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Einführung in die Psychotherapiewissenschaft: Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie SS 2014 P. Gasser-Steiner D. Karloff W. Pieringer

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Einführung in die Psychotherapiewissenschaft:

Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie

SS 2014 P. Gasser-Steiner D. Karloff W. Pieringer

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Abgrenzung: Erkenntnis und Wisssenschaftstheorie • Erkenntnistheorie –

Epistemologie • „Begründungsidee“ • Gegensatz: epistemé –

doxa (Wissen -Meinung) • Rechtfertigung der

Bedingungen möglicher Erkenntnis

• Wissenschaftstheorie – Methodologie

• Grundlegung der Wissenschaften

• Meta-Theorie vs. Gegenstandstheorie

• rationale Rekonstruktion wissensch. Erkenntnisse

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erkenntnistheoretische Positionen

• antike Philosophie: Dogmatismus vs. Skeptizismus

• mittelalterl. Philosophie (Universalienstreit): Nominalismus vs. Realismus

• neuzeitliche Philosophie: Empirismus vs. Rationalismus

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Wissenschaftstheorie

• Methodologie, Meta- Theorie; philosophy of science,

• Klärung der Grundbegriffe des wissenschaftlichen Arbeitens

• wissensch. Grundoperationen: Beschreibung und Erklärung

• einheitswissenschaftliche Position vs. Dualismus

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methodologischer Dualismus

• NATURWISSENSCHAFT – empirisch, objektivistisch, positivistisch,

induktivistisch (19.Jhd.) – erklärende Psychologie (Brentano, Wundt,

Münsterberg)

• GEISTESWISSENSCHAFT – sinnverstehend, hermeneutisch – verstehende Psychologie (Lipps, Spranger)

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Erklären und Verstehen

• Verhalten • kausal erklärt wird aus

(gesetzesartigen) Ursachen

• Ursache-Wirkung • KAUSALITÄT • kausale Erklärung

H/O-Schema

• Handlungen • intentional verstanden

wird aus (regelhaften) Gründen

• Grund – Folge • HERMENEUTIK • intentionale Erklärung praktischer Syllogismus (H. von Wright)

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Zwei Traditionen aristotelische Tradition galileische Tradition

finalistisch mechanistisch

kausale Erklärung teleologische Erklärung

Fragen nach Ursachen Fragen nach Gründen, Zwecken oder Zielen

VERHALTEN HANDELN Erklären Verstehen

ANALYTIK HERMENEUTIK

Subsumptionstheorie der Erklärung

Explanundum:

Explanans:

G1,G2, ........... Gn B1, B2, . . . . . . Bn

Ereignis, Zustand

praktischer Syllogismus

A beabsichtigt, p herbeizuführen A glaubt, daß er p nur dann herbeiführen kann, wenn er a tut.

Folglich macht sich A daran, a zu tun.

Ursache - Wirkung Grund - Folge

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Georg Henrik von Wright (1916-2003)

• 1974 Erklären und Verstehen. Athenäum, Frankfurt

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Die aristotelische Tradition • teleologisches Verstehen: geistig-ideeller Zwecke • finalistisch (zeitbestimmt) • Tatsachen: durch Ziele, Zwecke, Intentionen „erklärt“ • ideographische Wissenschaft

– Beschreibung des Besonderen, Einmaligen

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Aristoteles (384 v. Chr. – 322 v. Chr.)

Logik: Syllogistik (Deduktion) Naturlehre: Unterscheidung von Form und Materie Naturphilosophie URSACHENLEHRE causa materialis causa formalis causa efficiens cuas finalis Ontologie: Substanzen Zoologie: Beschreibung zahlreicher Arten Psychologie: Seele : Körper ∼ Form : Materie Form und Materie eines Einzeldings sind aber nicht zwei verschiedene Objekte, nicht dessen Teile, sondern Aspekte eben dieses Einzeldings.

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Aristoteles

Logik: Syllogistik (Deduktion) Naturlehre: Unterscheidung von Form und Materie Form und Materie eines Einzeldings sind aber nicht zwei verschiedene Objekte, nicht dessen Teile, sondern Aspekte eben dieses Einzeldings. Naturphilosophie URSACHENLEHRE causa materialis (Stoffursache = woraus etwas entsteht…) causa formalis (Formursache = in welcher Form etwas entsteht) causa efficiens (Wirkursache = worin etwas seinen Ursprung hat) causa finalis (Zweckursache = der Zielzustand als Wirkprinzip) Ontologie: Substanzen Zoologie: Beschreibung zahlreicher Arten Psychologie: Seele : Körper ∼ Form : Materie

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Die galileische Tradition

• kausalistisch (ursachenbestimmt) • mechanistisch • Symmetrie von Erklärung und Prognose

– „nomothetische Wissenschaft”: – Zustände oder Ereignisse werden durch gültige Gesetze

erklärt

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Galileo Galilei (1564 – 1642)

• Mathematisierung der NW: „ …in diesem großen Buch geschrieben, dem Universum, das unserem Blick ständig offen liegt. Aber das Buch ist nicht zu verstehen, wenn man nicht zuvor die Sprache erlernt und sich mit den Buchstaben vertraut gemacht hat, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik…“

• zahlreiche astronomische Entdeckungen (Sonnenflecken, Jupitermonde)

• Widerlegungen aristotelischer Auffassungen (Luft=gewichtslos)

• Experimente zur Berechnung der Schwerebeschleunigung (Fallrinne) (1590)

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Dualistische Wissenschaftskonzeption

• Entstehungsbedingung: HISTORISMUS – 18. Jhdt: Historisierung aller Gegenstände

(Literatur, Kunst, Recht, Sprache) – Welt des Menschen als geschichtliche Welt – Individualitätsprinzip: jede Epoche ist einzigartig,

eigentümlich, individuell – Prinzip des immanenten Verstehens im

historischen Kontext verstehen – Übertragen auf die Psychologie: immanent = im

Bezugssystem des Subjekts

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Dualistische Wissenschaftskonzeption

• Wilhelm DILTHEY 1894: Idee über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie

• Angriff auf die Psychologie von G.T. Fechner, H. v. Helmholtz

• will die „naturwissenschaftliche Radikalisierung“ der Philosophie verhindern

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Wihlem Dilthey (1833 – 1911)

• Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“ (Ideen…1894)

• „Von der Verteilung der Bäume in einem Park, der Anordnung der Häuser in einer Straße, dem zweckmäßigen Werkzeug des Handwerkers bis zu dem Strafurteil im Gerichtsgebäude ist um uns stündlich geschichtlich Gewordenes. Was der Geist heute hineinverlegt von seinem Charakter in seine Lebensäußerung, ist morgen, wenn es dasteht, Geschichte.“ (1910)

• „Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er. Die Natur, der Gegenstand der Naturwissenschaft, umfasst die unabhängig vom Wirken des Geistes hervorgebrachte Wirklichkeit. Alles, dem der Mensch wirkend sein Gepräge aufgedrückt hat, bildet den Gegenstand der Geisteswissenschaften.“

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Dilthey (1910): Erklären vs Verstehen

Naturwissenschaften – Erklären Geisteswissenschaften – Verstehen

Gegenstand: physische Welt Erklären: kausale Rückführung eines einzelnen Ereignisses auf eine Gesetzmäßigkeit

Gegenstand: geistige Welt Verstehen: Vorgang, in dem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen

Vorgänge in der Natur werden als Spezialfall eines abstrakten allgemeinen Gesetzes aufgefasst.

Gegenstände geisteswissenschaftlicher Untersuchung werden in ihrem konkreten Zusammenhang aufgefasst.

Bildung einer abstrakten Vorstellung von den Gesetzes der physischen Welt unter Absehung vom Erlebnischarakter der Eindrücke

Erfassen des Sinngehaltes von Äußerungen des Geistes durch Rückwendung vom sinnlich Gegebenen auf die im Erleben gegebenen geistigen Gebilde

„von innen nach außen“ „von außen nach innen“

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Hermeneutik

Jede Form eines Textverständnisses, das primär auf die Ermittlung eines einheitlichen Sinns eines Textes gerichtet ist

• Philologische Hermeneutik – Eine Lehre vom Verstehen (schwieriger) Texte

(F. Schleiermacher, E.D. Hirsch, P. Szondi) • Philosophische Hermeneutik

– Wilhelm Dilthey, Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer)

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Hermeneutik

• Methode des forschenden Verstehens, Interpretierens (Hermes, der Götterbote)

• lange Tradition des (korrekten)Übersetzens von Texten, Interpretation von Texten (Exegese)

• Sinn von Texten richtig erforschen (Wort, Satz, Buch, Biographie, Literaturgattung usf.)

• vierfacher Schriftsinn (Origines , J. v. Cassianus) – Literalsinn (wörtlicher Sinn) – Typologischer Sinn („im Glauben“, dogmatischer Sinn) – Tropologischer Sinn („in Liebe“, moralisch) – Anagogischer Sinn („in Hoffnung“, weiterführend)

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Friedrich Schleiermacher (1768-1834)

• Hermeneutischer Zirkel: „…das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen verstanden werden muss.“

• „Das Ziel der Hermeneutik ist das Verstehen im höchsten Sinne.“

• „Niedrige Maxime: Man hat alles verstanden, was man, ohne auf Widerspruch zu stoßen, wirklich aufgefasst hat. Höhere Maxime: Man hat nur verstanden, was man in allen seinen Beziehungen und in seinem Zusammenhang nachkonstruiert hat. – Dazu gehört auch, den Schriftsteller besser zu verstehen, als er sich selbst.“

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Hermeneutischer Zirkel

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Hermeneutischer Zirkel

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Hermeneutik

• methodische Grundsätze der historisch – philologischen Forschungspraxis der historischen Schule

• historisches Verstehen = Verstehen, wie die Dinge zusammenhängen

• Verstehen ≠ (psychologische) Einfühlung sondern ZUSAMMENHANGSVERSTEHEN

• d.h. ein rationales, auf Intersubjektivität angelegtes Verfahren zur Prüfung und Korrektur von Interpretationshypothesen (z.B. archäologischer Fund)

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Historisches Zusammenhangsverstehen

• Verstehen „aus dem Zusammenhang“ von Text und Kontext

• Vorverständnis Verstehenshypothese Prüfung Verwerfung Ersetzung durch eine neues (hypothetisches) Verständnis

• Zusammenhangsverstehen als rationales, diskursiv rechtfertigbares, daher wissenschaftliches Verfahren

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Alltagsverstehen

• „rationales“ (d.h. rechtfertigbares) Zusammenhangsverstehen

• plus • Empathie (=Einfühlung)

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Einfühlung - Empathie

• Entschlüsseln nonverbaler Botschaften • Stimmungsübertragung • Auslösung ähnlicher Gedanken, Impulse,

physiologischer Reaktionen • Perspektivenübernahme • A. Adler: Gemeinschaftsgefühl = „mit den

Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen“

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Theodor Lipps (1851-1914)

• Psychologie des Schönen und der Kunst (1906)

• auf welchem Wege das Bewusstsein von fremden Ichen erlangt würde.

• Frage nach dem psychischen Mechanismus

• Die fremden Iche sind die Reproduktionen des eigenen Ichs, das seine Gefühle in den fremden Körper einfühlt.

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Begriffsgeschichte der Einfühlung

• TITCHENER, E.: Experimental Psychology of the Thougt Process, 1907: „Empathy“ als Begriffsschöpfung in Analogie zur „Sympathy“

• FREUD, S.: Zur Einleitung der Behandlung (1913): Einfühlung als neutrales Vorfeld der Deutung

• FREUD, Briefwechsel mit Ferenczi, 1928: Einfühlung betrifft beinahe alles, was ein Analytiker „positiv machen sollte“

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Begriffsgeschichte der Einfühlung

• FREUD, S.: Massenpsychologie und Ich-Analyse, Einfühlung als psychische Infektion;

• DEUTSCH, Helene, 1926, Einfühlung als Teilidentifizierungen – aber ohne Fixierungen

• FERENCZI,S: 1928: „sich in jemanden hineinzuversetzen“ – mit Hilfe unseres in der Eigenanalyse erworbenen Wissens können wir Unbewusstes erraten

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Begriffsgeschichte der Einfühlung (nach 1945) • Theodor REIK, 1948, Hören mit dem dritten Ohr:

unterscheidet den kognitiven Vorgang und den affektiven Vorgang;

• „Wie es nämlich gelingen kann, daß wir das Fremde im Eigenen wahrnehmen, es in uns aber als das Fremdartige identifizieren und dem anderen zuschreiben können. Oder mit andern Worten: Einfühlung bezeichnet die Annäherung an das Fremde per Introspektion, einen Vorgang, an dem zwei gegensätzliche Zustände verlangt werden, nämlich die Fusion mit dem anderen und zugleich die Trennung von ihm in der Anerkennung seiner Eigenart.“

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Entwicklung der Empathie im Kindesalter

• Gefühlsansteckung: (≠ Empathie aber Voraussetzung dafür)

• Affect Attunement • Mentalisierung : theory of separate mindes • Responsivität von Selbstobjekten =

Beantwortung von Selbstobjekt-Bedürfnissen

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Psychoanalytisches Verstehen

• Ergänzung der Empathie durch Einbeziehung unbewusster Kognitionen (Erinnerungen) und Affekte

• „Deutung“ als Interpretieren mittels psychoanalytischer Interpretationskonstrukte (Konflikte)

• Mechanismen, die PA Verstehen unterstützen – konkordante Gegenübertragung = Identifizierung mit den

Selbstrepräsentanzen (Einfühlung) – komplementäre Gegenübertragung = Idnetifizierung mit

den inneren Objekten und den abgelehnten Selbstanteilen des Klienten

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Verstehende Psychologie; geisteswissenschaftliche Psychologie

• Eduard Spranger (1882-1963) • Verflechtung in die nationalsozialistische

Ideologie • zB deutsche Wehrmachtspsychologie

(Offiziersauslese) • Philipp Lersch: „Der Aufbau des Charakters“

1938

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Erklären und Verstehen

• Verhalten • kausal erklärt wird aus

(gesetzesartigen) Ursachen

• Ursache-Wirkung • KAUSALITÄT • kausale Erklärung

H/O-Schema

• Handlungen • intentional verstanden

wird aus (regelhaften) Gründen

• Grund – Folge • HERMENEUTIK • intentionale Erklärung praktischer Syllogismus (H. von Wright)

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Quantitative Methoden Qualitative Methoden

Datenerhebung / Datenquellen

- strukturierte Beobachtung, Experiment

- Fragebogen

- sozioökonomische Daten

Stichprobenverfahren - Zufallsstichprobe

- Quotenstichprobe

Datenerhebung / Datenquellen

- Beobachtung im natürlichen Lebensumfeld

- Interview

- Texte (z.B. Briefe), Bilder Stichprobenverfahren

- Bewusste Auswahl - Schneeballverfahren - Theoretisches Sampling

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Quantitative Methoden

Qualitative Methoden

Datenanalyse - deskriptive Statistik - Kausalanalyse

- Inferenzstatistik (Schluss von Stichprobe

auf Gesamtheit)

Datenanalyse - Hermeneutische Interpretation

- Kategorienbildung - (Ideal-)Typenbildung

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Quantitative Methoden

Qualitative Methoden

Merkmale der Forschung - „objektiv“

- selektiv

- zuverlässig, „hart“

- konfirmatorisch

- ergebnisorientiert

Merkmale der Forschung - „subjektiv“

- ganzheitlich

- realitätsnahe, „tief“

- explorativ

- prozessorientiert

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Vergleich quantitativ / qualitativ

• quantitativ • Wer, was, wann, wo,

wieviel, wie oft? • genaue / präzise Info • repräsentativ • Statistische Aufklärung –

induktives Schließen

• qualitativ • Warum und wie? • Verstehen eines Problems • Wahrnehmung &

Prioritäten der Betroffenen • Zusammenhänge erkennen

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Formen des qualitativen Interviews

• offene Interviews – Leitfaden-Interviews • Klinische Interviews – Tiefeninterviews • biographische Interviews • Fokussiertes Interview • narrative Interviews • explorative Interviews • ….

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Erhebungsmethoden der qualitativen Sozialforschung

• unstrukturierte Befragung • teilnehmende Beobachtung • qualitative Inhaltsanalyse • biographische Methode • … • …

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Prinzipien der qualitativen Sozialforschung

• Gegenstandsangemessenheit • Offenheit (hypothesengenerierend) • Forschung als Kommunikation • Prozesscharakter von Forschung und

Gegenstand • Reflexivität von Gegenstand und Analyse • Explikation • Flexibilität • Angemessenheit

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Prinzipien der qualitativen Sozialforschung

• Gegenstandsangemessenheit • Offenheit (hypothesengenerierend) • Forschung als Kommunikation • Prozesscharakter von Forschung und

Gegenstand • Reflexivität von Gegenstand und Analyse • Explikation • Flexibilität • Angemessenheit

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Prinzipien des Interviews

• non-direktiv • Bedeutung des settings = „Gerüst“, welches das

Interview in der Form hält • Problem der Beeinflussung, unerreichbares „Ideal“

der Neutralität kontrollierte Subjektivität • Problem des Fragens Fragen ist Einschränken, die

Initiative nehmen, in die Passivität drängen • Problem der „Tiefe“dem Befragten helfen, seine

Grenzen zu beachten

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Der “Wiener Kreis”

• neopositivistisch, logischer Empirismus, radikaler Szientismus – Vertreter: (Wittgenstein), Carnap, Schlick, Neurath, Reichenbach

• System der Wissenschaft: – Realwissenschaften, Gegenstandstheorien: empirische, also sinnliche

Elementarerlebnisse – Formalwissenschaften: Logik und Mathematik

• Ziel: (künstliche) empiristische Einheitssprache der Wissenschaft

• Abgrenzungskriterium: Verifikation - Verifizierbarkeit • Ein Satz ist sinnvoll, wenn

– er keine “sinnlosen” (nicht empirischen) Wörter enthält (empirisches Kriterium)

– er syntaktisch korrekt gebildet ist (logisches Kriterium)

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Logischer Empirismus

• 2 Arten von wiss. Aussagen: analytisch wahr, synthetisch wahr (Logik und Erfahrung)

• phänomenalistische Begründung der Erkenntnis: „durch unmittelbares Erlebnis“ (Schlick) (Problem der Privatsprache)

• physikalistische Position: nicht Erlebnisse, sondern Beobachtungssätze (Aussagen)

• Reduktionsforderung Zurückführbarkeit auf physikalische Begriffe

• Psychologie als Zweig der Physik (Carnap 1932/1933)

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Neopositivismus – Wiener Kreis Moritz SCHLICK

Rudolf CARNAP

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Stufenbau der Sprache (Rudolf Carnap)

feucht flüssig trocken hart

löslich locus of control

depressiv

extra-vertiert

Elektron Dissonanz

Segregation

zune

hmen

de T

heor

etizi

tät

Beobachtungssätze Basissätze Protokollsätze

Dispositionsbegriffe

theoretische Begriffe Konstrukte

……

……

……

……

……

……

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Neopositivismus – Wiener Kreis Otto NEURATH

Isotype (Englisch: International System of Typographic Picture Education; Deutsch: Internationales System der Erziehung durch Bilder

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Neopositivismus – Wiener Kreis

Herbert FEIGL Viktor KRAFT

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Analytische Philosophie

• Analytische Philosophie: L. Wittgenstein, B. Russell, G.E. Moore, G. Frege

• Aufgabe der Philosophie = Klärung der Sprache (linguistic turn)

• Verzicht auf (philosoph.) Weltbilder • Sprachirrtümer: zB Substantivierungen (Sein,

Nichts, Ich, Selbst) • Carnap (1931) Überwindung der Metaphysik

durch logische Analyse der Sprache

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Analytische Wissenschaftstheorie

• WT = angewandte Logik: Als wissenschaftlich wird nur akzeptiert, was sich mit den Methoden der Logik rational rekonstruieren läßt. (Stegmüller 1973)

• WT ≠ Analyse der wiss. Tätigkeit , Institution, Lebensform

• nur Sätze, Systeme von Aussagen und Begriffen, Argumentations- und Begründungsweisen

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Logischer Empirismus und Psychologie

• Nähe zwischen Logischem Empirismus und behavioristischer Psychologie

• „alles Psychische in dem Verhalten von Körpern, also in einer der Wahrnehmung zugänglichen Schicht zu erfassen“ (Otto Neurath 1979)

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Behaviorismus: John B. Watson (1878-1958)

John Hopkins University (1920) • „… Psychologie hat versagt, sich

in der Welt eine Stellung als unbestrittene Naturwissenschaft zu behaupten,“

• Psychologie ist nicht auf eigene Methode (Introspektion) angewiesen

• mentale Begriffe aus dem Vokabular der Psychologie: streichen: Bewusstsein, Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung, Wunsch, Absicht, Denken, Fühlen

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Radikaler Behaviorismus: John B. Watson (1878-1958)

• Psychology as the Behaviorist Views it. (Psychological Review, 20, 158-177, 1913)

• Psychology, as the behaviorist views it, is a purely objective, experimental branch of natural science which needs introspection as little as do the sciences of chemistry and physics. It is granted that the behavior of animals can be investigated without appeal to consciousness.

• This suggested elimination of states of consciousness as proper objects of investigation in themselves will remove the barrier from psychology which exists between it and the other sciences. The findings of psychology become the functional correlates of structure and lend themselves to explanation in physico-chemical terms.

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klassischer Behaviorismus

• B. F. Skinner (1904-1990) experimentelle Verhaltensanalyse

• Gegner mentalistischer Erklärungsansätze (Wille, Absichten, Bewusstsein)

• Verhalten ist jede Aktivität – auch Sprechen, Denken, Fühlen, Wahrnehmen(overt vs. covert)

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methodologischer Behaviorismus

• mentale Begriffe werden nicht mehr ausgeschlossen

• sie werden als theoretische Konstrukte behandelt, die zu operationalisieren sind

• die also solche, in Beobachtungs- und Messvorschriften zu übersetzen sind (operationale Definitionen)

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Neobehaviorismus (E. Tolman)

• „black – box“ wird aufgegeben • „Motive“ als hypothetische Kontrukte =

intervenierende Vriablem • zB Zeichen-Gestalt-Theorie von Tolman:

Ratten im Labyrinth cognitivie map

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„kognitive Wende“

• 1960: G.A Miller, E. Galanter, K.H. Primbram: Plans and Structure of Behavior.

• kognitive Reformulierung des menschlichen Verhaltens in Begriffen von Plänen und Programmen

• ausgeprägte Innensteuerung des Verhalten • Übergang zur kognitiven Psychologie

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zwei Wissenschaftsstile

• Induktivismus – Betonung der Erfahrung und daraus sich induktiv

ergebenden Theorien – Daten Sammeln – Beschreiben – „Naturlehre“ – Theoriebildung durch Verallgemeinerung

• Deduktivismus – Betonung der kreativen theoretischen Innovation – Theoriebildung durch Begriffsbildung

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John Stuart MILL 1806-1873

INDUKTIVE LOGIK Induktionslogik befasst sich mit der Frage, ob es ein gültiges Schema gibt, das aus einzelnen Beobachtungen und Fakten auf allgemeine Aussagen schließen lässt Methode der Übereinstimmung „Wenn alle Fälle, in denen das untersuchte Phänomen auftritt, nur einen Umstand gemeinsam haben, so ist dieser Umstand eine Ursache (oder Wirkung) des Phänomens (Panikattacken in Aufzügen, Kinos, gefüllten Räumen..) Methode des Unterschieds Wenn eine Situation, in der das untersuchte Phänomen auftritt, und eine andere Situation, in der das untersuchte Phänomen nicht auftritt, bis auf einen einzigen Unterschied völlig gleich sind, ist dieser Unterschied die Wirkung, die Ursache oder ein notwendiger Teil der Ursache des Phänomens (VG – KG) Methode der gleichzeitigen Änderungen Wenn zwei Phänomene kovariieren, wenn also ein Phänomen sich immer dann verändert, wenn sich ein anderes Phänomen verändert, gibt es zwischen beiden eine Kausalbeziehung“[

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Karl R. Popper (1902-1924)

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Die Kontroverse zwischen Carnap und Popper

Joergen Timm 19. Februar 2008

Karl R. Popper – Lebenslauf • * 28. Juli 1902 Wien • 1920 – 1922 Schüler am Wiener Konservatorium für Kirchenmusik • 1924 Abschluss der Lehrerausbildung und Tischlerlehre • 1928 Dissertation „Zur Methodenfrage der Denkpsychologie“ bei Karl Bühler • 1929 erwarb er die Lehrerberechtigung für Mathematik und Physik • 1930 – 1935 Hauptschullehrer in Wien • keine Einladung des Wiener Kreises wegen Kritik an der neoposivistischen

Position • dadurch Anregung zur Verfassung von „Logik der Forschung“(1934) • 1937 Emigration nach Neuseeland, Berufung an die Universität Canterbury • „The Poverty of Historicism“ und „The Open Society and Its Enemies“ • 1946 Wechsel nach London an die School of Economics and Political

Science • 1965 Ritterschlag durch Queen Elizabeth II • 1969 Emeritierung • † 17. September 1994 in London

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Induktionskritik (Popper)

INDUKTION „Dieser Weg geht von den Sinnen und vom Einzelnen aus und indem man stetig

und stufenweise aufsteigt, gelangt man erst zu den allgemeinsten Sätzen..“ (Hollis 1995, S.62)

• Empirismus, der auf Beobachtung und induktiven Verallgemeinerung beruht • „In ähnlichen Verhältnissen und unter ähnlichen Bedingungen treten ähnliche

Ereignisse und Erfahrungen ein“ (vgl. Hollis 1995, S. 69)

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Induktionsproblem I (Popper)

• Der induktiven Schluss bzw. der Induktionsschluss ist einen Schluss von besonderen Sätzen, die z.B. Beobachtungen und Experimente beschreiben, auf allgemeine Sätze, wie Hypothesen oder Theorien

• Sind wir berechtigt von besonderen Sätzen auf allgemeine Sätze zu schließen?

• Popper: Ablehnung der Vorstellung, dass man aus Einzelfällen ein allgemein gültiges Gesetz ableiten kann, sowie auch den Versuch aus Einzelfällen Wahrscheinlichkeiten ableiten zu können

• „Man kann nicht mehr wissen, als man weiß“

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Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium

„Nicht die Rettung unhaltbarer Systeme ist ihr Ziel, sondern in möglichst strengem Wettbewerb das relativ haltbarste auszuwählen“ (Popper 1976, S. 16)

• Durch deduktive Schlüsse ist es möglich von besonderen Sätzen auf die

Falschheit allgemeiner Sätze zu schließen

• Bestimmte empirische Sätze müssen in der Praxis als Obersätze der falsifizierenden Schlüsse auftreten

• Lösung des Humeschen Induktionsproblems durch das vorgeschlagenes

Abgrenzungskriterium

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Kritischer Rationalismus Karl Popper, Hans Albert

• Kritik am Verifikationsprinzip des Positivismus.

• Poppers Gegenmodell: Falsifikationismus • Möglichst kühne Hypothesen aufstellen (von

einer Theorie deduktiv abgeleitet); • Hypothese harten Bewährungsproben

(zahlreichen Tests) unterziehen; • Hypothesen, die zahlreichen

Falsifikationsversuchen widerstanden haben, werden (vorläufig) beibehalten.

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Prinzipien des kritischen Rationalismus

• alle theoretischen Aussagen sollen über die Realität informieren und an der Erfahrung scheitern können

• intersubjektive Nachvollziehbarkeit • Verbot von Werturteilen • alle theoret. Begriffe müssen einen empirischen Bezug haben • keine theoriefreie empirische Forschung möglich • Gesetzesaussagen sind nicht verfizierbar; Begründung über

ständige Falsifizierungsversuche und harten Bedingungen • „Basissätze“ gelten nicht aufgrund ihrer Korrespondenz zu

Wirklichkeit sondern weil sie vorläufig anerkannt werden

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post-empirische Wissenschaftstheorie

• W.V.O. Quine: „… Wissen ein Gewebe, das nur an seinen Rändern mit der Erfahrung in Berührung steht“

• … der Traum vom unerschütterlichen Fundament der Erkenntnis hält er für „endgültig ausgeträumt“

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post-empirische Wissenschaftstheorie

Thomas KUHN (1922-1996) Paradigma = Lehrbeispiel, Modellvorstellung, vorherrschendes Denkmuster, Interpretationsregel

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Thomas Kuhn

• Normalwissenschaft = Rätsellösen auf der Basis eines Musterbeispiels (Paradigmas)

• Anomalien = neue Daten, die nicht im Rahmen des Paradagima interpretierbar sind

• wissenschaftliche Revolution • Inkommensurabilität zwischen altem und

neuem Weltbild

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Radikaler Konstruktivismus

Die Kernaussage des radikalen Konstruktivismus ist, dass eine • Wahrnehmung kein Abbild einer

bewusstseinsunabhängigen Realität liefert, sondern dass

• Realität für jedes Individuum immer eine Konstruktion aus Sinnesreizen und Gedächtnisleistung darstellt.

• Objektivität im Sinne einer Übereinstimmung von wahrgenommenem Bild und Realität unmöglich;

• jede Wahrnehmung ist vollständig subjektiv.

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Ernst von Glasersfeld (1917 – 2010)

• aufgewachsen in Oberitalien und Schweiz, Studium in Wien

• 1937: Skilehrer in Australien • II. WK in Irland • nach 1945: Zusammenarbeit mit

Silvio Ceccato • Mailand: Zentrum für Kybernetik • 1965: USA, Erforschung der

Kommunikation mit Schimpansen • 1987: University of Massachusetts

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Radikaler Konstruktivismus

• Auf dieser Grundlage formuliert der Radikale Konstruktivismus mit Hilfe von Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung... seine Grundprinzipien:

• (a) Wissen wird nicht passiv aufgenommen, weder durch die Sinnesorgane noch durch Kommunikation. (b) Wissen wird vom denkenden Subjekt aktiv aufgebaut.

• (a) Die Funktion der Kognition ist adaptiver Art, und zwar im biologischen Sinne des Wortes, und zielt auf Passung oder Viabilität; (b) Kognition dient der Organisation der Erfahrungswelt des Subjekts und nicht der 'Erkenntnis' einer objektiven ontologischen Realität.

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Theorien, Metaphern, Modelle etc.

Begriff semantische Einheit, bezeichnet Bedeutungsgehalt Vorstellung über allgemeine und gleichzeitig wesentliche

Merkmale für ein Phänomen (bspl. Familie, Klasse, Liebe) Jeder Begriff hat einen Inhalt (Gesamtheit der in ihm fixierten

Unterscheidungsmerkmale) und einen Umfang (Gesamtheit der durch den jeweiligen Begriff bezeichneten Gegenstände)

Zur Bestimmung eines Begriffes ist Definition notwendig (Angabe des Rahmens, der Grenzen, Unterscheidung)

Die Definition hebt Merkmale im Begriff hervor und isoliert sie von den übrigen

Wort: sprachlicher Ausdruck für einen Begriff

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Theorien, Metaphern, Modelle etc.

Modelle dienen innerhalb von Theorien als heuristische

Annahmen zur Deutung von Sachverhalten versuchen, den Gegenstandsbereich durch strukturelle

Analogien zu erklären. D.h., sie spiegeln mit ihrer Struktur die inneren Zusammenhänge eines Problembereichs wider (Struktur-Isomorphie = Strukturgleichheit)

Sind nicht identisch mit dem Original! Pointierung, Idealisierung, Abstraktion

Beispiele: Landkarte, Kreislaufmodell, mechanische Pumpe, System, Netz etc.

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Theorien, Metaphern, Modelle etc.

Metaphern bildliche Beschreibung eines Gegenstandes, durch Übertragung

der Bedeutung auf anderen Sachverhalt („wie…..“)

die Sprache über die Seele ist notwendig metaphorisch (das Psychische als Innenraum, „innere Objekte“ der Melanie Klein)

Elektrizität als Modell des Psychischen (unter Spannung stehen, Kurzschluss, Nervenzusammenbruch als Spannungsverlust im Stromkreis)

psychisches System als Energieverteilung (Freuds Libido: „Abfuhr“, „Besetzung“, „Sublimierung“, „Verdrängung wund Wiederkehr des Verdrängten“, „Konversion“)

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G. Ryle (1900-1976)

• Der logische Typ eines Ausdrucks ist die Klasse seiner logisch richtigen Verwendungsweisen

• Kategorienfehler = logische Typenverschiedenheit wird nicht beachtet

• Beispiele: Universität, Mannschaftsgeist, • „Gespenstes in der Maschine“ : Geist und

der Körper seien zwei verschiedene Dinge, die miteinander in Wechselwirkung stehen

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M. Bennett, P. Hacker; Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften

• mereologischer Fehlschluss: einem Teil des Menschen (seinem Gehirn) werden Eigenschaften zugeschrieben, die der Mensch nur als Ganzes haben kann

• (meros = Teil); Mereologie = Lehre vom Verhältnis zwischen Teil und Ganzem

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mereologischer Fehlschluss

• Das Gehirn nämlich kann gar nichts entscheiden, die Idee des Entscheidens hat keinen logischen Ort in der Rede übers Gehirn. Entscheidungen im eigentlichen Sinne gibt es nur, wo von Gründen und Überlegen die Rede sein kann. Es ist ein Fehler, in die Rede über das Hirn einen Begriff wie "entscheiden" aus der Sprache des Geistes einzuschmuggeln.

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Leib-Seele-Problem

• zwei Substanzen, Dualismus (R. Descartes) • Zweisprachen-Theorie: zwei Vokabulare über dieselbe

Wirklichkeit • Identitätstheorie: mentale Zustände sind neuronale Zustände • Epiphänomenalismus: Bewusstsein als Epiphänomen,

Psychisches hat keine kausale Bedeutung für die Physis (Rauch der Lokomotive)

• Funktionalismus: Psychisches ist funktional für Physiologisches (Schmerzen); mentale Zustände = funktionale Zustände

• Materialismus: mentale Zustände = materielle Zustände • Supervenienz: asysmmetrische Abhängigkeit des Psychischen

vom Physischen, Psychisches führt kein „Eigenleben“

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