriptionen des Husserl-Archives, nach den en jeweils zitiert wird.

Einige Vorbemerkungen zu dem Inhalt der Manuskripte sollen in aller Kiirze einen Einblick in das zu verarbeitende Material vermitteln, wobei die Quellen in der Reihenfolge ihrer Numerierung behandelt werden, die nicht mit der zeitlichen Aufeinanderfolge zusammenfallt.

Der Husserlsche NachlaB ist nach einem teils von Husserl selbst teils von den spateren N achlaBverwaltern ausgearbeiteten Schema gegliedert, wie sich am besten aus diesbeziiglichen Ver­offentlichungen 1 ersehen laBt. 1m Gesamt dieses Nachlasses sind unter dem Buchstaben F Husserls Vorlesungsmanuskripte zusammengefaBt, von denen die Manuskripte F I 11, 14,20,21, 23, 24 und 28 ethischen Fragen gewidmet sind.

Die maschinenschriftliche Transkription des Manuskriptes F I 11 tragt die Aufschrift: "Grundprobleme der Ethik" mit der offiziellen Datierung: Gottingen 1908/09. Das Original umfaBt 24 Blatter, die im April 1948 erfolgte Transkription 53 Seiten. HusserI hat spater den Text durch Anmerkungen erganzt und erweitert. Das Manuskript behandeIt zunachst Fragen der formalen Axiologie, das 'VerhaItnis zwischen Werten und Realitaten im allgemeinen und geht dann iiber zur Analyse der wertenden Akte. Das Grundproblem bildet die Konstitution von Gegenstandlich­keit iiberhaupt, damit in eins das Problem der Scheidung zwischen objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten und die Frage einer moglichen Objektivation durch die wertenden Akte.

Das Manuskript F I 14 tragt die Aufschrift: "Idee der ,philo­sophischen Disziplinen' " und diente als Einleitung zur Vorlesung "Grundprobleme der Ethik" im Sommersemester 1911 in Got­tingen. Das Original enthalt 45 Blatter, die Transkription 127. HusserI bezeichnet die Philosophie als die Idee vollkommenen Vernunftlebens iiberhaupt, und dieses Ideal schlieBt zugleich vollkommenes Wollen und Wert en ein, da die Vernunftarten nur verschiedene Seiten einer einzigen Vernunft sind. Die Ethik als philosophische Disziplin findet ihre Erfiillung in der Idee einer reinen apriorischen Ethik innerhalb der formalen Ontologien, die

1 Van Breda, Herman Leo, "Das Husserl-Archiv in Lowen", in: Zeitschrift fur Philosophische FOfschung, Bd. II Heft 1, 1947, S. 173.

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XII EINLEITUNG

in ihren teleologischen Strukturen auf eine apriorische Kon­struktion einer allervollkommensten Welt und in Korrelation dazu auf eine aHervollkommenste PersonaliHit verweisen. Diese wesensmaBige Korrelation zwischen Wirklichkeit und aktuellem BewuBtsein ist die Voraussetzung der Moglichkeit einer absoluten Erkenntnis, somit auch der Werterkenntnis. Darin griindet letztlich der Ansatz Husserls fUr die Ethik: die wesensnotwendige Analogie zwischen Logik und Ethik. Analog zur Logik ergibt sich daher auch fiir die Ethik die Notwendigkeit einer Scheidung in formaler und materialer Hinsicht. Mangels dieser reinlichen Scheidung bezeichnet Husserl die axiologischen und praktischen Disziplinen als auf einer vorphilosophischen Stufe befindlich 1.

Das zeitlich am weitesten zuriickliegende Manuskript ist mit F I 20 bezeichnet und tragt den Titel "Kritisches aus Ethik­Vorlesung, Sommersemester 1902". Es umfaBt im Original 98 Blatter, in der Transkription 292. Zunachst beginnt es mit einer kurzen Analyse des egoistischen und altruistischen Fiihlens und dem Problem des Opfers. AnschlieBende Notizen greifen die Frage des Ursprungs der moralischen Unterscheidungen und die Rolle des Gefiihls bei der Konstitution ethischer Werte auf und in der Folge den Parallelismus zwischen theoretischer und prakti­scher Vernunft. Wertende und wollen de Akte werden als Ver­nunftakte charakterisiert in Parallelitat zu den theoretischen Akten. Wie die Logik sich als Korrelat der letzteren erweist, so gelten notwendig Axiologie und Praktik (Ethik) alsdie Korrelate der wertenden und wollen den Vernunft, und wie fiir die Logik, so ist auch fUr jene die Unterscheidung in formale und materiale Disziplinen gefordert. AIle diese Fragen sind in dem genannten Manuskript nur sehr kurz angedeutet, den Hauptinhalt bildet vielmehr eine kritische Auseinandersetzung mit den subjekti­vistischen und idealistischen ethischen Theorien, vor aHem mit der Lehre Kants und Hume's, in der bereits die ersten konstitu­tiven Momente der ethischen Grundauffassung Husserls zutage treten, namlich die N otwendigkeit einer unbedingten Giiltigkeit ethischer Normen und Gesetze einerseits und die Beteiligung des "Gemiites" bei der Konstitution ethischer Gebilde andererseits. Deutlich wird hier bereits die Parallele zu den "Logischen Unter-

4 Ms. F 114, S. 119.

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EINLEITUNG XIII

suchungen" in Bezug auf den Kampf gegen den Psychologismus erkennbar.

Den Titel "Beilagen zu den Grundproblemen der Ethik (ins­besondere der formalen Ethik)" tragt das aus der Zeit des Winter­semesters 1908/09 und des Sommersemesters 1911 stammende Manuskript F I 21. Auch dieses im Original 68 und in der Tran­skription 179 Seiten umfassende Manuskript bietet keine ge­schlossene Abhandlung. Das Grundproblem ist der Versuch der Konstitution einer formalen Axiologie und Praktik und die Aufstellung apriorischer Willensgesetze in Verbindung mit apriorischen Wertgesetzen. In Zusammenhang damit stehen wertaxiomatische Grundprobleme und die mogliche Analogie zwischen formaler Praktik und formaler Logik. In diesem Konvolut nennt HusserI bereits eine Reihe von Wertgesetzen, wie die Gesetze der Konsequenz in der Motivation, des Wert­schlusses u.a. Trotz der wesensmaBigen Analogie zwischen Logik und Axiologie bzw. Praktik erweist sich die Konstitution einer reinen Ethik keineswegs als eine Reduplikation der Logik, viel­mehr ergeben sich fundamentale Unterschiede zwischen beiden Spharen. Neben einem Widerlegungsversuch gegen den ethischen Skeptizismus und einigen schiagwortartigen Ubersichten fiber die verschiedenen Moralsysteme, den Streit urn die ethischen Prinzipien u.a. beschaftigt sich Husserl eingehender mit der Analyse des WillensbewuBtseins und der Willensakte.

Ebenfalls aus dem Jahre 1908/09 stammt das mit F I 23 be­zeichnete Manuskript mit dem Titel "Grundprobleme der Ethik". Der Parallelismus zwischen den Problemen des Intellektes und denen des Gemiites ist das Hauptanliegen dieses Manuskriptes. Wie sich aus der Problematik der Korrelation zwischen Erkennt­nissubjektivitat und Erkenntnis als Bedeutungsgehalt die Not­wendigkeit einer phanomenologischen Reduktion auf die trans­zendentalen Strukturen des BewuBtseins ergibt, so fordert auch eine wissenschaftliche Ethik ihre letzte Begriindung auf dem Boden der transzendentalen Subjektivitat. Durchweg zeigt sich die Logik als Vorbild fiir eine wissenschaftliche Ethik. Emstlich ringt HusserI mit den Problemen, die sich aus der Verflechtung von intellektiven und Gemiitsakten ergeben. Die Frage nach der Konstitution von Gegenstandlichkeit fiihrt HusserI zu dem Problem der regionalen Gliederung von Gegenstandlichkeit

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XIV EINLEITUNG

iiberhaupt und der ihnen korrelativ zugehorigen Wissenschaften. AIle diese Ausfiihrungen sind jedoch recht liickenhaft und unvoll­sHindig und entbehren der Geschlossenheit in der Darstellung.

Eine weit groBere Systematik zeigt dagegen das Manuskript F I 24 mit der Aufschrift: "Formale Ethik und Probleme der praktischen Vernunft". Die Datierungen stammen aus den Jahren 1909/11, 1914, 1920 und 1922/24. Das Original umfaBt 235 Blatter und die Transkription 408 Seiten. Der erste Teil ist im wesentlichen eine Analyse des Gedankenganges des zweiten Teiles der ethisch-vernunftkritischen Vorlesungen des Jahres 1908/09 (F I 23) mit einigen Erganzungen, woran sich eine Reihe von einzelnen Meditationen anschlieBt. In Parallelitat zur Logik versucht Husserl erneut eine grundsatzliche Widerlegung des ethischen Skeptizismus, indem er von SoHenssatzen ausgeht, urn den formalen Widersinn solcher Lehren aufzuweisen. Der zweite Teil hebt an mit der Frage der Scheidung zwischen formaler und materialer Ethik, die HusserI, in Gegensatz zu Kant, in wesent­licher Parallelitat zur Logik sieht. Es ist seine feste Uberzeugung, daB es in der Sphiire der Praxis ein strenges Analogon zur analy­tischen Logik gibt, und so versucht er nun in systematischer Folge die apriorischen Bestande des Wertens und Wollens iiber­haupt, vollig unbesehen ihrer inhaltlichen Besonderung, aufzu­zeigen und dementsprechend formale N ormen der axiologischen und praktischen Vernunft zu formulieren. Diese Bemiihungen gipfeln in einer Neubestimmung des kategorischen Imperativs.

Die inhaltlich geschlossenste Darstellung bietet das Manuskript F I 28 mit dem Titel: "Freiburger Vorlesungen zur Einleitung -Ethik" (Sommer 1920; wiederholt Sommersemester 1924). Es behandelt zunachst das Verhaltnis von theoretischer und prakti­scher Wissenschaft bzw. Kunstlehre und zeigt dann, allerdings vorwiegend in historisch-kritischem Aufbau, die Ansatze einer echten Ethik, wie sie sich aus der phanomenologischen Ein­steHung Husserls ergibt. An die Kritik an historischen Theorien innerhalb der ethischen Wissenschaft schlieBen sich die positiven, konstruktiven Gedanken einer rein apriorischen Axiologie und Praktik, wobei Husserl immer wieder rekurriert auf das immanen­te Wesen der BewuBtseinsakte und deren Leistungen. Diese dop­pelte Betrachtungsweise einer negativ-kritischen und positiv­systematischen Methode in enger Verbindung miteinander ist

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EINLEITUNG xv

immer wieder in den Manuskripten anzutreffen. Hiiufig geht Hussed in seinen Untersuchungen von den unmiUelbar ethischen Problemen und ihren Losungsversuchen aus, so auch im Manu­skript F I 20, fragt aber dann immer wieder in phiinomenologi­scher Einstellung zuruck auf die transzendentale Subjektivitiit und den in ihr konstituierten ethisehen Gebilden, urn von da her zu einer letzten Begrundung alles Ethisehen zu gelangen. Die Kernfrage aIler Ethik, das Verhiiltnis zum handelnden Subjekt, wird in tieferer Sicht und in seiner eigentlichen Bedeutung erst am Ende dieses Manuskriptes aufgegriffen.

Dieser kurze Uberblick uber das vorliegende QueIlenmaterial liiBt erkennen, daB Hussed zwar immer wieder Ansatze fUr eine Gliederung dieser Fragen gegeben, aber nirgends eine systema­tische Darstellung seiner Lehre durchgefiihrt hat. Auch die zeit­liehe Folge der genannten Manuskripte gibt keine ausreichende systematisehe Disposition; denn bereits im Manuskript des J ahres 1902 (F I 20) sind die entseheidenden Momente seiner Theorie enthalten und bilden das Fundament fUr die kritische Auseinandersetzung: hier erhebt Hussed schon die Forderung nach giiltiger Objektivitat der Werte und der ethischen Sollens­forderungen als Voraussetzung fUr die Idee einer reinen Ethik in Analogie zur Idee einer reinen Logik, und die Berechtigung dieser wesensmiiBigen Analogie sieht er in der Parallelitat der er­kennenden und wertend-wollenden Vernunftakte, in denen sich sowohl das Seiende als auch das Sein-sollende konstituieren muB. Die Uberzeugung von der Einheit der Vernunft ist somit die fundament ale Voraussetzung fUr die Losungsversuche Husseds. Die weitere Entwieklung ist im wesentlichen nur eine Kliirung und Verdeutlichung des ersten Ansatzes 1. Zugleich treten aber auch mit dieser Bereicherung die Schwierigkeiten der gesamten Problematik deutlicher zutage.

Gleichwohl zeigen sich in der zeitlichen Behandlung der ge­samten Problematik gewisse Schwerpunkte. So wendet sich Husserl im Wintersemester 1908/09 vorwiegend der noetischen

1 Die Entwickiung hinsichtlich der philosophischen Ethik innerhalb der HusserI­schen Philosophie Iiiuft weitgehend parallel zu letzterer. Vgl. hiezu ZiegenfuB, S. 569: "Die philosophische Lebensarbeit Husserls liiBt sich nicht kennzeichnen, wenn die einzeinen Werke isoliert und nach ihrer jeweiligen Thematik betrachtet werden, sondern nur wenn ihre historische Abfolge verstanden wird als die konsequente Aus­wirkung einer zuniichst dunklen, stiindig aber an Klarheit gewinnenden Tendenz auf eine Neubegriindung der Philosophie.

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XVI EINLEITUNG

Seite zu, namlich dem Wesen der wertenden und wollenden Akte und ihrer Parallelitat, der Art ihrer Verflechtung und Fundierung. Es handelt sich urn Gedanken, die im wesentlichen auch in den "Ideen" veroffentlicht wurden. In dies em Zusammenhang unter­sucht Husserl die GesetzmaBigkeiten der verschiedenen Ver­nunftakte, urn von da her immer wieder die Idee einer reinen Axiologie und Praktik bzw. Ethik zu begriinden, die dann vor aHem in den Manuskripten der Jahre 1911 und 1914 (vornehm­lich in F I 24) erstmals in groBerem Zusammenhang durchgefiihrt wird. Zugleich 13.Bt der Grundansatz der ethischen Untersuchun­gen Husserls, die wesensmaBige Analogie zur Logik, ein weiteres, fiir die Darstellung wichtiges Moment erkennen: die Behandlung ethischer Probleme kann bei Husserl immer nur gesehen werden im Gesamtzusammenhang seiner Philosophie. Das zeigt recht deutlich der Inhalt des Manuskriptes F I 14, in dem Husserl die allgemeine Idee einer transzendentalen Philosophie als absolute Ontologie, als die Wissenschaft der hochsten Erkenntnisinteres­sen, darstellt, in der auch die ethischen Fragen behandelt und zur hochsten Idealitat in Bezug auf Geistesleben iiberhaupt erhoben werden. In dieser reinen Philosophie ergibt sich aufgrund ihrer immanent en Teleologie die Konstitution der Idee einer voll­kommenen N atur, einer vollkommenen Welt und in Korrelation zu ihr die Idee eines vollkommenen BewuBtseins und einer vollkom­menen Personalitat. Die philosophische Teleologie miindet so mit gewissermaBen ein in eine philosophische Theologie, und die Phanu· menologie Husserls endet letzlich in einerumfassenden Metaphysik.

Da kein Manuskript das ethische System Husserls in einem geschlossenen Ganzen darbietet und in der vorliegenden Fassung wohl kaum zur Veroffentlichung geeignet ist, will diese Arbeit versuchen, die axiologischen und ethischen Untersuchungen Husserls systematisch darzustellen 1. Da, wie bereits erwahnt, eine solche Darstellung nur moglich ist auf dem Untergrund der Husserlschen Philo sophie iiberhaupt, erscheint es notwendig, der Behandlung der eigentlich ethischen Grundprobleme ein Kapitel verangehen zu lassen, das "die SteHung der Ethik im Rahmen der

1 Es soli noeh einmal darauf hingewiesen werden, daB daftir nur die Manuskdpte der Vorlesungen Husserls herangezogen wurden. Der iibrige NaehlaB blieb unberiick­sichtigt. Aber aueh hier zeigt es sieh, daB sich Husserl immer wieder mit der Proble­matik einer wissenschaftliehen Ethik besehiiftigt hat. Namentlieh die Manuskripte der Gruppe A enthalten eine Reihe ethischer Probleme.

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EINLEITUNG XVII

Phanomenologie" in knapp skizzierten, grundsatzlichen Umrissen aufzeigt. Von da her werden sich dann auch weitere, fUr den Aufbau der eigentlichen Darstellung bestimmende Momente gewinnen lassen.

Zum SchluB sei zum Inhalt der Arbeit noch bemerkt, daB das Konstitutionsproblem in der Abhandlung vollig zuriickgestellt wird, da es den Rahmen einer Ethik im engeren Sinn iiberscheitet und letzlich in den Bereich einer allgemeinen transzendentalen Philosophie gehort. Das Anliegen dieser Arbeit ist einzig und allein zu verstehen in Parallelitat zu dem, was HusserI fUr den Bereich des Doxisch-Theoretischen in den "Logischen Unter­suchungen erarbeitete. Aus dieser Parallele ergibt sich auch der Titel: "Edmund HusserI's ethische Untersuchungen". Dabei sol1 in der Darstellung grundsatzlich auch abgesehen werden einmal von den Beziehungen Husserls zu ahnlichen ethischen Grundlegungen, sei es vorangangigen oder gleichzeitigen (z.B. Brentano, phanomenologische Wertphilosophie), sofern HusserI selbst nicht sich mit ihnen kritisch auseinandersetzt. Zum andern wird auch von jeglicher Kritik an Husserls Theorie selbst Abstand genommen. Es solliediglich das in den Manuskripten enthaltene Material zu einer systematischen Darstellung verarbeitet werden.