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 18. April 2009, Neue Zürcher Zeitung «Eine gute Lektür e ist ein Dank an den Text»  Ein Gespräch mit George Steiner über die Moral des Verstehens, d ie Amoral des  Schreibens und die Angst vor einem neuen Antisemitismus George Steiner ist kein Literaturtheoretiker, sondern ein Literat: Er verteidigt die Klassiker und plädiert für das Auswendiglernen. Die Frage, wie und ob Literatur den Leser verändern kann, ist dabei zentral. Sieglinde Geisel besuchte George Steiner in seinem Haus in Cambridge. Wir haben uns für das Interview mit Briefen verabredet. Das habe ich schon lange nicht mehr erlebt. George Steiner: Ich schreibe noch mit der Hand, das ist eine Frage der inneren Höflichkeit. Ein Gedicht sei ein Händedruck, hat Paul Celan gesagt, und das gilt auch für einen Brief. Wenn ich einen handgeschriebenen Brief bekomme, mache ich mir einen ersten Eindruck von dem Menschen, der ihn geschrieben hat. Verweigern Sie sich den modernen Medien? Stundenlang vor diesen Bildschirmen zu sitzen – das ist eine niedrige Art menschlichen Kontakts. Und die elektronischen Mittel sind sehr trügerisch. Die gedruckte Fassung sieht so schön aus, dass man meint, der Text sei gut; in der Wissenschaft hat das zu einer Inflation von Texten geführt.  Wenn man mit der Han d schreibt, sieh t man, was nicht geht. Ich benutze keinen Computer. Die erste Fassung meiner Texte schreibe ich immer von Hand, die zweite auf einer mechanischen Schreibmaschine, und die Verbesserungen füge ich dann wieder von Hand ein. DER LESER ALS GAST EINES TEXTS Sie haben einmal gesagt, Sie möchten gern als Lehrer des Lesens in Erinnerung bleiben. Wie haben Sie das Lesen am College und an der Universität unterrichtet? Lesen ist ein grosses, kompliziertes Abenteuer. Zuerst näherten wir uns dem Text mit dem  Wörterbuch. Wörterbüch er sind die Sch atzkammern der men schlichen Gesch ichte. Ein Littré, ein Grimm, ein Oxford English Dictionary hat alle ande ren Bücher schon in sich, auch die Möglichkeiten der Bücher, die noch nicht geschrieben sind. In einem ersten Schritt versuchten wir, den Wortinhalt zu verstehen und auch die Geschichte der Wörter. In einem Gedicht ist eine ganze Chronologie der Vergangenheit dieser Wörter enthalten. Zweitens die Grammatik. Was ist die Grammatik? Sie ist die Melodie des menschlichen Gedankens! Ein grosser Dichter denkt schon der Grammatik nach – er singt sie.  Als Drittes erarbeiteten wir uns den Kontext. Wann wurde der Text geschr ieben und für wen? Was geschah zu dieser Zeit, und was waren die Bedingungen seiner Veröffentlichung? – Und da kommt  Walter Benjamin ganz ruh ig ins Zimmer und sagt: Meine Kinder, vi elleicht noch nich t für euch,  vielleicht wird der rich tige Leser erst in fünf hundert Jahr en kommen, aber ih r könnt es versuchen. Die Interpretation ist erst der letzte Schritt. Und dann wurde einiges zusammen auswendig gelernt. Das war für meine Studenten im Seminar immer das schöne Ende. Wir gingen ins Kaffeehaus, wir «Eine gute Lektüre ist ein Dank an den Tex t» (Kultur, Literatur und Kun s... http://www.nzz .ch/nachrichten/kultur/lite ratur_und_ku nst/eine_gute_lekt... 1 z 5 2011-12-13 18:20

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18. April 2009, Neue Zürcher Zeitung

«Eine gute Lektüre ist ein Dank an den Text» Ein Gespräch mit George Steiner über die Moral des Verstehens, die Amoral des Schreibens und die Angst vor einem neuen Antisemitismus

George Steiner ist kein Literaturtheoretiker, sondern ein Literat: Er verteidigt die Klassiker und

plädiert für das Auswendiglernen. Die Frage, wie und ob Literatur den Leser verändern kann,

ist dabei zentral. Sieglinde Geisel besuchte George Steiner in seinem Haus in Cambridge.

Wir haben uns für das Interview mit Briefen verabredet. Das habe ich schon lange nicht mehr erlebt.

George Steiner: Ich schreibe noch mit der Hand, das ist eine Frage der inneren Höflichkeit. Ein

Gedicht sei ein Händedruck, hat Paul Celan gesagt, und das gilt auch für einen Brief. Wenn ich

einen handgeschriebenen Brief bekomme, mache ich mir einen ersten Eindruck von dem

Menschen, der ihn geschrieben hat.

Verweigern Sie sich den modernen Medien?

Stundenlang vor diesen Bildschirmen zu sitzen – das ist eine niedrige Art menschlichen Kontakts.

Und die elektronischen Mittel sind sehr trügerisch. Die gedruckte Fassung sieht so schön aus, dass

man meint, der Text sei gut; in der Wissenschaft hat das zu einer Inflation von Texten geführt.

 Wenn man mit der Hand schreibt, sieht man, was nicht geht. Ich benutze keinen Computer. Die

erste Fassung meiner Texte schreibe ich immer von Hand, die zweite auf einer mechanischenSchreibmaschine, und die Verbesserungen füge ich dann wieder von Hand ein.

DER LESER ALS GAST EINES TEXTSSie haben einmal gesagt, Sie möchten gern als Lehrer des Lesens in Erinnerung bleiben. Wie haben

Sie das Lesen am College und an der Universität unterrichtet?

Lesen ist ein grosses, kompliziertes Abenteuer. Zuerst näherten wir uns dem Text mit dem

 Wörterbuch. Wörterbücher sind die Schatzkammern der menschlichen Geschichte. Ein Littré, ein

Grimm, ein Oxford English Dictionary hat alle anderen Bücher schon in sich, auch die

Möglichkeiten der Bücher, die noch nicht geschrieben sind. In einem ersten Schritt versuchten wir,

den Wortinhalt zu verstehen und auch die Geschichte der Wörter. In einem Gedicht ist eine ganze

Chronologie der Vergangenheit dieser Wörter enthalten.

Zweitens die Grammatik. Was ist die Grammatik? Sie ist die Melodie des menschlichen Gedankens!

Ein grosser Dichter denkt schon der Grammatik nach – er singt sie.

 Als Drittes erarbeiteten wir uns den Kontext. Wann wurde der Text geschrieben und für wen? Was

geschah zu dieser Zeit, und was waren die Bedingungen seiner Veröffentlichung? – Und da kommt

 Walter Benjamin ganz ruhig ins Zimmer und sagt: Meine Kinder, vielleicht noch nicht für euch, vielleicht wird der richtige Leser erst in fünfhundert Jahren kommen, aber ihr könnt es versuchen.

Die Interpretation ist erst der letzte Schritt. Und dann wurde einiges zusammen auswendig gelernt.

Das war für meine Studenten im Seminar immer das schöne Ende. Wir gingen ins Kaffeehaus, wir

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tranken einen guten Wein dazu. Beim Spazierengehen kann man auch sehr gut auswendig lernen.

Und so haben wir «danke» gesagt zu dem Text. Ich weiss, wie altmodisch das ist, aber für mich

 bleibt es wahr: Jedes gute Lesen, une bonne lecture, ist ein Danke.

Was bedeutet es, einen Text auswendig zu lernen?

 Was man liebt, will man auswendig lernen – ich bin Fanatiker in diesem Punkt. Nichts kann es

Ihnen wegnehmen; keine Polizei, keine Zensur. Sie tragen das Auswendiggelernte mit sich, und es wächst in Ihnen. Der Text verändert sich, und er verändert uns: Wenn man älter wird, ist es nicht

mehr der gleiche Text, den man als junger Mensch gelesen hat. Denn von einem grossen Text wird

man gelesen. Man hat die Ehre, ins Haus einzutreten als Gast eines Texts – immer als Gast! –, und

man versucht zuzuhören.

KRITIKER – BRIEFTRÄGERWas bedeutet Verstehen?

Das ist eine ungeheuer schwierige philosophische Frage. Es bedeutet: sich irren – aber, wenn mandas zweite Mal liest, sich weniger irren. Es gibt keinen einzelnen Moment des Verstehens, sondern

eine Dynamik in der Beziehung zu einem Text. Der grosse Schriftsteller, der grosse Dichter, der

grosse Denker ist so viel mächtiger als unsere Möglichkeiten des Verständnisses, man kann seinen

Text nie erschöpfen. Nie. Schumann spielte seinen Schülern eine sehr schwierige Etüde vor, und als

die Schüler fragten, ob er sie ihnen erklären könne, spielte er sie ihnen noch einmal vor. Und das ist

genau die richtige Methode.

Manchmal geschehen einem seltsame Dinge. Man nimmt ein Buch zur Hand, das in der Erinnerung

eine Sternstunde war – und diesmal geht es nicht. Das passiert mir in meinem hohen Alter mehrund mehr. Es gibt Texte, die man nicht wieder lesen kann. Dann sage ich mir: Schnell weg damit –

sei glücklich in der Erinnerung. Man liest einen grossen Roman und ist komplett überwältigt, und

einige Jahre später ist das Buch tot. Es spricht nicht mehr. Oft liegt die Schuld beim Leser, aber

manchmal hat auch die Zeit die Sprache verändert. Das ist eine geheimnisvolle Dialektik: Mit der

Zeit verändert sich die Musik einer Sprache. Sie kann Papier werden, zum Klischee erstarren. Und

manchmal ist ein Werk so einflussreich, dass alle anderen etwas Wichtiges daraus nehmen und das

 Werk daran stirbt. Wer liest heute Schiller? Alle haben von ihm seinerzeit sehr viel gelernt – zu viel.

Heute ist sein Werk ein grosses, aber zum Teil abgestorbenes Monument.

Sie haben das Verstehen einmal als einen moralischen Akt bezeichnet. Was meinten Sie damit?

 Wenn man in ein Haus eintritt, wäscht man sich die Hände. Man geht sauber an einen Text, wenn

man kann. Es gibt eine Ethik des Verstehens – man versucht nicht, einen Text beim Lesen

umzugestalten. Und vor allem: Man vergisst nie die Milliarden von Kilometern Entfernung zwischen

dem besten Kritiker, Lehrer, Leser, Herausgeber und demjenigen, der das Werk geschaffen hat. Die

Sünde der modernen Kultur besteht darin, wie sich die Herren Dozenten und Kritiker wichtig

nehmen. Ein grosser Lehrer oder Kritiker ist nur der Briefträger, der den Brief dem richtigen

Empfänger zuwirft.

Es gibt ja auch die Angst vor dem Kunstwerk – viele lesen lieber die Biografie eines Autors als seine

Werke.

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Ja, es gibt diese Angst, weil man selbst sich so klein fühlt vor dem Genie. Als in Bern eine

Kindergartenklasse im Freien ein Aquädukt zeichnen sollte, gab ein Kind den Pfeilern Schuhe. Das

Kind hiess Paul Klee, und seither sind alle Aquädukte in Bewegung. Oder van Gogh: Er schaut eine

Pappel an und sieht, dass es nicht eine Pappel ist, sondern Feuer, eine grüne Flamme. Milliarden

Menschen hatten Pappeln angeschaut, doch niemand hatte gesehen, dass es ein grünes Feuer ist.

Doch seitdem brennt jede Pappel.

HÖLDERLIN IM KERZENLICHTWarum ist es so schwer, die herausragende Kunst und Literatur der eigenen Zeit zu erkennen? Viele

Klassiker waren zu Lebzeiten kaum bekannt.

 Wie Spinoza gesagt hat: Das Herausragende ist immer schwierig. Joyce zu lesen, braucht Zeit. Und

es braucht Zeit, bis die Zeit selbst zu Joyce heranwächst. Es wird Hunderte von Jahren dauern, bis

die späten Gedichte von Celan alltäglich werden können. Er sprach von einer Sprache nördlich der

Zukunft – ein sehr grosses Bild. Da ist es sehr kalt, da oben im Norden der Zukunft. Da muss man

ein Polar-Entdecker sein. Man muss zäh sein, immer wieder zum Buch, zum Gemälde oder zur

Musik zurückkehren.

Warum kommt eine Begegnung mit einem Kunstwerk heute so schwer zustande?

Die Menschen sind müde. Sie wollen unterhalten werden, und die Kitsch-Industrie liefert ihnen das

Minderwertige, das leicht ist. Doch das sind Narkosen, das hat nichts zu tun mit Verständnis, mit

Begegnung, mit Risiko. Allein zu sitzen, zu lesen, zu denken, ohne Geräusch und Hintergrundlärm,

das ist eine elitäre und schwierige Leistung geworden. Wir haben Wohnungen mit dünnen Wänden,

in denen man die Popmusik des Nachbarn hört. In Amerika können fünfundachtzig Prozent aller

Jugendlichen nicht mehr lesen, ohne dabei Musik zu hören. Die Jungen haben Angst vor demSchweigen.

 Vor einigen Tagen gab es in Cambridge einen Stromausfall, und so haben wir Kerzen angezündet.

Kerzen bringen nicht nur Licht, sondern ein ganz einzigartiges Schweigen, und man liest mit

grosser Konzentration. Ich las in den späten Gedichten Hölderlins. Im Kerzenlicht und im

Schweigen waren sie mir auf einmal sehr klar. Vielleicht stelle ich es mir nur so vor, aber ich habe

einiges angefangen zu verstehen, was mir bisher entgangen war.

Wir hatten vorhin über die Moral des Verstehens gesprochen. Gibt es auch eine Moral des

Erschaffens von Kunst, von Literatur?

Da rühren Sie an einen neuralgischen Punkt in meinem ganzen Leben. Werke von überwältigender

Grösse und Wichtigkeit können von Schweinen und Sadisten geschaffen werden – ich bedaure.

Mein guter Bekannter Arthur Koestler hatte eine Erklärung. Er sagte, es gibt das kultivierte

 Vordergehirn, das Musik, Philosophie und Mathematik schafft, und es gibt ein tierisches Proto-

Hintergehirn mit sadistischen Impulsen. Totaler Blödsinn! Es gibt keine zwei Gehirne. Es ist

derselbe Mensch am selben Tag: Proust, ohne den meine Welt sehr leer wäre, war Mitbesitzer eines

sadistischen Bordells und hat Tiere gefoltert. Proust! Was tun? Sage ich nun: Ich lese kein Wort

mehr von einem solchen Unmenschen? Oder bin ich ihm so tief dankbar für das, was er mir

geschenkt hat, für sein Werk, dass ich innerlich das Maul halte?

Es gibt meines Erachtens drei Romane, die unsere jetzige Welt gestalten: «Die Blechtrommel» von

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Grass, «Kinder der Mitternacht» von Rushdie und «Hundert Jahre Einsamkeit» von Márquez. Alle

drei sind eine Fussnote zur «Reise ans Ende der Nacht» von Louis Ferdinand Céline, dem

furchtbarsten Pro-Nazi, den es je gegeben hat. Wenn wir nur verstehen könnten, wie man am Abend

Schubert spielen kann und am Morgen foltern! Niemand kann es erklären.

Ich hatte nie die Nerven gehabt, die Frechheit, Heidegger zu begegnen, obwohl ich ihn mein Leben

lang studiert habe und die Möglichkeit gehabt hätte.

Warum nicht?

 Weil der Mann monströs war, ein ekelhafter Titan. Gadamer hat einmal gesagt: Martin Heidegger

 war der grösste der Denker und der kleinlichste der Menschen. Vielleicht ist es die einzige richtige

 Antwort. Aber es genügt mir nicht. Ich lese die Seiten über menschliche Sorge in «Sein und Zeit»,

die mit Pascal, Augustin und Kierkegaard das Grösste sind, was wir über das Phänomen Sorge

haben. Und der gleiche Mensch hält eine Nazi-Ansprache – und er erklärt, dass die schönsten

Hände der Welt die Hände des «Führers» seien. Wir wissen nicht, was da vorgeht. Ob in der ganz

grossen Monomanie des Schaffens, der Poesis, des Denkens ein Kern von Unmenschlichkeit nötigist?

Das würde heissen, dass gute Menschen keine guten Bücher schreiben können.

O doch, aber selten. «Les bons sentiments font la mauvaise littérature», hat Flaubert gesagt.

der schreiGrosse Kunst habe eine moralische Wirkung, lautet eine Ihrer Thesen. Sie fordere uns auf, unser

Leben zu ändern.

In Rilkes Gedicht «Archaischer Torso Apollos» heisst es: «Du musst dein Leben ändern.» Das ist die

Hoffnung. Doch ich glaube nicht mehr daran. Ich habe jetzt eine viel grössere Angst. Ich beginne,

an etwas zu glauben, was ich die Cordelia-Konsequenz nenne. In meinem Seminar lesen wir King

Lear: «Never, never, never!» – der Schrei des alten Mannes über das tote Kind in seinen Armen. Ich

komme nach Hause, und jemand schreit in der Strasse um Hilfe. Ich höre es, und ich tue nichts. Die

Fiktion ist so viel mächtiger als der Schrei in der Strasse. Das Erdichtete hat mich in seiner Macht.

Im Vergleich zu Lears Schrei ist der Schrei auf der Strasse banal, vulgär, uninteressant. Und davor

fange ich an, grosse Angst zu haben: vor der Möglichkeit, dass der Mensch, der sich in ein grosses

Kunstwerk wirklich vertiefen kann, etwas nicht hört im Alltäglichen. – Binnen kurzem werde ichachtzig Jahre alt, und die Welt wird furchtbarer und furchtbarer. Bald wird man auf uns Juden

 wieder losgehen.

BEFÜRCHTUNGEN und ein WITZWarum denken Sie das?

Es gibt wieder mehr antisemitische Übergriffe in den Städten, mehr Schändungen von jüdischen

Friedhöfen. Die Lage in Israel ist ausweglos. Und die Wirtschaftskrise: Die russischen Milliardäre in

London etwa, die grössten Mafiosi der Welt, sind fast alles Juden. Ich habe Kinder und Enkelkinder,und fast jeden Tag frage ich mich, wann wir wieder packen müssen. Es könnte sein, dass das

ungeheuer lange Überleben der Juden den Menschen unerträglich ist. Die Ägypter, Griechen,

Römer – was für Kulturen! Alles weg. Und da ist dieses kleine Volk, das nach zweitausend Jahren

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Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter:

http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/eine_gute_lektuere_ist_ein_dank_an_den_text_1.2424447.html

 Verfolgung und Mord immer noch da ist. Dieses Volk hat einen Lebensdurst, der jeden Horror

überwindet. Darin ist etwas ruhig Dämonisches, falls es so etwas wie eine ruhige Dämonie gibt. Im

 vergangenen Jahrhundert haben Freud, Marx, Einstein die Welt verändert (nur Darwin war kein

Jude). Das ist für andere Menschen schwer zu ertragen. Und wenn das die geheimnisvolle Wurzel

des Antisemitismus ist, sehe ich nicht viel Hoffnung.

Manchmal lebt man durch Witze. Der Herrgott sagte: Ihr Menschen geht mir auf die Nerven – in

zehn Tagen kommt die Sintflut, aber diesmal ohne Noah. Der Papst sammelt alle Katholiken, um

gemeinsam zu beten. Die Protestanten wollen alle Bankkonten und Verträge in Ordnung bringen.

Der Rabbiner sagt: Zehn Tage? Das genügt, um zu lernen, wie man unter Wasser atmet. Und dieses

Mysterium des Unter-Wasser-Atmens, das wird nicht verziehen.

Literat, Universalgelehrtersgl. Seine Kindheit sei «ein anstrengendes Fest» gewesen, schreibt George Steiner in «Errata», der «Bilanz» seines Lebens, wie er seine Autobiografie imUntertitel nennt. Er wuchs dreisprachig auf: 1929 wurde er in Paris geboren, seine Eltern stammten aus Wien, und 1940 folgte die Emigration der jüdischen Familie nach New York. Ab 1961, nach Studien in Chicago, Harvard, Oxford und Princeton, lehrte George Steiner am Churchill College inCambridge, ab 1974 dann bis zu seiner Emeritierung 1994 an der Universität Genf vergleichende Literaturwissenschaft.

George Steiner ist ein Universalgelehrter: Es gibt kaum eine Äusserungsform des menschlichen Geists, die er in seinen Büchern (auf Deutsch bei Hanser,Suhrkamp und «dtv») nicht berührt: Religion, Malerei, Philosophie, Literatur, Mathematik. Die Deutung des Judentums sowie die Shoah ziehen sich alszentrale Themen durch sein ganzes Werk. Den Vorwurf, er sei altmodisch, fürchtet George Steiner so wenig wie die Vorbehalte der akademischen Weltgegenüber seiner Vielseitigkeit. Steiner ist ein erklärter Gegner des Dekonstruktivismus, und mit manchen seiner Thesen provoziert er den Zeitgeschmack:Kunst sei ihrem Wesen nach elitär und die political correctness ein «Verrat des Intellektuellen». Für George Steiner steht die Gegenwart unter Verdacht:Möglicherweise sei sie ein blosses «Nachwort», denn die Flut von sekundären Texten sowie der allgegenwärtige Lärm verhinderten zusehends dieunmittelbare Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk. – Am 23. April wird George Steiner achtzig Jahre alt.

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