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ler pflegen, wenn Sie nicht gerade selber Quantenchemi- ker sind: sie kennen die wichtigsten physikalischen Grund- prinzipien und überlassen die Details der Berechnungen ihren Computern – in deren Inneren ausgerechnet Elek- tronen dafür sorgen, etwas über das Verhalten von Elek- tronen vorherzusagen... Natürlich haben vorher andere (oder auch sie selber) dafür gesorgt, dass physikalische Grundgleichungen in Computerprogramme umgesetzt wurden, oder, wie wir auch noch sehen werden, zumin- dest gute Näherungen der Grundgleichungen program- miert wurden. D aher werden wir uns hier zunächst der Quanten- mechanik und ihren faszinierenden Abweichungen von unseren Alltagserfahrungen widmen. Dies aber im- mer so, dass wir unser Ziel, Moleküle und ihr Verhalten besser zu verstehen, nicht aus den Augen verlieren. Dabei werden wir mit einem Minimum an physikalischen Glei- chungen auskommen – was natürlich nur funktioniert, weil andere diese Gleichungen für uns aufgestellt und häu- fig auch gelöst haben, so dass wir direkt die Ergebnisse in Worte kleiden können. Das entspricht übrigens auch dem Umgang mit der Quantenchemie, den viele Wissenschaft- 170 © 2014 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Chem. Unserer Zeit, 2014, 48, 170 – 188 DOI: 10.1002/ciuz.201400664 www.chiuz.de Quantenchemie, wie das schon klingt... Offenbar nach der Kombination zweier als nicht gera- de „leicht“ verschriener Gebiete. Und genau das ist es auch: eine Kombination von Quanten- physik und Chemie, genauer gesagt, die Benutzung quantenmechanischer Grundgesetze zur Beschreibung chemischer Phänomene. Klingt nach einer Herausforderung an den Verstand, die es auch tatsächlich ist! Das Ziel dieses Beitrags ist aber nicht, Sie zum Experten in Quan- tenchemie zu machen, sondern vielmehr aufzuzeigen, dass man die Chemie sehr viel besser versteht, wenn man ihre physikalischen Grundlagen im Hinterkopf hat. Abb. 1 Elektro- nenspeicherring BESSY II in Berlin- Adlershof. Hier werden Elektro- nen auf einer Kreisbahn gehal- ten, um mit der dabei frei wer- denden elektro- magnetischen Strahlung zu experimentieren. [Quelle: Helmholtz- Zentrum Berlin]. Moleküle und Wellenfunktionen Eine Einführung in die Quantenchemie G EORG J ANSEN

Eine Einführung in die Quantenchemie

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Page 1: Eine Einführung in die Quantenchemie

ler pflegen, wenn Sie nicht gerade selber Quantenchemi-ker sind: sie kennen die wichtigsten physikalischen Grund-prinzipien und überlassen die Details der Berechnungenihren Computern – in deren Inneren ausgerechnet Elek-tronen dafür sorgen, etwas über das Verhalten von Elek-tronen vorherzusagen... Natürlich haben vorher andere(oder auch sie selber) dafür gesorgt, dass physikalischeGrundgleichungen in Computerprogramme umgesetztwurden, oder, wie wir auch noch sehen werden, zumin-dest gute Näherungen der Grundgleichungen program-miert wurden.

Daher werden wir uns hier zunächst der Quanten -mechanik und ihren faszinierenden Abweichungen

von unseren Alltagserfahrungen widmen. Dies aber im-mer so, dass wir unser Ziel, Moleküle und ihr Verhaltenbesser zu verstehen, nicht aus den Augen verlieren. Dabeiwerden wir mit einem Minimum an physikalischen Glei-chungen auskommen – was natürlich nur funktioniert,weil andere diese Gleichungen für uns aufgestellt und häu-fig auch gelöst haben, so dass wir direkt die Ergebnisse inWorte kleiden können. Das entspricht übrigens auch demUmgang mit der Quantenchemie, den viele Wissenschaft-

170 © 2014 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Chem. Unserer Zeit, 2014, 48, 170 – 188

DOI: 10.1002/ciuz.201400664www.chiuz.de

Quantenchemie, wie das schon klingt... Offenbar nach der Kombination zweier als nicht gera-de „leicht“ verschriener Gebiete. Und genau das ist es auch: eine Kombination von Quanten-physik und Chemie, genauer gesagt, die Benutzung quantenmechanischer Grundgesetze zurBeschreibung chemischer Phänomene. Klingt nach einer Herausforderung an den Verstand,die es auch tatsächlich ist! Das Ziel dieses Beitrags ist aber nicht, Sie zum Experten in Quan-tenchemie zu machen, sondern vielmehr aufzuzeigen, dass man die Chemie sehr viel besserversteht, wenn man ihre physikalischen Grundlagen im Hinterkopf hat.

Abb. 1 Elektro-nenspeicherringBESSY II in Berlin-Adlershof. Hierwerden Elektro-nen auf einerKreisbahn gehal-ten, um mit derdabei frei wer-denden elektro-magnetischenStrahlung zu experimentieren.[Quelle: Helmholtz-Zentrum Berlin].

Moleküle und Wellenfunktionen

Eine Einführung in die QuantenchemieGEORG JANSEN

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Die Mitspieler: Elektronen und AtomkerneWas jeder über Moleküle wissen sollte, ist, dass sie aus ei-ner Ansammlung von Atomkernen und Elektronen beste-hen. Jedes Elektron trägt eine negative elektrische Ladungvon der Größe der „Elementarladung“. Im Gegensatz zumElektron haben Atomkerne eine „innere Struktur“: Sie be-stehen aus ungeladenen Teilchen, den Neutronen, und auselektrisch positiv geladenen Teilchen, den Protonen. DieGröße der Ladung jedes Protons entspricht exakt der desElektrons, nur eben mit umgekehrtem Vorzeichen. Wennman genauer hinsieht, weisen auch Neutronen und Pro-tonen wiederum eine innere Struktur auf, diese macht sichaber erst auf so kleinen Größenskalen bemerkbar, dass siein der Chemie getrost vernachlässigt werden kann. Auchsind Atomkerne so klein (ihre Radien sind in der Grö-ßenordnung von fm, also 10–15 m), dass wir in der Che-mie ihre innere Struktur nicht weiter beachten müssenund sie als punktförmige Teilchen ansehen dürfen, mit ei-ner positiven Gesamtladung, die einfach die Summe derLadungen der Protonen ist. In elektrisch neutralen Ato-men und Molekülen werden die Ladungen auf den Atom-kernen durch die Ladungen der Elektronen ausgeglichen:in einem Neonatom mit der Kernladungszahl zehn sind da-zu zehn Elektronen nötig, ebenso wie in einem Wasser-molekül, in dem drei Atomkerne vorhanden sind, nämlicheiner mit der Kernladungszahl acht (ein Sauerstoffatom-kern) und zwei mit der Kernladungszahl eins (zwei Was-serstoffatomkerne).

Sind Atome wie Planetensysteme?Neben ihrer Ladung weisen Atomkerne und Elektronennoch weitere Eigenschaften von zentraler Bedeutung fürdie Chemie auf: sie haben eine Masse und so etwas wie ei-nen Eigendrehimpuls, den Spin. Während uns der Spin nochweiter unten beschäftigen wird, scheint die Bedeutung derMasse unmittelbar klar: wenn man weiß, dass der leichtes-te Atomkern bereits ungefähr 2000 mal schwerer ist als einElektron, drängt sich einem der Vergleich eines Atoms mitdem Planetensystem förmlich auf (die Sonne ist ca. 1050 malschwerer als der Jupiter und ca. 3500 mal schwerer als derSaturn). Demnach würde man vermuten, dass Elektronenauf mehr oder weniger kreisförmigen Bahnen um den Atom-kern unterwegs sind, so wie Planeten auf ihrem „Orbit“ umdie Sonne.

Es gibt allerdings ein paar höchst bedeutsame Unter-schiede zwischen Atomen und Planetensystemen:

(i) die Masse der Teilchen ist völlig anders: ein Protonist ca. 1057 mal leichter als die Sonne;

(ii) Sonne und Planeten dürfen wir als elektrisch neu-tral ansehen – zumindest was die Beschreibung der Plane-tenbahnen angeht.

Dadurch kehrt sich zunächst die relative Bedeutung vonSchwer- und elektrischen Kräften völlig um: während wirbei Planetensystemen die elektrischen Kräfte getrost ver-nachlässigen können, spielt bei Atomen und Molekülen dieGravitation keine Rolle. Und: obzwar Gravitations- und elek-

trische Kräfte auf gleiche Weise mit dem Abstand zwischenden „Teilchen“ variieren (nämlich umgekehrt proportionalzum Quadrat des Abstands), ist die Schwerkraft aus-schließlich anziehend – auch zwischen den Planeten selber– während Elektronen zwar von Atomkernen angezogenwerden, sich untereinander aber abstoßen. Tatsächlichhängt es aber eher mit der Kleinheit der Massen von Atom-kernen und Elektronen zusammen, dass unser Bild vom Pla-netensystem zwar nett anschaulich ist, für eine korrekteBeschreibung von Atomen und Molekülen aber so gar nichttaugt: die Masse eines Protons beträgt winzige 1,67 × 10–27

kg, die eines Elektrons gar nur 9,11 × 10–31 kg.Den ersten Hinweis auf das Versagen klassischer Vor-

stellungen für derartig leichte Teilchen kann man aus fol-gender Überlegung erhalten: Elektrisch geladene Teilchenverlieren oder gewinnen Energie, wenn man ihren Bewe-gungszustand ändert, sie also beschleunigt (oder abbremst).Dabei zählt jede Veränderung einer geradlinigen Bewegungmit konstanter Geschwindigkeit als Beschleunigung. Wennsich ein Teilchen auf einer Kreisbahn bewegt, wird es in je-dem Augenblick „beschleunigt“, nämlich zum Zentrum derKreisbahn hin. Dass bei elektrisch geladenen Teilchen dannEnergie in Form von Strahlung frei wird, wird beispiels-weise in Anlagen wie Speicherringen deutlich: einige, wieetwa BESSY II (Abbildung 1), sind nicht etwa gebaut wor-den, um Elementarteilchen bei hohen Energien zur Kollisi-on zu bringen und damit grundlegende Fragen der Teil-chenphysik zu beantworten, sondern vielmehr, um mit Hilfeder von ihnen abgegebenen elektromagnetischen Strahlungexperimentieren zu können. Während in Speicherringender strahlungsbedingte Energieverlust „von außen“ durchEnergiezufuhr kompensiert wird, steht im Atom kein Hel-fer zur Verfügung, der einem kreisenden Elektron durchEnergiezufuhr wieder auf die richtige Bahn verhilft: Früheroder später müsste das Elektron in den Kern stürzen. Ge-nau dies passiert in Atomen und Molekülen aber offenbarnicht.

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Der Ort des Fußballs ist zu jedem Zeitpunkt durch die Höhe zund die Weite x gegeben, seine Geschwindigkeit ermitteltman durch Division des Differenzvektors zweier Punkte derBahnkurve durch die dabei verstrichene Zeit. Den Fußball sehen wir zu jedem Zeitpunkt, weil ein Teil des an ihm gestreuten Lichts in unser Auge gelangt. [„Icon made by Freepik from Flaticon.com“].

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Weg mit klassischen Vorstellungen!Die Auflösung dieses Widerspruchs gelingt nur, wenn mandie anschauliche Idee einer klassischen „Bewegung auf Bah-nen“ für mikroskopische Teilchen aufgibt und sich in dieGefilde der Quantenmechanik begibt. Die Vorstellung einerBewegung aufzugeben, fällt uns natürlich alles andere alsleicht: Wie sonst soll ein Ball vom Fuß des Stürmers dennins Tor kommen, als auf einer Bahnkurve, wo wir zu jedemZeitpunkt Ort und Geschwindigkeit des Balls zumindestprinzipiell genau kennen – und mit Hilfe einer Hochge-schwindigkeitskamera in guter Näherung auch in der Pra-xis messen können. Aber eben das geht bei „kleinen“ Teil-chen geringer Masse wie Elektronen oder Atomkernennicht, wie uns eines der Grundprinzipien der Quantenme-chanik, die Heisenbergsche Unschärferelation erzählt: Ortund Impuls – und damit die Geschwindigkeit – eines Teil-chens lassen sich gleichzeitig nur mit einer gewissen Un-schärfe bestimmen. Genauer gesagt, das Produkt der Un-genauigkeiten bei der gleichzeitigen Bestimmung von Ortund Impuls unterschreitet niemals die Konstante h/4π, wo-bei π die Zahl bezeichnet, die Sie aus der Berechnung desKreisumfangs kennen, und h das Plancksche Wirkungs-quantum. Da letzteres mit 6,63 × 10–34 kg*m2/s außeror-dentlich klein ist, beobachten wir die Auswirkungen derUnschärferelation im Alltag nicht unmittelbar: makroskopi-sche Objekte wie Fußbälle sind so groß und massiv, dasswinzige Unsicherheiten in der Bestimmung ihres Orts oderImpulses nicht weiter auffallen.

Das ist bei Elementarteilchen völlig anders. Eine Mög-lichkeit, dies etwas besser zu verstehen, ist die, das Beispielmit dem Ball und der Hochgeschwindigkeitskamera mal ge-nauer unter die Lupe zu nehmen: Die Messung der Bahn-kurve beruht darauf, dass wir (und die Kamera) den Ball „se-hen“ können, dass also ein Teil des am Ball gestreuten Lichtsin unser Auge bzw. die Kameralinse fällt. Durch Vergleich mitfixen Punkten in der Umgebung des Balls können wir den

Ort des Balls bestimmen, durch Vergleich zweier unmittel-bar aufeinanderfolgender Bilder des Films und Kenntnis derFilmgeschwindigkeit die Geschwindigkeit des Balls, wobeidies umso genauer gelingt, je höher die Filmgeschwindigkeitist, d.h. je mehr aufeinanderfolgende Punkte der Bahnkurvewir kennen (Abbildung 2). Wiederum beruht diese Messungauf der Streuung von Licht am Ball, nämlich zu zwei raschaufeinander folgenden Zeitpunkten. So weit, so übersicht-lich. Interessant wird die Sache, wenn wir beachten, dassauch Licht durchaus einen Impuls besitzt: Vielleicht habenSie schon einmal das Experiment gesehen, wo man einenkleinen Spiegel im luftleeren Raum mittels eines Laserstrahls„anschubst“. Genau das passiert auch mit unserem Fußball,nur dass das Licht hier von allen Seiten kommt und auchnicht so „konzentriert“ (genauer gesagt gleichphasig) ist,wie bei einem Laserstrahl. Die winzigen „Schubsvorgänge“des Fußballs bleiben also unbemerkt und verfälschen unse-re Messung der Bahnkurve nicht.

Aber dieses Argument gilt für Elementarteilchen nichtmehr: bei ihrer Wechselwirkung mit Licht müssen wir be-rücksichtigen, dass auch Licht in gewissem Sinn einen Teil-chencharakter hat: Selbst wenn die Masse der Photonen(Lichtteilchen) Null ist, haben sie, wie am Stoß des Spiegelsbemerkt, dennoch einen Impuls. Elementarteilchen, die z.B.durch den Lichtstrahl eines Mikroskops fliegen „stoßen“ al-so mit einzelnen Photonen und es gibt keine Möglichkeit,den dabei wie bei jedem Stoßvorgang übertragenen Impulszu kontrollieren (Abbildung 3). Den Ort des Zusammen-stoßes können wir zwar im Prinzip an Hand des gestreutenPhotons feststellen – allerdings, wie für Mikroskope be-kannt, nur mit einer Auflösung, die zur Wellenlänge der ver-wendeten Strahlung proportional ist. Durch einen nachfol-genden Zusammenstoß des Teilchens mit einem zweitenPhoton können wir aber lediglich noch feststellen (ebenfallsmit auflösungsbedingter Ungenauigkeit), welche Ge-schwindigkeit das Teilchen nach dem Stoß mit dem erstenPhoton hat – und nicht mehr, welche Geschwindigkeit eszum Zeitpunkt des ersten Stoßes hatte.

Was man aber immer noch machen kann, sind Aussagenüber Mittelwerte: führen wir das Experiment immer und im-mer wieder mit ekakt identischen Randbedingungen durch(identische „Präparation“ des Experiments: wir bemühenuns, das Elementarteilchen immer in derselben Richtungund mit derselben Energie abzufeuern und lassen unserePhotonen möglichst immer in derselben Richtung und mitderselben Energie los), so können wir wenigstens den mitt-leren Ort des ersten Zusammenstoßens von Elementarteil-chen und Photon mit einer gewissen Genauigkeit festlegenund ebenfalls einen Mittelwert für seine Geschwindigkeit(bzw. seinen Impuls) bestimmen – wobei eben die Unge-nauigkeit der Impulsbestimmung mindestens so groß ist,dass sie die Heisenbergsche Unschärferelation erfüllt.

Hin zur QuantenmechanikDies ist eine zentrale Aussage der Quantenmechanik, dieletztlich daraus resultiert, dass man (unter anderem) diesen

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Bei dem Stoß eines Photons (gewellte Linie) mit einem Elek-tron (Punkt) wird ein Teil des Photonenimpulses auf das Elektron übertragen: der Elektronenimpuls (Pfeil) und dieWellenlänge des Photons sind vor dem Stoß (linker Bildteil)anders als nach dem Stoß (rechter Bildteil).

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Sachverhalt mathematisch zu erfassen sucht. Dieser Theo-rie zufolge – deren Vorhersagen seit fast einem Jahrhundertimmer wieder betätigt werden – muss man sich von einemreinen Teilchenbild für Elementarteilchen lösen – sie alsonicht mehr lediglich als winzige Kugeln ansehen – und ih-nen zusätzlich einen Wellencharakter zubilligen. Dies giltumgekehrt auch für Licht: Licht weist nicht nur reine Wel-leneigenschaften auf, sondern ebenfalls Teilchencharakter.Das kann man bei niedrigen Lichtintensitäten etwa daran be-merken, dass ein Photodetektor, den wir mit einem Laut-sprecher gekoppelt haben, das „Eintreffen“ jedes Photonsmit einem „Klack“ zu erkennen gibt – und nicht etwa mitdem für Wellen zu erwartenden kontinuierlichen An- undAbschwellen eines Tons.

Bei der Konstruktion der Quantenmechanik in den1920er Jahren verfolgte man also das Ziel, die Beschreibungvon Wellen mit der von Teilchen zu koppeln. Dies gelangdadurch, dass man jedem Teilchen – egal, ob es eine Mas-se hat oder nicht – eine Wellenfunktion zuordnete, die sichmehr oder weniger ausbreitet wie Wellen im Raum. Bei Be-trachtung einer Wasseroberfläche hat jeder von uns ein an-schauliches Beispiel vor Augen: die Welle breitet sich hierin zwei Dimensionen aus, nämlich auf der Wasseroberflä-che; ihr Auf und Ab, genauer gesagt, ihre Auslenkung ausder Ruhelage, ist das, was wir mathematisch mit Hilfe einer„Wellenfunktion“ Ψ(r,t) erfassen. Die Wellenfunktion be-schreibt die Auslenkung in Abhängigkeit von Ort und Zeit.

Die Verknüpfung mit dem Teilchenbegriff gelingt danndadurch, dass man das Quadrat der Auslenkung, klassischauch als „Intensität“ bezeichnet, als die Wahrscheinlichkeitinterpretiert, das Teilchen zu einem gegebenen Zeitpunktan einem Ortspunkt zu finden. Genauer gesagt: das Pro-dukt der Intensität zum Zeitpunkt t an einem Ort r mit ei-nem winzig kleinen Volumen um r herum gibt die Wahr-scheinlichkeit an, das Teilchen in diesem Volumen zu fin-den. Das Symbol r bezeichnet dabei einen „Ortsvektor“,anschaulich also einen Pfeil, der von einem willkürlich wähl-baren (aber dann für alle Zeiten festen) „Ursprung“ zum Ortdes Teilchens zeigt. Dieser Ortsvektor hat die drei Kompo-nenten x, y und z, die den Ort der Pfeilspitze im drei -dimensionalen Raum charakterisieren. Wird z.B. eine derunteren Ecken eines Zimmers als Ursprung des Pfeils ge-wählt, meint x den Abstand der Pfeilspitze von einer derWände, y den Abstand zur anderen Wand und z den Ab-stand vom Boden.

Die Wellenfunktion selber lässt sich nicht messen – ihrQuadrat (eigentlich ihr Betragsquadrat Ψ*Ψ – Wellenfunk-tionen sind i.a. komplexwertige Funktionen, siehe unten)hingegen im Prinzip schon: Wir müssen lediglich sehr, sehrviele Systeme auf möglichst identische Art und Weise prä-parieren und die Teilchenpositionen zu einem gewähltenZeitpunkt t1 nach Start des Experiments immer wieder er-mitteln. Dabei werden wir feststellen, dass ein Teilchentrotz identischer Präparation kaum ein zweites mal am sel-ben Ort gefunden wird – wohl aber, dass sich die gefunde-nen Teilchenpositionen um bestimmte Positionen herum

häufen, während in anderen Raumbereichen kaum je Teil-chen gefunden werden. Fügen wir all unsere Messergeb-nisse zusammen, erhalten wir eine Funktion, die uns dieWahrscheinlichkeit angibt, ein Teilchen am Ort r zu finden.Nun wiederholen wir das Prozedere zu einem anderen Zeit-punkt t2, zu noch einem anderen t3, und so weiter (Abbil-dung 4).

Damit wäre also die Frage nach der Lokalisierung vonElementarteilchen geklärt – der Quantenmechanik zufolgekann diese in aller Regel nur in einem statistischen Sinn füreine Vielzahl exakt wiederholter Messungen erfolgen. Wieaber steht es mit dem Impuls (bzw. der Geschwindigkeit)des Teilchens? An dieser Stelle fängt die mathematischeForm der Quantenmechanik an, deutlich über das an allge-meinbildenden Schulen beigebrachte Niveau hinauszuge-hen. Versuchen wir dennoch ein qualitatives Verständnis zuerreichen, auch ohne den Formalismus.

Allgemein gesagt enthält die Wellenfunktion Informa-tionen über alle „dynamischen“ Eigenschaften, die wir aneinem physikalischen System zu messen im Stande sind(und von „permanenten“ Teilcheneigenschaften wie seinerLadung, seiner Masse und seinem Charakter als „Fermion“bzw. „Boson“ einmal abgesehen – die im Rahmen der „nor-malen“ Quantenmechanik als Naturkonstanten auftreten).Um diese Eigenschaften aus der Wellenfunktion herauszu-holen, benötigt man zunächst einmal „Operatoren“, die aufdie Wellenfunktion „wirken“. In etwas leichter verständli-

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0.80.60.40.2 0

-0.2-0.4

0.70.60.50.40.30.20.1

0

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0

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-4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4

-4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4

-4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4

Ψ Ψ

x x

xx

Ψ2

Ψ2

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Beispiel für eine nur von einer Raumvariablen x abhängendenWellenfunktion Ψ(x,t) (obere Zeile) und deren Quadrat (un-tere Zeile) zu zwei verschiedenen Zeitpunkten t1 (linke Bild-hälfte) und t2 (rechte Bildhälfte). Bereiche mit positiven Wer-ten der Wellenfunktion wurden rot eingefärbt und solche mitnegativen Werten blau, wie häufig in der chemischen Anwen-dungen der Quantenmechanik. Aus der physikalischen Bedeu-tung des Quadrats der Wellenfunktion als Aufenthaltswahr-scheinlichkeit ergibt sich, dass das durch die Wellenfunktionbeschriebene Teilchen zum Zeitpunkt t1 etwa vier mal häufi-ger in der Nähe von x = 1 gefunden wird als bei x = –1, wäh-rend es zum Zeitpunkt t2 umgekehrt ist.

Page 5: Eine Einführung in die Quantenchemie

cher Sprache: mathematische Vorschriften, die aus der Wel-lenfunktion eine andere Funktion machen. Eine Vorhersa-ge für den mittleren Messwert (den „Erwartungswert“) ei-ner physikalischen Größe erhält man dann, wenn man die-se neue Funktion mit der ursprünglichen Wellenfunktionmultipliziert (genau gesagt, mit ihrem komplex konjugier-ten, siehe unten) und dieses von Ort und Zeit abhängige Objekt über alle möglichen Teilchenpositionen mittelt (in-tegriert). Damit bleibt zu jedem Zeitpunkt t eine Zahl üb-rig, die den Mittelwert vieler Messungen zu diesem Zeit-punkt angibt. Auf diese Weise lässt sich also der Impuls desTeilchens mit Hilfe des „Impulsoperators“ vorhersagen –falls man die Wellenfunktion des Teilchens kennt. Genauergesagt: Der berechnete Erwartungswert des Impulses gibtan, was wir als Mittelwert für den Impuls nach sehr, sehrvielen Messungen an identisch präparierten Systemen er-halten.

Das klingt schon ein wenig umständlich, nicht wahr? Istes auch – aber was erwarten wir denn, etwa dass unvor-stellbar kleine Teilchen sich dennoch mit Hilfe unserer ge-wöhnlichen, an Objekten wie Bällen geschulten Erfahrungbeschreiben lassen? Nein, sie tun uns diesen Gefallen nicht!Immerhin gestattet die Natur uns, wenigstens Aussagenüber die Mittelwerte von Messergebnissen zu machen. Umkurz auf atomare und molekulare Systeme zurückzukom-men: Nein, wir können die Bahnkurven („Orbits“) von Elek-tronen um die Atomkerne herum nicht bestimmen – im-merhin aber Aussagen machen über beispielsweise den mitt-leren Abstand eines Elektrons von den Kernen oder,allgemeiner, über die Wahrscheinlichkeit, ein Elektron in ei-nem kleinen Raumbereich in der Nähe (oder auch weit

weg) von den Atomkernen anzutreffen. Damit wissen wirzumindest in einem statistischen Sinn etwas über die La-dungsverteilung in Atomen und Molekülen – vorausgesetzt,wir kennen die zugehörigen Wellenfunktionen!

Die zeitabhängige SchrödingergleichungWie findet man diese denn nun? Schnell gesagt: mit Hilfe derberühmten Schrödingergleichung, die die Newtonschen Be-wegungsgleichungen der klassischen Mechanik ersetzt. Indieser tauchen Operatoren auf, deren Erwartungswerte denklassischen kinetischen und potentiellen Energien entspre-chen, ferner eine erste Ableitung der Wellenfunktion nachder Zeit (Sie erinnern sich, dass in den Newtonschen Be-wegungsgleichungen zweite Ableitungen des Ortes bzw. ers-te Ableitungen der Geschwindigkeit nach der Zeit auftau-chen). Der Operator der kinetischen Energie enthält eben-falls Ableitungen, nämlich zweite Ableitungen nach denOrtskoordinaten der Teilchen des Systems. Die Schrödin-gergleichung ist damit vom Typus einer „Differentialglei-chung“ (genauer gesagt, einer partiellen Differentialglei-chung zweiter Ordnung). Sie setzt also diverse Ableitungenvon dem Objekt (nämlich von Ψ) in Beziehung zueinander,welches wir eigentlich bestimmen wollen. Klingt nach einer„nichttrivialen“ Angelegenheit – und das ist es auch!

Machen wir uns das mal klar: ein Molekül mit zweiAtomkernen und lediglich zwei Elektronen – denken wir andas Wasserstoffmolekül – enthält die Koordinaten von vierTeilchen. Bei drei Raumkoordinaten für jedes Teilchen sinddas bereits zwölf Stück, die alle in der Wellenfunktion auf-tauchen. Und dann hängt diese auch noch von der Zeit unddamit insgesamt von dreizehn Variablen ab. Und alles, wasuns die Schrödingergleichung zur Bestimmung dieser Wel-lenfunktion an die Hand gibt, ist eine Beziehung zwischenersten und zweiten Ableitungen der Wellenfunktion nachdiesen dreizehn Variablen. Man kann sich unschwer vor-stellen, dass die Lösung dieses Problems anspruchsvoll ist.

Dennoch kann man in gewissen Fällen in der Tat „ana-lytische“, d.h. mathematisch exakte Lösungen der Schrö-dingergleichung finden. Dazu gehört das Problem derSchwingungen zweier Teilchen, die durch eine Kraft zu-sammengehalten werden, die der einer klassischen Feder-kraft entspricht. Sie verändert sich also linear mit dem Ab-stand der Teilchen. Zu diesem System des „harmonischenOszillators“ sei hier bemerkt:

(i) Es eignet sich hervorragend als Modell für dieSchwingungen zweiatomiger Moleküle – zumindest solan-ge diese nicht gleichzeitig zu schnell rotieren, da ansonstenzusätzlich eine Fliehkraft auf die beiden Atome wirkt.

(ii) Es gibt auch eine Verallgemeinerung auf vielatomi-ge Moleküle.

Diese Verallgemeinerung bildet die Grundlage der Theo-rie der Wechselwirkung von Infrarotstrahlung mit Molekü-len. Und das wiederum erlaubt uns in vielen Fällen, ein-deutige Aussagen zu machen, was für ein Molekül wir ge-rade synthetisiert haben, wenn wir ein Infrarotspektrumunseres Reaktionsproduktes aufnehmen.

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Energieniveaus En (dicke schwarze Linien) und zugehörigezeitunabhängige Wellenfunktionen ψn(x) des quantenmecha-nischen harmonischen Oszillators. Der Bereich, in dem die kinetische Energie eines klassischen harmonischen Oszilla-tors negativ würde, ist grau markiert. Die Schnittpunkte derdicken schwarzen Linien mit dem grauen Bereich sind also die Punkte, wo der klassische Oszillator seine Bewegungs -richtung umkehrt.

Page 6: Eine Einführung in die Quantenchemie

Die stationäre SchrödingergleichungDie zwischen den Atomen wirkende Federkraft hängt nichtvon der Zeit ab, sondern nur vom Abstand zwischen denAtomen. Damit hängt der entsprechende Operator der po-tentiellen Energie in der Schrödingergleichung auch nichtvon der Zeit ab. Unter diesen Umständen lässt sich dieSchrödingergleichung in zwei Teilgleichungen zerlegen. Ei-ne davon ist die „zeitunabhängige“ oder „stationäre“ Schrö-dingergleichung, die zwar noch die Operatoren der kineti-schen und der potentiellen Energie enthält, aber sonst nurnoch eine zeitunabhängige Wellenfunktion sowie eine Kon-stante. Die zweite Teilgleichung enthält dieselbe Konstan-te und die erste Ableitung einer nur noch von der Zeit ab-hängigen Funktion. Die Konstante stellt sich unter be-stimmten Umständen, die wir uns gleich noch ansehenwerden, als die Gesamtenergie des Systems heraus. Unterdenselben Umständen ist die Gesamtwellenfunktion ein-fach das Produkt der zeitunabhängigen Wellenfunktion undder zeitabhängigen Funktion, wobei sich letztere ganz all-gemein angeben lässt. Und das tuen wir jetzt dann doch malin mathematischer Form! Also: Die Gesamtwellenfunktionist

Ψn(r,t) = ψn(r) * exp(2 π i En t / h) (1)

wobei die zeitunabhängige Wellenfunktion ψn(r) und dieGesamtenergie En aus der Lösung der zeitunabhängigenSchrödingergleichung

H ψn(r) = En ψn(r) (2)

stammen. Darin setzt sich der Hamiltonoperator

H = T + V (3)

aus den Operatoren der kinetischen Energie T und der po-tentiellen Energie V zusammen. Das i in Gleichung (1)kennzeichnet den „imaginären“ Anteil einer „komplexenZahl“ und ist die Lösung der erstaunlichen Gleichung i2 = –1 – die sich mit reellen Zahlen sicher nicht lösenlässt... Vielleicht haben Sie mit komplexen Zahlen ja schoneinmal zu tun gehabt. Falls nicht, genüge vorläufig die Be-merkung, dass exp(i t) = cos(t) + i sin(t) – und die darinauftauchenden cosinus- und sinus-Funktionen sind als „pe-riodische“ Funktionen, deren Werte sich im Abstand von2π wiederholen, die zur Beschreibung von periodischenSchwingungsphänomenen (Wellen!) optimal geeignetenFunktionen. Der Operator der kinetischen Energie T hängtvon der Zahl der betrachteten Teilchen und deren Masseab, die restliche „Physik“ steckt im Operator der poten-tiellen Energie V, der die Zeit nicht enthalten darf, wenndas obige Gleichungssystem korrekt aus der eigentlich fun-damentaleren zeitabhängigen Schrödingergleichung her-leitbar bleiben soll. Sprich, das berühmte H ψ = E ψ giltnur in diesem Fall – der aber für unsere Zwecke genügensoll!

Der quantenmechanische harmonische Oszillator

Kehren wir zum Fall des harmonischen Oszillators zurück.Auch hier ist V zeitunabhängig und die Gesamtwellen-funktion wie in (1) zu schreiben. „Die“ Gesamtwellen-funktion? Nein, vielmehr die Gesamtwellenfunktionen!Denn beim Versuch, die Gleichung (2) zu lösen, stellt sichheraus, dass sie nicht eine, sondern unendlich viele Lösun-gen besitzt – deswegen der Index n, der diese Lösungen„durchzählt“. Und zu jeder Wellenfunktion ψn(r) gehörtauch noch ein Energiewert En, der sich im allgemeinen umeinen bestimmten Betrag, ein „Quantum“, von den be-nachbarten Energiewerten En-1 und En+1 unterscheidet (Ab-bildung 5). Den Index n, der diese verschiedenen Lösungender zeitunabhängigen Schrödingergleichung durchnumme-riert, bezeichnet man als „Quantenzahl“. Der Energieei-genwert En ist genau dann die Gesamtenergie des Systems,wenn sich letzteres im Zustand ψn(r) befindet. Das war das,was oben mit „bestimmten Umständen“ gemeint war. Siesind auch insofern besonders, als dass dann der Energiewertscharf bestimmt ist, d.h. bei jeder Energiemessung dassel-be Ergebnis herauskommt.

Die „Quantelung“ der Energie und anderer physikali-scher Eigenschaften mikroskopischer Systeme ist natürlichdas, was zum Namen „Quantenmechanik“ für diese Theo-rie geführt hat. Ein anderer, vielleicht naheliegenderer Na-me dafür ist „Wellenmechanik“. Das Phänomen der Quan-telung ist, vom Standpunkt der klassischen „Alltagsphysik“betrachtet, äußerst bemerkenswert: Ein klassischer harmo-nischer Oszillator kann beliebige Gesamtenergien haben –von Null bis beliebig hoch (na ja, bis zum Bruch der Fe-der....), je nachdem wie stark wir die Feder am Anfang ge-spannt haben, bevor wir sie loslassen. Der quantenmecha-nische Oszillator dagegen hat einen „Grundzustand“ undunendlich viele, aber abzählbar viele „angeregte Zustände“.Die Energie des klassischen Oszillators können wir „konti-nuierlich“ ändern, die des quantenmechanischen Oszilla-tors nur in bestimmtem Energieschritten. Hochinteressantund völlig „nichtklassisch“ sind dabei noch zwei weitere Be-obachtungen:

(i) der Grundzustand hat keineswegs die Energie Null(Abbildung 5) – ein quantenmechanischer harmonischerOszillator befindet sich also niemals in der „Ruhelage“. Daskann gar nicht anders sein, wenn die Unschärferelation gel-ten soll: wäre der Oszillator in Ruhe, so würden wir sowohlden Abstand zwischen den schwingenden Teilchen (näm-lich die Länge der entspannten Feder; bzw. bei Molekülen,die Bindungslänge zwischen den Atomen), als auch derenrelative Geschwindigkeit (Null) gleichzeitig genau kennen.

(ii) Schaut man sich die Wellenfunktionen des harmo-nischen Oszillators an, entdeckt man, dass diese auch jen-seits der „klassischen Umkehrpunkte“ von Null verschie-den sind. Die klassischen Umkehrpunkte sind die maxima-le und die minimale Federlänge, bei der die kinetischeEnergie eines klassischen Schwingers völlig aufgezehrt istund er nach einem minimalen Moment der Ruhe wieder die

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Rückkehr antritt, also die Bewegungsrichtung der Schwin-gung umkehrt. Wenn man sich nun daran erinnert, dass dasQuadrat der Wellenfunktion etwas mit der Wahrschein-lichkeit zu tun hat, ein Teilchen an einem Ort anzutreffen,muss man also feststellen, dass quantenmechanische Teil-chen gelegentlich dort anzutreffen sein werden, wo man siebei strenger Gültigkeit der klassischen Physik niemals an-treffen würde! In unserem Beispiel würde man also gele-gentlich Abstände zwischen den beiden schwingenden Ato-men finden, bei denen die potentielle Energie ÜBER der Ge-samtenergie liegt – die kinetische Energie also kleiner alsNull ist! Da die kinetische Energie in der klassischen Phy-sik vom Quadrat der Geschwindigkeit abhängt, ist das hierniemals möglich.

Dieses eigentümliche quantenmechanische Phänomenbezeichnet man als „Tunneleffekt“. Der Name kommt daher,dass man bei der Lösung der Schrödingergleichung für Pro-bleme mit „Potentialwänden“ ebenfalls ein „Durchtunneln“der Wand beobachtet: Auch wenn die kinetische Energie ei-nes Teilchens eigentlich nicht ausreicht, die Wand zu über-springen, ist die Wellenfunktion jenseits der Wand von Nullverschieden, und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dasTeilchen gelegentlich dort zu finden.

Quantenmechanik des einfachsten AtomsSo, nun ist es aber höchste Zeit, von den allgemeinenGrundlagen der Quantenmechanik zu Atomen und Mole-külen zurückzukehren. Fangen wir mal mit dem Wasser-stoffatom an. Auch hier zeigt die Lösung der Schrö-dingergleichung, dass das Wasserstoffatom „ge-quantelte“ Zustände mit den zugehörigenWellenfunktionen besitzt. Die entsprechen-den Energien sind auf einer geeigneten Ener-gieskala negativ. Es treten beim Wasserstoffallerdings auch nichtgequantelte Zuständeauf, wo die Energiezustände sozusagen un-endlich dicht aufeinanderliegen. Diese gehörenzu „ungebundenen“ oder „Streu“zuständen, beidenen das Elektron am Atomkern vorbeifliegt, ohne vonihm eingefangen zu werden – etwa wie aperiodische Ko-meten, die an der Sonne vorbeifliegen und von ihr abge-lenkt, nicht aber von ihr eingefangen werden. Für uns sindaber die anderen, „gebundenen“ Zustände von Interesse.

Die Gründe für deren Quantelung kann man über dasWellenbild veranschaulichen: nehmen wir mal an, dass wireine Saite kreisförmig aufspannen könnten. Jetzt lassen wirdiese schwingen (Abbildung 6). Wir werden sehen, dassnur die Schwingungsformen längere Zeit „überleben“ wer-den, wo der Umfang des Kreises in einem ganzzahligen Ver-hältnis zur Wellenlänge der Schwingung steht (dieseSchwingungen würden sogar unendlich lange andauern, al-so „stationär“ sein, gäbe es keine Energieverluste durch Rei-bung etc.). Wir haben es also auch hier in diesem Beispielaus der klassischen Physik mit einer Art Quantelung derstationären Schwingungsformen zu tuen – allerdings ohnedamit einhergehende Quantelung der Energie, da wir nach

wie vor die Amplitude der Schwingung kontinuierlich ver-ändern können. Letzteres geht in der Quantenmechaniknicht: hier ist ja das Quadrat der Wellenfunktion mit der Auf-enthaltswahrscheinlichkeit verknüpft – und die Wahr-scheinlichkeit, das Teilchen irgendwo auf der Kreisbahn zufinden, muss gleich Eins sein. Mathematisch gesehen mussdaher das Integral über das Quadrat der Wellenfunktiongleich Eins sein (wir sprechen davon, dass die Wellenfunk-tion „auf Eins normiert“ sein muss). Diese Bedingung legtdie Amplitude fest, so dass in der Quantenmechanik proSchwingungsform nur ein Energiewert möglich ist.

Nun dürfen sich auch in gebundenen Zuständen vonAtomen unsere Wellen nicht nur entlang einer Kreisbahnausbreiten, sondern im ganzen Raum. Nichtsdestotrotz ha-ben auch hier nur einige Schwingungsformen die Möglich-keit, stationär zu sein – es sind immer noch unendlich vie-le, aber eben „abzählbar“ viele (und nicht „überabzählbar“viele, wie etwa die reellen Zahlen auf jedem beliebigen Ab-schnitt eines kontinuierlichen Zahlenstrahls). Leider wirdmit der Dreidimensionalität der Wellenformen in Atomen al-les wesentlich unanschaulicher, da wir uns die Amplitudeder Welle in einer „vierten Dimension“ vorstellen müssten– wofür die Hirne der meisten Menschen (einschließlich desmeinen) eher schlecht ausgelegt sind. Es gibt aber eine Rei-he von Hilfsmitteln, die wesentlichen Charakteristika dieserstationären atomaren Wellenfunktionen, der „Orbitale“, zuveranschaulichen.

Das populärste davon ist eine Darstellung, in der alleRaumpunkte, an denen die Wellenfunktion einen

bestimmten Wert hat (sagen wir z. B. mal 0,01),miteinander zu verbinden. Dabei entsteht einegekrümmte Fläche, deren Projektion auf diePapierebene man dann zeigen kann. Die ge-krümmte Fläche ist im Fall der Grundzu-standswellenfunktion für das Elektron im

Wasserstoff eine Kugeloberfläche. Je nach-dem, welchen Wert für die Wellenfunktion wir

uns ausgesucht haben, erscheint diese größer oderkleiner, aber es ist immer eine Kugel. Bei angeregten Zu-

ständen des H-Atoms ist es wichtig, sozusagen nicht dieHälfte zu vergessen: Da ja AufenthaltswahrscheinlichkeitenQuadrate der Wellenfunktion sind, ergeben Werte von z.B.+0,01 und –0,01 für die Wellenfunktion denselben Wertvon 0,0001 für die Aufenthaltswahrscheinlichkeit. Daher istes sinnvoll, nicht nur die gekrümmte Fläche für den Wert+0,01 darzustellen, z. B mal wieder in der Farbe Rot, son-dern auch gleich die für den Wert –0,01, wiederum in Blau.Auf diese Weise entstehen die häufig zu sehenden Abbil-dungen der Orbitale des Wasserstoffatoms, von denen hiernatürlich auch einige zu sehen sind (Abbildung 7).

Was man dabei nicht vergessen darf: Neben der in die-sen Darstellungen sichtbaren Form der Orbitale, genauer ge-sagt, ihrer Abhängigkeit von den Raumwinkeln, gibt es auchnoch eine Abhängigkeit vom Abstand zum Atomkern. Daswird bereits beim ersten angeregten Orbital, dem „2s-Or-bital“ wichtig: von außen betrachtet ist es genauso eine Ku-

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Abb. 6 Eine sta-tionäre Schwin-gung einer kreis-förmigen Saite. In diesem Beispielist der Kreisum-fang acht malgrößer als dieWellenlänge.

Page 8: Eine Einführung in die Quantenchemie

gel, wie das Grundzustandsorbital, das „1s-Orbital“. Schautman nun aber entlang einer beliebigen Geraden, die aufden Atomkern zeigt, in diese Kugel hinein und beobachtetdie Veränderung des Werts der Wellenfunktion mit dem Ab-stand zum Atomkern, so zeigen sich wichtige Unterschie-de: Beim 1s-Orbital steigt der Wert der Wellenfunktion mitfallendem Abstand einfach ständig exponentiell an, wäh-rend er beim 2s-Orbital von negativen Werten bei großenAbständen ausgehend zunächst abfällt und nach einem Mi-nimum dann ansteigt. Dann wechselt er das Vorzeichen,um schließlich ebenfalls exponentiell anzusteigen (Abbil-dung 8). Wenn wir also nicht zu große positive und nega-tive Werte für die Wellenfunktion aussuchen, müssen wirgleich drei Kugelschalen zur Darstellung des 2s-Orbitals ver-wenden, mit Radien, die in Abbildung 8 durch Pfeile ge-kennzeichnet wurden. Zwischen den beiden blauen Ku-gelschalen ist das Orbital negativ, innerhalb der roten Ku-gelschale ist es positiv.

Zwischen der roten und der inneren blauen Kugelschalegibt es eine Kugel, wo die Wellenfunktion den Wert Nullhat. Man nennt diese eine „Knotenfläche“, wobei der Be-griff für alle Flächen verwendet wird, wo die Wellenfunk-tion verschwindet. Die nächsten angeregten Zustände, dieman als die drei „2p-Orbitale“ bezeichnet, haben ebenfallssolche Knotenflächen. Beim „2px-Orbital“, wo die Mittel-punkte der roten und der blauen Kugelschalen auf der x-Achse eines gedachten Koordinatensystems liegen, ist dieKnotenebene die yz-Ebene, die also von der y- und der z-Achse aufgespannt wird. Ähnlich ist es bei den 2py- und2pz-Orbitalen, die entlang der gedachten y- bzw. der z-Ach-se ausgerichtet sind. Das Vorkommen von Knotenflächenist mal wieder so eine Geschichte, die vom Standpunkt un-serer klassischen Alltagserfahrungen sehr merkwürdig an-mutet: wenn Aufenthaltswahrscheinlichkeiten mit den Qua-draten der Wellenfunktionen zusammenhängen, dann istdie Aufenthaltswahrscheinlichkeit auf einer Knotenflächeoffenbar Null. Wie aber kommt dann das Teilchen durch die-

se Fläche hindurch? Das muss man leider so hinnehmen: Of-fenbar kann ein Teilchen mal „links“ und mal „rechts“ vonder Knotenfläche auftauchen – niemals aber auf einem ih-rer Punkte selber. Das unterstreicht mal wieder, dass „Quan-tenbewegungen“ fundamental verschieden von den an-schaulichen Bewegungen makroskopischer Objekte sind.Falls das etwas beruhigt, hier der Hinweis, dass unsere Kno-tenflächen auch wirklich „unendlich dünn“ sind. Dennochwird man das Teilchen in ihrer unmittelbaren Nähe nur sehrselten antreffen.

Sehen wir uns in dem Zusammenhang auch noch malden knotenfreien Grundzustand an: Das Quadrat der Wel-lenfunktion ist hier offensichtlich am Ort des Atomkerns amgrößten. Also hält sich das Elektron offenbar am liebsten ineinem kleinen Volumen um den Kern herum auf. Dennochist der Erwartungswert für den mittleren Abstand des Elek-trons vom Atomkern natürlich nicht Null, da sich das Elek-tron ja auch weiter weg vom Kern bewegen kann. DieserErwartungswert beträgt das Anderthalbfache von a0, wobeia0 der „Bohrsche Atomradius“ mit dem Wert 53 pm ist

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A B B . 7 O R B I TA L E D E S H - ATO M S

Flächen mit ψ = 0,01 (rot) bzw. ψ = –0,01 (blau) für die 1s- (1),2s- (2), 2px- (3), 2py- (4) und 2pz-Orbitale (5). [nach: Brickmanet al., ChiuZ 1978, 12, S. 23–26].

Ψ1s

Ψ2s

r

r

0.8

0.7

0.6

0.5

0.4

0.3

0.2

0.1

0

0.3

0,25

0.2

0.15

0.1

0.05

0

–0.05

0 2 4 6 8 10

0 2 4 6 8 10

A B B . 8 A B H Ä N G I G K E I T VO M K E R N A B S TA N D

Schnitt durch die Wellenfunktionen des 1s- (links) und des 2s-Orbitals (rechts) entlang einer beliebigen Achse. Der Abstand r vom Atomkern ist als Vielfaches des BohrschenAtomradius a0 (53 pm) gegeben, die roten und blauen Pfeilekennzeichnen die Radien, wo die Wellenfunktion den Wert+0.01 bzw. -0.01 annimmt.

Page 9: Eine Einführung in die Quantenchemie

(1 pm sind 10–12 m), eine natürliche „atomare Längenein-heit“.

Atomorbitalenergien und EntartungWo wir schon dabei sind, mit Begriffen wie Bewegung, al-so einem zeitabhängigen Phänomen, zu arbeiten, hier nochein paar Worte zur Zeitabhängigkeit unserer Orbitale: Sowie bislang beschrieben, sind diese gar nicht von der Zeitabhängig – wir haben sie ja aus der zeitunabhängigen Schrö-dingergleichung erhalten! Vergessen wir aber Gleichung (1)nicht: die „eigentliche“, zeitabhängige Wellenfunktion istja ein Produkt aus einem zeitunabhängigen Faktor und die-ser Exponentialfunktion mit dem komplexen „i“, Diese lässtsich, wie oben bemerkt, auch auf andere Weise schreiben:

exp(2 π i En t / h) = cos(2 π i En t / h) + i sin(2 π i En t / h)(4)

Sowohl der cosinus- als auch der sinus-Anteil dieser Funk-tion sind periodisch – allerdings „zeitversetzt“: Wenn der co-sinus-Anteil durch die Null geht, also verschwindet, ist derBetrag des sinus-Anteils maximal. Das ist auch gut so: Gäbees nur den cosinus-Anteil, wäre unsere Gesamtwellenfunk-tion ja in regelmäßigen Abständen überall gleich Null – undwir hätten ein massives Problem mit der Interpretation derWellenfunktion als Aufenthaltswahrscheinlichkeit, da jadann unser Teilchen in regelmäßigen Abständen ver-schwinden müsste. .... Der sinus-Anteil der obigen Funkti-on bewahrt uns davor, wenn ich meine saloppe Redewei-se vom Quadrat der Wellenfunktion zum korrekteren Begriffdes „Betragsquadrats“ korrigiere: das Betragsquadrat einerkomplexen Zahl (a+ib) ist nämlich a2+b2, und somit das Be-tragsquadrat der Exponentialfunktion aus Gl. (4) schlichtund ergreifend identisch Eins, da cos2(t)+sin2(t) = 1 für be-liebige Werte von t. Kann man dann die Exponentialfunk-tion nicht auch gleich weglassen? Nein – sie steht schließ-lich in der Wellenfunktion drin (auch wenn sie aus deren

Betragsquadrat „wegfällt“) und sorgt mit ihrem periodi-schen Verlauf dafür, dass unsere Quantenwellen auch tat-sächlich in einem gewissen Sinne „schwingen“ (nur ebenin zwei zeitversetzten Anteilen, einem reellen cosinus- undeinem imaginären sinus-Anteil, was als Idee wieder ein we-nig gewöhnungsbedürftig ist...).

Die Frequenz dieser Schwingungen ist proportional zuden „Orbitalenergien“ en, die auch einer Diskussion wür-dig sind. Hier zeigt sich nämlich das Phänomen, dass diedurch die 2s-, 2px-, 2py- und 2pz-Orbitale beschriebenen Zustände alle dieselbe Energie haben (Abbildung 9). Manspricht hier von „entarteten“ Zuständen. Dabei wird dieEntartung der drei 2p-Obritale durch die Symmetrie derWechselwirkung zwischen Kern und Elektron erzwungen– das Coulombpotential hat ja die Symmetrie einer Kugel,da es rein abstandsabhängig ist. Der nun vielleicht nahe-liegende Schluss, dass dann auch alle Orbitale gefälligst ku-gelsymmetrisch zu sein haben, wurde oben widerlegt. Erist übrigens auch in der klassischen Physik falsch: Die (el-liptischen) Bahnen der Planeten um die Sonne haben jaauch keine Kugelsymmetrie mehr. Wenn man sich die drei2p-Orbitale ansieht (Abbildung 7), unterscheiden sie sichallerdings lediglich durch ihre Ausrichtung entlang der Achsen eines gedachten Koordinatensystems voneinander.Damit ist klar, dass man z. B. aus dem 2px-Orbital ein 2py-Orbital machen kann, durch Drehung um 90 Grad um diez-Achse. Wegen der Kugelsymmetrie der potentiellen Ener-gie kann dies keine Auswirkungen auf die Gesamtenergiehaben, denn die kinetische Energie ist gegen Drehungenstets invariant.

Anders sieht es mit der Entartung der 2s- und 2p-Orbi-talenergien aus. Diese ist charakteristisch für das H-Atom.Jede kleine Veränderung der Form der Wechselwirkung zwi-schen Kern und Elektron „hebt diese Entartung auf“, d. h.erzeugt einen Energieunterschied zwischen dem 2s- undden 2p-Orbitalen. Dies gilt auch, wenn die Kugelsymmetrieder Wechselwirkung durch die Störung erhalten bleibt: Diedrei 2p Orbitale bleiben untereinander entartet, aber das 2s-Orbital ist nicht mehr mit ihnen entartet.

Dass man die diversen Zustände des Elektrons im H-Atom nicht als klassische Bewegung verstehen sollte, siehtman auch daran, dass die Orbitale und Orbitalenergien „sta-bil“ sind – sie zeigen keinerlei Anzeichen dafür, dass dasElektron irgendwann einmal in den Kern stürzen wird, wasja auch tatsächlich nicht beobachtet wird – und die „Ver-hinderung“ dieses in der klassischen Physik unvermeidli-chen Ereignisses war ja ein zentraler Ausgangspunkt unse-rer Überlegungen zu einer modifizierten Physik für mikro-skopische Systeme. Ferner stimmen die Energiedifferenzenzwischen den Zuständen hervorragend mit dem überein,was man aus den Spektren des H-Atoms ableiten kann: VomH-Atom wird Licht nur dann emittiert oder absorbiert, wennseine Frequenz (und nach E = h υ damit seine Energie) ei-ner Energiedifferenz zwischen Zuständen des H-Atoms ent-spricht – eine der frühesten Bestätigungen der Quanten-theorie.

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A B B . 9 E N TA R T U N G D E R O R B I TA L E N E RG I E N

Die Entartung der Orbitalenergien der 2s-, 2px-, 2py- und 2pz-Orbitale des Wasserstoffatoms (links) wird durch eine radial-symmetrische Veränderung des Wechselwirkungs potentialsteilweise aufgehoben (rechts).

Page 10: Eine Einführung in die Quantenchemie

kleiner“ sind als der Operator der kinetischen Energie desElektrons. Auf der anderen Seite fängt man sich dadurch dasProblem ein, dass die so erhaltene „elektronische Schrö-dingergleichung“ keine Aussagen mehr zur Wellenfunktion

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Hin zur Quantenmechanik des einfachsten Moleküls

So, jetzt haben wir lang und breit über das in der Chemieeigentlich „trivialste“ System gesprochen. Wie wir gesehenhaben, erforderte das so nebenher eine Einführung in eineneue physikalische Welt. Wie steht es aber nun mit den an-deren Atomen und Molekülen, also Systemen mit mehrerenElektronen und Atomkernen? Sie ahnen sicher, dass die Ide-enwelt, die wir bei der Diskussion des H-Atoms kennenge-lernt haben, auch die Grundlage zu deren Beschreibung bil-det. Während man die Schrödingergleichung für das H-Atomaber noch mathematisch exakt lösen kann, ist dies für Mehr-elektronen- und Mehrkernsysteme nicht mehr möglich. Wirwerden hier also eine Reihe von „Näherungen“ einführenmüssen, d. h., aus den Grundgleichungen bestimmte Ter-me weglassen, im Wissen, dass wir dann Fehler machen,aber in der Hoffnung, dass diese Fehler nicht allzu großsein werden. Häufig lässt sich das sogar so durchführen,dass wir diese Fehler mit Hilfe der Lösungen der verein-fachten Gleichungen abschätzen können. Wie erfolgreichwir damit waren, zeigt dann auch ein Vergleich mit expe-rimentellen Daten.

Fangen wir also an, durch den Zoo an Näherungen zuwandern, dessen Besuch in der Quantenchemie unver-meidlich ist. Und nein, wir nehmen mal nicht den traditio-nellen Weg, der uns zuerst zu Atomen mit mehreren Elek-tronen führen würde, sondern wir gehen zuerst zum ein-fachsten Molekül, genauer gesagt, Molekülion: dem H2

+.Hier haben wir es also mit einem System zu tun, bei demsich zwei Atomkerne der Ladung +e ein Elektron der La-dung –e teilen. Das vielleicht naheliegende Bild eines Dop-pelsternsystems mit gemeinsamem Planeten kann hier vonAnfang an nicht stimmen: Die beiden Atomkerne stoßen ei-nander ab, während die Sterne einander anziehen. Das ein-zige, was das H2

+ zusammenhalten kann, ist die Anziehungzwischen den Kernen und dem Elektron. Erstaunlicher-weise tut sie das tatsächlich!

Die Born-Oppenheimer-NäherungDummerweise ist die Lösung der Schrödingergleichungauch für dieses übersichtliche System mit größten mathe-matischen Schwierigkeiten verbunden. Eine Vereinfachungerreicht man hier, wie bei anderen Molekülen auch, mitHilfe der „Born-Oppenheimer-Näherung“. Dahinter stecktdie Vorstellung, dass das „leichte“ Elektron der „Bewegung“der „schweren“ Atomkerne immer instantan folgen kann –eine recht klassische Vorstellung. ... Wenn man sich die ent-sprechende Schrödingergleichung ansieht, findet man dreiOperatoren für die kinetische Energie der Teilchen: einenfür das Elektron und zwei für die Atomkerne. Da in diesenOperatoren der Faktor 1/Teilchenmasse auftaucht und dieMasse der Kerne fast 2000 mal größer ist, als die des Elek-trons, übersetzt sich die oben beschriebene klassische Born-Oppenheimer-Idee so in die Quantenmechanik, dass mandie Operatoren der kinetischen Energie für die Kerne ein-fach erst mal weglässt, da sie ja in diesem Sinne „2000 mal

Ener

gie

Ener

gie

Ener

gie

600

400

200

0

–200

600

400

200

0

–200

600

400

200

0

–200

Atomabstand

Atomabstand

Atomabstand

1.8 2 2.2 2.4 2.6 2.8 3 3.2 3.4 3.6 3.8

1.8 2 2.2 2.4 2.6 2.8 3 3.2 3.4 3.6 3.8

1.8 2 2.2 2.4 2.6 2.8 3 3.2 3.4 3.6 3.8

A B B . 1 0 B O R N - O PPE N H E I M E R- N Ä H E R U N G …

… am Beispiel eines zweiatomigen Moleküls: Zunächst be-rechnet man die Energien (inklusive Kern-Kern-Abstoßung)der diversen elektronischen Zustände für verschiedene Atom-abstände (oben, hier für zwei verschiedene elektronische Zu-stände desselben Moleküls), durch Interpolation erhält manPotentialenergiekurven (Mitte), die man schließlich in einerSchrödingergleichung für die Bewegung der Atomkerne ver-wendet, um die durch diverse Quantenzahlen charakterisier-te Gesamtenergien (waagerechte Striche) zu erhalten (unten).

Page 11: Eine Einführung in die Quantenchemie

der Atomkernbewegung machen kann – und damit auchnicht zu Dingen wie dem mittleren Abstand zwischen denAtomkernen. Stattdessen müssen wir der elektronischenSchrödingergleichung die Kernpositionen „von außen“ alsParameter mitgeben, da andererseits die Operatoren derpotentiellen Energie notwendigerweise die Positionen derAtomkerne noch beinhalten müssen (die Coulomb-Wech-selwirkung hängt ja schließlich vom Abstand zwischen denTeilchen ab).

Zum näherungsweisen Lösen der Gesamtschrödinger-gleichung wendet man dann folgende Strategie an: (i) gebeKernpositionen vor, (ii) löse dafür die elektronische Schrö-dingergleichung und bestimme die zugehörigen „elektro-nische Energien“, (iii) addiere dazu die Coulomb-Wechsel-wirkung der Atomkerne untereinander, (iv) wiederhole diesfür beliebig viele weitere Kernpositionen, (v) interpolieredie erhaltenen Born-Oppenheimer-Energien zwischen denberechneten Punkten, und (vi) benutze dies als potentielleEnergie in einer weiteren Schrödingergleichung für die Ker-ne. In letzterer tauchen nun endlich die Operatoren der ki-netischen Energie der Kerne auf, ihre Lösung ergibt die Ge-samtenergie. Die Gesamtenergie hängt weder von den Kern-noch von den Elektronenkoordinaten ab, muss aber durcheine Reihe von Quantenzahlen eindeutig charakterisiertwerden – wie bereits gewohnt, erhalten wir viele ver-schiedene Lösungen ein und derselben Schrödingerglei-chung, die wir durch Quantenzahlen auseinanderhalten

können (Abbildung 10). Die Gesamtwellenfunktion ist nä-herungsweise ein Produkt aus der Wellenfunktion für dieElektronen und einer Wellenfunktion für die Kerne, die na-türlich ebenfalls durch Quantenzahlen charakterisiert wer-den.

Auch wenn dieses Verfahren zunächst komplizierter er-scheint, als die direkte Lösung der Schrödingergleichungfür alle drei Teilchen, ist es in der Tat immer noch prakti-kabler und vor allem auch konzeptionell wichtig! In derChemie sind wir es aus guten Gründen nämlich durchausgewohnt, uns Moleküle als Objekte mit einem mehr oderweniger starren Kerngerüst vorzustellen – und nicht als ei-ne Haufen von Elektronen und Kernen, die sich irgendwieim Raum verteilen. Letzteres ist aber genau das Bild, wel-ches wir beim Betrachten der Gesamtschrödingergleichungfür ein molekulares System erhalten, worin keinerlei Posi-tion festgelegt ist, weder die der Elektronen, noch die derKerne. Damit hat die Gesamtschrödingergleichung für, sa-gen wir mal ein System aus einem H-, einem N- und einemC-Atom Lösungen, die dem entsprechen, was wir als HCN-bzw. Blausäure-Molekül bezeichnen würden, aber auch Lö-sungen, die wir dem Molekül HNC zuordnen würden (wel-ches in interstellarer Materie auch durchaus beobachtetwird). Und darüber hinaus viele, viele weitere Lösungen, diez. B. eine Streuung des H-Atoms an einem CN-Molekül be-schreiben, etc.

Die Born-Oppenheimer-Näherung erzeugt eine Art Hie-rarchie in diesem Chaos: Wir können uns von Anfang an auf„HCN-artige“ oder „HNC-artige“ Situationen konzentrieren,aber durchaus auch eine Umlagerung der beiden Struktu-ren ineinander durch sukzessives Verrücken der Kernposi-tionen studieren (Abbildung 11).

Halt, was machen wir dann eigentlich? Wir behandelndie Atomkerne so, als wären es Objekte der klassischenPhysik! Denn wenn wir ein Kerngerüst festhalten, kennenwir die Orte und die Geschwindigkeiten (nämlich Null) derAtomkerne. Die Elektronen werden in der elektronischenSchrödingergleichung also als Quantenobjekte behandelt,die Atomkerne hingegen nicht: ihre einzige Funktion ist eshier, ein „äußeres Potential“ für die Elektronen zu bilden.Dieser „Defekt“ lässt sich aber im letzten Schritt der obenangegebenen Strategie zum Lösen der Gesamtschrödinger-gleichung beheben, mit dessen Hilfe ja eine Wellenfunkti-on für die Kerne erzeugt wird und somit auch die Atom-kerne als ordentliche Quantenobjekte gewürdigt werden.Dennoch ist es von größter praktischer Bedeutung, dassman auf diesen zweiten Schritt auch oft verzichten kannund die Bewegung der Kerne näherungsweise mit der klas-sischen Physik erfasst – dies wird in weiteren Artikeln die-ser Serie noch ausführlich genutzt werden! Eine Rechtfer-tigung dafür findet sich in unserer Ausgangsüberlegung, wowir bemerkt hatten, dass bereits der leichteste Atomkern,das Proton, ungefähr 2000 mal schwerer als ein Elektron ist.Und je schwerer ein Teilchen, desto geringer wirken sichdie typischen Quanteneffekte aus: Ein 2000 mal schwere-res Teilchen hat bei derselben Geschwindigkeit von vor-

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A B B . 1 1 U M L AG E R U N G H N C – H C N

Eine quantenchemische Rechnung der Umlagerungsreaktionzwischen HNC und HCN. Dabei wurde der Winkel H-C-N systematisch zwischen 0o und 180o Grad in Schritten von 10o

variiert und für diese festgehaltenen Winkel jeweils dietiefstmögliche Energie durch Variation der H-C und C-N-Ab-stände bestimmt. Wie in Abb. 9 wurde zwischen den berech-neten Energiewerten interpoliert. Wir entnehmen dem Dia-gramm, dass sich laut der verwendeten quantenchemischenMethode (für Spezialisten: Dichtefunktionaltheorie mit demB3LYP-Funktional und einem TZVP getauften Basissatz) HNCnur über eine Barriere von 143 kJ/mol in das 59 kJ/mol stabi-lere HCN umlagert – was innerhalb weniger kJ/mol mit hoch-genauen Ergebnissen übereinstimmt.

Page 12: Eine Einführung in die Quantenchemie

neherein einen 2000 mal größeren Impuls – da fällt diedurch die Unschärferelation erzwungene Unsicherheit imImpuls 2000 mal weniger auf, salopp gesagt.

Die MO-LCAO-NäherungBei Elektronen ist eine klassische Beschreibung, wie hof-fentlich inzwischen hinreichend deutlich, von vornhereinzum Scheitern verurteilt. Wenden wir uns also wieder demElektron im H2

+ Molekülion zu und konzentrieren uns aufdessen elektronische Schrödingergleichung. Wir benutzenalso nun die Born-Oppenheimer-Näherung und tun so, alskönnten wir die beiden Atomkerne in einem gewissen Ab-stand voneinander im Raum festhalten. Dadurch haben wires im Prinzip nur noch mit einem Einteilchenproblem zutun, nämlich der Beschreibung der Elektronenbewegung –das sollte doch machbar sein! Im Prinzip ja, aber nicht oh-ne ganz tief in die mathematische Trickkiste zu greifen, un-ter Einführung spezieller Koordinatensysteme und ganz spe-zieller Klassen mathematischer Funktionen. Und das nur,um das in der Chemie immer noch reichlich wenig inte-ressante H2

+ zu beschreiben? Ja, den Aufwand ist es wert,da exakte analytische Lösungen eines Problems die „finaleAntwort“ darstellen.

Wir benutzen H2+ hier aber vor allem, um nach der

Born-Oppenheimer-Näherung eine zweite zentrale Nähe-rung der Quantenchemie einzuführen, die den kryptischenNamen „MO-LCAO“-Näherung trägt. In dieser gewinnt manMolekülorbitale durch Linearkombination von Atomorbita-len (das „C“ in LCAO kommt vom englischen „combinati-on“, die restlichen Buchstaben sind selbsterklärend). Beiunserem Beispiel des H2

+ Molekülions könnte man ein ers-tes Molekülorbital als

ψ1σ(r) = N1σ { ψ1sA(r) + ψ1s

B(r) } (5)

gewinnen, wobei ψ1sA(r) das 1s-Orbital des H-Atomes A ist,

ψ1sB(r) das 1s-Orbital des H-Atoms B, und N1σ eine „Nor-

mierungskonstante“, die dafür sorgt, dass das Integral überdas Betragsquadrat von ψ1σ(r) zu Eins wird. Genausoguthätten wir aber auch die Linearkombination

ψ2σ(r) = N2σ { ψ1sA(r) – ψ1s

B(r) } (6)

aus den beiden 1s-Orbitalen bilden können. Die durch die-se Linearkombinationen entstehenden Molekülorbitale sindin Abbildung 12 dargestellt. Wie man sieht, umgibt ψ1σ(r),gerne auch einfach als „bindendes sigma-Orbital“ bezeich-net, die beiden Atomkerne ohne einen Vorzeichenwechsel,während ψ2σ(r), das „antibindende sigma-Stern-Orbital“ (oftalternativ mit ψ1σ*(r) gekennzeichnet), eine Knotenflächegenau zwischen den Atomkernen aufweist. Der eine Atom-kern liegt dabei im „positiven Orbitallappen“, der andere imnegativen. Wenn man ψ1σ(r) und ψ2σ(r) dazu benutzt, Er-wartungswerte für die Energie zu berechnen, stellt manfest, dass man mit ψ1σ(r) die niedrigere Energie erhält. Be-zeichnen wir diese „Orbitalenergie“ mal mit e1σ. Mit dem

Ansatz ψ2σ(r) ergibt sich die Orbitalenergie e2σ. Beide Ener-gien hängen natürlich vom gemäß der Born-Oppenheimer-Näherung fixierten Abstand RAB zwischen den Atomkernenab: Bei großen Abständen gehen beide gegen die Energiedes 1s-Orbitals eines Wasserstoffatoms.

Die Orbitalenergien sind allerdings noch nicht die ge-samte Energie des Moleküls: Wir müssen noch (i) die Ener-gie der Wechselwirkung der Atomkerne untereinander da-zu addieren und (ii) die kinetische Energie der Atomkerne.Während wir auf (ii) vorläufig verzichten, ist (i) in Abbil-dung 13 bereits berücksichtigt: Hier ist die Energie des -Mo-lekülions in den Zuständen 1σ und 2σ als Funktion des Ab-standes zwischen den Atomkernen gezeigt. Dabei wurdedie Energie des vollständig dissoziierten Systems, das aus ei-nem Wasserstoffatom und einem Proton besteht, auf Nullgesetzt. Was beobachtet man? Dass man eine Erklärung fürdie Existenz von H2

+-Molekülionen gefunden hat: Bei ei-nem Abstand von 132 pm, der als GleichgewichtsabstandRe bezeichnet wird, liegt die Energie des Grundzustandsdes H2

+ um den Betrag der Dissoziationsenergie De von et-wa 170 kJ/mol unter der Energie des Wasserstoffatoms.Letztere ist mit der Energie des Systems Wasserstoffatomplus Proton identisch, also mit der Energie des „vollständigdissoziierten“ Systems bei unendlichem Kern-Kern-Abstand,da ein Proton ja über gar kein Elektron und damit über ei-ne elektronische Energie von Null verfügt. Anders gesagt:Lassen wir ein Wasserstofatom und ein Proton miteinanderalleine, werden diese bestrebt sein, ihre Gesamtenergie zuminimieren und bei der Gelegenheit ein H2

+-Molekül mit ei-nem Kern-Kern-Abstand Re bilden. Die Voraussetzung dafürist natürlich, dass die bei der Bildung eines Mols H2

+ freiwerdende Energie De irgendwohin abgegeben werden kann(womit übrigens klar wird, dass wir das H-Atom und dasProton so alleine nun auch wieder nicht lassen können, da-mit überhaupt etwas passiert – wie in der Floskel „Abgabevon Wärme an die Gefäßwände“ deutlich wird, was für sichbereits ein höchst studierenswerter Prozess wäre... Immer-hin verstehen wir so gleich auch, warum man zu so man-cher chemischen Reaktion besser einen gewissen Abstandhält, man will ja nicht als Gefäßwand dienen!).

Widmet man sich schließlich Punkt (ii) und löst dieSchrödinger-Gleichung für die bislang vernachlässigte Kern-

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A B B . 1 2 B I N D E N D – A N T I B I N D E N D

Bindendes 1σ- (links) und antibindendes 2σ-Orbital (oft auchals 1σ*-Orbital bezeichnet, rechts) des H2

+-Molekülions.

Page 13: Eine Einführung in die Quantenchemie

bewegung, muss das Bild ein wenig modifiziert werden:Man erfasst dann zusätzlich die Bewegung des Moleküls alsGanzes im Raum, also dessen „Translation“, Rotation unddie Schwingungen der Kerne um ihre Gleichgewichtslageherum, d. h. um den Abstand Re. Vor allem letztere sindnoch für ein korrektes Verständnis von Molekülen bedeut-sam: Wir hatten ja schon bei der Diskussion des harmoni-schen Oszillators festgestellt, dass es eine Nullpunkts-schwingungsenergie gibt. Die müssen wir natürlich auchbeim H2

+ und allen anderen mehratomigen Molekülen be-rücksichtigen, was dazu führt, dass für den Bruch einer Bin-dung weniger Energie erforderlich ist, als der Wert von De

uns glauben macht: Es ist dazu lediglich die Bindungsener-gie D0 erforderlich, die De reduziert um den Betrag der Null-punktsschwingungsenergie entspricht.

Beim bislang diskutierten MO-LCAO Modell für H2+ be-

trägt D0 in der harmonischen Näherung etwa 160 kJ/mol.Ferner ist der mittlere Abstand der Atomkerne von R0 nichtvöllig identisch mit dem Wert für Re , was dadurch zustan-de kommt, dass der harmonische Oszillator zwar ein rechtgutes, aber kein perfektes Modell für molekulare Schwin-gungen darstellt. Dennoch sind die Unterschiede bei che-mischen Bindungen meist so klein, dass man mit der Kennt-nis der Gleichgewichtsparameter De und Re bereits sehrweit kommt. Und genau das ist auch eine Standardübungin der Quantenchemie, wo es „Geometrieoptimierungs“-Prozeduren gibt, die die Energie eines Moleküls durch Ver-rutschen der Atomkerne solange minimieren, bis die Gleich-gewichtsparameter hinreichend genau bekannt sind. Dieanschließende Berechnung der Nullpunktsschwingungs-energie in harmonischer Näherung ist ebenfalls eine sol-che Standardübung, die aber leider deutlich zeitaufwendi-ger ist und deswegen bei größeren Molekülen nicht immergemacht wird.

Wie sieht es nun mit dem ersten angeregten Zustand desH2

+ aus, wo der Zustand des Elektrons durch das Orbitalψ2σ(r) beschrieben wird? Ein Blick in Abbildung 13 zeigt,dass die Energie dieses Zustandes bei jedem beliebigen end-lichen Abstand über der des vollständig dissoziierten Sys-tems liegt. Damit kann H2

+ in diesem Zustand nicht stabilsein. Und in der Tat: Bringt man das H2

+-Molekülion ausdem Grundzustand in den ersten angeregten Zustand, zer-fällt es in ein Wasserstoffatom und ein Proton. Eine solcheAnregung kann mit Hilfe eines Photons mit der Energie[e2σ(Re) – e1σ(Re)] geschehen. Haben wir das erst einmal be-griffen, so haben wir bereits einen wichtigen Eckpfeiler imVerständnis der „Photochemie“ erklommen, also des Teilsder Chemie, der sich mit durch Licht ausgelöste chemischeReaktionen beschäftigt. In unserem Fall haben wir das Phä-nomen der „Photodissoziation“ in wesentlichen Grundzü-gen erfasst.

Das VariationsverfahrenUnd das alles durch zwei simple Linearkombinationen vonzwei 1s-Orbitalen zweier Wasserstoffatome, die uns, es seidaran erinnert, dazu dienten, eine Näherung für die Wel-lenfunktion des Elektrons im H2

+ zu erzeugen. Was ist ei-gentlich mit den anderen Orbitalen des Wasserstoffatoms?Diese kann man selbstverständlich zusätzlich in die Linear-kombination einbauen, z.B. wie

ψ1σ(r) = N1σ { c1s [ψ1sA(r) + ψ1s

B(r)] + c2s [ψ2sA(r)

+ ψ2sB(r)] + c2pz [ψ2pz

A(r) – ψ2pzB(r)] + …} (7)

wobei hier angenommen wurde, dass das H2+-Molekülion

entlang der z-Achse eines Koordinatensystems ausgerichtetwurde und der „Vorzeichenwechsel“ bei der Linearkombi-nation der beiden 2pz-Orbitale dafür sorgt, dass die beidenso herum aufeinander zeigen, dass keine Knotenfläche ent-stehen kann.

Aus der Schrödingergleichung lässt sich mit Hilfe eini-ger Überlegungen ein Verfahren ableiten, mit dessen Hilfeman die Koeffizienten c1s, c2s , c2pz etc. bestimmen kann.Dieses „Variationsverfahren“ beruht auf der Erkenntnis, dassder Energieerwartungswert, den man mit Hilfe dieses er-weiterten Ausdrucks für ψ1s(r) erhält, von den Koeffizien-ten c1s, c2s, etc. abhängt. Man variiert diese nun so lange,bis der Energieerwartungswert minimal wird. Dann garan-tiert uns ein Theorem, dass die so erhaltene Näherung fürdie Grundzustandsenergie optimal nah an der wahrenGrundzustandsenergie liegt. Bei Verwendung von sehr, sehrvielen Atomorbitalen als „Basisfunktionen“ für die Erzeu-gung unseres Molekülorbitals kommen wir beliebig nahe anden exakten Wert heran. Nehmen wir das H2

+-Molekülionbei einem Kern-Kern-Abstand von 132 pm: Mit den beiden1s-Orbitalen als Basisfunktionen lag die Energie ja 170 kJ/molunter der des dissoziierten Systems. Mit 10 Basisfunktionen(fünf pro H-Atom, nämlich 1s, 2s und die drei 2p-Orbitale)liegt sie um 187 kJ/mol darunter, der „konvergierte“ Wertist 247 kJ/mol, wie gesagt, bei einem Abstand von 132 pm.

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A B B . 1 3 E N E RG I E U N D ATO M A B S TA N D

Die Energie der beiden tiefstliegenden Zustände des H2+-Mo-

lekülions im MO-LCAO-Ansatz mit zwei 1s-Orbitalen als Funk-tion des Abstandes zwischen den Atomkernen (bezogen aufdie Energie des getrennten Systems H-Atom plus Proton).

Page 14: Eine Einführung in die Quantenchemie

Wenn wir andere Sätze von Basisfunktionen verwen-den, können wir uns nicht mehr darauf verlassen, dass dieGleichgewichtsparameter noch dieselben sind. Und in derTat, eine Geometrieoptimierung mit der Basis aus 10 Funk-tionen führt zu Re = 127 pm und De = 188 kJ/mol, was al-lerdings immer noch weit weg ist von den konvergiertenWerten Re = 106 pm und De = 270 kJ/mol.

Das Variationsverfahren lässt sich in eine Form bringen,in der es leicht mit Hilfe von Computern zu lösen ist. DerComputer als notwendige Grundzutat der Quantenchemiebegegnet uns somit hier zum ersten Mal: Würden wir unsin obiger Näherung für ψ1σ(r) auf die drei explizit gezeig-ten Terme beschränken, ließe sich das entstehende Varia-tionsproblem auch noch gut „von Hand“ lösen – aber wennwir genau werden und Hunderte oder Tausende von Ato-morbitalen als Basisfunktionen verwenden wollen, dauertdas viel zu lange und macht außerdem überhaupt und garkeinen Spaß mehr. Da schreiben wir doch lieber ein Com-puterprogramm, welches wir dann gleich so allgemein hal-ten, dass auch andere Moleküle in anderen Geometrien undim Idealfall mit Basissätzen beliebiger Größe behandelt wer-den können. Das dauert zwar auch so seine Zeit und er-fordert viel Durchhaltevermögen im Kampf gegen die sichin Programmen mit größter Wahrscheinlichkeit einschlei-chenden Fehler, ist aber wenigstens eine echte Herausfor-derung, die einem ein schönes Erfolgsgefühl verschafft,wenn der Code dann endlich das tut, was er soll.

Unsere Herangehensweise an das H2+-Problem ist auch

noch in einem zweiten Sinne typisch für die Quantenche-mie: Zuerst haben wir die grundsätzlichen Eigenschaften eines Moleküls mit einem noch recht über-sichtlichen Modell aus lediglich zwei Basis-funktionen für die elektronischen Wellen-funktionen erfasst, was mit einer Kombina -tion von analytischen Formeln und einigenwenigen numerischen Ergebnissen möglichist. Dann haben wir das Problem systematischverkompliziert und an einen Computer abge-geben, um genaue Zahlen zu erhalten. In derPraxis wird diese Reihenfolge auch mal umgekehrt: Manrechnet lange auf seinen Computern herum und entdecktZusammenhänge, von denen man nachträglich merkt, dassman sie mit einem verhältnismäßig einfachen Modell auchschon von vorneherein hätte finden können. Neben diesermitunter etwas frustrierenden Selbsterkenntnis hat mandann sich dann aber immerhin auch bereits belastbare Zah-len für die Gültigkeit der Modellvorstellungen verschafft...

Die Erweiterung unseres Basissatzes zwecks Näherungdes Grundzustandsorbitals hat noch weitere Effekte: (i)auch die Näherung für das Orbital des ersten angeregten Zu-standes wird damit verbessert, und (ii) wir können weite-re angeregte Zustände des H2

+ damit beschreiben. Zum Bei-spiel einen Zustand ψ3σ(r), der mit Hilfe einer Formel ge-schrieben werden kann, die ganz genauso aussieht wie (7).Worin liegt dann der Unterschied? In den Werten für die Ko-effizienten! Unser erstes, stark vereinfachtes Modell für den

Grundzustand können wir mit (7) auch so schreiben, als wä-re c1s = 1 und alle anderen Koeffizienten identisch Null. Ineinem ebenso stark vereinfachten Modell für den zweitenangeregten Zustand könnte man zunächst annehmen dassc2s = 1 und alle anderen Koeffizienten identisch Null sind.Da die 2p-Orbitale aber mit den 2s-Orbitalen entartet sind,sollte man sie vorsichtshalber mit berücksichtigen. Und inder Tat, je nach Abstand zwischen den Atomkernen „mi-schen“ die 2pz-Orbitale mit hinein, mit Koeffizienten, dieähnlich groß sind wie die der 2s-Orbitale. Diese Beobach-tung können wir im „sp1-Hybridorbital“-Modell beschrei-ben. Wenn wir annehmen, dass bei einem bestimmten Ab-stand die Koeffizienten der 2s- und 2pz-Orbitale die glei-chen Beträge haben (das ist für ψ3σ(r) bei einem Abstandvon etwa 200 pm tatsächlich der Fall, wenn wir eine Basisaus 1s-, 2s- und 2pz-Orbitalen für die beiden H-Atome ver-wenden – wobei dann die 1s-Orbitale auch noch etwas mithineinmischen), können wir statt

ψ3σ(r) = N3σ { [ψ2sA(r) + ψ2s

B(r)] + [ψ2pzA(r)

– ψ2pzB(r)] + …} (8)

völlig äquivalent auch schreiben

ψ3σ(r) = N3σ { [ψ2sA(r) + ψ2pz

A(r)] + [ψ2sB(r)

– ψ2pzB(r)] + …} (9)

Der erste der beiden Ausdrücke in den eckigen Klammerndefiniert uns dabei ein „nach rechts“ ausgerichtetes sp1-Hy-bridorbital am H-Atom A (Abbildung 14), der zweite ein

„nach links“ ausgerichtetes sp1-Hybridorbitalam H-Atom B. Wir können das Orbital ψ2σ(r)also näherungsweise auch so verstehen, dasses aus der Linearkombination von 2 atomaren„Hybridorbitalen“ entsteht.

Eine weitere Klasse von Orbitalen wollenwir uns noch am H2

+ ansehen, bevor wir alldas zur Beschreibung „normaler“ Molekülebenutzen, die π-Orbitale. Betrachten wir mal

der Einfachheit halber wieder nur zwei Atomorbitale, die„senkrecht“ auf der Kernverbindungsachse stehen, d.h. wodie beiden Atomkerne in der Knotenebene liegen, z. B. dieAtomorbitale ψ2px

A(r) und ψ2pxB(r) (Abbildung 7). Damit

sind zwei Linearkombinationen möglich, ein „bindendes pi-Orbital“

ψ1πx(r) = N1π { ψ2pxA(r) + ψ2px

B(r) } (10)

und ein „antibindendes pi-Stern-Orbital“

ψ2πx(r) = N2π { ψ2pxA(r) – ψ2px

B(r) } (11)

(alternativ auch als ψ1πx*(r) gekennzeichnet, Abbildung 15).Genauso kann man aus den anderen auf der Kernver-

bindungsachsen senkrechten Atomorbitalen ψ2pyA(r) und

ψ2pyB(r) die Linearkombinationen ψ1πy(r) und ψ2πy(r) bil-

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Abb. 14 Ein sp1-Hybridorbital.

Page 15: Eine Einführung in die Quantenchemie

den. Berechnet man die Energien von ψ1πx(r) und ψ1πy(r),stellt man fest, dass diese identisch sind, die „π-Orbitale“ al-so miteinander entartet sind. Das muss so sein: Schließlichunterscheiden sich ψ1πx(r) und ψ1πy(r) ja nur dadurch, dassdie Knotenebene des ersten Orbitals die yz-Ebene ist unddie des zweiten Orbitals die xz-Ebene – ansonsten sehen sievöllig identisch aus (genauer gesagt: Sie können durch ei-ne „Symmetrieoperation“, nämlich Drehung um die Mole-külachse, ineinander überführt werden). Ganz analog sinddie beiden „π*-Orbitale“ miteinander entartet. π- und π*-Or-bitale unterscheiden sich schon rein optisch dadurch, dassdie ersten nur eine Knotenebene enthalten, während beiden π*-Orbitalen eine weitere, zwischen den Kernen lie-gende dazukommt. Wir hatten ja auch schon weiter obendie Bezeichnung für die σ-Orbitale einen zusätzlichen Stern(„*“) benutzt, wenn diese eine Knotenebene zwischen denAtomkernen haben, also „antibindend“ sind.

In Abbildung 16 wurden die Energien all der Zuständedes H2

+ durch waagerechte Striche charakterisiert, die sichaus den Atomorbitalen 1s, 2s, 2px, 2py und 2pz zweier H-Atome bei einem Abstand von 490 pm, dem ungefährenGleichgewichtsabstand des zweiten angeregten Zustands,gewinnen lassen. Zusätzlich sind links und rechts davon dieEnergien der Wasserstofforbitale selber aufgetragen. Ge-strichelte Linien zeigen an, welche Atomorbitale die we-sentlichen Beiträge zu einem Molekülorbital liefern. DasBild ließe sich verfeinern, wenn man weitere Atomorbitaleheranziehen würde – man würde dann aber auch schnellden Überblick verlieren, und auch so sehen wir schon al-les Wesentliche.

Quantenmechanik von Mehrelektronen -systemen: Spin und Antisymmetrie

Derartige „MO-Diagramme“ bilden auch eine wichtige Zu-tat zum Verständnis von Molekülen mit mehr als einem Elek-tron. Zuvor ist aber nochmal ein Ausflug zu den quanten-mechanischen Grundlagen nötig. Wie ganz am Anfangschon erwähnt, haben Elementarteilchen nicht nur eineMasse und eine Ladung (die auch den Wert Null haben kön-nen, je nach Teilchensorte), sondern auch einen Spin. Wennwir für diese Eigenschaft ein klassisches Bild suchen, passt

das eines um seine eigene Achse rotierenden Planeten nocham ehesten. Inzwischen erwarten wir aber gar nicht mehr,dass solche klassischen Bilder für kleine Teilchen wirklichzutreffen. Und so ist es dann auch: Während wir bei klas-sischen Drehungen um eine Achse alle drei Komponentendes Drehimpulsvektors gleichzeitig genau bestimmen kön-nen, geht dies bei mikroskopischen Teilchen nicht. Hierkann man lediglich zwei Aussagen zum Drehimpulsvektorgleichzeitig genau treffen: die über seine Länge und eine sei-ner Komponenten, meist willkürlich als z-Komponente fest-gelegt.

Der Drehimpulsvektor, was war das nochmal? Dies istein Vektorpfeil, der in der klassischen Physik genau auf derDrehachse liegt und dessen Länge etwas mit der Ge-schwindigkeit der Drehung sowie der Masse des drehendenTeilchens zu tun hat. Zusätzlich zur Unbestimmtheit einerDrehimpulskomponenten, d. h. letztlich der Unbestimmt-heit der exakten Ausrichtung der Drehachse eines Quan-tensystems, müssen wir uns natürlich auch hier auf das Phä-nomen der Quantisierung physikalischer Eigenschaften ein-stellen. Das äußert sich beim Elektronenspin so, dass dieLänge des Drehimpulsvektors auf einen einzigen Wert fest-gelegt ist, während seine z-Komponente zwei verschiede-ne Werte einnehmen kann, die wir uns (mit aller Vorsicht)in etwa als Drehung im und gegen den Uhrzeigersinn umeine Achse vorstellen können. Kehrt man die Rotationsbe-wegung eines Teilchens um, so ändert der Drehimpulsvek-tor sein Vorzeichen, was zwanglos erklärt, warum man ger-ne von „Spin-up“-(Drehimpulsvektor zeigt nach oben) und(er zeigt nach unten) „Spin-down“- Zuständen des Elektronsspricht und dies mit einem Pfeil nach oben (↑) bzw. unten(↓) darstellt. Die Änderung des Spinzustands eines Elek-trons ist durch Magentfelder möglich, die im Atom oderMolekül selber entstehen können oder von außen kommenkönnen. Der letzte Fall ist z. B. aus der „Kernspintomogra-phie“ bekannt: hier wechselwirken die Magnetfelder desTomographen mit den Spins der Atomkerne, die als mikro-skopische Teilchen ebenso über diverse Spineinstellungenverfügen, wie Elektronen auch. In der Chemie wird dies inder Kernspinresonanzspektroskopie (NMR) zur Bestim-mung von Molekülstrukturen weidlich ausgenutzt. Eineprinzipiell ähnliche, aber leider weniger universell anwend-bare Methode ist die Elektronenspinresonanzspektroskopie(ESR), wo die mit der Änderung des Elektronenspinzustandsin Gegenwart weiterer, molekülinterner Magnetfelder ver-knüpften Energieänderungen bestimmt werden.

Uns interessiert das hier aber gar nicht wirklich, wirbrauchen den Spin für unsere Zwecke zunächst nur aus ei-nem Grund: er stellt einen zusätzlichen „Freiheitsgrad“ ei-nes Elektrons dar, zusätzlich zu den drei Freiheitsgraden, dieder Bewegung des Elektrons im Raum entsprechen. Damitmüssen wir ihn in der Beschreibung eines Elektrons durcheine Wellenfunktion irgendwie berücksichtigen, z. B. alsvierte Koordinate ω zusätzlich zu r. Statt durch ein Orbitalψ(r) wird das Elektron also vollständiger durch ein „Spin -orbital“ ψ(r,ω) beschrieben.

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A B B . 1 5 B I N D E N D – A N T I B I N D E N D

Bindendes 1πx- (links) und antibindendes 2πx-Orbital (letzteres oft auch als 1πx*-Orbital bezeichnet, rechts).

Page 16: Eine Einführung in die Quantenchemie

Bei Einelektronensystemen stellt dies nur eine Art kos-metischer Korrektur dar, so lange wir Magnetfelder igno-rieren. Für Systeme mit mehr als einem Elektron ist dieseKorrektur aber in jedem Falle von höchster Bedeutung –auch bei verschwindenden Magnetfeldern! Denn es gibt ei-ne ganz bestimmte Anforderung an die Wellenfunktion derKlasse von Teilchen, die „Fermionen“ genannt wird undder auch das Elektron angehört. Dabei handelt es sich umdie „Antisymmetrieforderung“. Schauen wir uns kurz an,was damit gemeint ist, wofür glücklicherweise ein Zwei-elektronensystem ausreicht. Zwei Elektronen, das bedeu-tet, dass die Wellenfunktion von all den Koordinaten dieserbeiden Teilchen abhängt: also drei räumlichen Koordinatenfür das erste Elektron, die wir alle drei zusammen durch denVektor r1 symbolisieren, eine Spinkoordinate ω1 für diesesElektron, die drei räumlichen Koordinaten r2 für das zwei-te Elektron und seine Spinkoordinate ω2. Die Gesamtwel-lenfunktion Ψ (für die wir nun, zur besseren Unterschei-dung von Orbitalen, Großschreibung verwenden) hängt al-so von acht Koordinaten ab: Ψ = Ψ(r1, ω1; r2, ω2). Und fürdiese Gesamtwellenfunktion muss nun gelten, dass sie ihrVorzeichen umkehrt, wenn wir die vier Koordinaten desersten Elektrons mit den vier Koordinaten des zweiten Elek-trons vertauschen:

Ψ(r2, ω2; r1, ω1) = – Ψ(r1, ω1; r2, ω2) (12)

Ähnliche Beziehungen gelten für andere Sorten von Teil-chen, wie etwa für die Kernwellenfunktion, die ein Systemmit zwei Wasserstoffatomkernen (2 Protonen) beschreibt.Sie sind eine Konsequenz der „Ununterscheidbarkeit“ mi-kroskopischer Teilchen: Zwei gleich große und gleichschwere Bälle können wir notfalls mit einem Farbtupfer aus-einanderhalten – das gelingt uns bei zwei Elektronen abersicher nicht! Die Konsequenzen für die Beschreibung vonMehrelektronensystemen sind dramatisch: durch die Anti-symmetrieforderung fallen die meisten Lösungen der Schrö-dingergleichung für Mehrelektronensysteme als „unphysi-kalisch“ weg! Es gibt nämlich durchaus eine Menge mathe-matischer Lösungen, die die obige Beziehung nicht erfüllen.Aber keine Sorge: es bleiben noch genug übrig, so dass wirauch bei Mehrelektronenystemen die i.a. immer noch un-endlich große Anzahl an Lösungen durch Quantenzahlenauseinanderhalten müssen, wie inzwischen gewohnt.

Molekülorbitale und Slater-DeterminantenGlücklicherweise gibt es trotz der Antisymmetrieforderungein schönes Rezept, unsere Erkenntnisse über Atom- und Mo-lekülorbitale von Einelektronen- auf Mehrelektronensystemezu übertragen. Versuchen wir doch mal folgenden Ansatz:

Ψ(r2, ω2; r1, ω1) = N [ψ1(r1,ω1) * ψ2(r2,ω2) – ψ1(r2,ω2) * ψ2(r1,ω1) ] (13)

wobei N ein nun schon vertrauter Normierungsfaktor ist(dessen Wert nicht groß interessiert, solange wir nicht sel-

ber damit rechnen müssen...) und ψ1 und ψ2 zwei ver-schiedene Spinorbitale (die sich also in mindestens einerQuantenzahl unterscheiden). Orbitale waren ja Einelektro-nenwellenfunktionen, also Wellenfunktionen, die nur eineinziges Elektron beschreiben können. Durch Multiplikati-on zweier Orbitale miteinander, davon eines für das eineElektron und das andere für das zweite Elektron, gelangenwir an eine Zweilektronenwellenfunktion, die von allenacht Koordinaten abhängt. Das leistet bereits jeder der bei-den Beiträge zu Ψ, sowohl der vor als auch der hinter demMinuszeichen. Das Minuszeichen sorgt jedoch dafür, dassdas Antisymmetrieprinzip erfüllt wird – probieren Sie dasdoch ruhig mal selber kurz aus!

Auch für Systeme mit mehr als zwei Elektronen kannman sich ähnlicher „antisymmetrisierter Produkte“ von Or-bitalen bedienen, die auch als „Slater-Determinanten“ be-zeichnet werden. Es wird zwar schnell unbequem, dieseexplizit hinzuschreiben – für drei Elektronen benötigen wirbereits eine „Summe“ von sechs solchen Orbitalprodukten,bei denen jedes Elektron nacheinander in jedem Orbitalauftaucht, so wie oben das Elektron 1 mal im Orbital ψ1 (imersten Summanden vor dem Minuszeichen) und danach imOrbital ψ2 (im zweiten Summanden) auftaucht. Dennochlässt sich mit Slater-Determinanten unter Zuhilfenahme ei-ner kleineren Anzahl Regeln relativ bequem für beliebigeZahlen von Elektronen rechnen – und wieder lässt sich diesauch bestens Computern übertragen.

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A B B . 1 6 E N E RG I E N …

… einiger niedrig-liegender Zustände des H2+-Molekülions bei

einem Abstand von 490 pm zwischen den Atomkernen. Dieenergetische Lage der Zustände des Molekülions selber sindim mittleren Teil der Zeichnung zu sehen, links und rechts da-von sind die Energien der Atomorbitale zu finden, die in derMO-LCAO-Näherung dazu wesentlich beitragen. Man beach-te, dass die Energieskala eine Lücke aufweist, um die 1σ- und2σ-Zustände noch im Diagramm unterzubringen.

Page 17: Eine Einführung in die Quantenchemie

Hartree-Fock-Theorie und MO-DiagrammeLeider haben Slater-Determinanten aber auch einen Nach-teil: Sie sind im allgemeinen keine Lösungen der Schrödin-gergleichung – außer wenn man die Wechselwirkung zwi-schen den Elektronen vernachlässigt. Wenn man dennocheine einzelne Slater-Determinante als Näherung für die Wel-lenfunktion der Elektronen verwenden möchte, kann mandiese aber wenigstens wieder nach einem Variationsver-fahren optimieren. D. h., man optimiert den Energieerwar-tungswert der Slaterdeterminanten, wofür man zunächsteinmal Orbitale benötigt.

Diese „Startorbitale“ könnte man z. B. bekommen, in-dem man zunächst so tut, als hätte das Molekül nur einElektron – denn dann können wir alles so machen, wieoben beim H2

+-Molekülion diskutiert. Insbesondere kön-nen wir auch den MO-LCAO-Ansatz für die Orbitale ver-wenden. Der Energieerwartungswert mit den Startorbitalenkann in der Folge sukzessive durch Veränderung der MO-Koeffizienten minimiert werden (Abbildung 17).

Lässt sich der Energiewert nicht weiter verbessern, er-füllen die Orbitale die Hartree-Fock-Roothaan-Gleichungen.Die optimierten Orbitale nennt man „kanonische Hartree-Fock-Orbitale“. Schaut man sich die Gleichungen an, diediese Orbitale erfüllen, erkennt man, dass darin ein Termvorkommt, der die Coulomb-Wechselwirkung eines Elek-trons mit dem mittleren elektrischen Potential aller anderenElektronen beschreibt. Es tritt aber auch ein Term auf, derberücksichtigt, dass ein Elektron nicht durch ein einzigesOrbital beschrieben wird, sondern aufgrund des Antisym-metrieprinzips auch durch alle anderen Orbitale. In derSprache der Quantenchemie wird das etwas leichter ver-ständlich, wenn man den Orbitalbegriff sozusagen verselb-ständigt: Man redet davon, dass Elektronen Orbitale „be-

setzen“, womit man die Antisymmetrie der Gesamtwellen-funktion so beschreiben kann, dass ein „Austauschen“ vonzwei Elektronen in zwei Orbitalen zum Vorzeichenwechselder Mehrelektronenwellenfunktion führt.

Schauen wir uns noch mal die Gleichung (13) für eineZweielektronenwellenfunktion an: im zweiten Summandenhinter dem Minuszeichen wurden im Vergleich zum erstenSummanden die Koordinaten der Elektronen 1 und 2 mit-einander vertauscht – während im ersten Term das Elektron1 das erste Orbital besetzt, besetzt es im zweiten Term daszweite Orbital.

Es sei daran erinnert, dass sich der Ausdruck Orbitalein dieser Gleichung auf Spinorbitale bezieht. Zwei Spinor-bitale sind bereits dann voneinander verschieden, wenn daseine einen Spin-up- und das andere einen Spin-down-Zu-stand beschreibt – wobei ihre räumliche Gestalt identischsein darf. Zwei Spinorbitale mit identischer räumlicher Formhaben übrigens exakt dieselbe Energie, da letztere in Ab-wesenheit von Magnetfeldern nur von dem räumlichen An-teil des Orbitals abhängt. Nicht zuletzt deswegen beziehtman den Begriff Orbital häufig auch nur auf diesen räumli-chen Anteil. In diesem Sinne redet man dann davon, dassein Orbital höchstens von zwei Elektronen besetzt werdenkann, einem mit spin-up und einem mit spin-down. DieseForderung, bekannt als „Pauli-Prinzip“, ist nichts weiter alseine Auswirkung der Antisymmetrieanforderung im Rah-men der Beschreibung von Mehrelektronenwellenfunktio-nen durch Slater-Determinanten.

Die elektronische Gesamtenergie des Atoms oder Mo-leküls ist nicht einfach die Summe der Orbitalenergien: Inletzteren ist die mittlere Coulomb-Wechselwirkung einesElektrons mit allen anderen Elektronen enthalten, so dassbei einfacher Aufsummierung der Orbitalenergien die Elek-tron-Elektron-Wechselwirkungen doppelt gezählt würden.In der Hartree-Fock-Energie wird die Doppelzählung aller-dings vermieden. In aller Regel stellt sich heraus, dass dieHartree-Fock-Energie minimal wird, wenn man die Spinor-bitale mit den tiefsten Orbitalenergien besetzt, und zwar so-lange, bis alle Elektronen „verbraucht“ sind. Wenn in einemAtom oder Molekül genausoviele Elektronen mit spin-upwie mit spin-down vorhanden sind, geschieht dies durch„Doppelbesetzung“ der räumlichen Orbitale. Man sprichtdann von einem „geschlossenschaligen“ Atom oder Mole-kül. Die allermeisten stabilen Moleküle sind geschlossen-schalig, ferner die sehr wenig reaktiven Edelgasatome, aberauch die durchaus sehr reaktiven Erdalkaliatome. Der Grundfür die Reaktivität der letzteren ist Ihnen sicher bekannt:Durch Abgabe von zwei Elektronen können die Erdalkali-metalle dieselbe Art und Weise der Besetzung von Orbita-len erzielen, wie die Edelgase, sie erreichen dieselbe „Elek-tronenkonfiguration“ – sofern ein Reaktionspartner vor-handen ist, der diese Elektronen auch aufnehmen kann.

Die Wechselwirkung der Elektronen untereinander hatbei Atomen mit mehreren Elektronen unter anderem zurFolge, dass die 2s- und die 2p-Orbitale nicht länger entartetsind. Die drei 2p-Orbitale haben zwar immer noch exakt die-

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Minimierung der Hartree-Fock-Energie des H2-Moleküls (miteinem Basissatz aus 28 Atomorbitalen und bei einem Abstandvon 74 pm) durch sukzessive Veränderung der MO-Koeffizien-ten. In diesem Beispiel wurden kanonische Hartree-Fock-Orbi-tale in nur vier Iterationen erzeugt – das kann in anderen Fällen auch deutlich länger dauern!

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selbe Orbitalenergie, aber die des 2s-Orbitals ist etwas vonihnen verschieden (Abbildung 9). Wäre das nicht so, dannwäre das Berylliumatom auch kein geschlossenschaliges Sys-tem. Denn die Doppelbesetzung eines Orbitals mit einemSpin-up- und einem Spin-down-Elektron ist nach der Hund-schen Regel energetisch weniger günstig, als die Besetzungzweier entarteter Orbitale mit nur jeweils einem Elektron.Deswegen, weil sich in letzterem Falle die Elektronen „bes-ser aus dem Weg“ gehen, d. h. einen größeren mittlerenräumliche Abstand voneinander einnehmen können – wassie wegen der Abstoßung zwischen ihren Ladungen auchgerne tuen. Die meisten Atome weisen eine solche „offen-schalige“ Elektronenkonfiguration auf.

Aber auch der Vergleich des Stickstoff- und des Sauer-stoffmoleküls bietet ein sehr schönes Beispiel für die Konse-quenzen der Hundschen Regel. Die Orbitalenergie-Diagram-me beider Moleküle sind in Abbildung 18 gezeigt. Das Bildder Orbitalenergien entspricht jeweils ganz grob dem, was inAbbildung 16 an Zustandsenergien für H2

+ bei einem Abstandvon 490 pm zu sehen war: der wesentliche qualitative Un-terschied ist, dass wir jetzt mehr σ-Orbitale unter den entar-teten 1π-Orbitalen finden. Die 1σ- und 2σ-Orbitale wurden inAbbildung 18 völlig weggelassen, weil sie energetisch sehr tiefunter den gezeigten Orbitalen liegen; die Elektronen sind alskleine rote Pfeile eingetragen, die die Orbitale von unten auf-füllen. Da im O2 16 Elektronen vorhanden sind, sehen wir,dass die letzten beiden Elektronen in die entarteten 2π-Orbi-tale gesetzt werden müssen – und zwar je ein Elektron in jeeines der beiden Orbitale. Alle darunter liegenden Orbitalesind doppelt besetzt. Mithin ist das Sauerstoffmolekül einzweifach offenschaliges Molekül, ein „Biradikal“, welchesauch in der Tat die von diesem Begriff suggerierte recht ho-he Reaktionsfähigkeit aufweist (man denke nur an Verbren-nungsvorgänge). Im Gegensatz dazu ist das Stickstoffmolekülein geschlossenschaliges Molekül: Es hat zwei Elektronen we-niger als O2, so dass hier nichts mehr zur Besetzung von ent-arteten Molekülorbitalen mit nur je einem Elektron zwingt.

Ein anderes prominentes Beispiel für die Bedeutung derHundschen Regel bei der Verteilung von Elektronen auf Mo-lekülorbitale bietet die Erklärung der „Aromatizität“ desBenzol-Moleküls (C6H6), d. h. seiner besonderen elektroni-schen Stabilität und Reaktionsträgheit, während das auf denersten Blick ähnliche Cyclobutadien (C4H4), welches eben-falls ein „cyclisch konjugiertes“ planares Ringsystem auf-weist, wie das Sauerstoffmolekül ein Biradikal wäre – wennes dem nicht durch Verzerrung seiner geometrischen Struk-tur ausweichen würde.

Auf dem Weg zu genauen VorhersagenDer Wert des MO-Modells auf der Grundlage der Hartree-Fock-Roothaan-Theorie für das Verständnis der Elektronen-struktur von Molekülen – und in der Folge auch ihrer geo-metrischen Struktur – ist kaum zu überschätzen und wur-de hier nur gestreift. Aber auch dieses Modell stößt raschan seine Grenzen, wenn man wirklich quantitative Ergeb-nisse erhalten will.

Das grundsätzliche Problem ist dabei natürlich die Nä-herung der Wellenfunktion durch eine Slater-Determinan-te. Dadurch erkauft man sich einen Fehler, der mit der „Kor-relation“ der Elektronenaufenthaltswahrscheinlichkeiten zutuen hat. Worum geht es dabei? Um die Beeinflussung derAufenthaltswahrscheinlichkeit eines Elektrons an einem Ortdurch ein Elektron an einem anderen Ort. Ganz intuitiv –und zu Recht – erwarten wir, dass sich zwei Elektronen nurungern nahe kommen, da sich ihre Ladungen ja abstoßen.Wissen wir also, dass Elektron Nummer 1 am Ort r ist, soist die Wahrscheinlichkeit kleiner, ein anderes Elektron inder Nähe zu finden. Diesen Effekt nennt man „Coulomb-Korrelation“. Der Ansatz einer Wellenfunktion durch nur ei-ne einzige Slater-Determinante für geschlossenschalige Ato-me oder Moleküle ist gleichbedeutend damit, die Coulomb-Korrelation völlig zu vernachlässigen! Das leuchtet vielleichtnicht unmittelbar ein, stimmt aber mit der Tatsache über-ein, dass in der Hartree-Fock-Theorie jedes Elektron nur mitdem mittleren (und nicht mit dem „instantanen“) elektri-schen Potential aller anderen Elektronen wechselwirkt.

Sieht man etwas genauer hin, fällt auf, dass man mit ei-ner Slater-Determinante zwar durchaus einen Elektronen-korrelationseffekt im Prinzip richtig erfasst, nämlich die als„Fermi-Korrelation“ bezeichnete Tatsache, dass für zwei Fer-mionen gleichen Spins aufgrund der Antisymmetrie der Wel-lenfunktion die Wahrscheinlichkeit, beide am selben Ortzu finden identisch Null ist – völlig unabhängig von ihrerLadung. Aber die Coulomb-Korrelation ist eben auch einüberaus wichtiger Beitrag, der in vielen Fällen verhindert,dass man mit der Hartree-Fock-Roothaan-Theorie wirklichzuverlässige Vorhersagen machen kann. Darüber hinaus gibtes eine Reihe wichtiger Systeme, wo die Wellenfunktionvon vornherein nur durch mehrere Slater-Determinanten

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… von N2 (links) und O2 (rechts).

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beschrieben werden kann – selbst wenn man nur ein qualitativ korrektes Mo-dell benötigt. Das kann man in etwa so verstehen, dass hier mehrere Slater-De-terminanten, aufgebaut aus verschiedenen Sätzen von Orbitalen, zu sehr ähnli-chen Energieerwartungswerten führen, Sie müssen somit unbedingt zusammenals Näherung für die Grundzustandswellenfunktion und die unter diesen Um-ständen sehr nahe benachbart liegenden untersten angeregten Zustände ver-wendet werden. Diese, oft als Vorliegen von „statischer Elektronenkorrelation“beschriebene Situation tritt z. B. im Verlaufe vieler chemischer Reaktionen auf.

Ein großer Teil der seit vielen Jahrzehnten andauernden Entwicklung der Quan-tenchemie widmet sich dem Problem, Elektronenkorrelation zumindest so weitzu erfassen, dass unvermeidliche Fehler systematisch genug ausfallen, um bei Vor-hersagen nicht weiter zu stören. Bei diesen Bemühungen ist eine große Vielfalt vonMethoden entstanden. Die hohe Kunst bei der Entwicklung solcher quantenche-mischer Methoden liegt darin, die Näherungen so zu gestalten, dass sie gleichzei-tig effizient und genau sind: Tolle Verfahren, auf deren Ergebnisse man aber Jahrewarten muss, nützen gar nichts – in der Zwischenzeit hat nämlich jemand mit ziem-licher Sicherheit eine schnellere und akkuratere Näherung gefunden...

An dieser Stelle sei nur eine Klasse von Methoden herausgehoben, mit derseit ein bis zwei Jahrzehnten der größte Teil der quantenchemischen Rechnun-gen erfolgt: die Methoden der Kohn-Sham-Dichtefunktionaltheorie. Diese be-handeln Elektronensysteme sozusagen indirekt: Statt einer Wellenfunktion fürElektronen berechnet man dabei eine Wellenfunktion für „Pseudoelektronen“,die keine direkte Wechselwirkung untereinander haben sollen. Dadurch kannman ihre Wellenfunktion tatsächlich durch eine Slater-Determinante aus Mole-külorbitalen prinzipiell exakt darstellen. Der Trick ist nun, dafür zu sorgen, dassbeide, das Molekül mit den hypothetischen Pseudoelektronen und das Molekülmit den echten Elektronen dieselbe „Dichte“ haben: Also dass die Wahrschein-lichkeit, ein Pseudoelektron in einem bestimmten Abstand zu den Atomkernenzu finden exakt so groß wird, wie die, dort ein Elektron anzutreffen. Dazu be-nötigt man ein mathematisches Objekt, ein „Funktional“, dessen Existenz sichbeweisen lässt – dessen Form wir aber nicht kennen (Dieses Funktional stellt ei-ne Abbildung von der Funktion ρ(r) für die Dichte auf eine Zahl Exc dar, die ei-nen Beitrag zur Gesamtenergie liefert). Man kann aber Modelle für dieses Funk-tional aufstellen, z.B. solche, die in bestimmten Situationen wie etwa bei der Be-schreibung eines „Elektronengases“ exakt werden. Neben der hohen Effizienzvon Dichtefunktionalmethoden haben sie in der Chemie sicher auch denCharme, das ubiquitäre MO-Modell auf einer quantitativeren Grundlage weiterzu verwenden.

Für jemanden, der eine quantenchemische Methode benutzen möchte, umeine konkrete, meist experimentell angeregte Fragestellung zu lösen, ist es oftschwierig, die geeignete Methode auszuwählen. Es ist z. B. relativ leicht, dieGleichgewichtsstruktur eines geschlossenschaligen Moleküls mit mehreren Dut-zend Atomen auch ohne großes Expertenwissen in wenigen Stunden Berech-nungszeit auf einem handelsüblichen Laptop so genau zu bestimmen, dass etwadie Bindungslängen auf besser als ein Prozent korrekt sind. Es ist aber etwas völ-lig anderes, z. B. die Produkte einer photochemischen Reaktion und deren re-lative Anteile an der Ausbeute vorherzusagen, was häufig jahrelange Bemühun-gen mit höchst zeitaufwändigen Berechnungen auf Großrechenzentren und einhohes Maß an Expertenwissen erfordert. Diese Themen können wir nicht ver-tiefen, da wir uns hier „nur“ um ein grundsätzliches Verständnis der Auswir-kungen der quantenmechanischen Grundgesetze auf die Chemie bemüht ha-ben. Es macht aber hoffentlich klar, dass die Quantenchemie noch lange keinabgeschlossenes Gebiet ist, obwohl ihre physikalischen Grundgleichungen schonbald ein Jahrhundert bekannt sind und die Verwendung quantenchemischer Me-thoden auch in vielen experimentell ausgerichteten Projekten der chemischenForschung der Normalfall ist. Es gibt aber noch reichlich Baustellen in diesem

Grenzgebiet zwischen Chemie und Physik, auf denen manmit cleveren Ideen stets höchst willkommen ist!

ZusammenfassungIn der Quantenchemie wird die grundlegende physikalischeTheorie der Quantenmechanik zur quantitativen Beschrei-bung chemischer Substanzen und ihrer Reaktionen ange-wendet. Eine klare Aufgabe – aber nicht ganz so leicht um-zusetzen. Der Artikel geht zunächst auf einige Aspekte derQuantenmechanik ein, die exotisch scheinen mögen, in derWelt der Elektronen und Atomkerne aber normal sind. Er dis-kutiert dann eine Reihe grundlegender Näherungen, mit derenHilfe wir uns in dieser Welt zurecht finden können. Schließlichdeutet der Artikel gelegentlich an, wie daraus in Computer-programme implementierte quantenchemische Methodenentstehen, deren Resultate beim Verstehen und der Vorher-sage der Eigenschaften und des Verhaltens chemischer Syste-me helfen.

SummaryQuantum chemistry applies the fundamental physical theo-ry of quantum mechanics to the description of chemical sub-stances and their reactions. A clear task – but not so easy tofulfill. The paper first describes a few of the aspects of quan-tum mechanics which may seem exotic yet form a part of theworld of electrons and atomic nuclei. Then a number of ba-sic approximations will be discussed which help us to find ourway in this world. And here and there it will be indicated howthis allows to develop quantum chemical methods in the formof computer programs, the results of which help to under-stand and predict the properties and behaviour of chemicalsystems.

Der AutorGeorg Jansen studierte von 1983 bis 1988 Chemiean der Universität Bonn, wobei ihn schon frühtheoretische Aspekte faszinierten. Nach seinerPromotion in Bonn ging er 1993 als Postdoktorandan die Université de Nancy in Frankreich. Er kehrte1996 nach Deutschland zurück und habilitierte2000 an der Universität Düsseldorf, wo er kurzzeitigauch eine Lehrstuhlvertretung übernahm. 2001ging er als Gast- und kurz darauf als hauptamtlicherUniversitätsprofessor an die Université des Scienceset Technologies de Lille in Frankreich. Im Jahre 2002nahm er einen Ruf auf eine C3-Professur für Theo -retische Organische Chemie an der damaligenUniversität-GH Essen an, die Anfang 2003 in derUniversität Duisburg-Essen aufging. Dort ist erseither, wobei ihn Gastprofessuren mehrmals zurücknach Nancy und ein Forschungsaufenthalt im Jahre2011 an die Griffith-University in Brisbane, Austra-lien, brachten.

Korrespondenzadresse:Professor Georg Jansen,Fakultät für Chemie, Universität Duisburg-Essen, Universitätstr. 5, 45117 EssenE-Mail: [email protected]

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