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Aus der Abteilung für gerichtliche Chemie nnd Kriminaltechnik der Chemischen Landesanstalt, Stuttgart. Ein neues Verfahren, Identität und Alter von Tintenschriften festzustellen. 3. :Mitteilung: Geschichtlicher Rückblick und erste systematische Anleitung für die Beurteilung des Alters von Eisen- g all ustin tens c hriften. Von Regierungsrat Dr.-lng. Walter Heeß. (Mit 29 Abbildungen.) Die folgende AbhancUung bietet eine zusammenfassende Dar- stellung der grundlegenden Forschungen, die in den letzten Jalu·en von Dr. :Mezger, Dr. Rall und Dr. Heeß im Einvernehmen mit dem unterzeichneten Herausgeber des Arch. f. Krim. angestellt wurden, um eine zuverlässige Methode der Schriftaltersbestimmung zu finden. Die früheren einschlägigen Artikel des "Ar eh. f. Krim. ", die über den jeweiligen Stand dieser Forschungsarbeit miter- richteten (beginnend in B(l 92), waren z1mächst von allen drei Mitarbeitern gezeichnet. N a.c.hdem Dr. R all und bald darauf auch Dr. Jle z ge r ihrer Arbeit dm·ch den Tod entrissen wurdt•n. hat Dr. H ee ß, der von Anfang an hervorragend bei der Ausarbei- tung des Verfahrens beteiligt war, die Arbeit allein fortgesetzt und nunmehr auch den Schlußbcrirht übernommen. Dieser nachstehend veröffentlichte Bt>richt dürfte für die ge- richtlichen Sachverständigen besonders wichtig sein, weil er die en;te Hystemati:;;che bringt. VieHeicht kann kein andere:,; Spezüllgebiet der Gerichtschemie - namentlich ant'h in wirtschaftlicher Hinsicht - eine solche Bedeutung beanspruclwn als dieseR Problem. Hängt doch an dt-•r Schriftalterbe,::timmung neben der S<"hriftYergleichnng der ganu> Urkundenseil n tz. Ein bekannter amcrikanischer GerichtB-chemi- ker bezeidmcte die rntersnchung von ::\:Jezeer, Hc't'ß und Rnll kürzlich als die "wichtigste Publikn.tüm. dit> iu den letzten 2 .Jahrzehnten in irgend einer Sprnche dt:'r "\Yc-lt c·r- schien." Wt>rden schon jetzt pl'll Jabr in Deut:'eh- land. (also das Ausland 11icht mitgerechnet) 1'l"·a 200 bestimmung<'n nach dem Hee ßsrhcn y,,rfnhren für Zwecke ausgefiibrt. llt·indl. Im Arch. f. Krim. Yom IDOl (\TI) findet auf R :?07 da.s folgPnde unscheinbare H..cfprat. <bs Yon dem da mal i!!t'll

Ein neues Verfahren, Identitat und Alter von Tintenschriften festzustellen

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Ein neues Verfahren, Identität und Alter von Tintenschriften festzustellen, Archiv für Kriminologie, 1937, 101: 7-37

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Page 1: Ein  neues  Verfahren,  Identitat  und  Alter von  Tintenschriften  festzustellen

Aus der Abteilung für gerichtliche Chemie nnd Kriminaltechnik der Chemischen Landesanstalt, Stuttgart.

Ein neues Verfahren, Identität und Alter von Tintenschriften festzustellen.

3. :Mitteilung: Geschichtlicher Rückblick und erste systematische Anleitung für die Beurteilung des Alters von Eisen­

g all ustin tens c hriften. Von

Regierungsrat Dr.-lng. Walter Heeß. (Mit 29 Abbildungen.)

Die folgende AbhancUung bietet eine zusammenfassende Dar­stellung der grundlegenden Forschungen, die in den letzten Jalu·en von Dr. :Mezger, Dr. Rall und Dr. Heeß im Einvernehmen mit dem unterzeichneten Herausgeber des Arch. f. Krim. angestellt wurden, um eine zuverlässige Methode der Schriftaltersbestimmung zu finden.

Die früheren einschlägigen Artikel des "Ar eh. f. Krim. ", die über den jeweiligen Stand dieser Forschungsarbeit miter­richteten (beginnend in B(l 92), waren z1mächst von allen drei Mitarbeitern gezeichnet. N a.c.hdem Dr. R all und bald darauf auch Dr. Jle z ge r ihrer Arbeit dm·ch den Tod entrissen wurdt•n. hat Dr. H ee ß, der von Anfang an hervorragend bei der Ausarbei­tung des Verfahrens beteiligt war, die Arbeit allein fortgesetzt und nunmehr auch den Schlußbcrirht übernommen.

Dieser nachstehend veröffentlichte Bt>richt dürfte für die ge­richtlichen Sachverständigen besonders wichtig sein, weil er die en;te Hystemati:;;che ~-\.nleitung bringt.

VieHeicht kann kein andere:,; Spezüllgebiet der Gerichtschemie - namentlich ant'h in wirtschaftlicher Hinsicht - eine solche Bedeutung beanspruclwn als dieseR Problem. Hängt doch an dt-•r Schriftalterbe,::timmung neben der S<"hriftYergleichnng der ganu> Urkundenseil n tz. Ein bekannter amcrikanischer GerichtB-chemi­ker bezeidmcte die rntersnchung von ::\:Jezeer, Hc't'ß und Rnll kürzlich als die "wichtigste krü;:Ünali.;;tisch~ Publikn.tüm. dit> iu den letzten 2 .Jahrzehnten in irgend einer Sprnche dt:'r "\Yc-lt c·r­schien." Kr~hätztmgsw·ei~e Wt>rden schon jetzt pl'll Jabr in Deut:'eh­land. (also das Ausland 11icht mitgerechnet) 1'l"·a 200 :-:chriftaltf'r~­bestimmung<'n nach dem Hee ßsrhcn y,,rfnhren für ~<·riC'htli1·h\'

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Herausgeber des Archivs, Groß, verfaßt war: "Nach der Pharma· zeutischen Zentralhalle ( 1900, S. 54 7) soll man radierte Stellen mit 1/ 10 Normal-Silbernitratlösung bestreichen und das Objekt kurze Zeit dem direkten Sonnenlichte aussetzen. Dann kommen, auch wenn vorher gar nichts zu sehen war, die Schriftzüge auf dunklem Grunde deutlich zum Vorschein. Bei der Reduzierung der Silbernitratlösung werden auch Hand- und Fingerabdrücke sehr klar wahrnehmbar. Hierüber eingehende Versuche zu machen, wäre dringend angezeigt, da die Hervorbringung von weggebrachten Schriftzügen unter Umständen von größter Bedeutung sein kann und bisher kein 1\.fittel bekannt war, welches das Angegebene leistet."

Der Entdecker dieser seltsamen Erscheinung, auf welche Groß hier hinweist, war der niederländische ~Iilitärapotheker Dr. S yts e van Velzen Camphuis, der - ich verdanke diese :Mitteilung Kollegen Dr. 1\I. Duyster - im :Mai vergangeneu Jahres als Di­rektor einer Chininfabrik in Amsterdam verstarb. Trotz des Großsehen dringenden Hinweises blieb aber die Reaktion jahr­zehntelang unbeachtet; lediglich im Jahre 1917 hatte Hanikirsch nochmals - ob mit oder ohne Kenntnis der Camph uisschcn Versuche ~issen wir nicht - auf diese Möglichkeit der Sichtbar­machung von radierten Schriften aufmerksam gemacht. Eine Er­klärung der chemischen Vorgänge konnte jedoch auch von diesem nicht gegeben werden. Kurz nach dem Kriege unternahm dann Mezger, welcher der "Hanikirsch-Reaktion" sein besonderes Interesse zugewandt hatte, zusammen mit Engler zahlreiche weitere Versuche. Es gelang ihnen, nachzuweisen, daß das Auf­treten eines dunklen Schriftbildes bei der H an ikirsch -Reak­tion an die A1nvescnheit von Chloriden gebunden ist, und diese Erkenntnis fand auch ihren Niederschlag in einem Patent zur Anfertigung einer Sicherheitstinte, die heute noch von einer Firma in den Handel gebracht wird. Damit war aber die weitere Er­scheinung, daß bei der Hanikirsch-Reaktion gelegentlich auch ein helles Schriftbild auf dunklem Grunde erRcheint, noch nicht ge­klärt, und so erhielt nach einer eingehenuen Unterredung Mezgers mit Heindl, dem Nachfolger des Herausgebers Groß, unser 1\fit­arbeiter Dr.-Ing. Hugo Rall Ende des Jahres 1929 von :Mezger den Auftrag, den Ursachen dieser Erscheinung nachzugehen. Rall, der leider so früh durch tödlichen Absturz im Gebirge aus unserer :Mitte schied, glückte denn auch ein Jahr nach Aufnahme seiner Versuche die bedeutsame Feststellung, daß beim Altern einer Tintenschrift eine unsichtbare Auswanderung von freier Salz- und

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.-\hb. I. Ein Paehtn·rtrng sollte augeblieb ein Alter \"Oll:! Jahrf'n hnben. j,_t a.lwr in \\"irklil'hkeit erst Yor wenigen 'Yoc·hen gesrhridwn worden. Dif's \\·link d111·l"!l das

Chlorid- und Sulfnt,·erfahl"!'n lllll'hl!!'\\'iC'H!'Il. (Zu :--1. 1 !1.)

.\bb. :.!. 1Wek:-;eitl: des ChloridbildP::; aur Abu. 1. (Die C'hlor·itbduift- i:,;t im :)piq!:t•l dC'utlit"h leshal'.) --:-\ bb. :1 und-!. Ym·- und Hüekseite des Chloridhildes einer l 4- Ta~:w

alten, abl'r fC'udü gPIHgertPn SC'hrift. (Zu ~- I 0.)

.-\h!t. 5. Das zu Abb. :1 gehörige :-3ulfatbild. Die fcu<-hte Lagt•nmg i:::t <~n dN t'mwhärft' der Rehriffkonturen festst!:'llbar. (Zu S. 1!1.)

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.\ IJIJ. ü. Dio ·cnterse:brift. unter l'inem angehlieh im .Juni 1 \MO W'8thriebenen Yertrag lid"nt eiu hcllc;;, ,·erbrc·itPrt<"'s Chloridbild, eill Bc"·f'is fiir die Hic-htigkf'it der

Z(•itallgflhe. (Zu S. :23.)

.-\IJb. 7. IJaf' ~ulfnibild d1~r llllter L~hh. fj !'rw8hntE'JI l·ntt:>rsr·hrift. Sif' ist Plwnfalls Ynbreitert. (Zu f:i. 2ti.)

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~-\bb. S. IJit• Hcaktion nadt l'amphui~~Hanikir:.;dt i~t ehenfall:.; gf•l'ignet, l>l'i altf:'n Sdu·iften dic Yt·nlrängung der Chloride des Pnpicrs dttr(•h die in Breite und

Tiefe <lu~wamlern<le fkhwefclsiiur·e 0rkennen zu lassen. (Zu !'l. 2G.)

A bb. H und 10. Die Eehtheit eines Tt'stamcat:.;, das angeblich Hal'h 18 ,J alm•n iu f'int::'m alten Buehe auf einem Dachboc!Pn gefunden und dcm Xachlnl3gerieht nll'·

gc•h•gt worden ist, wurde Yon clcu ::\Iiterbt:'n bt·:-;tritten. -- Abb. f1 \links) zeigt d~1,; Chloridbild ttus <h•m Tcstttmeuttext.' Das ~:khriftbild Ü;t lwll und stal'kn·rbrf'itcrl.­~-\bh. 10 (rc<·hh;) zcigt das stetrk ,.<,rbrE'iff't"lt:' Sulfatbild mit RufgchclltE'r ~khrift-

mittf', wn:; auf C'in sehr hohC's Alter himn•i:-;L (Zu H. :?'i.)

:n. ~!l. 1:!.

Abb. 11-:W. Au:;:;ehuitte aus einem :::khulwcH'hl'nhtH"h, da!'> neu und ia PiJlf'lll Zug,· angf'fertigt zu haben ein Lehrer besdmldig1 wurde. DiP Chluridbildt>r lwwie:->t'll die

Haltlosigkeit diesPr Aw-whuldiguug. (Zu S. 30.)

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Ahb. tl. YP.rfälschung Pirwr alten Zinf-'quittung mit ethter l-Htl·n:whr·ift dun·h

.Erw!'ifl'rung dPs ursp-rünglic-hen TexteHund Xaehf'~:llJn•n tle~Relbell mit riner l'wlnnu·­

Z<'tl Tiutc. Df'r .-\uHsehnitt in <kr li11ken untN·cn Eekc zei_gt den Zustand Yor ch,r

c·lwmis<·hen EHtff'rnung der olwn liegrnden Tinte. (Zu f). ilü.)

:\biJ. :!:! und ;.!:1. .-\hh. :!:! (li11k~) zt•igt ch-1,.; 1111\·c·dwc·it<'rtl' 1'\ullatbild dt>s mwhtrüg­

lidl hinzuge:-;dzlc·n 'l'c•xtl's i11 dt·r· in .--\hh. :!1 dal'gf'KtPII1Pil t'rkuwk. --- .-\bb. ;!:t

(l'l'l'hl s) zeigt, dal.~ dic· H<"hwcfelsii-ur·o der zur· l"ntcnwhrif"t (.--\ hh. :!I) \'C'I'\\"C'Hdrotr·n

Tintr• Wf'it iilwl" dm; doppr·ltt> dPr ursprii11glidwn ~l'hriftziigP \"erhreitPrt ist.

Damit war· dc'm .-\ngeklugten <llll'h die Am;rt>dc abgesdmittc•n, ''~" hahe dir- Zills·

fjllittung ncwh z11 Lr-hz.Pit<oll und im Eill\"l'l'slän~lnis df'r' J>aulirw Bntggf'l' lllit dc•IJI

Zn:-~atz Yer·seheu. (Zu H. :31.)

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Kcucs Verfahren, Identität und Alter von Tintenschriften festzustellen 13

Schwefelsäure in das umgebende Papier erfolgt, und daß das Auf­treten des negativen Hanikirsch-Bildes eine Folge der Ver­drängung im Papier vorhandener Chloride durch die allmählich in die Tiefe wandernde Schwefelsäure darstellt.

So war also nach 30 Jahren erreicht, was Groß vielleicht ahnungsvoll empfunden hatte, als er jenen Appell an die Leser des Arch. f. Krim. richtete. Es war ein wichtiger Einblick in die jn einem Schriftzug sich abspielenden chemisch physikalischen Vorgänge gewonnen. An Hand dieser Ergebnisse konnte man aber auch hoffen, endlich einmal einer Lösung des bisher als fast unerrei eh bar erschienenen Problems. der Schriftalters­bestimmung näher zu kommen. Der erste Abschnitt auf dem Wege zu einer solchen Bestimmungsmethode, eine lange und bezüglich der zu klärenden Erscheinungen schwierige Vorarbeit lag hinter uns. Von nun an konnten sich alle Versuche auf das eine Ziel konzentrieren, die neu gewonnene Erkenntnis ihrer kriminalistischen Verwertung zuzuführen; es wurden alle die Bedingungen erforscht, unter denen sich die \Vanderung der Säuren im Papier vollzieht, leicht und verläßlieh auszuführende Reaktionen zur Herstellung des Chlorid­und Sulfatbildes ansgearbeitet und schließlich wurde das Ver­fahren in der Praxis ausprobiert. Seit dieser Zeit, in einer Spanne von 5 Jahren, sind annähernd 300 praktische Fälle durch unsere Hände gegangen, an denen wir neue Beobachtungen sammeln konnten und so eine allmähliche Abrundung unserer Erkenntnisse erzielten.

\Vährend ·wir uns in unseren bisherigen Veröffentlichungen im Areh. f. Krim. im wesentlichen darauf beschränkt haben, den Leser mit den neuesten Ergebnissen der genannten Arbeiten be­kannt zu machen, soll nun in dieser Abhandlung zum erstenmal in gedrängter systematischer Darstellung gezeigt werden! in wel­cher \V eise die B c ur t e i 1 u n g des Alters einer Tintenschrift in praktischen Fällen an Hand des Chlorid- und Sulfatbildes vorzu­nehmen ist bzw. welche Schlußfolgerungen aus den beiden Reak­tionen gezogen werden können. Zum Zwecke einer besseren Über­sicht empfiehlt es sich, den Stoff in zwei Teile zu teilen, einer­seih~ in die Bestimmung des absoluten und andererseits in die des relativen Schriftalters; denn zur Bestimmung des absoluten Alters einer Schrift sind Überlegungen ganz anderer, weitergehen~ der Art notwendig, als wenn lediglich die Frage zu entscheiden ist, ob zwei Schriften zusammen oder in gewissem Zeitabstand voneinander geschrieben sind. Wir wenden uns zunächst der abso­luten Altersbestimmung zu, da manche der hier gültigen Schluß-

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folgerungenspäter ohnedies auch für die relative Altersbestimmung in Anwendung kommen müssen.

I. Die absolute Altersbestimmung.

Wenn wir schon von Fachgenossen hin und wieder gefragt worden sind, in welchem Falle man bei einer Altersbestimmung ·ein Chlorid- und wann ein Sulfatbild anfertige, so liegt darin ge­wissermaßen das ganze Geheimnis der Schriftaltersbestimmung verborgen. Um es gleich vorwegzunehmen, für eine Altersbestim­mung sind stets beide Bilder erforderlich, denn diese zwei Reak­tionen stehen, wie wir im folgenden sehen werden, in einer Be­ziehung zueinander, aus der wir allein die Schlußfolgerungen abzuleiten vermögen, durch die das Verfahren auf eine sichere Grundlage gestellt wird. Es hatte sich nämlich bald gezeigt, daß die Deutung des Einzelbildes je nach dem Ausfall des andern verschieden sein kann. Gebrauchen wir einen Vergleich: \Vie ein Arzt nur aus verschiedenen Symptomen die Art einer Krankheit sicher zu diagnostizieren vermag, so können wir nur aus der Ge­samtheit der Erscheinungsformen des Chlorid- und Sulfatbildes das absolute Alter einer Schrift einwandfrei feststellen. \Vas wir dort unter einem Krankheitsbild verstehen, sei daher hier analog mit dem Ausdruck Alterungsbild bezeichnet!.

Wi~ glauben dem Fernerstehenden das Wesen unserer Altcrs­bestimmungsmethode am besten verständlich machen zu können, wenn wir nun die verschiedenen Alterungsbilder jeweils unter Heranziehung praktischer Fälle nacheinander durchbesprechen.

1 Durch die neueren Ergebnisse ist es notwendig geworden, die Bc­griffsbezeichnungen zwn Teil zu ändern, weshalb sie im folgenden genau definiert werden:

I. Unter Reaktionsbild verstehen wir allgemein das Ergebnis der chemischen Behandhmg einer Schrift.

2. Als positives Chlorid bild oder als Chloridbild schlechthin be­zeichnen wir durch die Chiaridreaktion sichtbar gemachte in oder in der Umgebung eines Schriftzuges befindliche Chloridreste, welche aus der Tinte stammen.

3. Im negativen Chloridbild sind solche Chiaridrest-e nicht oder nicht mehr vorhanden.

4. Das Alterungs bild umfaßt die Gesamtheit der bei einer Schrift erhaltenen Reaktionsbilder (Chlorid- und Sulfatbild u. a. ).

5. Unter Schriftbild (Chlorid-Sulfatschriftbild) verstehen wir nur die cigentliehen Schriftzüge nach erfolgter chemjscher Reaktion. Das Schriftbild kann dunkel oder hell erscheinen, oder sich im Übergang von Dunkel nach Hell befinden.

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I. Alterungsbild:

Die zu untersuchende Schrift ergibt ein positives Chloridbild, das Sulfatbild der Schrift ist scharf und

un verbreitert.

Die wichtigste Grundlage für die absolute Altersbestimmung einer Tintenschrift bildet die Verbreiterung des Chlorids, auf deren Feststellung wir nun zunächst eingehen. Bei der Alterung einer Eisengallustinte lassen sich folgende Verbreiterungastadien deut­lich wahrnehmen:

1. Stadium: Das Chloridbild gleicht völlig der ursprünglichen Tintenschrift, ist unverbreitert und scharf.

2. Stadium : Das Chlorid bild scheint etwas verbreiterter gegen­ü her der Originalschrift.

3. Stadium: Längs den Konturen der Schriftzüge bildet sich ein schmales scharfes Rändchen aus, das mehr Chlorid enthält als die Schriftmitte.

4. Stadium: Das Rändchen wird breiter und umgibt die ur­sprünglichen Schriftzüge in gleichmäßigem Abstand. Gleichzeitig gibt die Schriftmitte immer mehr Chlorid ab und erscheint nach und nach heiler als das umgebende Papier, wird also negativ. Entsprechend der zunehmenden Breite des Rändchens wird das Chlorid allmählich auch auf der Rückseite sicht~ar, zuerst an den stärker geschriebenen Stellen, später in allen Schriftteilen.

5. Stadium: Der die negative Schriftmitte umgebende dunkle Rand erscheint nun in Form eines breiten Schattens, der die ein­zelnen Schriftzüge umgibt, wobei Ecken und Spitzen abgerundet bzw. allmahlich ausgefüllt werden. Auch auf der Rückseite be­ginnt sich die Schrift im Spiegelbild zu verbreitern.

6. Stadium: Die Verbreiterung des Schattens und die Aus­füllung der Spitzenwinkel geht noch weiter, das Chloridbild auf der Rückseite wird (besonders in den Kleinbuchstaben) unleser­lich, im allgemeinen sind nur noch die Unterschiede von Groß­und Kleinbuchstaben erkennbar.

7. Stadium: In der Umgebung der ursprünglichen Schrift be­finden sich nur noch rundliche dunkle Schleier, die gewissermaßen einen Hof um die einzelnen Worte bilden. Auch auf der Rück­seite sind nur noch rundliche dunkle Flecken vorhanden, die einen Unterschied zwischen Groß- und Kleinbuchstaben nicht mehr er­kennen lassen.

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8. Stadium: Die Chloridreste haben sich völlig im Papier verbreitert, auch auf der Rückseite erscheint das Papier nun gleich­mäßig grau gefärbt (s. 2. Alterungsbild, S. 23).

Die Beobachtung von Chloridresten muß, wie man ersieht, mit aller Sorgfalt vorgenommen werden.

Treten dunkle Chiaridspuren nicht .mit genügender Deutlichkeit in Er­scheinnng, so sind alle optischen Mittel erlaubt, diese Spuren zu verstärken. Vielfach wird die Verstärkrmg schon durch eine gewöhnliche photographische Aufnahme mit einer kontrastreich arbeitenden Platte erreicht, wobei die Anwendung möglichst diffusen Lichts (Ringbeleuchtung) empfehlenswert ist. Da sich ferner die aus einer Tintenschrift austretende Chiaridmenge halbkugelförrnig im ganzen Querschnitt des Papiers verbreitert, so können ganz geringe Spuren von Chloriden namentlich auch im durchfal1enden Licht evtl. nach vorheriger Befeuchtrmg des Chloridbildes mit \Vasser, Petroleum oder dgl. erkannt werden. Bei der Entnahme der Schriftproben für die Chiaridbilder empfiehlt es sich, nicht zu kleine Ausschnitte zu wählen, da sonst bei starken Chiaridverbreiterungen kein unverändertes Papier mehr zum Vergleich zur Verfügung steht, und dann womöglich noch eine 2. oder gar 3. Probe notwendig wird. Deshalb schneiden wir zum Chiarid­bild möglichst ein kurzes Wort aus, das ziemlich frei steht und das sich, wenn mög1ich, an einer solchen Stelle in der Urklmde befindet, die vom Rande her beim Halten des Schriftstückes mit dem Daumen nicht erreicht werden kann, oberflächlich unbeschmutzt erscheint und auch auf der Rück­seite nicht beschrieben ist. Auf diese Weise wird man auf einem Schrift. ausschnitt wenigstens einzelne Schriftzüge erhalten, deren Beurteilung dw-ch lokale Beschmutzungen nicht gestört wird.

Bei der Feststellung der Chiaridverbreiterung muß vor allem darauf gesehen werden, ob das vorder- und rückseitige Chlorid­bild sich in ihrer Ausbildung ergänzen. Wir erinnern uns dabei eines Falles, in welchem ein ·Gutachter längs der Konturen eines bereits weißen Schriftbildes einen dunklen Chloridsaum zu erkennen glaubte, ohne sich aber zu vergegenwärtigen, daß in diesem Sta­dium der Chiaridverbreiterung auch ein rückständiges positives Chloridbild - es handelte sich um ein Papier normaler Stärke -vorhanden sein müßte, was aber nicht der Fall war. Er durfte daher den vermeintlichen dunklen Saum keinesfalls als aus der Tinte stammende Chloridreste ansprechen.

Ist man sich bei einem Chloridbild im Zweifel, ob tatsächlich noch Chiaridspuren oder eine zufällige Verunreinigung des Papieres vorliegen, so ist zur Kontrolle die Anfertigung eines weiteren Chloridbildes erforderlich, wozu zweckmäßigerweise eine möglichst dick aufgetragene Schriftstelle, bei der am ehesten noch Chiarid­spuren zu erwarten sind, zu wählen ist. Eine solche Kontrolle empfiehlt sich namentlich auch bei sehr stark verbreiterten Chlorid­bildem.

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Ein häufig vorkommender Fehler besteht darin, daß sich ein Gutachter dazu verleiten läßt, das Alter einer Schrift nach der Stärke des Chloridbildes zu beurteilen, während einzig und allein der Grad der Verbreiterung der Chloridreste entscheidend ist, wie er in den oben aufgeführten 8 Altersstufen seinen Ausdruck findet. \Vir stellen fest, daß derselbe Fehler auch der Abhandlung der amerikanischen Autoren Cornish, Finn und Laughlin, "Age of Inks as Determined by the Chloride Test" [Ind. Chem. Bd. 12, Nr. 17, S. 315 (1934)] anhaftet. (Im übrigen lohnt es sich nicht, auf diese, nebenbei bemerkt im Reklameteil der genannten Zeit­schrift abgedruckten Arbeit weiter einzugehen, da derselben :Motive zUgrunde liegen, die mit \Vissenschaft nichts zu tun haben.) Für jeden ernsthaften Gutachter versteht es sich beinahe von selbst, daß das Vorhandensein und die Verbreiterung von Chloridspuren sowohl an dick- wie auch an dünngeschriebenen Schriftstellen beobachtet wird. Dann wird es aber auch unmöglich sein, daß man durch die Stärke der Chiaridspuren sich täuschen läßt und es ist daher auf diese Weise eine einwandfreie Feststellung der Chiaridverbreiterung am besten gewährleistet. Unabhängig davon halten wir es für notwendig darauf hinzuweisen, daß man durch das helle oder dunkle Schriftbild auf der Vorderseite des Chlorid­bildes die zarten Schleier zwischen spitzen \Vinkeln der Schrift­züge infolge der starken Kontraste gern übersieht und leicht geneigt ist, die Verbreiterung des Chlorids zu unterschätzen. In­sofern halten wir die Beobachtung der Verbreiterung auf der Rückseite eines Chiaridbildes bei Schreibpapier normaler Dicke für zuverlässiger.

Ehe wir uns nun der eigentlichen Beurteilung des Schriftalters zuwenden, haben "\\ir uns noch davon zu überzeugen, ob die nach den obigen Richtlinien festgestellte Chloridverbreiterung auch tat­sächlich eine für die Altersbestimmung brauchbare Beweisunter­lage darstellt. Erst vor kurzem konnte von uns in der Dtsch. Z. gerichtl. Med. Bd. 28, S. 269 (1937) an Hand eines umfang­reichen Bildmaterials gezeigt werden, wie sehr die Schnelligkeit der Chiaridwanderung mit steigender relativer Luftfeuchtigkeit zu­nimmt. In solchen extremen Fällen wäre natürlich eine ausreichende Genauigkeit der Altersbestimmung nicht mehr gegeben, wenn nicht ein anderer Umstand uns hier zu Hilfe käme; es ist die Tatsache, daß eine sehr rasche \Vanderung durch eine Unschärfe bzw. Ver­breiterung des Sulfatbildes angezeigt \Vird. Die Verbreiterung der Schwefelsäure ist nämlich, wie wir früher schon mehrfach mitgeteilt haben, bei Lagerung einer Schrift in einem im \Vinter

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geheizten trockenen Wohn- oder Geschäftsraum nicht feststellbar, solange in der Umgebung der Schriftzüge noch Chiaridspuren nach­zuweisen sind. Dies ist für die Beurteilung des Alters einer Schrift von allergrößter Bedeutung, insofern, als wir uns durch Anferti­gung eines Sulfatbildes in jedem Falle überzeugen können, ob die Verbreiterung des Chlorids in normaler Weise vor sich gegangen ist oder nicht und ob wir sie direkt als Maßstab für das von dem Schriftzug erreichte Alter benutzen dürfen.

In allen Fällen, bei denen der Verdacht der nachträglichen Anfertigung einer Urkunde vorliegt, sind wir vor die Aufgabe gestellt, dasjenige Alter zu ermitteln, das für die zu untersuchende Schrift oder Urkunde höchstenfalls in Betracht kommt. Hierbei müssen wir von der Erwägung ausgehen, welcher Zeitraum er­forderlich ist, um bei trockenster in der Praxis möglicher Lagerung einer Schrift eine Chloridverbreiterung zu erhalten, wie sie bei der zu untersuchenden Urkunde beobachtet wird. Diese Feststellung kann nur an Hand von Chloriclbildern von Schriften geschehen, die vergleichsweise einer derartig langsamen Alterung unterworfen waren. vVir haben solche Chiaridbilder schon mehrfach veröffent­licht [s. Arch. f. Krim. Bd. 92, S. 106 (1931)]. Demjenigen, der sich selbst solche Vergleichschloritlbilcler anfertigen ''<'ill, empfehlen wir, längere Zeit hindurch in gc\\·issen Abständen in ein nicht zu dickes Heft (Schulheft) zu schreiben, dessen Papier bei der ordnungsmäßig durchgeführten Chlorid- und Sulfatreaktion eine nur schwache Grau- bzw. Braunfärbung liefert, damit schöne Chloridbilder erhalten werden können. Es genügt, hierfür zwei Sorten von Tinten zu verwenden, eine Eisengallustinte mit mitt­lerem Chloridgehalt, z. B. Alid-Füllfedertinte von Leonhardi von Dresden und eine solche von hohem Chloridgehalt, z. B. \Viders Alizarintinte von Firma \Vider, Stuttgart [Ygl. Dtsch. Z. gerichtl. 1\'Ied. Bd. 28, S. 269 (l93i)J. Das Heft wird in einem möglichst zentralgeheizten trockenen Raum und ohne Pressung aufbewahrt.

Für die Beurteilung von Chiaridbildern jüngerer Schriften sind sog. 1\!Ionatschloride, d. h. Chiaridbilder von Schriften, die einen Monat lang gealtert sind, und wie wir sie in der ·eben genannten Zeitschrift dargestellt haben, zum Vergleich besonders geeignet. Sehr wertvoll für die Alterbeurteilung sind auch Jahreschloride und solche Chiaridbilder von Schriften, die einerseits über die ganze Dauer der Heizperiode (\Vinterchloride) gelagert und an­dererseits solche, die während der Sommerperiode vom Abschluß bis zum Beginn der Heizperiode gealtert worden sind. Auf diese Weise erhält man einen Überblick über die Feuchtigkeitsverhält-

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Neues Verfahren, Identität und Alter von Tintenschriften festzustellen 1 9

nisse in den einzelnen Jahren und hat außerdem den Vorteil, die lokalen Alterungsbedingungen genau erfaßt zu haben.

Ein praktischer Fall.

Nun möge ein Beispiel das Gesagte veranschaulichen: In einer Zivilstreitsache wurde vom Beklagten ein Pachtvertrag

vorgelegt, der nach dem Datum angeblich vor 2 Jahren ausge­stellt sein sollte. Wie das Lichtbild l auf S. 9 zeigt, entnahmen wir an zwei Stellen der Urkunde einen Ausschnitt, für das Chlorid­und Sulfatbild. Der größere Ausschnitt das Chloridbild, läßt er­kennen, daß die Verbreiterung des Chlorids sich etwa an der Grenze zwischen dem 3. und 4. Verbreiterungsstadium befindet. Das die Schriftzüge begrenzende dunkle Chloridrändchen beginnt nach außen eben unscharf zu werden. Auch ist das Chlorid bereits auf die Rückseite des Papiers in allen Teilen durchgedrungen (Abb. 2 auf S. 9}. Das kleinere Sulfatbild läßt unter der Lupe bei 8-IOfacher Vergrößerung keinerlei Unschärfe oder Verbreiterung gegenüber der angrenzenden Originalschrift erkennen und ist im Innern homogen braun und schwachglänzend. Dieses Aussehen des Sulfatbildes spricht dafür, daß die Urkunde eine unnatürliche feuchte Lagerung nicht erfahren hat. Infolgedessen kann die Ver­breiterung des Chlorids als Unterlage für die Altersschätzung be­nutzt werden. Da die Untersuchung zu Anfang des Monats Januar, also in einer Jahreszeit vorgenommen wurde, in der in einem ge­heizten Raume infolge der zunehmenden Trockenheit gegen Aus­gang der Heizperiode nur eine äußerst langsame Chloridwande­rung stattfindet, mußten als Höchstalter 3 Monate genannt werden. \Väre die gleiche Untersuchung aber z. B. im Monat September vorgenommen worden, in dem die Schnelligkeit der Chiaridwande­rung ihre höchsten Werte erreicht, wäre das Alter der Schrift auf höchstens 10-20 Tage zu schätzen.

Als Gegenbeispiel zeigen wir in der Abb. 3 und 4 auf S. 9 ein 14 Tage altes Chloridbild, das nach dem Grade der Salzsäure­verbreiterung bei trockener Lagerung in einem geheizten Raum (die Schrift stammt von Ende Januar) etwa 2-3 Monate alt geschätzt werden könnte. Aus den bereits merklich verschwom­menen Konturen des zugehörigen Sulfatbildes Abb. 5 auf S. 9 geht jedoch hervor, daß das betreffende Schriftstück außergewöhn­lich feucht aufbewahrt worden war. Infolgedessen ist eine genane Altersschätzung nach der Chiaridverbreiterung hier nicht möglich und man kann nur sagen, daß die Schrift wesentlich jünger ist als 2 .Monate.

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Bei der Altersschätzung des oben erwähnten Pachtvertrages hatten wir nicht berücksichtigt, daß die Helligkeit des Schrift­bildes gegenüber dem 3 :Monate alter Schriften gleicher Chlorid­verbreiterung aus unserer Chloridbildersammlung auffallend gering ist. Die Ursache dieser schlechten Ausbildung des hellen Schrift­bildes ist darin zu suchen, daß ein helles Schriftbild, wie einwand­frei festgestellt werden konnte, sich um so schlechter ausbildet, je feuchter ein Schriftstück lagert und zwar tritt eine solche Ver­änderung des Schriftbildes schon bei Feuchtigkeitsgraden auf, die durch eine Wanderung der Schwefelsäure noch nicht angezeigt werden [Dtsch. Z. gerichtl. ~Ied. Bd. 28, S. 285 (1937)]. Ein Ver­gleich der Helligkeit von Schriftbildern zweier Schriften ist aber nur dann zulässig, wenn eine Vergleichsschrift ähnlichen Chlorid­gehalts zugrunde gelegt wird, denn die Zeitdauer der Ausbildung eines hellen Schriftbildes hängt natürlich in erster Linie von der Menge des vorhandenen Chlorides ab, welche verdrängt werden muß.

Auf Grund dieser Beobachtung können wir also den Schluß ziehen, daß der Pachtvertrag tatsächlich gar keine so trockene Lagerung erfahren hat~ wie wir sie bei Festsetzung des möglichen Höchstalters der Urkunde ursprünglich angenommen haben und es ist deshalb sehr wahrscheinlich, daß die Niederschrift des Pacht­vertrages vor weit kürzerer Zeit als vor 3 l\fonaten, möglicher­weise erst vor 2-3 Wochen vor Ausführnng der Untersuchung erfolgt ist.

In dem Schriftbild der Chiaridreaktion und in dem Sulfat­bild verfügen wir demnach über zwei, man möchte sagen Registrier­einrichtungen, die uns die Einwirkung höherer Feuchtigkeitsgrade bei der Lagerung einer Schrift mit Sicherheit anzeigen und die sich gegenseitig in vorteilhafter \Veise ergänzen. \Vährend das Sulfatbild die Feuchtigkeit gewissermaßen additiv registriert, wird durch das Schriftbild der Feuchtigkeitszustand festgehalten, der während der ersten Aus\vanderung der Salzsäure aus dem Schrift­zuge vorgeherrscht hat. Es hat sieh nämlich ergeben, daß ·weder ein helles Schriftbild durch eine darauffolgende rasche Alterung noch ein graues Schriftbild durch eine besonders trockene Lage­rung verändert werden kann.

Um das in dem Abschnitt Gesagte noch einmal kurz zusammen­zufassen: Die Beurteilung des Alters einer Schrift erfolgt an Hand des Chloridbildes

1. nach dem Grade der Verbreiterung des aus der Tinte stam­menden Chlorides,

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b) Bei einer Tinte, die sehr viel Schwefelsäure und Chloride höchstens nur in Spuren enthält, ist die Bildung eines· hellen Schriftbildes oft schon nach wenigen Tagen erreicht. Dieser Zu­stand hält sehr lange Zeit an, da ja bei sehr trockener Lagerung einer Verbreiterung der Schwefelsäure erst nach vielen Jahren be­merkbar wird. Insofern ist eine Angabe über das Alter der Schrift nicht möglich. Immerhin wird man das Alter der Schrift auf 10 Jahre begrenzen können, da erfahrungsgemäß in diesem Zeit­raum auch bei trockenster Lagerung einer Urkunde zum min­desten eine Unschärfe der Sulfatbilderkonturen eingetreten wäre. Sind jedoch Angaben über die Lagerungsumstände der zu prüfen­den Urkunde vorhanden, sei es, daß der Täter behauptet dieselbe an einem feuchten Lagerungsort wie z. B. in einem im Winter ungeheizten Raum, auf dem Dachboden oder in einem Gartenhaus aufgefunden zu haben, oder ließ sich die Aufbewahrungsweise der Urkunde auf andere Weise bestimmen, so kann das Höchstalter der Schrift unter Umständen auf Monate, Wochen oder gar Tage herabgesetzt werden, da ja die Schwefelsäure schon bei kurzer Einwirkung hoher Luftfeuchtigkeit einer Wanderung unterliegt. In solchen Fällen, bei denen die Schärfe des Sulfatbildes für die Altersbestimmung herangezogen wird, ist es aber dann notwendig, das Papier der Urkunde auf die Anwesenheit kohlensauren Kalks zu prüfen oder eine sog. Raschalterung durchzuführen, um sich zu vergewissern, ob auf dem Papier überhaupt eine Schwefel­säurewanderung stattfindet.

3. Alterungsbild. Die Chloridreaktion liefert ein helles, verbreitertes, jedoch nach außen verhältnismäßig scharf abgegrenztes Schriftbild; das Sulfatbild ist ebenfalls verbreitert.

In früheren Abhandlungen haben wir dargelegt, daß die Ent­stehung eines hellen Schriftbildes bei der Chloridreaktion darauf zurückzuführen ist, daß sich die Chloride des Papieres mit der in der Tinte vorhandenen Schwefelsäure umsetzen und als freie Salzsäure den Schriftzug verlassen. Eine ebensolche Umsetzung tritt ein, wenn die Schwefelsäure im Laufe der Jahre über die sichtbaren Schriftzüge hinauswandert. Sie drängt also gleichsam das Chlorid des Papiers immer mehr nach außen, weshalb nun das helle Schriftbild gegenüber den ursprünglichen Schriftzügen mehr oder weniger verbreitert erscheint. Demnach haben wir also die Möglichkeit, die Wanderung der Schwefelsäure erstens direkt am Sulfatbild und zweitens indirekt an dem bei der Chlorid-

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reaktion erhaltenen hellen Schriftbild nachzuweisen. Die Abb. 6 und 7 auf S. 10 zeigen z. B. ein solches Chlorid- und Sulfatbild aus einem im Sommer 1936 von uns bearbeiteten Fall in etwa 8 facher Vergrößerung. Die dargestellten Schriftzüge sind Teile einer Unterschrift unter einem mit der Maschine geschriebenen Vertrag, der angeblich im Jahre 1930 verfertigt wurde. Da unter anderem die Unterschrift eine auffallend hellblaue Farbe auf""'ies, wurde der Verdacht geäußert, die Urkunde sei vermutlich erst vor kurzem angefertigt worden. An beiden Bildern ist die Ver­breiterung des Schriftbildes gegenüber den ursprünglichen Schrift­zügen deutlich zu erkennen und doch ist jedes von ihnen für die Beurteilung des Alters der Schrift von besonderer Bedeutung und nicht zu entbehren.

Die Feststellung, daß eine Verbreiterung der Schwefelsäure stattgefunden hat, ist, worauf wir bereits hingewiesen haben, kein Beweis dafür, daß eine Schrift ein hohes Alter aufweist, denn die beobachtete Verbreiterung könnte genau so gut durch eine feuchte Lagerung der Urkunde in wenigen Tagen zustande gekommen sein. Nun wissen wir aber aus dein über das l. Alte­rungsbild behandelten Abschnitt, daß die Helligkeit des bei der Chiaridreaktion erhaltenen Schriftbildes um so vollkommener ist, je langsamer die Ausbreitung des in den Schriftzügen vor­handenen Chlorides vonstatten gegangen ist, und es hat sich weiter ergeben, daß diese Beobachtung auch auf das verbreiterte Chloridschriftbild· zutrifft.

Bei unserem Schriftbild Abb. 6 ist der Übergang von dem Weiß des Schriftbildes nach dem Grau des Papiers auffallend schroff und das Schriftbild besitzt ein fast rein weißes Aussehen. DiesPlbe Erscheinung zeigte die Rückseite des Schriftausschnittes, denn die Schwefelsäure war gleich wie in die Breite auch in die Tiefe des allerdings verhältnismäßig dünnen Papieres (ähnlich Durchschlagspapier) gedrungen und hatte hier ebenfalls die im Papier vorhandenen Chloride verdrängt.

Ein solches Schriftbild kann nur durch eine langsame Schwefel­säur~wanderung zustande kommen, denn wäre, um bei dem Bei­spiel zu bleiben, die Unterschrift erst in dem Laufe der letzten Wochen geleistet worden, so wäre es wohl möglich, daß die Schwefel­säure bei sehr hoher Luftfeuchtigkeit auf die Rückseite durch­drang, aber das Chloridschnftbild wäre dann trübe, verschleiert unn würde ganz verschwommene Konturen aufweisen. vVir kommen daher zu dem Ergebnis, daß die Schrift sicher mehr als 2 Jahre alt ist und zu dem angegebenen Zeitpunkt (1931) geschrieben sein kann.

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In Fällen, bei denen die seitliche Verbreiterung der Schwefel­säure zweifelhaft erscheint, oder die Schwefelsäure infolge eines zu dicken Papieres noch nicht auf die Rückseite durchdringen konnte, empfiehlt es sich, eine kleine Schriftstelle bis zum voll­ständigen Verschwinden der Schriftzüge gleichmäßig abzura­dieren und dieselbe zusammen mit einem nichtabradierten Schrift­zug mittels der Reaktion nach Camphuis-Hanikirsch zu prüfen. War eine Schwefelsäurewanderung bereits in die Tiefe erfolgt, so erhalten wir an der radierten Stelle ein weißes Schrift­bild auf dunkelbraunem Grunde. Ferner tritt als Beweis für die seitliche Verbreiterung an dem nichtradierten Schriftzug viel­fach ein weißes Rändchen in Erscheinung [Angew. Chem. Bd. 44, S. 650 (1931)], welches auf die seitliche Verdrängung der Papier­chloride zurückzuführen ist (s. Abb. 8 auf S. ll).

Die Bilder Abb. 6 und 7 sind geeignet, auch noch auf eine n.n­dere wichtige Erscheinung aufmerksam zu machen. Bei Vergleich der Verbreiterung des Sulfatbildes mit dem hellen Chloridschrift­bild fällt auf, daß das letztere erheblich verbreiterter ist als das Sulfatbild. Diese Erscheinung konnten wir auch sonst in ähnlichen Fällen beobachten und es ergibt sich dadurch die Möglichkeit, mit Hilfe der Chloridreaktion selbst dann noch eine Schwefel­säureverbreiterung festzustellen, wenn dieselbe direkt am Sulfat­bild noch gar nicht bemerkbar ist. Damit steht möglicherweise eine andere Beobachtung im Zusammenhang. In einem alten Buch erhielten wir auf der einer Schrift gegenüberliegenden Seite mit Hilfe der Chiaridreaktion ein helles Schriftbild, ohne daß es gelang, an derselben Stelle ein entsprechendes Sulfatbild zu erzeugen. Das helle Schriftbild war schon im ultravioletten Bild als hell erscheinende Schriftstelle (Verätzung n im Papier erkenn­bar. Die Erscheinung ist nur so zu erklären, daß äußerst feine Schwefelsäurespuren mit der Sulfatreaktion nicht mehr erfaßbar sind.

4. Alterungs bild:

Die Chloridreaktion liefert ein stark verbreitertes helles Schriftbild. Das entsprechend verbreiterte Sulfatbild umschließt Schriftzüge, die heller sind als ihre Um-

gebung.

Ähnlich wie das Chlorid unter dem Einfluß der Schwefel­säure aus den Schriftzügen ins angrenzende unbeschriebene Papier zurückweicht, erleidet auch das Sulfat eine allmähliche Verdrän­gung, nur erfordert dieser Vorgang im allgemeinen weit längere

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Zeit. Je mehr Sulfat in einem Schriftzug vorhanden ist, desto länger dauert dieser Vorgang. Welches die Ursachen dieser Ver­drängung des Sulfates sind, ob irgendwelche Wasserstoffionen spendende Stoffe die Sulfate mobilisieren, oder Oberflächen­kräfte eine Rolle spielen, ließ sich bis jetzt noch nicht klären. Jedenfalls ist die Feststellung bemerkenswert, daß das helle Sulfatschriftbild im Gegensatz zu dem bei der Chiaridreaktion erhaltenen hellen Schriftbild keine Verbreiterung erleidet, weil hier im Schriftzug keine Stoffe mehr zugegen sind, die der abwan­dernden Schwefelsäure zu folgen imstande wären. Überein­stimmend damit ist jene schon früher einmal geschilderte Beob­achtung, daß neutrale Blauholz- und \Vasserblautinten bei der Chloridreaktion in hohem Alter gleichfalls ein helles Schriftbild liefern, das keiner Verbreiterung fähig ist. Zweifellos handelt es sich hier um zwei in ihren Ursachen ganz ähnliche Erscheinungen.

Ein praktischer Fall.

Der Fall eines hellen Sulfatschriftbildes begegnete uns erst unlängst wieder bei einem Testament, das angeblich im August 1918 wenige 1\Ionate vor dem Tode der Erblasserin geschrieben sein sollte. Der als Erbe eingesetzte Sohn behauptete, bei der Übergabe des Testaments an das Nachlaßgericht, das Schrift­stück, das notariell nicht beglaubjgt war, vor wenigen lrlonaten auf dem Dachboden des von ihm gekauften elterlichen Hauses in einem alten Buche gefunden zu haben. Die Geschwister be­stritten jedoch die Richtigkeit der Urkunde und erstatteten An­zeige. Als wir die Urkunde zur Untersuchung erhielten, war das Papier derselben wie durch längere Lagerung in einem feuchten Raume etwas mürbe geworden, von Sporflecken durchsetzt, je­doch kaum vergilbt und die Schrift hatte an allen dünngeschriebe­nen Stellen eine schmutzig okergelbe bis braune Farbe angenom­men. Nur an stärkeren Tintenauflagerungen waren noch Teer­farbstoffrückstände von schieferstahlblauer Farbe vorhanden, wodurch die Schrift ein eigenartig geflecktes Aussehen erhielt. Ob­gleich diese Beobachtungen stark für die Echtheit der Urkunde sprachen, w11rde doch noch zur Sicherheit eine chemische Alters­bestimmung durchgeführt, da hierbei gleichzeitig eine etwaige künstliche Alterung der Urkunde unter Verwendung wässeriger Lösungen bzw. Chemikalien erkannt worden wäre.

Der Umstand, daß bei der Chloridreaktion ein verhältnis­mäßig helles und ebenso wie bei der Sulfatreaktion verbreitertes Schriftbild (s. Abb. 9 und 10 auf S. 11) erhalten wurde, konnte

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ohne weiteres noch nicht als Beweis für ein derartig hohes Alter der Urkunde angesehen werden, da m~n eine ähnliche \Virkung vielleicht auch durch eine raschere Alterung erzielt haben würde. In der Mitte des Sulfatbildes zeichnete sich jedoch deutlich ein gegenüber den umgebenden Sulfatresten helles Schriftbild ab. Eine solche Erscheinung hatten wir bei raschen Alterungen noch nie, dagegen schon vielfach bei normal gealterten Schriften be­obachtet. Berücksichtigend, daß die Aufbewahrung des fraglichen Schriftstückes in dem erwähnten Buch die Einwirkung allzu großer Feuchtigkeit verhindern konnte, sprachen wir uns deshalb im Zusammenhalt mit den übrigen Beobachtungen dahingehend aus, daß die Urkunde tatsächlich ein sehr hohes Alter besitze und zu dem angegebenen Datum geschrieben sein könne. Offen bleibt dann allerdings die Frage, ob da.s Schriftstück schon da­mals, vielleicht kurz nach dem Tode der l\futter betrugshalber angefertigt wurde.

Nicht zu verwechseln mit der Entstehung eines derartigen hellen Sulfatschriftbildes ist die bereits früher einmal von uns erwähnte Erscheinung [Angew. Chem. Bd. 44, S. 649 (1931)], daß bei sehr hohem Sulfatgehalt des Papieres dieses beim Schreiben innerhalb der Schrifzüge stellenweise oberflächlich weggelöst und dann vorwiegend am Rande der Schriftzüge abgelagert wird. Im Gegensatz dazu erstreckt sich ein durch sehr hohes Alter erzeugtes helleR Sulfatschriftbild gleichmäßig auf alle Teile eines Schrift­zuges.

Meine Absicht war, in dem Vorhergehenden zu zeigen, daß es eine Reihe von Möglichkeit-en gibt, auf Grund der Chlorid- und Sulfatreaktion ein Urteil über das absolute Alter einer Schrift zu gewinnen. Der Leser konnte daraus aber auch ersehen, daß der Nachweis, daß eine Schrift jung ist, praktisch nur dann mit Sicher­heit erbracht werden kann, wenn innerhalb oder in der Umgebung eines Schriftzuges noch aus der Tinte stammende Salzsäurespuren vorhanden sind, und zwar läßt sich in diesem Fall das Alter einer Schrift um so genauer bestimmen, je rascher eine Urkunde nach ihrer Anfertigung zur Untersuchung gelangt. Auch kann die Altersbegrenzung im Sommer infolge der rascheren Wanderung des Chlorides enger gezogen werden als während der Heizperiode. Unabhängig davon ist es zum Zweck einer gerraueren Stellung­nahme für den Sachverständigen unbedingt notwendig, daß dem­selben von sciten des Auftraggebers zur Kenntnis gebracht wird, wann die zu untersuchende Schrift angeblich geschrieben wurde

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(sofern dieses Datum nicht schon auf der Urkunde steht), wann sie vermutlich entstanden ist (bzw. Angabe des kritischen Zeit­punktes) und an welchem Datum die Urkunde zu den Akten ge­nommen wurde. Sind irgendwelche Lagerungsverhältnisse der Urkunde bekannt, oder vom Eigentümer namhaft gemacht, so kann auch ihre Berücksichtigung für die Beurteilung von größter Bedeutung sein, wie oben verschiedentlich zum Ausdruck ge­kommen ist.

II. Die Bestimmung des relativen Schriftalters.

\Vährend die Bestimmung des absoluten Alters einer Schrift, wie wir gesehen haben nur auf Grund eines sog. Alterungsbildes, d. h. der Verbindung von Chlorid- und Sulfatbild vorgenommen werden kann, ist eine relative Altersbestimmung auch an Hand eines einzelnen Reaktionsbildes durchführbar. Eine Altersbestim­mung bezeichnen wir allerdings nur dann als relativ, wenn die zu vergleichenden Schriften sich erstens auf genau demselben Papier und zweitens auf demselben Bogen, in demselben Heft, Buch, Ordner befinden, so daß die Gewähr gegeben ist, daß die Schriften genau dieselbe Lagerung elfahren haben. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, so sind die gleichen Leitsätze in Anwendung zu brin­gen, wie wir sie bei der absoluten Altersbestimmung kennenge­lernt haben ..

L Das Chloridbild als Beurteilungsgrundlage.

Wegen seiner raschen Wanderung ist das Chloridbild zur Er­kennung von Altersunterschieden besonders von jungen Schriften geeignet und in der Regel auch unentbehrlich, da eine Verbreite­rung der Schwefelsäure in so frühem Stadium einer Schrift nor­malerweise noch nicht stattgefunden hat. Ein schönes Beispiel einer solchen Altersvergleichung begegnete uns in einem Fall, den wir im Auftrag eines Kollegen bearbeitet haben.

Ein praktischer Fall.

Ein Lehrer war hier beschuldigt worden, ein Schulwochen­buch, das er laufend zu führen hatte, neu und in einem Zuge an­·gelegt zu haben. Sämtliche Einträge zeigten nämlich eine auf­fallende Gleichmäßigkeit, sowohl in der Tintenfarbe, wie auch in der Schreibweise. Zum Zwecke der Untersuchung entnahmen wir dem Buch kleine Schriftausschnitte aus verschiedenen Wochen­einträgen und u,nterwarfen sie gemeinsam (wie stets bei relativen

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Altersbestimmungen) der Chloridreaktion. Die auf diese Weise gewonnenen Chiaridbilder (Abb. 11-20 auf S. 11) lassen deutlich eine zunehmende Verbreiterung des Chlorides erkennen, begin­nend vom jüngsten Eintrag in der 33. bis zurück zur 3. Schul­woche. Auf Grund dieses eindeutigen Ergebnisses konnte die dem Lehrer zur Last gelegte Beschuldigung naturgemäß nicht mehr auf-rechterhalten werden. .

2. Das Sulfatbild als Beurteilungsgrundlage.

Da die in einer Schrift enthaltene Schwefelsäure bei Lagerung einer Urkunde in einem trockenen im "\Vinter geheizten Raum nur äußerst langsam wandert, ist bei derartig gelagerten Schriften eine relative Altersbestimmung auf Grund der Schwefelsäure­verbreiterung nur bei sehr großen Zeitunterschieden möglich. Vielfach ist aber die Aufbewahrung von Schriftstücken, nament­lich in ländlichen Verhältnissen weit weniger sorgsam, die Schrift­stücke werden oft in einer dampferfüllten Küche, in einem un­geheizten Raume aufbewahrt, oder in der Brusttasche getragen und so können daher häufig auch schon bei jungen Schriften Unterschiede in der Sulfatverbreiterung beobachtet werden. Einen derartigen Fall hat der Verfasser bereits einmal im Arch. f. Krim. Bd. 96, S. 13 (1935) zur Veröffentlichung gebracht. Da dem Sulfatbild für die relative Altersbestimmung eine sehr große Be­deutung zukommt, sollen hier noch einige weitere Beispiele folgen. Dabei ist es mir von Wichtigkeit, die verschiedenen Anwendungs­möglichkeiten des Sulfatbildes bei der Untersuchung von Schrift­stücken zu zeigen und Richtlinien für ihre Beurteilung zu geben.

Praktische Fälle.

Der Landwirt Johann Brugger hatte sich vorgenommen, die Rückzahlung einer von ihm geforderten Schuld in Höhe von 3000 RM. an die Erben seiner verstorbenen Schwester Pauline unter allen Umständen zu vermeiden und legte zu diesem Zweck dem Nachlaßgericht ein Schriftstück vor (Abb. 21 auf S. 12), das mit einer augenscheinlich echten Unterschrift der Verstorbenen versehen war. Der ganze Text hatte, wie es der Ausschnitt in der linken unteren Ecke der Abbildung zeigt, ein tief dunkel­schwarzes Aussehen, nur die Unterschrift Pauline Brugger war bräunlich verblaßt und weitgehend oxydiert. Bei näherer Prü­fung mit der Lupe stellten wir fest, daß sich unter dem Satze "den Zins bis 1. Juli erhalten zu haben bescheinigt", Schriftzüge von ähnlich verblichener bräunlicher Tinte befanden wie die

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Unterschrift. Es gelang uns, die obenliegende dicke schwarze Eisengallustinte nach vorausgehender Imprägnierung des Papieres mit flüssigem Paraffin durch vorsichtige abwechselnde Behand­lung mit Ammoniak und Salzsäure fast restlos zu entfernen. Der gleichen Behandlung wurde auch der Buchstabe e des Wortes "sowie" unterzogen, wobei eine andere Schrift nicht in Erscheinung trat. Der Täter hatte also offensichtlich eine alte Zinsquittung mit einer echten Unterschrift der verstorbenen Schwester be­nutzt, durch den Satz "Unterzeichnete erhielt heute von Johann Brugger, Bauer in Unterraderach ihr Vermögensguthaben in Höhe von 3000 Rit:L in \Vorten dreitausend Mark sowie" erweitert und den nachfolgenden alten Quittungstext mit der gleichen schwarzen Tinte überschrieben, um keinen Verdacht zu erregen. Trotz dieses Befundes war zu vermuten, daß der Täter behaupten würde, er habe die Erweiterung der Zinsquittung noch zu Leb­zeiten und im Einverständnis seiner Schwester Pauline Brugger vor­genommen. \Vir fertigten deshalb von 2 Stellen der Urkunde vom neu hinzugesetzten Text und der Unterschrift Sulfatbilder an, welche in Abb. 22 und 23 auf S. 12 in etwa IOfacher Vergrößerung wiedergegeben sind. Aus diesen Bildern ersieht man, daß die Schwefelsäure der Textschrift über die ursprünglichen Schrift­konturen noch gar nicht hinausgewandert ist, während die in der Unterschrift enthaltene Schwefelsäure weit über die doppelte Breite der Originalschriftzüge erreicht hat. Es konnte daher mit Sicherheit gesagt werdenl daß die Erweiterung des Textes geraume Zeit nach Leistung der Unterschrift möglicherweise sogar erst vor ganz kurzer Zeit vorgenon1men wurde. Die zur Fälschung benutzte Tinte ergab leider kein positives Chloridbild, weshalb eine genauere Bestimmung des Fälschungszeitpunktes nicht möglich war.

Ein anderes Mal erhielten wir ein Testament zur Untersuchung, das einen Nachsatz aufwies. In dem Testament war der Sohn des verstorbenen Erblassers als J\;1iterbe ausgeschlossen worden, weil er einer Sekte angehörte. Nachdem aber der Vater bis zu seinem Tode die Pflege des Sohnes gerne in Anspruch genommen hatte, glaubte dieser, daß die Gültigkeit des Testaments nicht mehr aufrechterhalten worden sei. Der Nachsatz gleichen Da­tums enthielt nun aber eine Bestätigung des Testaments durch die Itfutter, weshalb sie jhr Sohn beschuldigte, den Nachsatz be­trügerischerweise erst vor kurzem hinzugefügt zu haben. Es handelte sich also um die Frage, ob Testament und Nachsatz gleichzeitig miteinander geschrieben 'vorden sind. Die Sulfat-

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bilder, die wir von beiden Schriftsätzen anfertigten, lassen beide eine starke, jedoch einander völlig ähnliche Verbreiterung der Schwefelsäure erkennen (s. Abb. 24 und 25 auf S. 21). Auf Grund dieses Ergebnisses konnte kein Z1l'eifel bestehen, daß das Testa­ment und der Nachsatz ein ähnliches Alter aufweisen und daß es daher wohl möglich ist, daß sie an demselben Tage geschrieben worden sind. ·

Bei Büchern, die laufend zu führen sind, wie z. B. Geschäfts­bücher, Grundbücher, vVeinbücher usf. erhebt sich nicht selten die Frage, ob irgendwelche Zusätze, Streichungen oder Korrek­turen gleichzeitig mit dem übrigen Text geschrieben, oder später hinzugefügt worden sind. l\1it einer vergleichenden Tintenunter­suchung ist dabei unserer Erfahrung nach in den wenigsten Fällen etwas zu erreichen, und so muß auch meistens zu einer vergleichen­den Schriftalters bestimm ung geschritten. werden. Da der V er­dacht einer solchen Fälschung häufig erst nach Jahren aufkommt, sind wir hierbei in der Regel auf die Beobachtung der Schwefel­säureverbreiterung allein angewiesen. So hatten wir uns erst jüngst in einer Strafsache zu äußern, ob ein Eintrag in einem gemeinderätlichen Protokollbuch, das der Gemeindesekretär zu führen hatte, später betrugshalber hinzugefügt worden sei. Es handelte sich um einen Beschluß des Gemeinderats betreffend der Festsetzung der Gehaltsbezüge des Gemeindesekretärs vom Mai 1928, wonach diesem die Gehaltsgruppe 5b zustehen sollte. Dieser Angabe waren die Worte angefügt "unter Überführung in Gruppe 4 b". Der beschuldigte Gemeindesekretär behauptete, nachdem er zunächst überhaupt jede nachträgliche Hinzufügung abgeleugnet hatte, den Zusatz unmittelbar nach Niederschrift des Protokolls mit Wissen und im Einverständnis des Bürgermeisters geschrieben zu haben. Zur Klärung der Frage entnahmen wir den Protokollbucheinträgen Ausschnitte aus allen Jahren bis in die neueste Zeit zwecks Anfertigung der Sulfatbilder und es stellte sich heraus, daß die Verbreiterung der Schwefelsäure bei dem verdächtigen Zusatz, gemessen an der Breite der rnsprünglichen Schriftzüge eine unverkennbare Ähnlichkeit aufwies mit den Protokollbucheinträgen aus den Jahren 1932-1933. Der Bürger­meister, der angeblich sein Einverständnis zu jener Änderung gegeben hatte, war aber bereits im Jahre 1929 gestorben. Ich kann mich nicht enthalten, die Schlußworte des Angeklagten in der Hauptverhandlung, die einer gewissen Komik nicht entbehren, hier im \V ortlaut anzuführen:

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Auf die Frage des Vorsitzenden: "Angeklagter, ich frage Sie nochmal, haben Sie zu dem Zeitpunkt der Fälschung noch etwas zu sagen?''

Angeklagter: "Ich muß so sagen (wie oben), weil ich es so in der Erinnerung habe."

Vorsitzender: "Was heißt das, ,ich muß so sagen', das kann man so oder so deuten."

Angeklagter: "Der Bürgermeister hat mir versprochen, daß ich nach Durchlauf meiner Dienstjahre in Gruppe 4 b ein­gereiht werde."

Vorsitzender: "Er hat Ihnen doch nichts über den Tod hinaus versprochen? Könnte die Fälschung auch später, also nach dessen Tode geschehen sein?"

Angeklagter: "Ich Vi'eiß nicht." Vorsitzender: "Könnte sie nicht 1932 geschehen sein 1" Angeklagter: "Es ist möglich, das weiß ich nicht mehr."

In der Z. gerichtl. 1\ied. Bd. 28, S. 269 ( 1937) haben wir aus­geführt, daß auf schwach oberflächengeleimten Papieren eine eigentliche Verbreiterung der Schwefelsäure nicht stattfindet, sondern daß hier der Alterungsvorgang in der \Veise vor sich geht, daß gleich bei der Niederschrift eines Schriftzuges längs der Konturen desselben eine Anreicherung von Schwefelsäure eintritt, die im Laufe der Zeit durch Wanderung ein unscharfes Bild ergibt. Außer diesem Vorgang ist die zunehmende Alterung daran erkennbar, daß sich die 1\fitte des Schriftzuges immer mehr aufhellt. Ein Fall, in dem das Alter eines Punktes zu bestimmen war, soll auch die Anwendung dieser Beobachtung für einen Altersvergleich vor Augen führen. Die gewünschte Feststellung war deshalb von Interesse, weil der Punkt geeignet war, den Sinn eines im Jahre 1917 geschriebenen Briefes zugunsten des Adressaten zu ändern. \Vir durchschnitten den Punkt und fertigten mit der Hälfte desselben zusammen mit einem Teil der vorausgehenden Schrift ein Sulfatbild an, das in Abb. 26 auf S. 22 in IOfacher Vergrößerung wiedergegeben ist. Ans dem Bilde ersieht man, daß nicht nur die Schriftmitte des vorausgehenden Textes, sondern auch das Zentrum des Punktes infolge Allwanderung der Schwefel­säure hell geworden war, obwohl der letztere infolge seiner dicken Auftragung (höchstwahrscheinlich dieselbe Tinte) besonders viel Schwefelsäure enthalten haben mußte. Ebenso ist die Randbil­dung beim Punkt und bei der Schrift gleichermaßen stark ver­schwommen. Auf Grund dieser Befunde sprachen \vir uns dahin-

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gehend aus, daß Text und Punkt sehr lange Zeit zusammen ge­altert sind. Damit war der Zweck der Untersuchung erreichtt denn es sollte nur festgestellt werqen, ob die Hinzufügung des Punktes in der letzten Zeit erfolgt ist, was auch mit Sicherheit zu vernei­nen war.

3. Das helle Chiaridschrift bild als Beurteilungsgrundlage.

An Stelle des Sulfatbildes kann zur Sichtbarmachung der unter­schiedlichen Schwefelsäureverbreiterung zweier Schriften natür­lichgenauso gut das helle Chloridschriftbild herangezogen werden. In praktischen Fällen fertigen wir stets beide Bilder an, schon deshalb, um etwa noch vorhandene Chiaridspuren aus der Schrift feststellen zu können. Wenn aber das Papier einer Urkunde zu viel Sulfate enthält, oder eine Schrift kein brauchbares Sulfat­bild mehr liefert, so ist man allein auf das helle Chiaridschrift­bild angewiesen. \Vie nützlich in diesen Fällen ein solches Bild sein kann, möge folgender Fall dartun.

Ein praktischer Fall.

In einer Erbschaftsauseinandersetzung über das Vermögen der Eltern wurde von einem Sohn eine Bescheinigung vorgelegt, wonach das elterliche Haus ihm zuerkannt worden sei und er beschwor auch die Richtigkeit der Unterschrift. Trotzdem be­schuldigten ihn seine Geschwister der Urkundenfälschung und des :Meineids. An der Urkunde fiel auf, daß die Oberkante der Bescheinigung unregelmäßig, wahrscheinlich mit einer Schere beschnitten war und bei näherem Zusehen konnte man auch an der oberen Kante Teile einer ehemals oben befindlichen Schrift erkennen. Es bestand daher die Vermutung, daß der Beschul­digte den obenstehenden Schriftsatz abgeschnitten und in den zwischen diesem und der echten Unterschrift seiner !vlutter ,,Frau Anselm Fließ" freigebliebenen Raum einen neuen Text eingesetzt hatte. Um diesem Verdacht eine weitere Grundlage zu geben, war uns vom Gericht die Aufgabe gestellt worden, das Alter der Unterschrift im Vergleich zu dem oben und unten stehenden Text zu prüfer1. Bei dieser Untersuchung ergab sich folgender interessanter Sachverhalt~ Die Unterschrift lieferte bei der Sulfat­reaktion ein helles nicht verbreitertes Schriftbild (Abb. 29 aufS. 22), in dessen Umgebung äußerst schwache Schwefelsäurespuren vor­handen waten. Die Schwefelsäure war also restlos aus dem Schrift­zug ausgewandert und hatte, wie an dem stark verbreiterten Chiaridschriftbild (Abb. 27 oben) zu erkennen ist, das Chlorid

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des Papieres weit nach auswärts gedrängt. Im Gegensatz dazu erhielten wir beim Text ober- und unterhalb der Unterschrift ein zwar nicht mehr völlig scharfes, jedoch unverbreitertea Sulfat­(Abb. 28 auf S. 22) und Chloridschriftbild, . und zwar letzteres von fast reiner weißer Beschaffenheit (Abb. 27 unten). Unser Gutachten lautete daher, daß die Unterschrift mindestens das doppelte Alter aufweise wie der Text, denn sowohl das verbreiterte Chloridschriftbild der Unterschrift, das angesichts der starken Verbreiterung noch eine beträchtliche Helligkeit aufweist, wie auch das helle Sulfatschriftbild können erfahrungsgemäß nur durch eine verhältnismäßig trockene und lange Alterung zustande ge­kommen sein.

4. Die Helligkeit des Chloridschriftbildes als Beurteil ungsgrundlage.

Eine weitere Möglichkeit, das Alter von Schriften vergleichs­weise auf seine Richtigkeit zu prüfen, ergab sich anläßlich eines Falles, den ich wegen der Eigenartigkeit der Befunde nicht un­erwähnt lassen möchte.

Ein praktischer Fall.

Nach dem im Sommer 1936 erfolgten Tode des Landwirts N. wies ein Schreinermeister den Erben eine Rechnung für Arbeiten vor, die er angeblich im Auftrag des Landwirts aufgeführt hatte und die zum Teil schon über ein Jahr zurücklagen. Die Erben bestritten die Richtigkeit der Forderung und bezichtigten ihn des Betrugs, was den Schreiner veranlaßte, sein Rechnungsbuch vor­zulegen. In diesem waren die in der bestrittenen Rechnung auf­geführten Beträge wohl eingetragen, jedoch in einer Weise, die allerstärksten Verdacht erwecken mußte. Alle übrigen Einträge waren nämlich fast ausnahmslos mit Blei- oder Tintenstift ge­schrieben worden, nur zu den fraglichen Einträgen hatte offenbar ein und dieselbe Eisengallustinte Verwendung gefunden. Auch waren die Einträge vielfach zwischen die Zeilen eingefügt. Trotz dieser außerordentlich belastenden Anzeichen wurden aber von den fraglichen Einträgen Chloridbilder erhalten, die keineswegs, wie man hätte erwarten können, etwa gleichartig waren, sondern die in der Helligkeit des Schriftbildes erheblich voneinander ab­wichen. Die Chloridspuren waren, als wir die Untersuchung im Oktober 1936 vornahmen, schon sehr stark verbreitert, so daß eine zuverlässige Entscheidung an Hand derselben nicht . mehr möglich gewesen wäre. Was aber die Helligkeit des Schriftbildes

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betrifft, so erinnern wir uns nun aber daran, daß diese einen Gradmesser für die Höhe der bei der Austreibung des Chlorids aus den Schriftzügen vorherrschenden Luftfeuchtigkeit darstellt und da die letztere eine starke Abhängigkeit von Jahreszeit und \Vitte­rung aufweist, wird daher auch das Schriftbild in den einzelnen Monaten eine ganz verschiedene Ausbildung erfahren. Bei der Prüfung des Rechnungsbuches erhielten wir tatsächlich bei den Einträgen aus den .Monaten August, September und Oktober, also aus den lVIonaten der höchsten relativen Luftfeutigkeit, graue verschwommene Schriftbilder, während die Chiaridbilder der Einträge aus den :Monaten November und Dezember, offenbar infolge der Heizung ein auffäl1ig helles Schriftbild aufwiesen. Die Schriftbilder der folgenden l\'lonatseinträge waren wieder genau so verschwommen und grau wie die erstgenannten, da offen­sichtlich die feuchte Frühjahrswitterung wieder eine raschere Wanderung des Chlorides bewirkte. Um den Einfluß des Chlorid­gehaltes auszuschalten, wurden von uns zur Untersuchung mög­lichst gleich starke Schriftstellen gewählt und den einzelnen Ein­trägen auch mehrfach Proben entnommen. So hatten sich also trotz aller Verdachsgründe die Bekundungen des Schreinermeisters als nicht widerlegbar erwiesen, wenngleich auch die Möglichkeit offen bleiben mußte, daß der Beschuldigte gelegentlich einige Einträge zu gleicher Zeit vorgenommen hatte, wann sich gerade die Gelegenheit dazu bot.

Aus den vorstehenden Ausführungen kann ersehen werden, daß eine allgemein gültige Angabe darüber, in welchem Falle eine rela­tive Altersbestimmung noch Erfolg haben wird, nicht möglich ist. Zur Erkennung einer Fälschung kommt es doch nur darauf an, daß die zu vergleichenden Schriften bei den Altersreaktionen möglichst große Unterschiede aufweisen, gleichgültig, ob diese nun durch große Zeitabstände entstanden sind, oder was damit gleichbedeutend ist, durch eine rasche Alterung der Urkunde in feuchter Umgebung. Demgegenüber muß eindringlich betont werden, daß große Unterschiede sowohl beim Chlorid- wie beim Sulfat in erster Linie dann zu erwarten sind, wenn die zu prüfenden Schriften beim Auftreten eines Fäl­schungsverdachtes so rasch wie möglich einer Unter­suchung unterworfen werden. Nichts ist bedauerlicher, als wenn dem Sachverständigen eine Urkunde erst nach langen Prozeßstreitigkeiten zugeleitet wird, die als Fälschung zu erkennen vielleicht bei Beginn des Verfahrens möglich gewesen wäre, nun aber als solche nicht mehr nachweisbar ist.

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Die Grenzen, innerhalb deren eine Beurteilung des Schrift­alters nach der Chlorid- und Sulfatmethode möglich ist, sind nun abgesteckt und die Gefahrenpunkte aufgezeigt. So übergebe ich nun das Verfahren dem weiteren Kreise der Sachverständigen. Der Leser wird aus meinen Darlegungen entnommen haben, daß es mit der Beherrschung der chemischen Handgriffe nicht getan ist. Am richtigen Platze angewandt, vermag die 1\Iethode einzig­artige Ergebnisse zu liefern, die auf andere Weise nicht erhalten werden können. Es wäre aber falsch und ungerecht zu verlangen, daß das Verfahren überall zu einem Erfolge führen müßte; und so möchte ich allen denjenigen, die da~ Verfahren selbst in der Praxis anzuwenden beabsichtigen, empfehlen, besonders in Grenz­fällen, bei der Beurteilung des Schriftalters größte Vorsicht walten zu lassen. Fände diese ~iahnung Gehör, so wäre der Zweck dieser Abhandlung doppelt erfüllt.