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Einf¨ uhrung in die Funktionentheorie Manfred Dobrowolski Inhaltsverzeichnis 1 Kurven 1 1.1 Kurven im 2 ........................................ 1 1.2 Kurvenl¨ ange ......................................... 3 1.3 Geometrie der Kurven ................................... 5 1.4 Kurvenintegrale ....................................... 7 1.5 Wegintegrale ........................................ 8 2 Komplexe Zahlen 13 2.1 Der K¨ orper der komplexen Zahlen ............................ 13 2.2 Komplexe Konjugation und Absolutbetrag ........................ 14 2.3 Polardarstellung komplexer Zahlen ............................ 16 2.4 Konvergenz komplexer Zahlenfolgen ........................... 16 2.5 Die stereographische Projektion .............................. 17 3 Komplexe Funktionen 20 3.1 Grenzwerte und Stetigkeit ................................. 20 3.2 Komplexe Differenzierbarkeit ............................... 20 3.3 Polynome und Euklidischer Algorithmus ......................... 23 3.4 Rationale Funktionen ................................... 26 3.5 Potenzreihen ........................................ 29 3.6 Exponentialfunktion und trigonometrische Funktionen ................. 30 3.7 Der Logarithmus ...................................... 31 3.8 Mandelbrot- und Julia-Mengen .............................. 32 4 Komplexe Integration 36 4.1 Kurven in ........................................ 36 4.2 Das komplexe Kurvenintegral und der Cauchysche Integralsatz ............ 36 4.3 Die Cauchysche Integralformel .............................. 40 4.4 Harmonische Funktionen und Maximumprinzip ..................... 42 5 Reihenentwicklungen und der Residuensatz 43 5.1 Potenzreihen und Taylorreihen .............................. 43 5.2 Der Identit¨ atssatz f¨ ur holomorphe Funktionen ...................... 44 Institut f¨ ur Mathematik, Universit¨ at W¨ urzburg, Emil-Fischer-Straße 40, 97047 W¨ urzburg 1

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Einfuhrung in die Funktionentheorie

Manfred Dobrowolski∗

Inhaltsverzeichnis

1 Kurven 1

1.1 Kurven im R

2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1.2 Kurvenlange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

1.3 Geometrie der Kurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

1.4 Kurvenintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1.5 Wegintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

2 Komplexe Zahlen 13

2.1 Der Korper der komplexen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

2.2 Komplexe Konjugation und Absolutbetrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

2.3 Polardarstellung komplexer Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

2.4 Konvergenz komplexer Zahlenfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

2.5 Die stereographische Projektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

3 Komplexe Funktionen 20

3.1 Grenzwerte und Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

3.2 Komplexe Differenzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

3.3 Polynome und Euklidischer Algorithmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

3.4 Rationale Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

3.5 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

3.6 Exponentialfunktion und trigonometrische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

3.7 Der Logarithmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

3.8 Mandelbrot- und Julia-Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

4 Komplexe Integration 36

4.1 Kurven in C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

4.2 Das komplexe Kurvenintegral und der Cauchysche Integralsatz . . . . . . . . . . . . 36

4.3 Die Cauchysche Integralformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

4.4 Harmonische Funktionen und Maximumprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

5 Reihenentwicklungen und der Residuensatz 43

5.1 Potenzreihen und Taylorreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

5.2 Der Identitatssatz fur holomorphe Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

∗Institut fur Mathematik, Universitat Wurzburg, Emil-Fischer-Straße 40, 97047 Wurzburg

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5.3 Das Maximumprinzip fur holomorphe Funktionen und das Lemma von Schwarz . . . 44

5.4 Laurentreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

5.5 Typen isolierter Singularitaten und meromorphe Funktionen . . . . . . . . . . . . . . 48

5.6 Der Residuenkalkul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

6 Anwendungen des Residuensatzes 53

6.1 Das Argumentprinzip und der Satz von Rouche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

6.2 Anwendung des Residuenkalkuls auf die reelle Integration . . . . . . . . . . . . . . . 54

7 Folgen holomorpher Funktionen 59

7.1 Kompakt konvergente Funktionenfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

7.2 Unendliche Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

7.3 Partialbruchzerlegung des Cotangens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

7.4 Produktdarstellung des Sinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

7.5 Der Satz von Mittag-Leffler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

7.6 Der Weierstraßsche Produktsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

8 Geometrische Eigenschaften holomorpher Funktionen 68

8.1 Der Nullstellensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

8.2 Konforme Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

8.3 Die gebrochen lineare Abbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

8.4 Das Lemma von Schwarz-Pick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

8.5 Der Riemannsche Abbildungssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

8.6 Potentialstrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

0

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1 Kurven

1.1 Kurven im R

2 Wir haben eine anschauliche Vorstellung davon, was eine”Kurve“ im

R

2 ist, etwa der Graph einer Funktion f : [a, b] → R. Auch der Rand eines Gebiets des R2,z.B. die Einheitskreislinie, ist eine Kurve. Diese ist aber nicht als Graph darstellbar, sondern alsZusammensetzung von Graphen. Bei der Definition, was eine allgemeine Kurve sein soll, hilft diekinematische Vorstellung eines physikalischen Partikels, das in einem Zeitintervall [a, b] einen Weg{φ(t), t ∈ [a, b]} im R

2 durchlauft. Dabei kann es passieren, dass die Bahnkurve gewisse Punktemehrfach durchlauft, z.B. die Bahnkurven

φ(t) = (t2 − 1, t3 − t), t ∈ R, φ(t) = (cos(2t), sin(2t)), t ∈ [0, 2π].

Die erste hat einen sog.”Doppelpunkt“ x(1) = x(−1) und bei der zweiten durchlauft der Punkt

den Einheitskreis zweimal. Wir mussen also unterscheiden zwischen dem”Weg“, den ein Partikel

in dem Zeitintervall durchlauft, und der entstehenden”Kurve“ als Punktmenge des R2. Ein solcher

Weg hat eine naturliche Orientierung, gegeben durch die zeitliche Bewegung des Partikels.

Unter einemWeg verstehen wir eine stetige Abbildung φ : [a, b] → R

2 auf einem abgeschlossenen(nicht degenerierten) Intervall I = [a, b] ⊂ R. (Die Falle I = (−∞, b], I = [a,∞) und I = (−∞,∞)sind gelegentlich zugelassen.) Die Bildmenge

Γφ = {φ(t) ∈ R2, t ∈ [a, b]} ⊂ R2

eines Weges φ : [a, b] → R

2 wird als Kurve im R2 bezeichnet, mit Parameterdarstellung φ. Im FalleI = [a, b] nennen wir φ(a) und φ(b) den Anfangspunkt sowie den Endpunkt der Kurve. Im Falleφ(a) = φ(b) heißt diese geschlossen. Ist φ(t1) = φ(t2) fur zwei Parameterwerte t1 6= t2, so hat dieKurve dort einen Doppelpunkt. Wir werden im Folgenden von einer Kurve als einem geometrischenObjekt bzw. Punktmenge in R2 sprechen, die durch einen Weg φ : [a, b] → R

2 parametrisiert ist.Dabei konnen unterschiedliche Parametrisierungen durchaus dieselbe Kurve erzeugen; z.B. gehortzu den Wegen

φ(t) = (cos(t), sin(t)), t ∈ [0, 2π],

φ(t) = (cos(t),− sin(t)), t ∈ [0, 2π],

φ(t) = (cos(2t), sin(2t)), t ∈ [0, π],

als Kurve jeweils die Einheitskreislinie, nur auf unterschiedliche Weise durchlaufen. Haufig hatman fur eine geometrische Kurve keine vollstandige Parameterdarstellung gegeben, sondern nur furTeilstucke, aus denen die Kurve zusammengesetzt ist. Durch Aneinanderfugung von endlich vielenKurvenstucken Γ1, . . . ,Γr erhalt man eine Kurve; diese heißt geschlossen, wenn der Endpunkt vonΓr gleich dem Anfangspunkt von Γ1 ist.

Beispiele 1.1 Wir geben weitere einfache Beispiele von Wegen und Kurven:

(i) Fur eine stetige Funktion f : [a, b] → R kann die Abbildung φ(t) := (t, f(t)), t ∈ [a, b], alsWeg im R2 aufgefasst werden; die zugehorige Kurve ist der Graph der Funktion f . Wir sprechenin diesem Fall auch von einer expliziten Parametrisierung der Kurve durch die Funktion f .

(ii) Der Abbildung φ : R → R

2 mit φ(t) = (a1 + v1t, a2 + v2t) = a + vt beschreibt eine Geradein der Ebene durch den Punkt a = (a1, a2) in Richtung des Vektors v = (v1, v2). Schrankt manden Definitionsbereich von φ auf das Intervall [0, 1] ein, so erhalt man die Parametrisierung derVerbindungsstrecke der Punkte a und a + v. Die Verbindungstrecke der Punkte x, y ∈ R2 wirddaher parametrisiert durch φ(t) = x+ t(y − x), t ∈ [0, 1].

Sei Γ ⊂ R2 eine Kurve mit (wie immer als stetig vorausgesetzter) Parametrisierung φ : [a, b] → R

2.Ist φ injektiv, so nennen wir die Kurve eine Jordan-Kurve und die Parametrisierung einen Jordan-Weg. Ist φ : [a, b) → R

2 injektiv mit φ(a) = φ(b) als einzigem Doppelpunkt, so sprechen wir voneiner geschlossenen Jordan-Kurve.

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Es scheint anschaulich klar, dass zu einer geschlossenen Jordan-Kurve immer ein wohldefiniertes,von dieser umschlossenes Gebiet existiert. Dies ist die Aussage des Jordanschen Kurvensatzes. DerBeweis dieser Aussage ist sehr schwierig und kann hier nicht gegeben werden.

Satz 1.2 (Jordanscher Kurvensatz) Jede geschlossene ebene Jordan-Kurve Γ ⊂ R2 zerlegt R2

in zwei Gebiete, die von ihr berandet werden

R

2 \ Γ = G1 ∪G2, G1 ∩G2 = ∅, ∂G1 = ∂G2 = Γ.

Genau eines dieser beiden Gebiete ist beschrankt. Dieses wird als das Innengebiet von Γ bezeichnet.

Eine Kurve heißt stetig differenzierbar, wenn fur sie eine stetig differenzierbare Parametrisierungφ : I → R

2 (kurz eine C1-Parametrisierung) existiert. Eine C1-Parametrisierung mit der Eigen-schaft φ′(t) 6= 0 fur alle t ∈ [a, b] wird als regular oder glatt bezeichnet. Singulare Parameterwertet ∈ [a, b] bzw. die zugehorigen Punkte φ(t) ∈ R2 sind solche mit φ′(t) = 0. Eine Kurve heißt stuck-weise differenzierbar, wenn sie aus endlich vielen differenzierbaren Kurvenstucken besteht (sieheBild rechts).

Beispiel 1.3 Die Neilsche Parabel hat die Parametrisierung φ(t) = (t2, t3), t ∈ R. Die zugehorigeKurve ist (siehe Bild links)

Γ = {(x, y) ∈ R2 : x ≥ 0, y = ±x3/2}.

y

x

y = x3/2

y = -x3/2

Γ1

Γ2

Γ3

Wegen φ′(t) = (2t, 3t2) liegt fur t = 0 in der Spitze der Kurve ein singularer Punkt. Allgemeinsprechen wir von einer impliziten Darstellung einer Kurve des R2, wenn Γ = {(x, y) : f(x, y) = 0}fur eine Funktion f : R2 → R. Eine implizite gegebene Kurve genugt nicht genau unserer Definition,weil sie nicht orientiert ist, was aber hier ohne Belang ist. Die Neilsche Parabel lasst sich alsNullstellengebilde der Funktion f(x, y) = y2 − x3, darstellen. Dies ist gleichzeitig ein Beispiel furdie Tatsache, dass eine glatte Funktion ein nichtglattes Nullstellengebilde besitzen kann. Dies erklartsich aus grad f(0, 0) = 0, so dass der Satz uber implizite Funktionen weder fur die lokale Auflosungdes Nullstellengebildes nach x noch nach y herangezogen werden kann.

Eine injektive Parametrisierung φ : [a, b] → R

2 der Kurve Γ pragt dieser eine Orientierung auf,d.h. eine Reihenfolge, in der ihre Punkte fur wachsenden Parameter t erreicht werden. Das folgendeLemma zeigt, dass alle regularen, injektiven Parametrisierungen einer Kurve isomorph sind.

Lemma 1.4 Seien φ : I = [a, b] → R

2 und φ∗ : I∗ = [a∗, b∗] → R

2 zwei regulare, injektiveParametrisierungen derselben Kurve Γ ⊂ R2. Dann gibt es genau eine bijektive Abbildung h : I∗ →I derart, dass gilt

φ∗ = φ ◦ h.Sind die Parametrisierungen φ und φ∗ (stuckweise) stetig differenzierbar, so auch h, und es isth′ 6= 0, wo die Ableitung existiert. Also ist h monoton steigend oder monoton fallend; im letzterenFall durchlaufen die Punkte φ∗(t), t ∈ I∗, und die Punkte φ(t), t ∈ I, die Kurve zueinander imentgegengesetzten Sinn, d.h. die zugehorigen Wege haben entgegengesetzte Orientierungen.

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Beweis: Da φ injektiv und stetig ist, existiert nach einem bekannten Satz der Analysis dieUmkehrabbildung φ−1 und ist stetig. Folglich ist auch die Abbildung h := φ−1 ◦ φ∗ : I∗ → I stetigund bijektiv. Ferner ist φ ◦ h = φ ◦ φ−1 ◦ φ∗ = φ∗. Gilt nun φ∗ = φ ◦ h∗ mit eine zweiten bijektivenAbbildung h∗ : I∗ → I, so ist h = φ−1 ◦φ∗ = φ−1 ◦φ ◦h∗, d.h. h ist eindeutig bestimmt. Die stetigeund bijektive Abbildung h : I∗ → I ist notwendig streng monoton.

Es bleibt die Differenzierbarkeit von h zu zeigen. Sei t∗0 ∈ I∗ und t0 = h(t∗0) ∈ I. Wegenφ′(t0) 6= 0 muss fur eine Komponente φ′j(t0) 6= 0 sein. Sei etwa φ′j(t0) > 0. Dann ist auch φ′j(t) > 0

in einer ganzen Intervallumgebung I0 ⊂ I von t0. Dazu gehort ein Intervall I∗0 = h−1(I0) ⊂ I∗. InI0 ist φj streng monoton wachsend, und die Umkehrfunktion φ−1

j ist im Intervall φj(I0) ebenfalls

(stuckweise) stetig differenzierbar. Wegen φ∗j = φj ◦ h ist h = φ−1j ◦ φ∗j in I∗0 . Also ist h in I∗0

(stuckweise) stetig differenzierbar. Aus φ∗ = φ ◦ h folgt dann φ∗′ = φ′(h)h′ und, wegen φ∗′, φ′ 6= 0,schließlich h′ 6= 0.

1.2 Kurvenlange Zur Definition der Lange einer Kurve als Punktmenge des R2 beschrankenwir uns auf die Teilklasse der Jordan-Kurven mit Parametrisierungen φ : I → R

2 auf kompaktenIntervallen I = [a, b]. Der Zusatz

”Jordan“ wird daher meist weglassen. Wir wollen die Lange

einer solchen Kurve Γ des R2 bestimmen. Sei Z eine Zerlegung des Parameterintervalls [a, b] inTeilpunkte a = t0 < t1 < . . . < tm = b, mit Feinheit |Z| = maxk=1,...,m(tk − tk1). Die Menge solcherZerlegungen wird mit Z(a, b) bezeichnet. Wir approximieren die Kurve durch einen PolygonzugpZ(Γ), der aus den Strecken durch die Punkte φ(tk) besteht. Die Lange |pZ(Γ)| des Polygonzugs istdie Summe der Langen seiner einzelnen linearen Teilstucke, welche wiederum als die euklidischenAbstande ihrer Endpunkte definiert sind, d.h.

|pZ(Γ)| =m∑

k=1

|φ(tk)− φ(tk−1)|.

Die Lange des Polygonzugs nimmt bei Hinzunahme eines weiteren Punktes t ∈ (tk−1, tk) wegen|φ(tk)− φ(tk−1)| ≤ |φ(tk)− φ(t)|+ |φ(t)− φ(tk−1)| nicht ab. Hieraus folgt, dass im Falle

L = supZ∈Z(a,b)

|pZ(Γ)| <∞

fur jede Zerlegungsfolge (Zk) ⊂ Z(a, b), mit |Zk| → 0 (k → ∞) die zugehorigen Polygonzuglangengegen L konvergieren.

Eine Kurve Γ heißt rektifizierbar mit der Lange |Γ|, wenn die Langen aller Polygonzuge pZ(Γ)gleichmaßig beschrankt sind mit

|Γ| = supZ∈Z(a,b)

|pZ(Γ)| = limZ∈Z(a,b), |Z|→0

|pZ(Γ)|.

Satz 1.5 Ist die Parameterdarstellung φ : [a, b] → R

2 der Kurve Γ stetig differenzierbar, so ist sierektifizierbar, und ihre Lange ist gegeben durch

|Γ| =∫ b

a|φ′(t)| dt,

wobei der Wert des Integrals nicht von der (stetig differenzierbaren) Parametrisierung φ der KurveΓ abhangt.

Beweis: Mit φ′ ist auch |φ′| stetig und damit integrierbar. Sei Z ∈ Z(a, b) eine Zerlegung. Mit

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dem Mittelwertsatz erhalten wir

pZ(Γ) =m∑

k=1

|φ(tk)− φ(tk−1|

=m∑

k=1

(tk − tk−1)

√(φ1(tk)− φ1(tk−1)

tk − tk−1

)2+(φ2(tk)− φ2(tk−1)

tk − tk−1

)2

=m∑

k=1

(tk − tk−1)√

φ′1(τk,1)2 + φ′2(τk,2)

2

mit τk,i ∈ [tk−1, tk]. Hier entsteht das kleine Problem, dass die τk,i in der Regel verschieden sind.Wegen der gleichmaßigen Stetigkeit von φ′ auf dem Intervall [a, b] existiert zu beliebig gewahltemε > 0 ein hε > 0, so dass fur jede Zerlegung Z mit Feinheit h ≤ hε gilt

maxk=1,...,m

|φ′i(τk,1)− φ′i(τk,2)| < ε.

Ferner konnen wir wegen der gleichmaßigen Stetigkeit von |φ′(x)| (eventuell nach Verkleinerungvon hε) auch annehmen, dass

∣∣∣

∫ b

a|φ′(t)| dt−

m∑

k=1

(tk − tk−1)|φ′(τk,1)|∣∣∣ < ε.

Aus den beiden letzten Abschatzungen folgt dann

∣∣∣

∫ b

a|φ′(t)| dt−

m∑

k=1

(tk − tk−1)√

φ′(τk,1)2 + φ′(τk,2)2∣∣∣

≤∣∣∣

∫ b

a|φ′(t)| dt−

m∑

k=1

(tk − tk−1)|φ′(τk,1)|∣∣∣

+m∑

k=1

(tk − tk−1)(

|φ′(τk,1)| −√

φ′(τk,1)2 + φ′(τk,2)2)∣∣∣

<ε+m∑

k=1

(tk − tk−1)|φ′(τk,1 − φ′(τk,2)| ≤ ε+ |b− a|ε.

Damit ist die Konvergenz

|pZ(Γ)| →∫ b

a|φ′(t)| dt

bewiesen.

Wir zeigen nun die Unabhangigkeit der Kurvenlange von der Wahl der Parametrisierung. Seiψ : [c, d] → R

2 eine zweite injektive, stetig differenzierbare Parametrisierung der Kurve Γ. Dannist nach Lemma 1.4 die Abbildung

h = ψ−1 ◦ φ : [a, b] → [c, d], h(a) = c, h(b) = d,

bijektiv und stetig differenzierbar. Mit der Substitutionsregel gilt dann wegen h′ 6= 0

∫ b

a|φ′(t)| dt =

∫ b

a|(ψ ◦ h)′| dt =

∫ b

a|ψ′(h(t))h′(t)| dt

=

∫ b

a|ψ(h(t))| |h′(t)| dt =

∫ d

c|ψ′(s)| ds.

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Ist die Kurve aus endlich vielen Stucken Γj , j = 1, . . . , N zusammengesetzt, wobei die Γj regularparametrisiert sind, so gilt naturlich

|Γ| =N∑

j=1

|Γj | =N∑

j=1

∫ tj

tj−1

|φ′(t)| dt,

wobei die Γj an den Punkten t1, . . . , tn−1 miteinander verknupft sind.

1.3 Geometrie der Kurven Im Folgenden wollen wir einige geometrische Eigenschaften vonKurven studieren. Da wir uns dabei der Parametrisierung φ : [a, b] → R

2 der Kurve bedienen,mussen wir darauf achten, inwieweit die gefundenen Eigenschaften eventuell von der gewahltenParametrisierung abhangen.

Sei Γ eine stetig differenzierbare Jordan-Kurve mit Parametrisierung φ : [a, b] → R

2. Fur t0 ∈[a, b] wird der Vektor φ′(t0) Tangentenvektor an die Kurve Γ im Punkt φ(t0) und die Gerade durchφ(t0) in Richtung φ′(t0) Tangente genannt. Falls φ′(t0) 6= 0 ist, ist der Tangenten-Einheitsvektorgegeben durch

τ(t0) = |φ′(t0)|−1φ′(t0).

Der Tangentenvektor an eine stetig differenzierbare Jordan-Kurve lasst sich als Limes von Se-kantenvektoren auffassen

φ′(t0) = limh→0

φ(t0 + h)− φ(t0)

h.

Ist φ∗ : [a, b] → R

2 eine zweite Parametrisierung der Kurve Γ, so gibt es nach Lemma 1.4einen Diffeomorphismus h : [a∗, b∗] → [a, b] derart, dass φ∗(t∗) = φ(h(t∗)), t∗ ∈ [a∗, b∗]. Nach derKettenregel gilt dann, φ∗′(t∗0) = φ′(h(t∗0))h

′(t∗0), d.h. die durch die beiden Parametrisierungen φund φ∗ der Kurve Γ im Punkt φ(t0) = φ∗(t∗0) erzeugten Tangenten stimmen uberein.

Parametrisierung mit der Bogenlange Sei Γ eine rektifizierbare Kurve mit regularer Pa-rametrisierung φ : [a, b] → R

2. Fur t ∈ [a, b] bezeichnen wir mit Γ[a,t] die Teilkurve mit derParametrisierung φ

∣∣[a,t]

. Die Bogenlangenfunktion

s(t) = |Γ[a,t]| =∫ t

a|φ′(τ)| dτ, t ∈ [a, b],

ist stetig und wegen |φ′(t)| > 0 streng monoton wachsend. Die Integraldarstellung gilt auch, wenndie Parametrisierung φ nur stuckweise stetig differenzierbar ist. In diesem Sinne ist dann auch s(t)stuckweise stetig differenzierbar mit der (stuckweisen) Ableitung

s′(t) = |φ′(t)| > 0, t ∈ [a, b].

Also existiert die Umkehrung t(s) mit denselben Eigenschaften. Die Parametrisierung

ψ(s) = φ(t(s)), s ∈ [0, |Γ|]

beschreibt ebenfalls die Kurve Γ; sie wird als die Parametrisierung von Γ mit der Bogenlangebezeichnet.

Lemma 1.6 Fur die Parametrisierung ψ[0, |Γ|] → R

2 einer Kurve mit der Bodenlange gilt|ψ′(s)| = 1.

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Beweis:

ψ′(s) = φ′(t)d

dst(s) = φ′(t)

( d

dts(t)

)−1= φ′(t)|φ′(t)|−1

und damit |ψ′(s)| = 1.

Die zur Parametrisierung mit der Bogenlange gehorende Bogenlangenfunktion ist

|Γ[0,s]| =∫ s

0|ψ′(τ)| dτ = s,

was nach Konstruktion zu erwarten war. Die Parametrisierung einer Kurve mit der Bogenlange istdie naturlichste unter vielen anderen Parametrisierungsmoglichkeiten; sie bietet manchmal theo-retische Vorteile, ist aber praktisch kaum nutzbar. Der Parameter s hat eine nur von der Kurveund der ihr aufgepragten Orientierung abhangige Bedeutung, und die Darstellung ψ(s) ist abge-sehen von der Orienterung wegen des Ausschlusses von Doppelpunkten eindeutig bestimmt (beigeschlossenen Kurven bis auf den Anfangspunkt).

Krummung einer Kurve Verlauft eine Kurve in der Umgebung eines ihrer Punkte nicht ge-radlinig, so spricht man von einer gekrummten Kurve. Um ein Maß fur die Krummung einer Kurvein jedem ihrer Punkte zu gewinnen, gehen wir von ihrer naturlichen Parametrisierung mit derBogenlange aus. Die Definition soll mit der Vorstellung vertraglich sein, dass eine Gerade dieKrummung Null und ein Kreis eine konstante Krummung hat, und dass bei Kreisen mit zuneh-mendem Radius die Krummung abnimmt.

Fur eine Kurve Γ ⊂ Rn mit zweimal stetig differenzierbarer Parametrisierung ψ : [0, |Γ|] → R

2

mit der Bogenlange ist die Krummung definiert durch

κ(s) = |ψ′′(s)|, s ∈ [0, |Γ|].

Beispiel 1.7 Die Kreiskurve um den Nullpunkt mit Radius r hat die Lange 2πr. Ihre Parametri-sierung mit der Bodenlange lautet also

x(s) = r cos(s/r), y(s) = r sin(s/r), s ∈ [0, 2πr].

Die zugehorige Formel fur die Krummung ist

κ(s) =√

x′′(s)2 + y′′(s)2 =1

r.

Die Krummung der Kreiskurve ist also konstant κ = 1/r und wachst mit abnehmendem Radius.

Differentiation der Beziehung 1 = ψ′(s) ·ψ′(s) ergibt ψ′′(s) ·ψ′(s) = 0, d.h.: Der Krummungsvek-tor ψ′′(s) steht senkrecht zum Tangentenvektor ψ′(s). Im Fall ψ′′(s) 6= 0 heißt der Einheitsvektor

ν(s) =ψ′′(s)

|ψ′′(s)|Hauptnormalvektor zur Kurve Γ im Punkt ψ(t).

Beispiel 1.8 Als kleine Ubung wollen wir den Krummungsvektor fur eine regulare C2-Parametrisierung φ : [a, b] → R

2 bestimmen. Wir schreiben φ′ = ddtφ. Dann gilt aufgrund der

Definition der Bogenlange

s′(t) = |φ′(t)| ⇒ d

dst(s) = |φ′(t(s))|−1.

Wegen | ddsψ| = 1 muss die Ableitung von ψ nach der Bogenlange mit dem Tangenteneinheitsvektorubereinstimmen

τ(t) =φ′(t)

|φ′(t)| =d

dsψ(s(t)).

6

Page 9: EinfuhrungindieFunktionentheorie¨ - Institut für …dobro/fu/b.pdf · 1 Kurven 1.1 Kurven im R 2 Wir haben eine anschauliche Vorstellung davon, was eine Kurve“ im R 2 ist, etwa

Ferner benotigen wir

d

ds|φ′(t(s))| = d

ds

|φ′1(t(s))|2 + |φ′2(t(s))|2

=1

2|φ′|−1

2∑

j=1

2φ′jφ′′j

d

dst(s) = |φ′|−2(φ′, φ′′)

Mit diesen Beziehungen folgt dann mit Produkt- und Kettenregel

d

dsτ(t(s)) =

d

ds

φ′(t(s))

|φ′(t(s))| =φ′′|φ′|−1

|φ′| − φ′|φ′|−2(φ′, φ′′)

|φ′|2 ,

daher alsod2

ds2ψ(s) =

d

dsτ(t(s)) =

φ′′|φ′|2 − φ′(φ′, φ′′)

|φ′|4 .

1.4 Kurvenintegrale Sei Γ eine rektifizierbare Jordan-Kurve mit einer C1-Parametrisierungφ : [a, b] → R

2 mit Bogenlangenfunktion s(t). Fur eine Funktion f : Γ → R wird das Integral

Γf(x(s)) ds :=

∫ b

af(φ(t))|φ′(t)| dt,

sofern es existiert, das Kurvenintegral von f uber Γ genannt. Man bezeichnet ds = |φ′(t)| dt alsStreckenelement entlang der Kurve Γ.

Satz 1.9 Ist f entlang Γ stuckweise stetig, so existiert das Kurvenintegral und hat fur alle C1-Parametrisierungen denselben Wert.

Beweis: Der Integrand ist stuckweise stetig und damit regelintegrierbar.

Sei ψ : Γ → R

2 die Parametrisierung der Kurve mit der Bogenlange. Nach Lemma 1.4 gibt eseine Bijektion h : [a, b] → [0, |Γ|] derart, dass φ(t) = ψ(h(t)). Ferner gilt φ′ = ψ′(h(t))h′(t) unddaher wegen |ψ′(s)| = 1

|φ′(t)| = |ψ′(h(t))| |h′(t)| = |h′(t)|.

Mit Integration durch Substitution folgt dann

∫ |Γ|

0f(x(s)) ds =

∫ b

af(φ(t))|h′(t)| dt =

∫ b

af(φ(t))|φ′(t)| dt.

Fur das Kurvenintegral gelten dieselben Regeln wie fur das Regelintegral, wobei die Beweisegenauso gefuhrt werden konnen. Die drei wichtigsten Eigenschaften sind:

• Linearitat: Fur integrierbare Funktionen f, g : Γ → R und α, β ∈ R gilt∫

Γ

(αf(x) + βg(x)

)ds = α

Γf(x) ds+ β

Γg(x) ds.

• Additivitat: Fur eine disjunkte Zerlegung Γ = Γ1 ∪ Γ2 gilt∫

Γf(x) ds =

Γ1

f(x) ds+

Γ2

f(x) ds.

f ist genau dann uber Γ integrierbar, wenn es uber Γ1 und Γ2 integrierbar ist.

7

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• Beschranktheit: Ist f uber Γ integrierbar, so gilt

∣∣∣∣

Γf(x) ds

∣∣∣∣≤ |Γ| sup

x∈Γ|f(x)|.

Beispiele 1.10 (i) Mit φ : [a, b] → R

2 mit φ(t) = (t, 0) gilt

Γf(x) ds =

∫ b

af(t) dt wegen |φ′(t)| = 1.

Das Kurvenintegral uber einem Intervall stimmt mit dem gewohnlichen Integral uberein.

(ii) Ist die Kurve mit einer Masse der Dichte ρ(x) belegt, so ergibt die Gesamtmasse

µ(|Γ|) =∫

Γρ(x) ds =

∫ b

aρ(φ(t))|φ′(t)| dt.

(iii) Das ParabelstuckΓ = {(x, y) ∈ R2 : y = x2, 0 ≤ x ≤ 1}

hat die Parametrisierung φ(t) = (t, t2), 0 ≤ t ≤ 1. Das Kurvenintegal einer Funktion f : Γ → R istgegeben durch

Γf(x) ds =

∫ 1

0f(x(t))

1 + 4t2 dt.

Fur f = 1 ergibt sich

|Γ| =∫ 1

0

1 + 4t2 dt =1

2

∫ 2

0

1 + u2 du

=1

4

(u√

1 + u2 + ln(u+√

1 + u2)∣∣2

0=

1

4

(2√5 + ln(2 +

√5))= 1, 46894 . . .

1.5 Wegintegrale Hier betrachten wir Wegintegrale von Vektorfeldern, wie sie etwa in derPhysik auftreten, z.B. Kraftfelder, elektrische Felder, Geschwindigkeitsfelder und so fort.

Sei φ : [a, b] → R

2 ein differenzierbarer Jordan-Weg und Γ ⊂ R2 die durch diesen parametrisierte(und orientierte) Jordan-Kurve. Fur ein stetiges Vektorfeld v = (v1, v2) : R

2 → R

2 heißt

Γv(x) · ds =

∫ b

av(φ(t)) · φ′(t) dt =

2∑

i=1

∫ b

avi(φ(t))φ

′i(t) dt

das Wegintegral (oder auch Zirkulationsintegral oder Arbeitsintegral) von v uber Γ. Das Vorzeichendes Wegintegrals hangt dabei von der Orientierung des Weges ab.

Zwischen dem Wegintegral eines Vektorfelds und dem Kurvenintegral einer skalaren Funktionbesteht eine enge Beziehung. Der Tangenteneinheitsvektor zur Kurve im Punkt x ∈ Γ ist gegebendurch

τ =φ′(t)

|φ′(t)| , x = φ(t), t ∈ [a, b].

Mit der Tangentialkomponente vτ = v · τ eines Vektorfelds v : R2 → R

2 gilt daher

Γv(x) · ds =

∫ b

av(φ(t)) · φ′(t) dt =

∫ b

avτ (φ(t))|φ′(t)| dt =

Γvτ ds,

8

Page 11: EinfuhrungindieFunktionentheorie¨ - Institut für …dobro/fu/b.pdf · 1 Kurven 1.1 Kurven im R 2 Wir haben eine anschauliche Vorstellung davon, was eine Kurve“ im R 2 ist, etwa

fur den Wert des Wegintegrals”zahlt“ daher nur die Tangentialkomponente des Vektorfelds. Gleich-

zeitig haben wir damit gezeigt, dass bei (stuckweise) regularer Parametrisierung der Wert des Weg-integrals nicht von der Parametrisierung, sondern nur von der Orientierung abhangt. Wird dieKurve in umgekehrter Orientierung durchlaufen, so kehrt sich auch das Vorzeichen in vτ = v · τ umund damit auch der Wert des Wegintegrals.

Das Wegintegral hat wie das Kurvenintegral die folgenden Eigenschaften:

• Linearitat: Fur integrierbare Vektorfelder v, w : Γ → R

2 und α, β ∈ R gilt∫

Γ

(αv(x) + βw(x)

)· ds = α

Γv(x) · ds+ β

Γw(x) · ds.

• Additivitat: Fur eine disjunkte Zerlegung Γ = Γ1 ∪ Γ2 gilt∫

Γv(x) · ds =

Γ1

v(x) · ds+∫

Γ2

v(x) · ds.

v ist genau dann uber Γ integrierbar, wenn es uber Γ1 und Γ2 integrierbar ist.

• Beschranktheit: Fur beschrankte Vektorfelder gilt∣∣∣∣

Γv(x) · ds

∣∣∣∣≤ |Γ| sup

x∈Γ|v(x)|.

Ist v ein Kraftfeld, so bedeutet das Wegintegral∫

Γ v(x)·ds uber eine Kurve die Arbeit, welche vondem Kraftfeld an einem Massepunkt entlang der Kurve Γ geleistet wird. Wie wir bereits festgestellthaben, ist das Wegintegral unabhangig von der Parametrisierung der Kurve gleicher Orientierung,insbesondere unabhangig von der Geschwindigkeit, mit der das Kraftfeld durchlaufen wird. Fur einkonstantes Feld v = v gilt

Γv(x) · ds =

2∑

i=1

v

∫ b

aφ′(t) dt = v(φ(b)− φ(a)).

In diesem Fall hangt das Wegintegral nur von den Endpunkten der Kurve ab.

Als Beispiel betrachten wir das Schwerefeld an der Erdoberflache, das wir bei kurzen Wegen alskonstant v = (0,−g) ansehen konnen,

Γv(x) · ds = −

∫ b

agφ′2(t) dt = g

(φ2(a)− φ2(b)

).

Die durch das Schwerefeld geleistete Arbeit hangt nur von der Hohendifferenz ab.

Im Folgenden untersuchen wir, fur welche Felder das Wegintegral nur von den Endpunkten derKurve abhangt.

Ein Vektorfeld v : D ⊂ R

2 → R

2 heißt Gradientenfeld, wenn es Gradient einer Funktionf : D → R ist, also

v = grad f = ∇f.In diesem Fall wird f Stammfunktion von v genannt. Im physikalischen Kontext wird v auch alsPotentialfeld und U = f als Potential bezeichnet.

Hat ein Vektorfeld v eine Stammfunktion f ∈ C2(D), also vi = ∂if , so folgt aus dem Satzvon Schwarz, dass ∂1v2 = ∂2v1. Dies ist naturlich ein spezieller Fall und im Allgemeinen gar nichterfullt. Beispielsweise gilt fur v = (0, x), dass ∂xv2 = 1, aber ∂yv1 = 0.

Wir nennen das Wegintegral∫

Γ v(x)·ds wegunabhangig, wenn sein Wert nur von den Endpunktender Kurve Γ abhangt.

9

Page 12: EinfuhrungindieFunktionentheorie¨ - Institut für …dobro/fu/b.pdf · 1 Kurven 1.1 Kurven im R 2 Wir haben eine anschauliche Vorstellung davon, was eine Kurve“ im R 2 ist, etwa

Satz 1.11 (a) Sei D ⊂ R2 ein Gebiet und v ein stetiges Vektorfeld. Fur eine beliebige orientierteJordan-Kurve Γ ⊂ D ist das Wegintegral

IΓ(v) =

Γv(x) · ds

genau dann wegunabhangig, wenn v ein Gradientenfeld ist.

(b) Ist f eine Stammfunktion von v, so hat das Wegintegral uber eine beliebige Kurve Γ mit An-fangspunkt xa und Endpunkt xb den Wert

IΓ(v) = f(xb)− f(xa).

insbesondere ist fur jede geschlossene Kurve IΓ(v) = 0.

(c) Eine Stammfunktion von v existiere. Dann erhalt man ausgehend von einem festen Punkt a ∈ Ddurch

f(x) =

Γ(a,x)

v(y) · ds, x ∈ D,

eine Stammfunktion von v. Dabei ist Γ(a,x) eine beliebige Jordan-Kurve in D, die a mit x verbindet.

(d) Die Stammfunktion eines Vektorfelds ist bis auf eine Konstante eindeutig bestimmt.

Beweis: (a) Sei v ein Gradientenfeld mit Stammfunktion f . Fur eine beliebige C1-Parametrisierung φ : [a, b] → R

2 von Γ gilt nach der Kettenregel

d

dtf(φ(t)) =

2∑

i=1

∂if(φ(t))φ′i(t) =

2∑

i=1

vi(φ(t))φ′i(t) = v(φ(t)) · φ′(t),

daher

(1.1)

Γv(x) · ds =

∫ b

av(φ(t)) · φ′(t) dt =

∫ b

a

d

dtf(φ(t)) dt = f(xb)− f(xa).

Sei nun umgekehrt das Wegintegral wegunabhangig. Dann ist die Funktion

f(x) =

Γ(xa,x)

v(y) · ds, x ∈ D,

wohldefiniert. Fur ξ ∈ D und hinreichend kleinem h ∈ R2 gilt

(1.2)

Γ(xa,ξ+h)

v(y) · ds =∫

Γ(xa,ξ)

v(y) · ds+∫

Γ(ξ,ξ+h)

v(y) · ds.

Da das Integral wegunabhangig ist, konnen wir in∫

Γ(ξ,ξ+h)v(y) · ds einfach die Verbindungsstrecke

von ξ und ξ + h nehmen. Diese wird parametrisiert durch φ : [0, 1] → R

2, φ(t) = ξ + th,

Γ(ξ,ξ+h)

v(y) · ds =∫ 1

0v(φ(t)) · h dt = v(ξ)h+ o(|h|).

Aus (1.2) folgt dannf(ξ + h) = f(ξ) + v(ξ) · h+ o(|h|).

Damit ist f differenzierbar mit ∇f = v.

(b) folgt aus (1.1).

(c) folgt aus dem Beweis von (a).

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(d) Fur die Differenz h = f − g zweier Stammfunktionen von v gilt ∇h = 0 in D. Damit ist hkonstant.

Wir hatten bereits gesehen, dass fur die Existenz einer Stammfunktion eines Vektorfeldes v ∈ C1

notwendigerweise

(1.3) ∂1v2 = ∂2v1

gelten muss. Damit kannn man im konkreten Fall leicht nachprufen, ob eine Stammfunktion exi-stieren kann.

Beispiele (i) Fur das Vektorfeld v = (yexy, xexy + 2y) gilt

∂xvy = exy + xyexy = ∂yvx.

In der Tat ist f(x, y) = exy + y2 eine Stammfunktion von v.

(ii) Das durch

v(x, y) =( −yx2 + y2

,x

x2 + y2

)

definierte Vektorfeld v : R2 \ {0} erfullt zwar der Vertraglichkeitsbedingung (1.3),

∂yvx =−(x2 + y2) + 2y2

(x2 + y2)2=

y2 − x2

(x2 + y2)2=

(x2 + y2)− 2x2

(x2 + y2)2= ∂xvy.

Das Wegintegral entlang des geschlossenen Einheitskreises Γ mit Parametisierung φ(t) =(cos t, sin t) ist jedoch nicht Null wegen

Γv(x, y) · ds =

∫ 2π

0v(x, y) · φ′(t) dt =

∫ 2π

0

( y sin t

x2 + y2+

x cos t

x2 + y2

)

dt =

∫ 2π

0dt = 2π.

Die Bedingung (1.3) reicht daher nicht aus, um auf eine Stammfunktion schließen zu konnen.Wir sagen, ein Gebiet D ⊂ R2 ist einfach zusammenhangend, wenn sich jede geschlossene Jordan-Kurve in stetiger Weise innerhalb von D zu einem Punkt zusammenziehen lasst. Im R

2 darf eineinfach zusammenhangendes Gebiet keine Locher haben.

Satz 1.12 Gilt fur ein Vektorfeld v ∈ C1(D)2 im einfach zusammenhangenden Gebiet D die Be-dingung (1.3), so existiert eine Stammfunktion f ∈ C2(D) von v.

Beweis: Sei zunachst der Einheitskreis B1(0) in D enthalten. Wir setzen fur x ∈ B1(0) undφ(t) = tx

f(x) =

∫ 1

0v(φ(t)) · φ′(t) dt =

∫ 1

0v(tx) · x dt.

Wegen ∂1v2 = ∂2v1 gilt

∂xi

(v(tx) · x

)=

2∑

j=1

∂ivj(tx)xjt+ vi(tx) = ∇vi(tx) · (tx) + vi(tx)

sowie∂

∂t

(vi(tx)t

)=

2∑

j=1

∂jvi(tx)txj + vi(tx) = ∇vi(tx) · (tx) + vi(tx).

Damit gilt

∂xif(x) =

∫ 1

0

∂xi

(v(tx) · x

)dt =

∫ 1

0

(∇vi(tx) · (tx) + vi(tx)

)dt

=

∫ 1

0

∂t

(vi(tx)t

)dt = tvi(tx)

∣∣1

0= vi(x)

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Bei einem allgemeinen Gebiet konnen wir mit diesem Verfahren auf einem kleinen Kreis eineStammfunktion konstruieren und diese Konstruktion am Rande dieses Kreises mit den dort be-kannten Werten von f fortsetzen. Auf diese Weise erschließen wir immer großere Bereiche von D.Treffen wir dann auf einen bereits erschlossenen Bereich, so mussen die vorhandenen Werte mitden neu zu definierenden Werte ubereinstimmen. Andernfalls hatten wir ein nichtverschwindendesWegintegral uber eine geschlossene Kurve, was einen Widerspruch auslosen wurde, weil wir dieKurve zu einem Punkt zusammenziehen konnten.

12

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2 Komplexe Zahlen

2.1 Der Korper der komplexen Zahlen Sei

R

2 = {(x, y) : x, y ∈ R}.

R

2 konnen wir als Punkte in der Ebene oder als Vektoren mit Komponenten x und y auffassen.Fur (x, y), (x′, y′) ∈ R2 definieren wir die Summe durch

(x, y) + (x′, y′) = (x+ x′, y + y′).

Dies ist die ubliche Addition zweier ebener Vektoren: Wir verschieben (x′, y′) so, dass sein Fußpunktauf dem Endpunkt von (x, y) steht, der Endpunkt des so verschobenen Vektors zeigt dann auf denEndpunkt der Summe (siehe die folgende Abbildung links).

y

x

(x’,y’)

(x,y) (x,y)+(x’,y’)

y

x

(x,y)

α (x,y)

Fur α ∈ R und (x, y) ∈ R ist die Skalarmultiplikation definiert durch

α (x, y) = (αx, αy).

Fur α ≥ 0 ist der Ergebnisvektor die Verlangerung oder Verkurzung um das α-fache (siehe Abbil-dung rechts). Bei α < 0 kehrt sich zusatzlich die Orientierung um.

Bis hierin haben wir nur die ublichen Operationen fur Vektoren definiert, was in anderen Raum-dimensionen genauso geht. Die Vektoren bilden mit der Addition und dem Vektor (0, 0) eine abel-sche Gruppe, die Inverse von (x, y) ist (−x,−y). Mit Hilfe der Multiplikation

(x, y) · (x′, y′) = (xx′ − yy′, xy′ + yx′)

kann man, wie wir gleich sehen werden, auf den ebenen Vektoren einen Korper definieren. Dieseetwas geheimnisvolle Definition ist diesem Ziel geschuldet: Im Wesentlichen gibt es nur diese eineMoglichkeit, aus den Vektoren einen Korper zu machen und sie funktioniert nur im ebenen Fall.Das Element (1, 0) ist neutral bezuglich dieser Multiplikation und die Inverse von (x, y) 6= (0, 0) ist

(x, y)−1 =( x

x2 + y2,

−yx2 + y2

)

wegen

(x, y) · (x, y)−1 = (x, y)( x

x2 + y2,

−yx2 + y2

)

=( x2

x2 + y2− −y2x2 + y2

,−xy

x2 + y2+

xy

x2 + y2

)

= (1, 0).

Da die ubrigen Korperaxiome sich leicht nachrechnen lassen, ist der R2 zusammen mit den sodefinierten Operationen ein Korper, den wir den Korper der komplexen Zahlen nennen und mit Cbezeichnen.

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Wir konnen die Elemente von C der Form (x, 0) mit der reellen Zahl x identifizieren, denn esgilt

(x, 0) + (y, 0) = (x+ y, 0)

(x, 0) · (y, 0) = (xy − 0 · 0, x · 0 + y · 0) = (xy, 0).

Die komplexe Zahl i = (0, 1) heißt imaginare Einheit. Es gilt

i2 = (0, 1) · (0, 1) = (0 · 0− 1 · 1, 0 · 1 + 0 · 1) = (−1, 0) = −1.

Damit haben wir Kurzbezeichnungen fur die beiden kanonischen Einheitsvektoren des R2, namlich1 = e1 und i = e2. Statt z = (x, y) schreiben wir daher z = x + iy und konnen unter Beachtungvon i2 = −1

”normal“ rechnen (z′ = x′ + iy′)

z + z′ = (x+ iy) + (x′ + iy′) = (x+ x′) + i(y + y′),

z · z′ = (x+ iy) · (x′ + iy′) = xx′ − yy′ + i(xy′ + yx′).

Der Leser sollte sich davor huten, die imaginare Einheit zu verratseln, weil sich das Wort imaginarso ratselhaft anhort. Nach wie vor sind die komplexen Zahlen die ebenen Vektoren, auf denen eineMultiplikation definiert ist, die sie zu einem Korper machen. Und die ebenen Vektoren sind genausowenig imaginar wie alles andere in der Mathematik auch.

2.2 Komplexe Konjugation und Absolutbetrag Fur z = x+ iy setzen wir

z = x− iy komplexe Konjugation von z,

|z| =√

x2 + y2 Absolutbetrag von z,

wobei |z| nach dem Satz des Pythagoras mit der Lange des Vektors (x, y) ubereinstimmt. Diekomplexe Konjugation bedeutet geometrisch die Spiegelung des Vektors an der x-Achse.

Ferner definieren wir Real- und Imaginarteil einer komplexen Zahl z = x+ iy durch

Re z = x, Im z = y.

Kommen wir nun zu den Rechenregeln fur komplexe Zahlen:

Satz 2.1 Fur komplexe Zahlen z, z′ gilt:

(a) z−1 =z

|z|2 fur z 6= 0.

(b) |z|2 = zz.

(c) (z ± z′) = (z ± z′), zz′ = zz′,( z

z′

)

=z

z′fur z′ 6= 0.

(d) |z| = |z|, |zz′| = |z| |z′|,∣∣∣z

z′

∣∣∣ =

|z||z′| .

(e) Re z =1

2(z + z), Im z =

1

2i(z − z).

(f) |Re z| ≤ |z|, |Im z| ≤ |z|.(g) |z + z′| ≤ |z|+ |z′|,

∣∣ |z| − |z′|

∣∣ ≤ |z − z′|.

14

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Beweis: Die Beweise folgen aus den Definitionen, es muss allerdings nachgerechnet werden. (b)folgt aus

zz = (x+ iy)(x− iy) = x2 + y2 = |z|2

und daraus bekommen wir (a) durch Erweiterung des Bruchs

1

z=

1 · zz · z =

z

|z|2 .

Der erste Teil von (c) und (d) folgt direkt aus der Definition der komplexen Konjugation. DieProduktregel in (c) erhalten wir aus

zz′ = (x+ iy)(x′ + iy′) = xx′ − yy′ + i(yx′ + xy′)

= (x− iy)(x′ − iy′) = zz′.

Mit (b) folgt die Produktregel in (d)

|zz′|2 = zz′zz′ = zzz′z′.

Genauer brauchen wir uns nur noch die Dreiecksungleichung (g) anzuschauen, die wir mit (b)-(f)beweisen

|z + z′|2 = (z + z′)(z + z′) = zz + z′z′ + zz′ + z′z

= |z|2 + |z′|2 + 2Re zz′ ≤ |z|2 + |z′|2 + 2|zz′|

= |z|2 + |z′|2 + 2|z| |z′| = (|z|+ |z′|)2.Fur die zweite Ungleichung in (g), inverse Dreiecksungleichung genannt, verwenden wir die erste

|z| = |z − z′ + z′| ≤ |z − z′|+ |z′|.Das umgekehrte Vorzeichen bekommt man, wenn man hier die Rollen von z und z′ vertauscht.

Der obige Beweis der Dreiecksungleichung zeigt, dass die aus dem Reellen bekannte binomischeFormel fur |a+ b|2 nicht gilt, sondern

|a+ b|2 = |a|2 + 2Re ab+ |b|2.

Beispiel 2.2 Wir zeigen{

z ∈ C :|z − 1||z + 1| < 1

}

={z : Re z > 0

}.

In solchen Fallen ist es immer einfacher, die Rechnung nicht auf den reellen Fall zuruckzufuhren.Daher

|z − 1|2|z + 1|2 =

(z − 1)(z − 1)

(z + 1)(z + 1=

|z|2 − z − z + 1

|z|2 + z + z + 1

=|z|2 − 2Re z + 1

|z|2 + 2Re z + 1.

Dies ist genau dann < 1, wenn Re z > 0.

Durch einfaches Nachrechnen zeigt man fur ai, bi ∈ C, i = 1, . . . , n,∣∣∣∣∣

n∑

i=1

aibi

∣∣∣∣∣

2

=n∑

i=1

|ai|2 ·n∑

i=1

|bi|2 −∑

1≤i<j≤n

|aibj − ajbi|2.

Hieraus folgt die Cauchy-Ungleichung

(2.1)

∣∣∣∣∣

n∑

i=1

aibi

∣∣∣∣∣

2

≤n∑

i=1

|ai|2 ·n∑

i=1

|bi|2

15

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2.3 Polardarstellung komplexer Zahlen Zu jedem reellen Vektor (x, y) mit x2+y2 = 1 gibtes genau ein φ ∈ [0, 2π) mit x = cosφ, y = sinφ. φ ist dabei der im Gegenuhrzeigersinn gemesseneWinkel zwischen der positiven reellen Achse und dem Strahl vom Nullpunkt zum Punkt (x, y). Ausdiesem Grund konnen wir eine komplexe Zahl z = x+ iy mit z 6= 0 eindeutig in der Form

z = r(cosφ+ i sinφ) mit 0 ≤ φ < 2π, r = |z| > 0

schreiben. r ist der von uns bereits definierte Absolutbetrag und φ = arg z heißt Argument von z.

Fur das Produkt der beiden Zahlen a = r(cosφ+ i sinφ) und b = s(cosψ + i sinψ) ergibt sichwegen der Additionstheoreme fur Sinus und Cosinus

a · b = rs(cosφ cosψ − sinφ sinψ + i(sinφ cosψ + cosφ sinψ))

= rs(cos(φ+ ψ) + i sin(φ+ ψ))

Der Ortsvektor a · b besitzt demnach die Lange |ab| undzeigt in Richtung φ+ψ. Beim Produkt zweier komplexerZahlen werden die Betrage multipliziert und die Argu-mente addiert.

Re z

α

βαβ

ϕψϕ+ψ

0

Beispiel 2.3 Fur z = 1 + i gilt |z| =√2 und damit

1 + i =√2(cos

π

4+ i sin

π

4), (1 + i)2 = 2(cos

π

2+ i sin

π

2) = 2(0 + i · 1) = 2i.

Mit dieser geometrischen Deutung der Multiplikation konnen wir die komplexen Wurzeln, alsodie Losungen der Gleichung zn = α leicht bestimmen. Ist r = |α| und φ = argα, so haben wirgenau n Losungen, die alle den Betrag n

√r und die Argumente (φ+ 2kπ)/n fur k = 0, 1, . . . , n− 1

besitzen. Die Losungen von zn = 1 werden komplexe Einheitswurzeln genannt,

zk = cos2kπ

n+ i sin

2kπ

n, k = 0, 1, . . . , n− 1.

Sie liegen auf dem komplexen Einheitskreis und bilden dort ein regulares n-Eck.

Da man im Komplexen kein klares Verfahren hat, um die Wurzel eindeutig zu machen, ist manim Gegensatz zum Reellen ubereingekommen, alle Losungen von zn = α als komplexe Wurzeln n

√α

zu bezeichnen.

Beispiel 2.4 Wir bestimmen alle Losungen der Gleichung z6−iz3 = 1.Mit w = z3 folgt w2−iw =1 und

(w − i

2)2 = 1− 1

4=

3

4⇒ w± =

i

2± 1

2

√3.

Es gilt w± = cosφ±+ i sinφ± mit φ+ = π/6 und φ− = 5π/6. Damit bekommen wir die 6 Losungen

cos( π

18+

2kπ

3

)

+ i sin( π

18+

2kπ

3

)

, cos(5π

18+

2kπ

3

)

+ i sin(5π

18+

2kπ

3

)

, k = 0, 1, 2.

2.4 Konvergenz komplexer Zahlenfolgen Der Kreis um a ∈ C mit Radius ε

Bε(a) = {z ∈ C : |z − a| < ε} ⊂ C

heißt ε-Umgebung von a. Eine Folge (zn), zn ∈ C, konvergiert gegen ξ ∈ C, wenn in jeder ε-Umgebung von ξ fast alle Folgenglieder liegen.

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Satz 2.5 Mit zn = xn + iyn und ξ = a+ ib gilt zn → ξ genau dann, wenn xn → a und yn → b inR.

Beweis: Mit den Rechenregeln (f) und (g) in Satz 2.1 gilt fur jede komplexe Zahl z = x+ iy

(2.2) |x|, |y| ≤ |z| ≤ |x|+ |y|.

zn → ξ ist aquivalent zu|zn − ξ| < ε fur alle n ≥ N.

Mit (2.2) folgt daraus auch |xn − a|, |yn − b| < ε und damit xn → a und yn → b.

Gilt umgekehrt xn → a und yn → b, so folgt wieder aus (2.2) fur genugend große n

|zn − ξ| < 2ε,

was zn → ξ impliziert.

Fur Reihen komplexer Zahlen wird Konvergenz wie im Reellen mit der Konvergenz der Partial-summen definiert. Entsprechend heißt

∑zn absolut konvergent, wenn

∑ |zn| konvergiert. Nach demletzten Satz ist dies aquivalent dazu, dass die beiden reellen Reihen

∑Re zn und

∑Im zn absolut

konvergent sind. Daher bleiben Majoranten-, Wurzel- und Quotientenkriterium fur die absoluteKonvergenz komplexer Reihen gultig.

2.5 Die stereographische Projektion Im Rellen gibt es die Konstruktion, die reellen Zahlenum die beiden

”Punkte“ ±∞ zu erganzen, was den Vorteil hat, dass man den Satz von Bolzano-

Weierstraß nun auf jede Folge anwenden kann. Ist die Folge beschrankt, lasst sich eine konvergenteTeilfolge auswahlen; ist sie unbeschrankt, so kann man eine gegen ∞ oder −∞ bestimmt divergenteTeilfolge auswahlen.

Im Komplexen scheitert die angegebene Konstruktion. Hier nimmt man nur einen Punkt ∞ zuC hinzu und fugt, intuitiv gesprochen, die großen Werte zu diesem einen Punkt ∞ zusammen.

N

z

Z

z

Z

0

Wir schreibenC = C∪{∞} und nennenC die erweiterten komplexen Zahlen. UmC geometrischdarzustellen, gehen wir von der Einheitssphare S des R3 aus. Mit Ausnahme des Nordpols N =(0, 0, 1) konnen wir jedem Punkt von S vermoge

(2.3) z =x1 + ix21− x3

eine komplexe Zahl z zuordnen. Diese Beziehung konnen wir nach x ∈ S \ {N} auflosen. Zunachstfolgt aus der Definition

|z|2 = x21 + x22(1− x3)2

=1 + x31− x3

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und daher

(2.4) x3 =|z|2 − 1

|z|2 + 1.

Mit diesem Ergebnis gehen wir nach (2.3) zuruck und erhalten

(2.5)

x1 =z + z

1 + |z|2

x2 =z − z

i(1 + |z|2).

Als letztes bilden wir den Nordpol N auf den Punkt ∞ ab und haben damit die erweitertenkomplexen Zahlen als Riemannsche Zahlenkugel dargestellt. Die Halbkugel x3 < 0 wird auf denKreis |z| < 1 und die Halbkugel x3 > 0 auf |z| > 1 abgebildet.

Schreiben wir z = x+ iy, so folgt aus (2.3)

x : y : −1 = x1 : x2 : x3 − 1,

was bedeutet, dass die Punkte (x, y, 0), (x1, x2, x3) und (0, 0, 1) alle auf einer Geraden liegen. Damitliegt eine Zentralprojektion mit N als Zentrum vor, die man stereographische Projektion nennt. Wiewir spater sehen werden, ist die stereographische Projektion maßstabstreu und winkeltreu. Sie wirddaher auch in der Kartographie eingesetzt, hauptsachlich fur Karten der Polkappen.

Offenbar wird jede Gerade in der z-Ebene auf einen Kreis abgebildet, der durch den Nordpollauft. Allgemeiner wird jeder Kreis in S auf eine Gerade oder einen Kreis in der z-Ebene abgebildet.Um dies zu beweisen, machen wir zunachst die Beobachtung, dass jeder Kreis in S in einer Ebeneα1x1 + α2x2 + α3x3 = α liegt, wobei wir α2

1 + α22 + α2

3 = 1 und 0 ≤ α < 1 annehmen durfen. ImBildraum besitzt diese Gleichung die Form

α1(z + z)− α2i(z − z) + α3(|z|2 − 1) = α(|z|2 + 1)

oder(α− α3)(x

2 + y2)− 2α1x− 2α2y + α+ α3 = 0.

Fur α 6= α3 ist dies die Gleichung eines Kreises, ansonsten eine Gerade. Umgekehrt kann jederKreis oder jede Gerade in der z-Ebene in dieser Form geschrieben werden. und entspricht dahereinem Kreis auf S.

Wir konnen auf C eine Metrik einfuhren, indem wir den Abstand zweier Punkte auf S bestim-men. Seien zunachst z, z′ ∈ C mit den zugehorigen Punkten (x1, x2, x3) und (x′1, x

′2, x

′3) auf S.

Dann gilt wegen∑x2i =

∑x′2i = 1

(2.6) (x1 − x2)2 + (x2 − x′2)

2 + (x3 − x′3)2 = 2− 2(x1x

′1 + x2x

′2 + x3x

′3).

Aus (2.4) und (2.5) folgt

x1x′1 + x2x

′2 + x3x

′3 =

(z + z)(z′ + z′)− (z − z)(z′ − z′) + (|z|2 − 1)(|z′|2 − 1)

(1 + |z|2)(1 + |z′|2)

=4Re zz′ + (|z|2 − 1)(|z′|2 − 1)

(1 + |z|2)(1 + |z′|2) .

Wir verwenden |z − z′|2 = |z|2 + |z′|2 − 2Re zz′ und erhalten

x1x′1 + x2x

′2 + x3x

′3 =

(1 + |z|2)(1 + |z′|2)− 2|z − z′|2(1 + |z|2)(1 + |z′|2)

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Aus (2.6) folgt dann

(x1 − x2)2 + (x2 − x′2)

2 + (x3 − x′3)2 =

4|z − z′|2(1 + |z|2)(1 + |z′|2)

und fur die Metrik d(z, z′) = ‖x− x′‖ schließlich

(2.7) d(z, z′) =2|z − z′|

(1 + |z|2)(1 + |z′|2).

Fur z′ = ∞ erhalten wir durch Grenzubergang

d(z,∞) =2

1 + |z|2).

Auf beschrankten Teilmengen vonC ist die Metrik d(z, z′) aquivalent zur Standardmetrik |z−z′|.Fur |z|, |z′| ≤M gilt namlich

2

1 +M2|z − z′| ≤ d(z, z′) ≤ 2|z − z′|.

Damit erzeugt d den gleichen Konvergenzbegriff auf beschrankten Folgen. Auf C konnen wir daherdie Konvergenz bezuglich d nehmen und fur Folgen mit |zn| → ∞ auch lim zn = ∞ schreiben. Danngilt wieder der Satz von Bolzano-Weierstraß: Jede Folge in C besitzt eine bezuglich der Metrik dkonvergente Teilfolge.

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3 Komplexe Funktionen

Da man die komplexe Zahlenebene C bis auf die im R

2 unerlaubte Division mit dem R

2 identifi-zieren kann (z = u + iv ↔ (u, v)), bleiben viele Begriffsbildungen aus der reellen Analysis gultig.Eine Teilmenge D ⊂ C heißt Gebiet, wenn sie offen und zusammmenhangend ist. Das Gebiet heißteinfach zusammenhangend, wenn es keine Locher besitzt. Die

”Funktionen“, die in der Funktionen-

theorie studiert werden, sind die Abbildungen f : D → C, wobei der Definitionsbereich D ⊂ C

haufig ein Gebiet ist.

Fur eine komplexe Funktion f : D → C, D ⊂ C, schreibt man auch f(z) = u(x, y) + iv(x, y)sowie

u = Re f, v = Im f.

Damit lasst sich f auch als Abbildung von D ⊂ R2 in den R2 auffassen.

3.1 Grenzwerte und Stetigkeit Sei f : D → C. Zu a ∈ D schreiben wir limz→a f(z) = Aund sagen, dass der Grenzwert von f in a existiert und gleich A ist, wenn fur jede Folge (zn) mitzn → a und zn 6= a gilt, dass f(zn) → A.

f heißt stetig in a ∈ D, wenn der Grenzwert von f in a existiert und mit f(a) ubereinstimmt.f heißt stetig in D, wenn f in jedem Punkt von D stetig ist.

Wie im Reellen beweist man, dass auch das ε, δ-Kriterium aquivalent zur Stetigkeit ist: f istgenau dann stetig in a ∈ D, wenn es zu jedem ε > 0 ein δ > 0 gibt mit |f(z)− f(a)| < ε fur alle zmit |z − a| < δ.

Da wir jede komplexe Funktionen mit einer Funktion (u, v)T : D → R

2 identifizieren konnen, istdie Stetigkeit von f(z) aquivalent zur Stetigkeit von u und v. Allein aufgrund dieser Korrespondenzgelten alle aus dem Reellen bekannten Regeln fur die Stetigkeit: Sind f, g stetig, so auch f + g, fgund f/g, sofern g 6= 0 in D. Ist der Wertebereich von g im Definitionsbereich von f enthalten, soist auch f ◦ g stetig.

Beispiele 3.1 (i) f(z) = z, also u = x, v = −y.(ii) f(z) = p(z) =

∑nk=0 akz

k, ak ∈ C, an 6= 0, heißt Polynom vom Grade n.

(iii) f(z) = p(z)q(z) fur Polynome p, q heißt rationale Funktion. Im maximalen Definitionsbereich,

der aus C ohne die Nullstellen von q besteht, sind rationale Funktionen stetig.

f : D → C heißt gleichmaßig stetig, wenn es zu jedem ε > 0 ein δ > 0 gibt mit

z, z′ ∈ D und |z − z′| < δ ⇒ |f(z)− f(z′)| < ε.

Wie im Reellen zeigt man: Ist D kompakt und f in D stetig, so ist f gleichmaßig stetig.

3.2 Komplexe Differenzierbarkeit Sei D ⊂ C ein Gebiet und f : D → C eine komplexeFunktion. f heißt (komplex) differenzierbar in z0 ∈ D, falls

f ′(z0) = limz→z0

f(z)− f(z0)

z − z0

existiert. Wenn f fur alle z0 ∈ D differenzierbar ist, so heißt f (komplex) differenzierbar, holomorphoder analytisch in D. f ′(z) heißt dann Ableitung von f(z).

Diese Definition sieht so ahnlich aus wie die der reellen Differenzierbarkeit, bedeutet aber vielmehr. Wir fassen f als reelle Funktion zweier Variablen auf, z = x+ iy , f = u+ iv. Mit f ′(z0) =

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α+ iβ konnen wir die Definition auch so schreiben:

f(z) = f(z0) + (α+ iβ)(z − z0) + o(|z − z0|)(3.1)

⇔(u(x, y)

v(x, y)

)

=

(u(x0, y0)

v(x0, y0)

)

+

(α −ββ α

)(x− x0y − y0

)

+ o

(∣∣∣∣

(x− x0y − y0

)∣∣∣∣

)

.

Vergleichen wir dies mit der Definition der reellen Differenzierbarkeit eines ebenen Vektorfelds(u, v)T : R2 → R

2,

(3.2)

(u(x, y)

v(x, y)

)

=

(u(x0, y0)

v(x0, y0)

)

+

(∂xu ∂yu∂xv ∂yv

)

(x0.y0)

(x− x0y − y0

)

+ o

(∣∣∣∣

(x− x0y − y0

)∣∣∣∣

)

,

so ergibt sich:

Satz 3.2 Eine Funktion f : D → C ist genau dann komplex differenzierbar in z0 ∈ D, wennsie als reelles Vektorfeld

(u(x,y)v(x,y)

)in (x0, y0) reell differenzierbar ist und wenn fur sie die Cauchy-

Riemannschen Differentialgleichungen gelten.

(3.3) ∂xu = ∂yv, ∂yu = −∂xv.

Die Ableitung f ′(z0) errechnet sich zu

f ′(z0) = ∂xu+ i∂xv =1

i(∂yu+ i∂yv).

Eine in ganz C definierte holomorphe Funktion heißt ganze Funktion.

Beispiele 3.3 (i) Fur f(z) = z2 = x2 − y2 + 2ixy erhalten wir ∂xu = 2x, ∂yu = −2y, ∂xv = 2y,∂yv = 2x. Damit sind die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen erfullt und f ist holo-morph.

(ii) f(z) = z = x − iy ergibt ∂xu = 1 6= −1 = ∂yv. Daher ist f zwar reell differenzierbar, abernicht holomorph.

Man kann die komplexe Analysis als das Studium der reellen Vektorfelder der Ebene auffassen,die die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen erfullen. Oder anders gesagt: HolomorpheFunktionen sind die Losungen der Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen.

Satz 3.4 Es gelten die ublichen, aus dem Reellen bekannten Rechenregeln fur die komplexe Ab-leitung: Wenn f, g holomorph sind, so auch αf + βg fur α, β ∈ C, f · g, fg (sofern g 6= 0) undh(z) = f(g(z)) (sofern das Bild von g im Definitionsbereich von f liegt) und es gelten die ublichenRegeln:

(a) (αf + βg)′ = αf ′ + βg′ (Linearitat)

(b) (fg)′ = f ′g + fg′ (Produktregel)

(c) (fg )′ = f ′g−fg′

g2(Quotientenregel)

(d) (f(g(z)))′ = f ′(y)|y=g(z) g′(z) (Kettenregel)

Beweis: kann man wortlich aus der Theorie der Funktionen einer reellen Variablen ubernehmen.

Satz 3.5 (Umkehrsatz) Ist f : D → C in einem Gebiet D stetig komplex differenzierbar mitf ′(z0) 6= 0 fur ein z0 ∈ D, so gibt es (offene) Umgebungen U von z0 und V von f(z0) mit:

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(a) f : U → V ist bijektiv,

(b) f−1 : V → U ist stetig komplex differenzierbar mit

d

dwf−1(w) =

1

f ′(z)mit w = f(z).

Beweis: Die zugehorige reelle Abbildung ist stetig reell differenzierbar. Nach (3.1) und (3.2) ist

ihre Funktionalmatrix von der FormM =

(α −ββ α

)

mit α = Re f ′, β = Im f ′. Ist f ′(z0) = α+iβ 6=0, so ist detM = α2 + β2 > 0. Die Funktionalmatrix ist damit im Punkt z0 regular. Nach demUmkehrsatz fur reelle Abbildungen gibt es die behaupteten Umgebungen U, V . Die reelle Abbildungist lokal bijektiv und die Umkehrabbildung ist stetig differenzierbar mit Funktionalmatrix

M−1 =1

detM

(α β−β α

)

=1

|f ′|2 f′ =

1

f ′.

Der komplexe Umkehrsatz ist damit vollstangig bewiesen.

Hohere komplexe Ableitungen lassen sich induktiv durch

f (n)(z) = (f (n−1)(z))′

definieren. Wie wir spater sehen werden, sind im Unterschied zum reellen Fall holomorphe Funk-tionen unendlich oft differenzierbar.

Beispiele 3.6 (i) Polynome p(z) =∑n

k=0 akzk sind holomorph mit Ableitung

p′(z) =n∑

k=1

kakzk−1.

Dies folgt aus der Produktregel durch vollstandige Induktion.

(ii) Rationale Funktionen r(z) = p(z)q(z) sind fur Polynome p, q holomorph, sofern q′(z) 6= 0 ist.

Das erhalt man aus (i) und der Quotientenregel.

Eine auf dem Gebiet D ⊂ R

n definierte Funktion u : D → R heißt harmonisch in D, wennu ∈ C2(D) und

∆u =n∑

i=1

∂2iiu = 0.

Der nachste Satz zeigt, dass der Holomorphiebegriff so stark ist, dass der Realteil einer holomorphenFunktion die Gestalt des Imaginarteils bis auf eine additive Konstante bestimmt.

Satz 3.7 (a) Sei f = u + iv holomorph mit u, v ∈ C2(D). Dann sind u und v harmonischeFunktionen.

(b) Zu jeder harmonischen Funktion u gibt es auf einfach zusammenhangendem Gebiet D ⊂ R

2

eine harmonische Funktion v, so dass f = u + iv holomorph ist. Dabei ist die Funktion v bis aufeine Konstante c ∈ C eindeutig bestimmt.

Bemerkung 3.8 Die Voraussetzung u, v ∈ C2 in (a) ist eigentlich uberflussig, denn spater wirdgezeigt, dass sie aus der Holomorphie von f folgt. (b) bleibt richtig, wenn man die Rollen von uund v vertauscht.

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Beweis: (a) Aus den Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen (3.3) folgt durch Differen-tiation,

∆u = ∂2xxu+ ∂2yyu = ∂2yxv − ∂2xyv = 0,

∆v = −∂2yxu+ ∂2xyu = 0.

(b) Wegen ∆u = 0 ist (−∂yu)y = (∂xu)x und(−∂yu∂xu

)besitzt nach Satz 1.12 auf einfach zusam-

menhangendem Gebiet eine Stammfunktion, also

−∂yu = ∂xv, ∂xu = ∂yv

und die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen sind erfullt. Die Stammfunktion v ist bis aufeine Konstante eindeutig bestimmt.

Beispiel 3.9 Sei v = g(x)(x2 − 3y2). Fur welche g ist v der Imaginarteil einer holomorphen Funk-tion f? Wie sieht dann f aus? Nach Satz 3.7(a) muss v harmonisch sein, also

∆v = g′′(x)(x2 − 3y2) + 2g′(x)2x+ g(x)(2− 6)!= 0.

Da nur der Koeffizient von g′′(x) von y abhangt, folgt g′′(x) = 0. Also ist g linear und aus

4g′(x)x− 4g(x) = 0

folgt g(x) = x und v(x, y) = x(x2−3y2). Zur Konstruktion von f konnen wir wie in (b) ein Potentialkonstruieren. Hier verwenden wir direkt die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen

ux = vy = −6xy ⇒ u = −3x2y + c(y),

uy = −vx = −3x2 + 3y2 ⇒ u = −3x2y + y3 + d(x).

Zusammen erhalten wir u(x, y) = −3x2y + y3 + c und f(z) = iz3 + c.

In Anbetracht des obigen Satzes nennt man fur holomorphes f = u + iv das Paar (u, v) auchkonjugiert harmonisch.

3.3 Polynome und Euklidischer Algorithmus Fur komplexe Zahlen an, an−1, . . . , a0 heißt

(3.4) p(z) = anzn + an−1z

n−1 + . . .+ a0

(komplexes) Polynom. Ist an 6= 0, so heißt grad p = n der Grad von p.

Zunachst formulieren wir die Division mit Rest, die auch als Euklidischer Algorithmus bezeichnetwird.

Satz 3.10 (Euklidischer Algorithmus) Sei p ein Polynom vom Grad m und q ein Polynomvom Grad n mit m ≥ n. Dann gibt es eindeutig bestimmte Polynome s und r mit grad s = m − nund grad r < n mit

p = qs+ r.

Beispiel 3.11 Seip(z) = iz5 + z3 − z2 + 1, q(z) = z2 − 1.

Wir bringen zuerst den hochsten Koeffizienten von p zum Verschwinden,

p(z)− iz3q(z) = (1− i)z3 − z2 + 1,

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fahren auf diese Weise fort,

p(z)− iz3q(z)− (1− i)zq(z) = −z2 + (1− i)z + 1,

und erhaltens(z) = iz3 + (1− i)z − 1, r(z) = (1 + i)z.

Lemma 3.12 (a) Sei p ein Polynom vom Grad n. Fur jedes ξ ∈ C gibt es eindeutig bestimmtekomplexe Zahlen bn, . . . , b0, bn 6= 0, mit

(3.5) p(z) = bn(z − ξ)n + bn−1(z − ξ)n−1 + . . .+ b1(z − ξ) + b0.

In diesem Fall bezeichnen wir ξ als Entwicklungspunkt des Polynoms p.

(b) Besitzt das Polynom p vom Grade n eine Nullstelle ξ ∈ C, so gibt es ein eindeutiges Polynomq vom Grad n− 1 mit

p(z) = (z − ξ)q(z).

Beweis: (a) Wir multiplizieren die Darstellung (3.5) mit der binomischen Formel aus und ver-gleichen die Koeffizienten mit (3.4), was

bk =n∑

i=k

ai

( i

k

)

ξi−k, insbesondere b0 = p(ξ), bn = an,

ergibt.

(b) Ist ξ eine Nullstelle, so folgt b0 = 0 in der Darstellung (3.5). Wir konnen z−ξ ausklammern,es verbleibt das gesuchte Polynom q.

Das Lemma bleibt fur reelle Polynome sinngemaß richtig. Insbesondere ist das Polynom q in(b) reell, wenn die Nullstelle ξ reell ist. Fur reelle Polynome gilt p(z) = p(z). Ist daher ξ Nullstelledes reellen Polynoms p, so ist auch ξ Nullstelle. Nichtreelle Nullstellen reeller Polynome treten alsoimmer paarweise auf. Aus dem letzten Lemma erhalten wir daher

p(z) = (z − ξ)(z − ξ)q(z) = r(z)q(z),

wobei r(z) = z2 − 2Re ξ z + |ξ|2 ein reelles quadratisches Polynom ist. Mit p und r ist damit auchq reell.

Im Reellen hat die Gleichung x2 = −1 keine Losung. Historisch gesehen wurden die komplexenZahlen deshalb eingefuhrt, weil man glaubte, dass im Korper der komplexen Zahlen jedes Polynomeine Nullstelle besitzt. Dieser Glaube erwies sich erst relativ spat als begrundet, als Gauß denfolgenden Satz bewies.

Satz 3.13 (Fundamentalsatz der Algebra) Jedes nichtkonstante Polynom besitzt mindestenseine Nullstelle.

Beweis: Es gibt zahlreiche Beweise. Wir geben einen elementaren, der im Grunde genommennur den Begriff der Stetigkeit ausschlachtet. Mit Kr(ξ) bezeichnen wir die Kreislinie um ξ mitRadius r. Fur eine beliebige stetige Funktion f : C → C, die keine Nullstelle in Kr(ξ) besitzt,definieren wir die Umdrehungsszahl d(Kr(ξ), f), indem wir gedanklich mit f(z) den Kreis im Ge-genuhrzeigersinn entlanglaufen und dabei beobachten, wie oft sich f(z) um den Nullpunkt dreht.Beispielsweise umrundet f(z) = z den Nullpunkt einmal, wenn wir den Kreis K1(0) entlanglaufen,also d(K1(0), z) = 1. Aus der Darstellung

zn = |z|n(cos(nφ) + i sin(nφ)

), φ = arg z,

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erhalten wir d(Kr(0), zn) = n fur alle r > 0.

Die Umdrehungszahl hangt stetig von f ab: Kleine Storungen von f verandern sie nicht. Dasfolgende Lemma ist daher anschaulich klar.

Lemma Ist |f(z)| ≥ a > 0 und |g(z)| ≤ a/2 auf Kr(ξ), so gilt d(Kr(ξ), f) = d(Kr(ξ), f + g).

Istp(z) = zn + q(z) mit q(z) = an−1z

n−1 + . . .+ a0

ein komplexes Polynom, so folgt mit

M = |an−1|+ |an−2|+ . . .+ |a0|

fur |z| = R ≥ 1 die Abschatzung |q(z)| ≤ MRn−1. Wegen |zn| = Rn gilt nach dem Lemma furgenugend großes R folglich d(KR(0), p) = d(KR(0), z

n) = n.

Ist ξ ∈ C ein Punkt mit a = |p(ξ)| > 0, so gibt es wegen der Stetigkeit von p ein δ > 0mit |p(z) − p(ξ)| < a/2 fur alle z mit |z − ξ| < δ. Daraus folgt aus dem Lemma d(Kδ/2(ξ), p) =d(Kδ/2(ξ), p(ξ)) = 0. Wir betrachten eine stetige Deformation, die den Kreis KR(0) in Kδ/2(ξ)uberfuhrt, beispielsweise kann man den Kreis zuerst auf den Radius δ/2 schrumpfen lassen undihn anschließend verschieben. Die Umdrehungszahl hangt stetig von einer solchen Deformation ab,ist aber immer ganzzahlig. Da sie im Verlauf der Deformation von n auf 0 springt, kann sie nichtimmer definiert sein. Dies ist ist aber nur dann der Fall, wenn p eine Nullstelle besitzt.

Man kann dieses Argument noch etwas verfeinern und erhalt dann: Die Umdrehungszahl liefertdie Zahl der Nullstellen im umschlossenen Bereich.

Wenden wir den Fundamentalsatz und Lemma 3.3 sukzessive an, so hat jedes Polynom vomGrad n genau n Nullstellen und genugt der Darstellung

(3.6) p(z) = anzn + . . .+ a0 = an(z − ξ1) . . . (z − ξn).

Dabei durfen die Nullstellen ξi auch mehrfach auftreten. Genauer sagen wir, dass ξ eine Nullstelleder Ordnung k ist, wenn

p(z) = (z − ξ)kq(z) mit q(ξ) 6= 0.

k-fache Nullstellen lassen sich auch dadurch charakterisieren, dass p(ξ) = p′(ξ) = . . . = p(k−1)(ξ) =0 sowie p(k)(ξ) 6= 0. Dies folgt aus der letzten Gleichung durch Differentiation.

Als Anwendung beweisen wir einen schonen Satz, der auch Satz von Lucas genannt wird:

Satz 3.14 Befinden sich alle Nullstellen eines Polynoms p in einer Halbebene, so liegen auch alleNullstellen von p′ in dieser Halbebene.

Beweis: Aus (3.6) folgtp′(z)

p(z)=

1

z − ξ1+ . . .+

1

z − ξn.

Die allgemeine Parameterdarstellung einer Geraden in C ist von der Form z = a+bt mit b 6= 0 oderaquivalent Im (z − a)/b = 0. Die allgemeine Form einer Halbebene H ist daher Im (z − a)/b < 0.Liegt ξk in H und z außerhalb von H, so gilt

Imz − ξkb

= Imz − a

b− Im

ξk − a

b> 0.

Die Imaginarteile reziproker Zahlen haben entgegengesetztes Vorzeichen. Daher gilt fur z /∈ H

Imbp′(z)

p(z)=

n∑

k=1

Imb

z − ξk< 0,

und daher p′(z) 6= 0.

Aus dem Satz folgt, dass die Nullstellen von p′ in der konvexen Hulle der Nullstellen von p liegen.

25

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3.4 Rationale Funktionen In diesem Abschnitt betrachten wir rationale Funktionen der Form

(3.7) r(z) =p(z)

q(z)=a0 + a1z + . . .+ anz

n

b0 + b1z + . . .+ bmzm, an, bm 6= 0.

Wir setzen immer voraus, dass p und q keine gemeinsamen Nullstellen besitzen, denn in einemsolchen Fall konnen wir den Bruch durch z − ξ kurzen, wobei ξ die gemeinsame Nullstelle ist. ImFolgenden betrachten wir r als Funktion auf C = C ∪ {∞}. In den Nullstellen von q besitzt rden Wert ∞. Wir sagen, dass r dort einen Pol der Ordnung k besitzt, wenn k die Vielfachheit derNullstelle von q ist.

Um r auch in Umgebung von ∞ zu untersuchen, setzen wir r1(z) = r(1/z) sowie r(∞) = r1(0).Ist r1(0) = 0 oder = ∞, so sprechen wir von einer Nullstelle oder einem Pol von r im Punkt∞, wobei die Vielfachheiten durch r1 im Nullpunkt bestimmt werden. Mit der Darstellung (3.7)erhalten wir

r1(z) = zm−n a0zn + a1z

n−1 + . . .+ anb0zm + b1zm−1 + . . .+ bm

.

Ist m > n, so besitzt r eine Nullstelle der Ordnung m − n in ∞, wenn m < n ist ∞ ein Pol derOrdnung n−m, und wenn m = n, so ist r stetig in ∞ mit

r(∞) =anbm

6= 0,∞.

Zahlen wir die Nullstellen und Pole von r mit ihren Vielfachheiten in der erweiterten komple-xen Ebene, so kommen wir zu dem uberraschenden Schluss, dass sie ubereinstimmen und gleichmax{m,n} sind. Diese Anzahl der Nullstellen oder Pole heißt Ordnung der rationalen Funktion r.

Ist a eine Konstante, so besitzt r(z) − a genauso viele Pole wie r und hat daher die gleicheOrdnung wie r. Damit besitzt die Gleichung r(z) = a immer genau so viele Losungen in C wie dieOrdnung von r angibt.

Eine wichtige Anwendung des Hauptsatzes der Algebra ist eine Darstellung rationaler Funk-tionen, die Partialbruchzerlegung genannt wird. Ist r(z) eine rationale Funktion wie in (3.7), sokonnen wir wegen des Euklidischen Algorithmus n = grad p < m = grad q annehmen. DurchKurzen des Bruches konnen wir ferner den hochsten Koeffizienten von q zu 1 normieren. Nach demFundamentalsatz hat q die Darstellung

q(z) = (z − ξ1)l1(z − ξ2)

l2 . . . (z − ξk)lk

mit den Nullstellen ξ1, . . . ξk und∑

i li = m.

Satz 3.15 Jede rationale Funktion r(z) = p(z)/q(z) mit n = grad p < m = grad q lasst sicheindeutig als Summe von Partialbruchen schreiben,

p(z)

q(z)=

k∑

i=1

(ai1z − ξi

+ai2

(z − ξi)2+ . . .+

aili(z − ξi)li

)

.

Beweis: Wir verwenden vollstandige Induktion uber den Nennergrad m. Fur m = 1 ist pkonstant und daher nichts zu beweisen. Fur den Induktionsschritt durfen wir annehmen, dasses die behauptete Partialbruchzerlegung gibt fur Polynome mit m = grad q > grad p. Sei also jetztr(z) = p(z)/q(z) mit grad q = m+ 1 > grad p. Ist ξ eine l-fache Nullstelle von q, so

q(z) = (z − ξ)ls(z) mit s(ξ) 6= 0.

Es giltp(z)

s(z)− p(ξ)

s(ξ)=p(z)s(ξ)− s(z)p(ξ)

s(z)s(ξ)=

(z − ξ)t(z)

s(z)mit grad t ≤ m− 1,

26

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weil ξ Nullstelle von p(z)s(ξ)− s(z)p(ξ) ist. Wir haben also

(3.8)p(z)

(z − ξ)ls(z)− p(ξ)

(z − ξ)ls(ξ)=

t(z)

(z − ξ)l−1s(z).

Wegen grad ((z − ξ)l−1s(z)) = m > grad t(z) konnen wir auf der rechten Seite die Induktionsvor-aussetzung anwenden und haben die Existenz der Partialbruchzerlegung bewiesen.

Zum Nachweis der Eindeutigkeit nehmen wir an, dass es zwei Partialbruchzerlegungen mit Ko-effizienten aij und bij gibt. Wir bilden die Differenz dieser Zerlegungen und erhalten eine Zerlegungder Nullfunktion mit Koeffizienten aij − bij . Diese multiplizieren wir mit (z − ξj)

lj . Der Grenzwertz → ξj liefert dann ailj = bilj . Durch Multiplikation mit (z − ξj)

lj−1 lasst sich dieses Argument furdie nachstniedrigere Potenz wiederholen.

Bei der praktischen Durchfuhrung der Partialbruchzerlegung setzt man wie im Satz angegeben an.Indem man die rechte Seite auf den Hauptnenner bringt, lassen sich die Koeffizienten der Partial-bruchzerlegung durch Koeffizientenvergleich bestimmen. Alternativ konnen wir einzelne Werte furz in den Ansatz einsetzen, was zu einem linearen Gleichungssystem fur die gesuchten Koeffizien-ten fuhrt. Dieses in jedem Fall muhsame Verfahren kann man sich etwas erleichtern, indem manbeachtet, dass der hochste Koeffizient der Zerlegung in (3.8) durch p(ξ)/s(ξ) gegeben ist.

Beispiel 3.16 Man bestimme den Wert der Reihe

∞∑

n=1

1

n2 + n.

Es gilt n2 + n = n(n+ 1) und damit

1

n2 + n=a

n+

b

n+ 1=a(n+ 1) + bn

n(n+ 1).

Durch Koeffizientenvergleich erhalten wir das lineare Gleichungssystem

a+ b = 0, a = 1,

also a = 1 und b = −1. Daher

∞∑

n=1

1

n2 + n=

∞∑

n=1

( 1

n− 1

n+ 1

)

= 1.

Damit ist auch gezeigt, dass die Reihe∑

n 1/n2 konvergiert wegen

1

n2=

2

n2 + n2≤ 2

n2 + n⇒

∞∑

n=1

1

n2< 2.

Beispiel 3.17 Fur r(z) =z + 1

z(z − 1)2setzen wir an

r(z) =a

z+

b2(z − 1)2

+b1

z − 1.

Die hochsten Koeffizienten erhalten wir aus (3.8) oder direkt durch folgende Uberlegung. Um bei-spielsweise a zu bestimmen, multiplizieren wir obige Gleichung mit z und fuhren den Grenzubergang

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z → 0 durch. Damit hangt die Berechnung von a nicht von den anderen Unbekannten ab und wirerhalten

a = limz→0

zr(z) = limz→0

z + 1

(z − 1)2= 1.

Auf die gleiche Weise gilt

b2 = limz→1

(z − 1)2r(z) = limz→1

z + 1

z= 2.

Da dieses Verfahren fur den letzten Koeffizienten versagt, bestimmen wir ihn durch Einsetzen einesbeliebigen z. Fur z = 2 ist

b1 = r(2)− a

2− b2 =

3

2− 1

2− 2 = −1

und damitz + 1

z(z − 1)=

1

z+

2

(z − 1)2− 1

z − 1.

Sind p, q reelle Polynome mit m = grad q > n = grad p, so lasst sich die Partialbruchzerlegungauch im Reellen durchfuhren, indem man komplex konjugierte Nullstellen von q zu einem reellenquadratischen Polynom zusammenfasst. Sind ξ1, . . . ξk die reellen Nullstellen von q, so gilt

p(z)

q(z)=

k∑

i=1

li∑

j=1

aij(z − ξi)j

+h∑

i=1

mi∑

j=1

bijz + cij(z2 + αiz + βi)i

.

In dieser Darstellung sind alle Großen reell. Die Polynome z2 + αiz + βi bestimmt man aus (z −ξ)(z−ξ). Am einfachsten erhalt man die reelle Partialbruchzerlegung, indem man erst die komplexeberechnet und dann die komplex konjugierten Terme zusammenfasst.

Beispiel 3.18 Fur r(z) =z3

(z2 + 1)2setzen wir an

(3.9) r(z) =a2

(z − i)2+

a1z − i

+b2

(z + i)2+

b1z + i

.

Die hochsten Koeffizienten bestimmen wir mit

a2 = limz→i

(z − i)2r(z) =i

4, b2 = lim

z→−i(z + i)2r(z) = − i

4.

Nun setzen wir z = 0 und z = 2i in (3.9) ein und erhalten das lineare Gleichungssystem

−a1 + b1 = 0, 3a1 + b1 = 2,

mit Losung a1 = b1 = 1/2. Die komplexe Partialbruchzerlegung lautet dann

r(z) =i

4(z − i)2− i

4(z + i)2+

1

2(z − i)+

1

2(z + i).

Um auf die reelle Zerlegung zu kommen, addieren wir die komplex konjugierten Summanden gleicherOrdnung

r(x) = − x

(x2 + 1)2+

x

x2 + 1.

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3.5 Potenzreihen Die aus dem Reellen bekannten Satze uber die gleichmaßige Konvergenzvon Funktionenfolgen und -reihen bleiben mit gleichem Beweis richtig. Eine Folge fn : D → C

heißt gleichmaßig konvergent, wenn es zu jedem ε > 0 ein N ∈ N gibt, so daß fur alle z ∈ D gilt

|f(z)− fn(z)| < ε fur alle n ≥ N.

Es gilt dann: Die Grenzfunktion einer gleichmaßig konvergenten Folge stetiger Funktionen ist stetig.Aus diesem Themenkreis benotigen wir nur den folgenden

Satz 3.19 Die Funktionen fn : D → C seien stetig fur alle n ∈ N. Wenn |fn(z)| ≤ an fur allez ∈ D und die Reihe

∑an konvergent ist, so konvergiert die Reihe

∑fn(z) gleichmaßig absolut

gegen eine stetige Funktion f : D → C.

Beweis: Konvergenz einer Reihe ist definiert als Konvergenz der Folge der Partialsummen. Furdiese gilt

∣∣∣

n∑

i=1

fi(z)− f(z)∣∣∣ ≤

∞∑

i=n=1

ai.

Damit ist die Folge der Partialsummen gleichmaßig konvergent und die Grenzfunktion stetig. Dieabsolute Konvergenz folgt aus |fn(z)| ≤ an.

Die Eigenschaften einer komplexen Potenzreihe

(3.10) p(z) =∞∑

n=1

anzn, an ∈ C,

lassen sich leicht aus Satz 3.19 und der Theorie der reellen Potenzreihen herleiten:

Satz 3.20 SeiL = lim sup

n→∞

n√

|an|

und R = 1L , wobei 1/0 als R = ∞ und 1/∞ als R = 0 interpretiert wird. Dann ist die Reihe (3.10)

fur |z| < R absolut konvergent und fur |z| > R divergent. Die Reihe konvergiert gleichmaßig injedem Intervall |z| ≤ r mit r < R und stellt daher fur |z| < R eine stetige Funktion dar. Uber dieKonvergenz fur |z| = R lasst sich keine allgemeine Ausage machen.

Die Reihe ist fur |z| < R unendlich oft komplex differenzierbar und kann gliedweise differenziertwerden. Ebenso liefert gliedweise Integration,

F (z) =

∞∑

n=0

1

n+ 1anz

n+1

im Bereixh |z| < R eine Stammfunktion, also F ′ = f .

Existiert der Grenzwert

Q = limn→∞

|an+1||an|

,

so gilt L = Q.

Der Beweis verlauft wie im Reellen. Fur |z| < R ist das Wurzelkriterium bzw. das Quotientenkri-terium erfullt. Nach Satz 3.19 ist die Grenzfunktion innerhalb des Konvergenzbereichs stetig.

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3.6 Exponentialfunktion und trigonometrische Funktionen Jede reelle Potenzreihef(x) =

∑anx

n lasst sich auf die komplexe Zahlenebene mit gleichem Konvergenzradius fortsetzen,indem man einfach x ∈ C einsetzt. Auf diese Weise bekommen wir die komplexe Exponentialfunk-tion sowie den komplexen Sinus und Cosinus

exp z =∞∑

n=0

zn

n!, sin z =

∞∑

n=0

(−1)nz2n+1

(2n+ 1)!, cos z =

∞∑

n=0

(−1)nz2n

(2n)!.

Indem wir iz in die Exponentialfunktion einsetzen, erhalten wir durch Koeffizientenvergleich dieEulersche Gleichung

(3.11) eiz = cos z + i sin z.

Ein kurzer Blick auf die definierenden Reihen zeigt, dass wie im Reellen der Cosinus gerade ist,cos(−z) = cos z, und der Sinus ungerade, sin(−z) = − sin z. Aus (3.11) folgen daher zwei weiterewichtige Gleichungen

(3.12) cos z =1

2(eiz + e−iz), sin z =

1

2i(eiz − e−iz).

Hieraus erhalten wircos2 z + sin2 z = 1.

Da die Reihen in ganz C konvergieren, durfen sie gliedweise differenziert werden,(ez)′= ez, cos′ z = − sin z, sin′ z = cos z.

Die Funktionalgleichung fur die Exponentialfunktion

(3.13) ez+w = ezew fur z, w ∈ C,

folgt mit gleichem Beweis wie im Reellen. Hieraus erhalten wir eze−z = 1, insbesondere ez 6= 0.

Um eine anschauliche Vorstellung vom Verhalten der komplexen Exponentialfunktion zu be-kommen, verwenden wir (3.11)

ez = ex+iy = exeiy = ex(cos y + i sin y).

Fur den Absolutbetrag von ez ist daher nur der Realteil verantwortlich, der Imaginarteil bestimmtdie Richtung von ez. Die Exponentialfunktion ist damit 2π-periodisch in y-Richtung. Aus der letztenGleichung erhalten wir eine elegante Version der Polardarstellung komplexer Zahlen

z = reiφ, mit r = |z| und φ = arg z.

arg ist die in Abschnitt 2.3 definierte Argumentfunktion. arg z ist der im Gegenuhrzeigersinn ge-messene Winkel zwischen der positiven x-Achse und dem Ortsvektor z. Komplexe Multiplikationund Division lassen sich hiermit schon veranschaulichen,

zw = rsei(φ+ψ),z

w=r

sei(φ−ψ).

Fur reelle φ notieren wir noch einige Folgerungen,

|eiφ| = 1, eiφ = ei(φ+2kπ) fur k ∈ Z, eiφ = e−iφ = (eiφ)−1.

Die meisten Rechenregeln fur die reellen trigonometrischen Funktionen lassen sich unter Verwen-dung der komplexen Beziehungen (3.12),(3.13) sehr viel einfacher herleiten. Die Additionstheoremefur Cosinus und Sinus erhalt man aus

cos(x+ y) + i sin(x+ y) = ei(x+y) = eixeiy = cosx cos y − sinx sin y + i(sinx sin y − cosx cos y),

indem man hier Real- und Imaginarteile betrachtet.

30

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3.7 Der Logarithmus Der (komplexe) Logarithmus soll die Losungen x + iy der Gleichungex+iy = w lierfern. Fur w 6= 0 muss dann

ex = |w|, eiy =w

|w| .

gelten. Die erste Gleichung wird eindeutig gelost durch x = ln |z|, wobei ln den reellen Logarithmusbezeichnet. Die rechte Seite der zweiten Gleichung ist eine komplexe Zahl vom Betrag 1. DieseGleichung wird gelost durch das Argument von w/|w| plus einem ganzzahligen Vielfachen von 2π.Der Logarithmus ist daher mengenwertig,

logw = {ln |w|+ i(argw + 2kπ) : k ∈ Z}, w 6= 0.

Wir modifizieren die Argumentfunktion zu Argw ∈ (−π, π] und definieren den Hauptzweig desLogarithmus durch

Logw = ln |w|+ iArgw, w 6= 0.

Log ist damit die eindeutige Umkehrfunktion der Exponentialfunktion eingeschrankt auf den Be-reich −π < Im z ≤ π. Das heißt aber auch, dass Log (exp z) = z nur in diesem Bereich gilt. Als Preisfur die Eindeutigkeit mussen wir die Unstetigkeit entlang Rew ≤ 0 in Kauf nehmen. Schrankenwir Log auf das Gebiet −π < Argw < π ein, so konnen wir wegen exp′ z 6= 0 den Umkehrsatzanwenden. Log ist daher in diesem Gebiet stetig komplex differenzierbar mit

Log ′w =1

exp′(Logw)=

1

w.

Die reelle Formel ln(ab) = ln a+ ln b fur a, b > 0 gilt im Komplexen nicht:

Beispiel 3.21

Log (i) + Log (i− 1) = iπ

2+ ln

√2 +

3πi

4=

1

2ln 2 +

5πi

4,

aber

Log (i(i− 1)) = Log (−1− i) =1

2ln 2− 3πi

4.

Die aus dem Reellen bekannte Definition ab = exp(b log a) kann zwar ubernommen werden, istaber mit Vorsicht zu genießen:

Beispiel 3.22 Fur reelle Zahlen gilt (ab)c = abc. Dagegen

(e2πi)i = 1i = ei log 1 = 1, e(2πi)·i = e−2π.

Es ist in jedem Fall zu untersuchen, ob in der Definition ab = exp(b log a) Eindeutigkeit herrschtoder nicht. Ist a reell und positiv, so kann man hier ln a nehmen, was zur Eindeutigkeit von ab fuhrt.Andernfalls gibt es unendlich viele Werte von ab, die sich um die Faktoren e2πinb unterscheiden.Diese Faktoren sind genau dann 1, wenn b eine ganze Zahl m ist. In diesem Fall ist die Potenzeindeutig und gleich am. Ist b = p/q ∈ Q mit p, q teilerfremd, so besitzt ab genau q Werte, namlichq√ap, siehe Abschnitt 2.3.

31

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3.8 Mandelbrot- und Julia-Mengen In diesem Abschnitt betrachten wir die Iterationsvor-schrift in zn ∈ C

(3.14) zn+1 = z2n + c fur n ≥ 0, z0 = 0,

wobei c ∈ C vorgegeben ist. Offenbar ist die Folge (zn)n∈N durch diese Vorschrift eindeutig be-stimmt, es ist z1 = c, z2 = c2 + c, . . . Mit z = x + iy liest sich (3.14) in vektorieller Schreibweiseals (

xn+1

yn+1

)

=

(

x2n − y2n

2xnyn

)

+

(

cx

cy

)

.

Betrachten wir nun die allgemeinere Iterationsvorschrift zn+1 = f(zn) mit einer stetigen Funk-tion f : C → C. Wenn die Folge zn gegen ein z0 ∈ C konvergiert, so muss wegen der Stetigkeitvon f f(z0) = z0 gelten. Ein solches z0 heißt Fixpunkt von f . Ein Punkt z0 heißt k-periodischerPunkt, wenn f (k)(z0) = z0 gilt und die Punkte z0, f(z0), . . . , f

(k−1)(z0) paarweise verschieden sind.f (k) bezeichnet die k-fache Hintereinanderschaltung von f , beispielsweise f (2)(z) = f(f(z)). DieFixpunkte sind genau die 1-periodischen Punkte.

Fur das Langfristverhalten der Folge (zn) aus (3.14) ergeben sich folgende Moglichkeiten:

• Die Folge konvergiert gegen einen k-periodischen Punkt.

• Die Folge ist beschrankt, konvergiert aber nicht gegen einen k-periodischen Punkt. Dies kannman als chaotisches Verhalten der Folge ansehen.

• Die Folge divergiert bestimmt gegen unendlich.

-2.00 -1.75 -1.50 -1.25 -1.00 -0.75 -0.50 -0.25 0.00 0.25 0.50

-1.00

-0.75

-0.50

-0.25

0.00

0.25

0.50

0.75

1.00

1.25

12

3

Abbildung 1: Die Mandelbrotmenge

Denkbar ware außerdem, dass nur ein Teil der Folge unbeschrankt ist. Beispielsweise konntendie geraden Folgenglieder eine unbeschrankte Folge bilden und die ungeraden beschrankt bleiben.Wir werden gleich sehen, dass dies bei unserer Iterationsvorschrift nicht geschehen kann.

Die Mandelbrotmenge ist definiert durch

M = {c ∈ C : Die Folge (zn) in (3.14) ist beschrankt}.

Die Menge M ist in der numerisch erstellten Abbildung 1 schwarz eingezeichnet, sie wird aufgrundihres Aussehens auch

”Apfelmannchen“ genannt.

32

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Satz 3.23 (a) Fur die Punkte c mit |c| ≤ 1/4 sind die zugehorigen Folgen (zn) durch 1/2 be-schrankt, insbesondere gehoren diese Punkte zu M . Alle reellen c mit c > 1/4 liegen bereits außer-halb von M .

(b) Fur die Punkte c mit |c| > 2 divergiert die zugehorige Folge bestimmt gegen unendlich,insbesondere liegen diese c außerhalb von M .

(c) Gilt fur ein Folgenglied |zn| > 2, so divergiert die Folge bestimmt gegen unendlich, insbe-sondere gehort das zugehorige c nicht zu M.

Beweis: (a) Wir zeigen durch vollstandige Induktion, dass fur die angegebenen Werte von c gilt|zn| ≤ 1/2. Der Induktionsanfang ist |z0| = 0 ≤ 1/2. Sei die Induktionsvoraussetzung |zn| ≤ 1/2erfullt. Dann

|zn+1| = |(zn)2 + c| ≤ |zn|2 + |c|IV≤∣∣∣1

2

∣∣∣

2+

1

4=

1

2.

Dass reelle c mit c > 1/4 nicht zu M gehoren, kann der Leser als kleine Ubung beweisen.

(b) Sei |c| = 2 + ε mit ε > 0. Durch vollstandige Induktion zeigen wir

|zn| ≥ (1 + (n− 1)ε) |c|, n ≥ 2.

Mit Satz 2.1 (g) folgt der Induktionsanfang

|z2| = |c2 + c| ≥ |c| (|c| − 1) = (1 + ε)|c|.

Sei die Behauptung fur n ≥ 2 erfullt. Dann

|zn+1| = |z2n + c| ≥ |zn|2 − |c|IV≥ (1 + (n− 1)ε)2|c|2 − |c| =

((1 + (n− 1)ε)2|c| − 1

)|c|.

Fur den Ausdruck in der Klammer folgt

(1 + (n− 1)ε)2|c| − 1 = (1 + (n− 1)ε)2(2 + ε)− 1

≥ 1 + 4(n− 1)ε ≥ 1 + nε.

(c) Wegen (b) konnen wir |c| ≤ 2 annehmen. Sei |zn| > 2, also |zn| = 2 + ε mit ε > 0. Durchvollstandige Induktion uber k zeigen wir

|zn+k| ≥ 2 + 4kε, k ≥ 0.

Fur k = 0 ist das richtig. Unter der Voraussetzung, dass diese Abschatzung fur k richtig ist, folgt

|zn+k+1| ≥ |zn+k|2 − |c|IV≥ (2 + 4kε)2 − |c|

≥ 4 + 4 · 4kε− |c| ≥ 2 + 4k+1ε.

Die”Antenne“, die das Apfelmannchen am Kopf tragt, reicht bis c = −2. In diesem Punkt gilt

z0 = 0, z1 = −2 und alle weiteren zn sind 2. Man kann leicht zeigen, dass das ganze reelle Intervall[−2, 1/4] Teil von M ist. Gleichzeitig zeigt dieses Intervall, dass die angegebenen Schranken in (a)und (b) nicht zu verbessern sind.

Teil (c) des Satzes schließt aus, dass nur ein Teil der Folge unbeschrankt ist und ein andererTeil beschrankt bleibt. Fur die numerische Bestimmung der Mandelbrotmenge ist er fundamental,weil man damit sicher ausschließen kann, wann ein Punkt nicht zur Menge gehort. Die Umkehrungist naturlich problematisch: Wenn eine Folge nach hunderten Iterationen die

”Schallmauer“ 2 nicht

33

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uberschritten hat, bleibt nichts anderes, als das zugehorige c der Menge M zuzuschlagen. Da manin der Praxis bei irgendeinem n abbrechen muss, sieht die Mandelbrotmenge fur jedes gewahlte nein wenig anders aus.

Man kann zeigen, dass im Inneren der”dicken“ Teile des Apfelmannchens die Folgenglieder

gegen einen k-periodischen Punkt konvergieren. Dieses k bleibt dort auch konstant und ist in Ab-bildung 1 rechts zu sehen. Man vermutet, dass im Inneren des Apfelmannchens immer Konvergenzgegen einen periodischen Punkt vorliegt, bisher konnte das allerdings nicht bewiesen werden. AmRande des Apfelmannchens liegt bis auf abzahlbar viele c chaotisches Verhalten vor.

Man bezeichnet das Apfelmannchen als Fraktal, weil es selbstahnlich ist. Auf Wikipedia ist einFilm zu sehen, in der ein Zoom so eingestellt ist, dass nach sehr starker Vergroßerung wieder einApfelmannchen erscheint. Die nach Vergroßerung entstehenden Strukturen sind zwar ahnlich, abernicht gleich.

Mit der Iteration

(3.15) zn+1 = z2n + c, c ∈ C,

ist die historisch gesehen altere Frage verbunden, fur welche Startwerte z0 die Folge (zn) in Cbeschrankt bleibt. Da diese Startwerte auch von c ∈ C abhangen, fassen wir sie zur Menge

Pc = {z0 ∈ C : z0 → z20 + c→ (z20 + c)2 + c→ · · · bleibt beschrankt}

zusammen. Der Rand Jc von Pc wird nach ihrem Entdecker Gaston Maurice Julia (1893-1978)Juliamenge genannt. Vor allem in numerisch orientierten Arbeiten wird Pc an Stelle von Jc alsJuliamenge bezeichnet, weil Pc sich in manchen Fallen gut approximieren lasst. Wir bezeichnen Pcals ausgefullte Juliamenge.

Starten wir die Julia-Iteration (3.15) mit einem genugend großen Wert, so wird der Summandz20 den Summanden c dominieren und die Folge wird zugig bestimmt gegen unendlich divergieren.Wir sagen daher, dass der Punkt ∞ asymptotisch stabil ist und nennen die Menge der Starwerte,fur die bestimmte Divergenz gegen unendlich vorliegt, das Einzugsgebiet des Punktes ∞. Nachobiger Uberlegung enthalt das Einzugsgebiet die Menge der z0 mit |z0| > K fur genugend großesK. Damit ist auch gezeigt, dass die Juliamengen beschrankt sind. Wir unterscheiden zwei Falle:

1. Es gibt zusatzlich zum Punkt ∞ noch mindestens einen anderen asymptotisch stabilen peri-odischen Punkt. In diesem Fall trennt die Juliamenge die Einzugsgebiete der stabilen Punkte. Siesieht daher optisch wie eine Kurve aus und man kann zeigen, dass sie zusammenhangend ist. Fernerkann man beweisen, dass dieser Fall genau dann vorliegt, wenn c in der Mandelbrotmenge M liegt.

2. Der Punkt ∞ ist einziger asymptotisch stabiler Punkt. In diesem Fall besteht die Juliamengeaus der Menge der periodischen Punkte der Iteration (3.15) sowie der Punkte mit chaotischemVerhalten, eine Menge, die eine ahnlich staubformige Struktur wie die aus dem Reellen bekannteCantor-Menge aufweist.

Beispiel 3.24 Fur c = 0 gilt z1 = z20 , z2 = z21 = z40 , also zk = z2k

0 . Daher

zk → 0 ⇔ |z0| < 1, zk → ∞ ⇔ |z0| > 1.

Damit ist P0 = {z ∈ C : |z| ≤ 1} und J0 = {z ∈ C : |z| = 1}. Dies ist genau der oben dargelegteerste Fall einer zusammenhangenden Juliamenge: Je zwei Punkte von J0 lassen sich durch eineKurve verbinden, die innerhalb der Menge liegt. Die Juliamenge trennt die Einzugsgebiete derbeiden asymptotisch stabilen Punkte 0 und ∞, was zur Folge hat, dass f(z) = z2 die Menge J0 aufsich selber abbildet. Die Punkte zk mit |zk| = 1 und arg zk = 2π/k (fur das Argument arg sieheSeite 16) sind periodische Punkte von f oder werden irgendwann auf einen periodischen Punktabgebildet, denn beim komplexen Quadrieren verdoppelt sich der Winkel. Fur k = 2 ist z2 = −1und z2,n = 1 fur alle n ∈ N. Fur k = 3 ergibt sich fur die Winkel 1

3 → 23 → 4

3 ≡ 1/3, der Punkt z3ist also 2-periodisch.

34

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Wir hatten gesagt, dass c ∈ M oder c /∈ M daruber entscheidet, ob die Julia-Menge zu-sammenhangend ist oder eine staubformige Struktur besitzt. Somit andert sich die Gestalt derJulia-Mengen abrupt, wenn man sich in Randnahe der Mandelbrotmenge befindet. Die Julia-Menge fur c = −0, 742 + 0, 1i ∈ M in Abbildung 2 oben ist zusammenhangend, die Menge furc = −0, 743 + 0, 1i /∈ M in Abbildung 2 unten ist dagegen staubformig. Fur ihre Darstellung wur-den 3000 Iterationen in zn+1 = z2n + c durchgefuhrt. Startwerte mit |z3000| ≤ 50 werden schwarzeingezeichnet, die Grautone geben an, wie viele Iterationen notig sind, um die Grenze 50 zu uber-schreiten. Wir bekommen dadurch einen Eindruck, wo die Julia-Menge sitzt, aber keine echteDarstellung von ihr. Selbst wenn man zufallig mit dem Startwert auf einen Punkt der Julia-Mengetrifft, kommt man durch Rundungsfehler in den bestimmt divergenten Bereich. Dadurch wird dieVisualisierung immer heller, je langer man iteriert.

Abbildung 2: Ausgefullte Julia-Mengen fur c = −0, 742+0, 1i (oben) und c = −0, 743+0, 1i (unten)

35

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4 Komplexe Integration

4.1 Kurven in C sind nichts anderes als Kurven des R2. Da das spater zu definierende komple-xe Kurvenintegral dem reellen Wegintegral entspricht, ist es ebenfalls orientiert und man ist uberein-gekommen, Kurven in C als orientiert anzusehen. Die Parametrisierung der Kurve z : [a, b] → C

hat einen Anfangspunkt z(a) und einen Endpunkt z(b), womit gleichzeitig die Orientierung derKurve gegeben ist. Der Wertebereich z([a, b]) ist dann die Kurve und wird in der Regel mit Cbezeichnet.

Eine einfach geschlossene Jordan-Kurve heißt positiv orientiert, wenn das eingeschlossene Gebietbeim Durchlaufen der Kurve immer links liegt. Anschaulich verlauft die Kurve dann im Gegenuhr-zeigersinn. Die entgegengesetzt verlaufende einfach geschlossene Kurve heißt negativ orientiert.

Fur eine geschlossene Kurve C konnen wir fur jedes z ∈ C \ C die Windungszahl n(z, C) ∈ Zdefinieren, die angibt, wie oft z von der Kurve umlaufen wird. Die Windungszahl ist positiv, wennz positiv umlaufen wird, sonst ist sie negativ. Wenn die zu C entgegengesetzt orientierte Kurve mit−C bezeichnet wird, so gilt n(z, C) = −n(z,−C) fur alle z ∈ C \ C.

Wir betrachten nur stuckweise glatte Kurven, das sind solche, fur die z(t) stetig und stuckweisedifferenzierbar ist. z′(t) = x′(t) + iy′(t), sofern es existiert und nicht verschwindet, zeigt dann inRichtung der Tangenten.

Beispiele 4.1 (i) z(t) = (1−t)z1+tz2, t ∈ [0, 1], parametrisiert die Strecke, die z1 und z2 verbindet.Die Kurve ist einfach.

(ii) z(t) = reit, t ∈ [0, 2π], parametrisiert den Kreis mit Radius r. Die Kurve ist im Gegenuhr-zeigersinn, also positiv orientiert. Sie ist einfach geschlossen und

n(z, C) =

{

1 fur |z| < r

0 fur |z| > r.

Fur die Tangentenrichtung erhalten wir

z′(t) = ireit = r

(− sin t

cos t

)

.

Notation: Mit Kr(z0) bezeichnen wir den Kreis mit Radius r und Mittelpunkt z0, der z0 positivumlauft. Der zugehorige Weg ist daher

z(t) = reit + z0, t ∈ [0, 2π].

4.2 Das komplexe Kurvenintegral und der Cauchysche Integralsatz Vorausgeschicktsei die Bemerkung, dass fur eine komplexwertige Funktion f(t) = u(t)+ iv(t), t ∈ [a, b], das Integraldurch die Setzung

∫ b

af(t) dt =

∫ b

au(t) dt+ i

∫ b

av(t) dt

auf zwei normale reelle Integrale zuruckgefuhrt wird. Dieses Integral ist naturlich komplex linear,es gilt

∫ b

a(αf + βg) dt = α

∫ b

af dt+ β

∫ b

ag dt

fur α, β ∈ C. Ferner ist es orientiert∫ ba = −

∫ ab und es gilt

∣∣∣

∫ b

af(t) dt

∣∣∣ ≤

∫ b

a|f(t)| dt,

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sofern a ≤ b. Denn fur jedes θ ∈ R gilt

Re e−iθ∫ b

af(t) dt =

∫ b

aRe e−iθf(t) dt ≤

∫ b

a|f(t)| dt.

Fur θ = arg∫ ba f(t) dt steht auf der linken Seite der Betrag des Integrals.

Sei D ⊂ C ein Gebiet, C ⊂ D eine stuckweise glatte Kurve in D, die durch z : [a, b] → C

parametrisiert werde und sei f : D → C eine stetige Funktion. Dann ist das Kurvenintegral von fuber C definiert durch

Cf(z)dz =

∫ b

af(z(t))z′(t) dt.

Wenn z′(t) Sprungstellen in a = t0 < t1 < · · · < tm = b besitzt, so ist die rechte Seite derDefinition zu interpretieren als

∫ b

af(z(t))z′(t) dt =

m∑

i=1

∫ ti

ti−1

f(z(t))z′(t) dt.

Wir werden spater das Kurvenintegral reell schreiben und feststellen, dass es sich dabei um einspezielles reelles Wegintegral handelt. Schon jetzt ist klar, dass das Kurvenintegral additiv uberTeilstucke der Kurve ist, also wenn C = C1 + C2, so folgt

C =∫

C1+∫

C2. Weiter gilt wie beim

reellen Wegintegral∫

C = −∫

−C .

In parametrischer Form ist das Kurvenintegral lediglich ein komplexwertiges Integral uber einIntervall. Wir erhalten daher

∣∣∣∣

Cf(z)dz

∣∣∣∣=

∣∣∣∣

∫ b

af(z(t))z′(t) dt

∣∣∣∣≤∫ b

a|f(z(t))|

∣∣z′(t)

∣∣ dt.

Nun ist die rechte Seite ein gewohnliches reelles Kurvenintegral, denn

|z′(t)| dt =√

|x′(t)|2 + |y′(t)|2 dt = ds.

Daher gilt

(4.1)

∣∣∣∣

Cf(z) dz

∣∣∣∣≤∫

C|f(x, y)| ds =:

C|f(z)| |dz|,

wobei die rechte Seite als reelles Kurvenintegral zu verstehen ist.

Beispiele 4.2 (i) Dieses Beispiel ist fur die komplexe Analysis von großer Bedeutung. Die Funk-tionen zn, n ∈ Z, werden uber dem Kreis Kr(0) integriert:

Kr(0)zn dz =

∫ 2π

0(reit)n ireit dt = i rn+1

∫ 2π

0ei(n+1)t dt

= i rn+1

∫ 2π

0{cos(n+ 1)t+ i sin(n+ 1)t} dt =

{

0 fur n 6= −1

2πi fur n = −1.

(ii) Wir wollen f(z) = z uber Kurven integrieren, die 0 mit 1 + i verbinden. Wir wahlen dazuzwei Moglichkeiten:

a) z(t) = (1 + i)t, t ∈ [0, 1], ergibt

∫ 1

0(1− i)t (1 + i) dt = 2 · 1

2= 1.

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b) Nun verbinden wir die beiden Punkte durch die Kurvenstucke C1 : z(t) = t, t ∈ [0, 1], undC2 : z(t) = 1 + it, t ∈ [0, 1]. C1 + C2 ist stuckweise glatt und wir erhalten:

∫ 1

0t dt+

∫ 1

0(1− it) i dt =

1

2+ i+

1

2= 1 + i.

Das Kurvenintegral ist also nicht wegunabhangig.

Mit f(z) = u(x, y) + iv(x, y), z′(t) = x′(t) + iy′(t) und dem reellen vektoriellen Kurvenelementds¯= x′(t)dt+ y′(t)dt erhalten wir

Cf(z)dz =

∫ b

af(z(t))z′(t) dt

=

∫ b

a

{

{u(x(t), y(t))x′(t)− v(x(t), y(t)) y′(t)}+

+ i {v(x(t), y(t))x′(t) + u(x(t), y(t)) y′(t)}}

dt

=

∫ b

a

(u−v

)

· ds¯+ i

∫ b

a

(vu

)

· ds¯,(4.2)

d.h. Real- und Imaginarteil des komplexen Kurvenintegrals sind reelle Wegintegrale. Damit besitztdas komplexe Kurvenintegral alle Eigenschaften des reellen Wegintegrals. Insbesondere ist es von derParametrisierung z(t) unabhangig, sofern die Orientierung nicht wechselt. Fur stetig differenzierbareu, v sind Real- und Imaginarteil des komplexen Kurvenintegrals nach Satz 1.12 wegunabhangig aufeinfach zusammenhangendem Gebiet, wenn

∂yu = −∂xv, ∂xu = ∂yv,

die Funktion f also die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen erfullt.

Satz 4.3 (Cauchyscher Integralsatz) Sei f : D → C holomorph und D ein einfach zusam-menhangendes Gebiet. Dann ist das komplexe Kurvenintegral wegunabhangig, insbesondere ver-schwindet es uber geschlossene Kurven.

Beweis: Ist f ′ stetig, so folgt die Behauptung aus Satz 1.12, denn eine holomorphe Funktionerfullt die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen. Man kann mit etwas zusatzlicher reellerAnalysis den Satz auch fur holomorphes f und sogar fur nichtdifferenzierbares f zeigen (sieheAnhang A).

Es gibt auch einen muhsamen funktionentheoretischen Beweis, der sich uber mehrere Seitenerstreckt und in jedem Buch uber Funktionentheorie vorgefuhrt wird.

Ob man den Integralsatz fur stetig komplex differenzierbares oder nur holomorphes f beweist,macht fur die folgende Theorie keinen Unterschied.

Beispiel 4.2(i) zeigt, dass D tatsachlich einfach zusammenhangend sein muss, damit der Inte-gralsatz richtig ist, wahrend in Beispiel 4.2(ii) der Integrand nicht holomorph war.

Mit der reellen Schreibweise (4.2) lasst sich eine Stammfunktion konstruieren. Fur die reellen

Stammfunktionen ϕ von

(u−v

)

und ψ von

(vu

)

gilt dann

(4.3) ϕx = u, ϕy = −v, ψx = v, ψy = u,

also auchϕx = ψy, ϕy = −ψx.

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Damit ist die Funktion F (z) = ϕ(x, y)+iψ(x, y) holomorph mit F ′(z) = f(z) und fur das komplexeKurvenintegral gilt (vgl. (4.2))

Cf(z)dz =

∫ b

a

{d

dtϕ (x(t), y(t)) + i

d

dtψ (x(t), y(t))

}

dt

= ϕ (x(b), y(b)) + i ψ (x(b), y(b))− ϕ (x(a), y(a))− i ψ (x(a), y(a))

= F (z(b))− F (z(a)) .

Wir konnen in dieser Gleichung die (reellen) Zwischenschritte uberlesen und haben dann bewiesen:

Satz 4.4 Sei D ⊂ C ein einfach zusammenhangendes Gebiet und f : D → C sei stetig komplexdifferenzierbar. Dann gibt es eine bis auf eine Konstante eindeutige Funktion F auf D, die auch(komplexe) Stammfunktion genannt wird, mit F ′(z) = f(z). Fur beliebiges z0 ∈ D lasst sich eineStammfunktion mit der Eigenschaft F (z0) = 0 bestimmen durch

F (z) =

C(z)f(ξ) dξ,

wobei C(z) die Punkte z0 und z verbindet. Weiter gilt fur jede Kurve mit Anfangspunkt za undEndpunkt zb ∫

Cf(z) dz = F (zb)− F (za).

Fur die Rechentechnik gibt es hier kaum Probleme, weil die elementaren Funktionen die gleichenStammfunktionen besitzen wie im Reellen.

Beispiel 4.5 Es soll

C

dz

z2langs des Polygonzugs von 1 uber 1 + i und 1 − i nach −1 berechnet

werden. Als einfach zusammenhangendes Gebiet D wahlen wir eine Umgebung dieses Streckenzugs.Dann ist z−2 holomorph in D mit Stammfunktion −z−1 und

C

dz

z2= −z−1

∣∣∣

−1

1= 2.

Der Integralsatz lasst sich auch zur Berechnung des Kurvenintegralsholomorpher Funktionen auf mehrfach zusammenhangenden Gebietenverwenden. Wir erinnern an

C = −∫

−C . Wie die nebenstehende Zeich-nung zeigt, schließt C1 − γ −C2 + γ einen einfach zusammenhangendenBereich ein, sodass das Kurvenintegral uber eine einfach geschlossene,

C1

C2

γ

positiv orientierte Kurve, die genau ein Loch umschließt, konstant ist, namlich∫

C1=∫

C2.

Bei mehreren Lochern und komplizierteren Kurven hangt bei holomorphen Integranden der Wertdes Kurvenintegrals nur von den Lochern ab, die umschlossen werden, und von der Windungszahlder Punkte in den Lochern. Man bestimmt ein kompliziertes Kurvenintegral am besten, indem manzuerst eine einfach geschlossene Kurve von einfacher Gestalt hernimmt, die nur ein Loch umschließt,und deren Kurvenintegral berechnet. Dieser Gedanke wird spater im Residuenkalkul noch vertieft.

Beispiel 4.6 In der nebenstehenden Zeichnung soll das Kurvenintegral uber C einer holomorphen

Funktion bestimmt werden. Man wahlt sich geeignete ein-fach geschlossene, positiv orientierte Kurven C1, C2, diejeweils nur ein Loch umschließen und bestimmt Ii =∫

Cif(z) dz, i = 1, 2. Fur die Windungszahlen der beiden

Locher gilt n(C, 1) = 1, n(C, 2) = −2, also

Cf(z) dz = I1 − 2I2.

C1C2

C

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4.3 Die Cauchysche Integralformel

Satz 4.7 (Cauchysche Integralformel) Sei f : D → C holomorph im einfach zusam-menhangenden Gebiet D ⊂ C. C ⊂ D sei eine einfach geschlossene, positiv orientierte Kurve.Dann gilt fur alle z im von der Kurve eingeschlossenen Bereich

f(z) =1

2πi

C

f(ξ)

ξ − zdξ.

Beweis:

1

2πi

C

f(ξ)

ξ − zdξ =

1

2πi

C

f(z)

ξ − zdξ +

1

2πi

C

f(ξ)− f(z)

ξ − zdξ = I1 + I2.

Zur Bestimmung von I1 brauchen wir nur

C

ξ − zzu berechnen, das mit

C′

ξubereinstimmen

muss. Aus Beispiel 4.2(i) folgt daherI1 = f(z).

Da der Integrand von I2 holomorph fur ξ 6= z ist, ist I2 nach dem vorigen Abschnitt konstantauf allen einfach geschlossenen Kurven C mit n(z, C) = 1. In I2 konnen wir daher an Stelle von Cauch uber einen kleinen Kreis Kr(z) integrieren. Wir wahlen r so klein, dass

0 < |f(ξ)− f(z)| < ε ∀ξ ∈ Kr(z).

Mit (4.1) folgt dann

|I2| =∣∣∣∣

1

2πi

∫ 2π

0

f(ξ(t))− f(z)

ξ(t)− zi reit dt

∣∣∣∣≤ 1

∫ 2π

0

ε

rr dt → 0.

Eine holomorphe Funktion ist demnach im Inneren einer geschlossenen Kurve durch die Werte aufder Kurve eindeutig bestimmt. Wenn f1, f2 holomorph und f1 = f2 auf C, dann gilt auch f1 = f2im eingeschlossenen Bereich.

Satz 4.8 Eine in einem Gebiet D holomorphe Funktion f ist unendlich oft komplex differenzierbar.Schließt eine einfach geschlossene Kurve einen einfach zusammenhangenden Bereich von D ein,so berechnen sich die Ableitungen dort mit

f (n)(z) =n !

2πi

C

f(ξ)

(ξ − z)n+1dξ, n ∈ N.

Beweis: Dies zeigen wir durch vollstandige Induktion uber n, wir beginnen mit n = 1. Aus derCauchyschen Integralformel erhalten wir fur h ∈ C genugend klein

1

h{f(z + h)− f(z)} =

1

2πih

C

{f(ξ)

ξ − z − h− f(ξ)

ξ − z

}

dξ =1

2πi

C

f(ξ) dξ

(ξ − z − h)(ξ − z).

Fur kleines h ist der Integrand eine stetige Funktion von h, also auch das Integral. Grenzubergangh→ 0 liefert die Behauptung fur n = 1.

Im Induktionsschritt verwenden wir die behauptete Formel fur n− 1 und erhalten

(4.4)1

h

{

f (n−1)(z + h)− f (n−1)(z)}

=(n− 1) !

2πih

C

{f(ξ)

(ξ − z − h)n− f(ξ)

(ξ − z)n

}

dξ.

Fur den Integranden verwenden wir

1

an− 1

bn=bn − an

anbn=b− a

anbn{bn−1 + abn−2 + . . .+ an−1}

40

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und daher

1

h

{

f (n−1)(z + h)− f (n−1)(z)}

=(n− 1) !

2πi

C

f(ξ)

anbn{bn−1 + abn−2 + . . .+ an−1} dξ

mit a = (ξ−z−h), b = (ξ−z). Fur genugend kleines h hangt der Integrand stetig von h ab. Wegenlimh→0 a = b erhalten wir fur den Integranden

f(ξ)

anbn{bn−1 + abn−2 + . . .+ an−1} → f(ξ)n

(ξ − z)n+1.

Zusammen mit (4.4) ist der Satz bewiesen.

Korollar 4.9 (Satz von Morera) Sei f : D → C stetig auf dem Gebiet D ⊂ C und das komplexeKurvenintegral sei auf allen einfach zusammenhangenden Teilgebieten von D wegunabhangig. Dannist f holomorph in D.

Beweis: Unter den angegebenen Voraussetzungen existiert auf einfach zusammenhangendenTeilgebieten eine komplexe Stammfunktion (siehe (4.3)), die stetig komplex differenzierbar ist.Nach dem letzten Satz ist auch ihre Ableitung, namlich f , unendlich oft differenzierbar. Da ei-ne Stammfunktion auf jedem einfach zusammenhangenden Teilgebiet existiert, ist f auf ganz Dholomorph.

Mit dem letzten Beweis haben wir auch gezeigt:

Korollar 4.10 Jede auf einem Gebiet D holomorphe Funktion besitzt eine lokale Stammfunktion.Ist das Gebiet einfach zusammenhangend, so existiert eine globale Stammfunktion.

Korollar 4.11 Jede ganze Funktion f , die keine Nullstellen besitzt, ist von der Form f(z) =exp(h(z)) mit einer ganzen Funktion h.

Beweis: Die ganze Funktion f ′/f besitzt nach dem letzten Korollar eine Stammfunktion h, diedurch exp(h(0)) = f(0) normiert wird. Dann folgt

(f exp(−h))′ = (f ′ − fh′) exp(−h) =(f ′ − f

f ′

f

)exp(−h) = 0.

Damit ist f = const · exp(h) und wegen der Normierung von h ist const = 1.

Korollar 4.12 (Satz von Liouville) Eine beschrankte ganze Funktion ist konstant.

Beweis: Sei |f(z)| ≤M in C. Es gilt fur beliebige R > 0

|f ′(z)| =∣∣∣∣∣

1

2πi

KR(z)

f(ξ)

(ξ − z)2dξ

∣∣∣∣∣≤ 1

2πmax

|ξ−z|=R

∣∣∣∣

f(ξ)

(ξ − z)2

∣∣∣∣2πR ≤ M

R2R =

M

R

und daher f ′(z) = 0. Damit ist f auf C konstant.

2. Beweis des Fundamentalsatzes der Algebra: Angenommen, das Polynom p(z) = zn+an−1zn−1+

. . . + a0, n ≥ 1, hatte keine Nullstellen in C. Aus dem Beweis von Satz 3.13 entnehmen wir dieAbschatzung |p(z)| ≥ 1 fur |z| > R und genugend großem R. In der kompakten Menge |z| ≤ Rnimmt die stetige Funktion |p(z)| das Minimum an. Nach der Widerspruchsannahme gilt daher|p(z)| ≥ c > 0. Damit ist die Funktion f(z) = 1/p(z) in ganz C holomorph und beschrankt. Nachdem Satz von Liouville ist f und daher auch p konstant, was einen Widerspruch ergibt.

Beispiel 4.13 Man kann den letzten Satz auch fur die Berechnung von Kurvenintegralen verwen-den: ∫

K1(0)

sin z

z2dz = 2πi

d

dzsin z

∣∣z=0

= 2πi cos 0 = 2πi.

41

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4.4 Harmonische Funktionen und Maximumprinzip Wir hatten eine reellwertige Funk-tion u ∈ C2(D) harmonisch genannt, wenn ∆u = ∂2xxu + ∂2yyu = 0 in D erfullt ist. In Satz 3.7(b)hatten wir gesehen, dass jede harmonische Funktion Realteil einer holomorphen Funktion ist. AusSatz 4.8 folgt daher, dass jede harmonische Funktion unendlich oft differenzierbar ist.

Wenn in der Cauchyschen Integralformel C = Kr(z) gewahlt wird, so erhalten wir

(4.5) f(z) =1

2πi

Kr(z)

f(ξ)

ξ − zdξ =

1

2πi

∫ 2π

0

f(z + reit)

reiti reit dt =

1

∫ 2π

0f(z + reit) dt.

Dies ist die Mittelwerteigenschaft holomorpher Funktionen: Der Funktionswert einer holomorphenFunktion stimmt mit ihrem Mittelwert uber einem beliebigen Kreis uberein. Betrachten wir hierden Realteil, gilt die Mittelwerteigenschaft auch fur jede harmonische Funktion.

Satz 4.14 (Maximumprinzip fur harmonische Funktionen) Ist das reellwertige u ∈ C2(D)harmonisch im Gebiet D ⊂ C, so besitzt es kein striktes relatives Extremum in D.

Beweis: Angenommen, die harmonische Funktion besitzt ein striktes relatives Maximum inz0 ∈ D. Dann gibt es ein Kr(z0) ⊂ D, r > 0, mit f(z0) > f(z) fur alle z ∈ Kr(z0), was man leichtindirekt beweist. Dies widerspricht aber (4.5).

42

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5 Reihenentwicklungen und der Residuensatz

5.1 Potenzreihen und Taylorreihen Fur a ∈ C heißt

f(z) =

∞∑

n=0

an(z − z0)n, an ∈ C,

Potenzreihe mit Entwicklungspunkt a. Satz 3.19 gilt naturlich sinngemaß. Insbesondere ist die Rei-he auf |z − a| < R konvergent und auf jeder kompakten Teilmenge des Konvergenzbereichs ist dieKonvergenz gleichmaßig. Die Holomorphie der Grenzfunktion lasst sich wie in der reellen Analysiszeigen, sie folgt nun auch direkt aus dem Satz von Morera 4.9. Denn das Kurvenintegral der Par-tialsummen ist wegunabhangig und diese Eigenschaft bleibt wegen der gleichmaßigen Konvergenzin |z − a| ≤ r < R fur die Grenzfunktion erhalten. Damit ist die Grenzfunktion in |z − a| ≤ r < Rstetig und das Kurvenintegral wegunabhangig.

Satz 5.1 (Entwicklungssatz) f sei auf dem Gebiet D ⊂ C holomorph und z0 ∈ D. Dann gilt

f(z) =∞∑

n=0

1

n !f (n)(z0) (z − z0)

n.

Die Reihe konvergiert mindestens in {|z−z0| < r}, wobei r der großte Kreisradius ist mit {|z−z0| <r} ⊂ D.

Beweis: Wie im Reellen gilt fur w ∈ C1

1− w=

∞∑

n=0

wn fur |w| < 1.

Sei z ∈ G mit |z − z0| ≤ ρ < ρ1 < r und |ξ − z0| = ρ1. Danngilt

Kρ1( )z0

zz0

1

ξ − z=

1

ξ − z0· 1

1− z−z0ξ−z0

=∞∑

n=0

(z − z0)n

(ξ − z0)n+1

(

w =z − z0ξ − z0

)

,

also auchf(ξ)

ξ − z=

∞∑

n=0

f(ξ)

(ξ − z0)n+1(z − z0)

n.

Da die Reihe gleichmaßig konvergiert, kann sie gliedweise integriert werden,

1

2πi

Kρ1 (z0)

f(ξ)

ξ − zdξ =

∞∑

n=0

1

2πi

Kρ1 (z0)

f(ξ)

(ξ − z0)n+1(z − z0)

n dξ.

Nach Satz 4.7 stimmt die linke Seite mit f(z) und nach Satz 4.8 die rechte Seite mit∑∞

n=01n !f

(n)(z0) (z − z0)n uberein.

Beispiele 5.2 (i) Auf D = C \ {0} ist f(z) = 1z definiert. Wegen f (k)(1) = (−1)kk ! erhalten wir

die Reihenentwicklung

1

z=

∞∑

k=0

(−1)k(z − 1)k.

Der Konvergenzradius dieser Reihe ist R = 1, was im Einklang mit dem letzten Satz steht.

(ii) Wir setzen Log z :=∫ z1

1z dz und verwenden die Reihenentwicklung aus (ii), die wegen Satz

3.10 fur |z − 1| < 1 gliedweise integriert werden darf:

Log z =

∫ z

1f(ξ) dξ =

∞∑

k=0

∫ z

1(−1)k(ξ − 1)k dξ =

∞∑

k=0

(−1)k

k + 1(z − 1)k+1.

43

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Auch hier ist wieder R = 1.

Haufig substituiert man in der letzten Reihe z → 1− z und erhalt die Darstellung

(5.1) Log (1− z) = −∞∑

k=1

zk

k, |z| < 1.

5.2 Der Identitatssatz fur holomorphe Funktionen

Satz 5.3 (Identitatssatz) Seien f, g : D → C holomorph in einem Gebiet D und sei C ⊂ D eineKurve, die nicht zu einem Punkt degeneriert ist. Dann gilt

f = g auf C ⇔ f = g in D.

Beweis: Sei z0 ∈ C. Dann gilt f(z0) = g(z0) sowie

f ′(z0) = limz→z0, z∈C

f(z)− f(z0)

z − z0= lim

z→z0, z∈C

g(z)− g(z0)

z − z0= g′(z0).

Analog folgt f (n)(z0) = g(n)(z0), also

f(z) =∞∑

n=0

1

n !f (n)(z0) (z − z0)

n = g(z).

Damit ist f = g auf einer Kreisscheibe um z0. Wir konnennun um jeden Punkt auf dieser Kreisscheibe wieder f, g ineine Potenzreihe entwickeln und erhalten f = g im Konver-genzbereich der neuen Reihe. Dieses Verfahren kann iteriert

werden, sodass jeder Punkt in D nach endlich vielen Schritten erreicht werden kann (Kreisketten-verfahren).

Mit diesem Satz sind die komplexen Fortsetzungen der reellen Funktionen ex, sinx usw. eindeutigbestimmt, denn die reelle Achse ist eine nichtdegenerierte Kurve.

Satz und Beweis bleiben richtig, wenn man f(zk) = g(zk) fur paarweise verschiedene zk, k ∈ N,mit Haufungspunkt z0 ∈ D voraussetzt.

Satz 5.4 Sei f holomorph und nicht konstant im Gebiet D ⊂ C. Dann ist jede Nullstelle z0 vonf isoliert und es gibt ein n ∈ N mit

f(z) = (z − z0)ng(z)

mit g(z) holomorph und g(z0) 6= 0.

Dieses n heißt Ordnung der Nullstelle z0. Der Satz folgt direkt aus der Taylor-Entwicklung und demletzten Satz: Entweder verschwinden alle Koeffizienten der Taylor-Enticklung um die Nullstelle undf ist identisch Null in D, oder es gibt ein minimales n ∈ N mit an 6= 0. Im letzten Fall konnen wir(z− z0)

n in der Taylor-Entwicklung ausklammern und erhalten die angegebene Darstellung von f .

5.3 Das Maximumprinzip fur holomorphe Funktionen und das Lemma von Schwarz

Satz 5.5 (Maximumprinzip) Sei f : D → C holomorph im Gebiet D. Gilt fur ein z0 ∈ D

|f(z)| ≤ |f(z0| in einer Umgebung von z0,

so ist f in D konstant.

44

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Beweis: Wir konnen z0 = 0 ∈ D annehmen und gehen von der Darstellung f(z) =∑∞

n=0 anzn

in Br(0), r > 0, aus (siehe Satz 5.1). Ist hier a0 = 0, so ist |f(0)| = 0 und die Behauptung folgt ausder Isoliertheit der Nullstellen von f . Sei also a0 6= 0.

Dann giltf(z) = a0(1 + bmz

m + zmh(z))

mit einer holomorphen Funktion h mit h(0) = 0. Wir konnen 0 < r′ < r so klein wahlen, dass

|h(z)| ≤ 1

2|bm| fur alle z mit |z| < r′

gilt. Wir finden mit Hilfe der komplexen Wurzelfunktion eine komplexe Zahl α ∈ C mit |α| = 1und

bm = |bm|α−m.

Wir erhalten fur z = rα mit Hilfe der Dreiecksungleichung |a+ b| ≥ |a| − |b| die Abschatzung

|1 + bmzm + zmh(z)| = |1 + |bm|α−mzm + zmh(z)| ≥ 1 + |bm|rm − |z|m|h(z)|

≥ 1 + |bm|rm − rm1

2|bm| = 1 +

1

2|bm|rm,

die im Widerspruch zur Voraussetzung |f(z)| ≤ |f(0)| steht.3. Beweis des Fundamentalsatzes der Algebra: Angenommen, p(z) besaße keine Nullstelle in C.Dann ware f(z) = 1

p(z) holomorph in C. Sei BR = {z : |z| ≤ R} die abgeschlossene Kreisscheibe.

Nach dem letzten Satz ist |f(z)| maximal fur z = zR mit |zR| = R. Dies ist ein Widerspruch zu|f(z)| → 0 fur |z| → ∞ !

Das Maximumrpinzip besagt, dass |f | einer nicht konstanten, holomorphen Funktion f in einemGebiet nicht maximal sein kann. Ist f holomorph in einem Gebiet D und ist K ⊂ D kompakt, sowird das Maximum von |f | auf dem Rand von K angenommen.

Das Maximumprinzip hat zahlreiche Anwendungen, hier ein Beispiel:

Satz 5.6 (Lemma von Schwarz) Sei f holomorph in D = B1(0). Ist |f(z)| ≤ 1 in D undf(0) = 0, so gilt |f(z)| ≤ |z| und |f ′(0)| ≤ 1. Gleichheit gilt hier nur fur f(z) = cz mit c ∈ C,|c| = 1.

Beweis: Wir wenden das Maximumprinzip an auf die Funktion

f1(z) =

f(z)

zfur z 6= 0

f ′(0) fur z = 0.

Taylor-Entwicklung zeigt, dass wegen f(0) = 0 auch f1 holomorph ist. Auf jedem Kreis Kr(0),r < 1, gilt |f1| ≤ 1/r und daher nach dem Maximumprinzip |f1| ≤ 1 in D. Also gilt |f(z)| ≤ |z|und damit auch |f ′(0)| = limz→0 |f1(z)| ≤ 1. |f(z)| = |z| gilt naturlich nur fur die angegebenen f .

Das Lemma von Schwarz lasst sich beliebig verallgemeinern und gibt fast immer scharfeAbschatzungen fur |f | und |f ′|. Als Beispiel betrachten wir den folgenden Fall: f sei holomorph aufBR(0) mit |f(z)| ≤M sowie

f(z0) = w0 mit |z0| < R und |w0| < M.

Sei ξ = Tz eine lineare Abbildung, die BR(0) in D abbildet mit Tz0 = 0. Ferner sei Sw eine lineareAbbildung mit Sw0 = 0, die |w| < M in |Sw| < 1 abbildet. Damit erfullt die Funktion Sf(T−1ξ)die Voraussetzungen des Lemmas von Schwarz. Damit gilt

|Sf(T−1ξ)| ≤ |ξ| ⇒ |Sf(z)| ≤ |Tz|.

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Wir erhalten daher ∣∣∣∣

M(f(z)− w0)

M2 − w0f(z)

∣∣∣∣≤∣∣∣∣

R(z − z0)

R2 − z0z

∣∣∣∣.

5.4 Laurentreihen Fur ak ∈ C, k ∈ Z, heißt

f(z) =∞∑

k=−∞

ak(z − z0)k,

Laurentreihe.

Satz 5.7 f(z) =∑∞

k=−∞ ak(z− z0)k ist konvergent im Inneren eines Ringgebietes R1 < |z− z0| <

R2 mitR1 = lim sup

k→−∞

k√

|ak|, R2 = 1/ lim supk→∞

k√

|ak|.

In diesem Ringgebiet ist f holomorph und darf gliedweise differenziert und integriert werden. Weiterist die Konvergenz auf kompakten Teilmengen des Ringgebietes gleichmaßig.

Beweis: Offenbar ist f konvergent, wenn die Teilreihen∑∞

k=0 ak(z−z0)k und∑−∞

k=−1 ak(z−z0)kkonvergent sind. Der Konvergenzradius der zweiten Reihe kann mit der Substitution w = (z−z0)−1

wie ublich berechnet werden.

Satz 5.8 (Entwicklungssatz fur Laurentreihen) Sei f(z) im Ringgebiet R1 < |z − z0| < R2

holomorph. Dann gilt

f(z) =∞∑

k=−∞

ak(z − z0)k,

wobei die ak eindeutig bestimmt sind.

Beweis: Sei z aus dem Ringgebiet und seien ρ1, ρ2 Zahlen mit

R1 < ρ1 < |z − z0| < ρ2 < R2.

Weiter setzen wir:

K1 : z(t) = ρ1eit + z0, 0 ≤ t ≤ 2π,

K2 : z(t) = ρ2eit + z0, 0 ≤ t ≤ 2π .

Wie die nebenstehende Zeichnung zeigt, folgt aus derCauchyschen Integralformel K1 K2

z

(5.2) f(z) =1

2πi

K2

f(ξ)

ξ − zdξ − 1

2πi

K1

f(ξ)

ξ − zdξ.

Ahnlich wie beim Entwicklungssatz 5.1 verwenden wir die Beziehungen,

ξ ∈ K1 :1

ξ − z=

∞∑

k=0

(z − z0)k

(ξ − z0)k+1fur |z − z0| < ρ2,

ξ ∈ K2 :1

ξ − z= −

∞∑

k=0

(ξ − z0)k

(z − z0)k+1fur |z − z0| > ρ1.

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Beide Reihen sind auf dem fur z angegebenen Bereich fur alle ξ ∈ Ki gleichmaßig konvergent, z.B.∣∣∣∣

z − z0ξ − z0

∣∣∣∣<ρ2ρ1

< 1.

Wir durfen daher gliedweise integrieren und erhalten mit (5.2)

f(z) =∞∑

k=0

1

2πi

K2

f(ξ)

(ξ − z0)k+1dξ (z − z0)

k +∞∑

k=0

1

2πi

K1

f(ξ)(ξ − z0)k dξ

1

(z − z0)k+1

und

(5.3) f(z) =

∞∑

k=−∞

ak(z − z0)k mit

ak =1

2πi

K2

f(ξ)

(ξ − z0)k+1dξ, k ∈ N0

a−k =1

2πi

K1

f(ξ)

(ξ − z0)−k+1dξ, k ∈ N0

Wir zeigen nun die Eindeutigkeit der Laurententwicklung. Angenommen, die Funktion f ware vonder Form

f(z) =∞∑

k=−∞

bk(z − z0)k, bk ∈ C.

Dann konnen wir im Inneren des Ringgebiets gliedweise integrieren und erhalten aus Beispiel 4.2(i)

2πia−1 =

Cf(z) dz =

∞∑

k=−∞

Cbk(z − z0)

k dz = 2πib−1,

also a−1 = b−1. Die Gleichheit der anderen Koeffizienten weist man nach, indem man in diesemArgument f(z) durch f(z)(z − z0)

k, k ∈ Z, ersetzt.

I

IIIII

IV

z0z1

z2

z3

y

xI

II III

z1 z2

Bemerkung 5.9 Die Singularitaten von f bestimmen wieder das minimale R1 und das maximaleR2 (siehe Bild links). Wenn z0, . . . , z3 die Singularitaten von f(z) sind, so gibt es zu f in jedemBereich I-IV eine Laurentreihe. Wenn z0 keine Singularitat von f ist, so ist I sogar eine Potenzreihe.

Beispiele 5.10 (i) Die Singularitaten von f(z) = 1(z−1)(z−2) = 1

z−2 − 1z−1 sind z1 = 1 und z2 = 2

(siehe Bild rechts). Wenn wir f um den Punkt z0 = 0 entwickeln, erhalten wir in I eine Potenzreihe,in II und III Laurentreihen.

Wir entwickeln die beiden Summanden getrennt. Fur die Potenzreihe in I kann man die Tay-lorformel aus Satz 5.1 verwenden, hier ist die geometrische Reihe einfacher:

1

z − 2= −1

2

1

1− z2

= −∞∑

k=0

zk

2k+1fur |z| < 2,

−1

z − 1=

∞∑

k=0

zk fur |z| < 1.

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Die Laurentreihen in II und III wird man i.a. nach der Formel (5.3) berechnen mussen. Dies istmuhsam und man arbeitet besser wieder mit der geometrischen Reihe. In diesem Fall

1

z − 2=

1

z

1

1− 2z

=∞∑

k=0

2k

zk+1fur |z| > 2,

−1

z − 1= −1

z

1

1− 1z

= −∞∑

k=0

1

zk+1fur |z| > 1.

Wir erhalten also die Laurent-Reihen:

f(z) =∞∑

k=0

(1− 2−k−1)zk in I,

f(z) = −∞∑

k=1

z−k −∞∑

k=0

2−k−1zk in II,

f(z) =∞∑

k=1

(2k−1 − 1)z−k in III.

(ii) f(z) = ez + e1/z ist in C \ {0} definiert. Den Anteil von e1/z an der Laurentreihe bestimmtman, indem man w = 1/z setzt und die Funktion nach Taylor entwickelt:

f(z) = 1 +∞∑

k=−∞

zk

|k| ! fur z ∈ C \ {0}.

5.5 Typen isolierter Singularitaten und meromorphe Funktionen Die Funktion f seiin einer punktierten Umgebung des Punktes z0 ∈ C holomorph (also in 0 < |z − z0| < ρ). Dannheißt z0 isolierte Singularitat von f. Wenn die Laurentreihe in der punktierten Umgebung von derForm

f(z) =∞∑

k=−∞

ak(z − z0)k

ist, so heißt z0

(i) hebbare Singularitat, wenn ak = 0 fur k = −1,−2, . . . .

(ii) Pol n-ter Ordnung, wenn ak = 0 fur k = −n− 1,−n− 2, . . . und a−n 6= 0.

(iii) wesentliche Singularitat, wenn aki 6= 0 fur eine Folge ki von Indizes mit ki → −∞.

Bei einer hebbaren Singularitat ist die Laurent-Reihe eine Taylor-Reihe und man behebt die Sin-gularitat durch die Setzung f(z0) = a0.

Wir definieren die Ordnung von f an der isolierten Singularitat z0 mit Hilfe der Laurent-Reihe∑

n anzn durch

Ord (f, z0) = n ⇔ an 6= 0 und ai = 0 fur alle i < n.

Da die Laurent-Reihe bei einer Nullstelle der Ordnung n mit an 6= 0 beginnt, steht dies im Einklangmit der in Abschnitt 5.1 definierten Ordnung einer Nullstelle. Die Ordnung ist im Fall (iii) −∞und im Falle der Nullfunktion ist sie ∞.

Man beachte, dass in (iii) die Laurentreihe mit Entwicklungspunkt z0 gemeint ist. In Beispiel5.10(i) hatte f(z) einen Pol erster Ordnung in den Punkten z = 1 und z = 2. Trotzdem brach dieLaurentreihe im Bereich III nicht nach unten ab. Dagegen besaß f(z) in 5.10(ii) tatsachlich einewesentliche Singularitat in z0 = 0.

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Wenn man die Laurent-Reihe nicht kennt, kann man die folgende aquivalente Definition nehmen:

Ord (f, z0) = sup{n ∈ Z : lim

z→z0(z − z0)

−nf(z) existiert in C}.

Befassen wir uns zunachst mit den wesentlichen Singularitaten:

Satz 5.11 (Casorati-Weierstraß) Eine in U = {0 < |z − z0| < r} definierte holomorphe Funk-tion besitze in z0 eine wesentliche Singularitat. Dann gibt es zu jeder Umgebung V von z0, einembeliebigen b ∈ C und ε > 0 ein z ∈ V ∩ U mit |f(z) − b| < ε. Oder in modernerer Sprache:f({0 < |z − z0| < r′}) liegt dicht in C fur jedes 0 < r′ ≤ r.

Beweis: Wir fuhren den Beweis indirekt. Angenommen, es gibt eine Umgebung V von z0, einb ∈ C und eine Schranke d > 0, so dass |f(z)− b| ≥ d fur alle z ∈ V ∩ U. Dann ist

g(z) =1

f(z)− b

auf V ∩ U holomorph und beschrankt. Die Singularitat im Punkt um z0 ist daher hebbar und glasst sich auf (V ∩ U) ∪ {z0} fortsetzen.

Wir betrachten zuerst den Fall g(z0) 6= 0. Dann gilt auf V ∩ U

f(z) =1

g(z)+ b

und f ist auf (V ∩ U) ∪ {z0} holomorph, so dass z0 eine hebbare Singularitat von f ware, imWiderspruch zur vorausgesetzten wesentlichen Singularitat.

Also muss g(z0) = 0 gelten. Da g nicht identisch Null auf (V ∩ U) ∪ {z0} ist, folgt aus demPrinzip der Isolierheit der Nullstellen, dass

g(z) = (z − z0)mh(z)

gilt mit einer naturlichen Zahl m ≥ 1 und einer holomorphen Funktion h mit h(z0) 6= 0. Furz ∈ U ∩ V folgt daher

f(z) =1

g(z)+ b =

1/h(z)

(z − z0)m+ b =

G(z)

(z − z0)m

mit G(z) = 1h(z)+b(z−z0)m. Es ist G(z0) = 1

h(z0)6= 0. Also hat f in z0 einen Pol endlicher Ordnung,

im Widerspruch zur vorausgesetzten wesentlichen Singularitat.

Die isolierten Singularitaten konnen sich nicht im Endlichen haufen:

Lemma 5.12 Sei S die Menge der isolierten Singularitaten einer auf dem Gebiet D definiertenholomorphen Funktion f . Dann liegen in jeder kompakten Teilmenge von D ∪ S nur endlich vieleisolierte Singularitaten.

Beweis: Zu jedem z ∈ S gibt es ein r > 0, so dass f auf Br(z) \ {z} holomorph ist. DieseBr(z) bilden zusammen mit D eine offene Uberdeckung der kompakten Menge und diese besitzteine endliche Teiluberdeckung.

Eine Funktion heißtmeromorph im GebietD, wenn sie bis auf isolierte Singularitaten holomorphin D ist und alle Singularitaten hebbar oder Pole sind.

Beispiele fur in ganz C meromorphe Funktionen sind die rationalen Funktionen. Fur jede ho-lomorphe Funktion f 6= 0 ist 1/f meromorph. Denn fur eine nichtkonstante Funktion f sind

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ihre Nullstellen isoliert und von endlicher Ordnung. In einer Nullstelle z0 der Ordnung n gilt jaf(z) = (z − z0)

nh(z) mit h(z0) 6= 0. Hieraus folgt

1

f(z)= (z − z0)

−n 1

h(z).

Damit ist die Definition eines Pols der Ordnung n im Punkt z0 erfullt.

Ist z0 6= 0 eine isolierte Singularitat von f , so ist 1z0

eine isolierte Singularitat von f(1z ) mit

limz→ 1

z0

(

z − 1

z0

)−n

f

(1

z

)

= lim1z→z0

(

z − 1

z0

)−n

f

(1

z

)

= limz→z0

(1

z− 1

z0

)−n

f(z)

= limz→z0

(z0 − z)−nf(z) · limz→z0

(zz0)n = z2n0 lim

z→z0(z0 − z)−nf(z),

also

Ord

(

f

(1

z

)

,1

z0

)

= Ord (f(z), z0).

Wir konnen diese Beziehung nutzen, um die Ordnung einer Funktion im Punkt ∞ zu definieren. fbesitzt in ∞ eine isolierte Singularitat, wenn f holomorph im Komplement einer kompakten Mengeist. Wir setzen dann Ord (f(z),∞) = Ord (f(1z ), 0).

Ist f meromorph auf ganz C und hat es in ∞ einen Pol oder eine hebbare Singularitat, so heißtf meromorph auf der erweiterten Ebene C.

Satz 5.13 Die auf C meromorphen Funktionen sind genau die rationalen Funktionen.

Beweis: Nach Definition ist f im Komplement einer kompakten Menge holomorph, sagen wirim Komplement der abgeschlossenen Kreisscheibe |z| ≤ R. Da ∞ ein Pol endlicher Ordnung seinsoll, gibt es ein m ∈ N, so dass limz→0 z

mf(1z ) existiert. Dies bedeutet aber, dass |f(z)| ≤ c|z|m fur|z| > R′.

In der kompakten Menge |z| ≤ R besitzt f nur endlich viele Polstellen z1, . . . , zk mit Vielfach-heiten m1, . . . ,mk. Dann setzen wir

g(z) = (z − z1)m1 . . . (z − zk)

mkf(z).

Nach Hebung der Singularitaten in den Punkten zi ist g auf ganz C holomorph und wegen |f(z)| ≤c|zm| fur große z polynomial beschrankt. Wie beim Beweis des Satzes von Liouville folgt aus derCauchyschen Integralformel 4.8, dass g ein Polynom ist. Damit ist f der Quotient zweier Polynome.

5.6 Der Residuenkalkul Dieser Abschnitt bringt im Grunde genommen nichts Neues, denn erenthalt nur eine systematische Aufarbeitung des Beispiels 4.2(i) im Licht der Laurententwicklung.Im Abschnitt 4.2 hatten wir gesehen, dass es zur Berechnung von

C f(z) dz fur eine holomorpheFunktion uber eine geschlossene Kurve nur erforderlich ist, die Integrale uber einfach geschlossene,positiv orientierte Kurven, die genau ein Loch des Definitionsbereiches von f umschließen, zuberechnen. Das Kurvenintegral setzt sich dann aus diesen Einzelintegralen und den Windungszahlender Kurve um diese Locher zusammen.

Wenn das Loch nur aus einem Punkt z0 besteht, also eine isolierte Singularitat ist, und dieLaurentreihe um z0,

f(z) =∞∑

k=−∞

ak(z − z0)k,

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bekannt ist, so lasst sich diese gliedweise integrieren und wir erhalten mit Beispiel 4.2(i):

Kr(zo)f(z) dz =

∞∑

k=−∞

Kr(z0)ak(z − z0)

k dz = 2πi a−1.

Der Wert des Kurvenintegrals um z0 wird nur von a−1 bestimmt. Daher die folgende Definition.

Sei f holomorph in einer punktierten Umgebung von z0. Dann heißt der Koeffizient

a−1 =1

2πi

Kr(z0)f(z) dz

der Laurentreihe um z0 das Residuum von f an der Stelle z0.

Schreibweise : a−1 = Resz=z0f(z)

Satz 5.14 (Residuensatz) Sei f im Gebiet D mit Ausnahme der isolierten Singularitatenz1, . . . , zn holomorph. Weiter sei C eine geschlossene Kurve in D, die die Punkte z1, . . . , zn nichtenthalt und n(C, zk) sei die Windungszahl der Kurve C um zk. Dann gilt

Cf(z) dz = 2πi

n∑

k=1

n(C, zk)Resz=zkf(z).

Beweis: folgt aus den Uberlegungen am Ende von Abschnitt 4.2.

Wenn die Laurentreihe um zk bekannt ist, lasst sich das Residuum sofort angeben. Ist dieLaurent-Reihe unbekannt, kann man den folgenden Satz verwenden.

Satz 5.15 Sei h(z) holomorph in einer Umgebung von z0 ∈ C mit h(z0) 6= 0 und

f(z) =h(z)

(z − z0)m, m ≥ 1.

Dann gilt

Resz=z0f(z) =1

(m− 1) !h(m−1)(z0).

Beweis: Nach Satz 4.8 gilt:

h(m−1)(z0) =(m− 1) !

2πi

Kr(z0)

h(z)

(z − z0)mdz.

Fur das Residuum folgt daraus

Resz=z0f(z) = Resz=z0h(z)

(z − z0)m=

1

2πi

Kr(z0)

h(z)

(z − z0)mdz =

1

(m− 1) !h(m−1)(z0).

Beispiel 5.16 Hier betrachten wir fur holomorphe h und g

f(z) =h(z)

g(z), h(z0) 6= 0, g(z) = (z − z0)g(z) mit g(z0) 6= 0.

Fur die Bestimmung des Residuums an der Stelle z0 konnen wir den letzten Satz verwenden

Resz=z0f(z) = Resz=z0h(z)

(z − z0)g(z)=h(z0)

g(z0)=h(z0)

g′(z0.

51

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Beispiel 5.17 Man bestimme das Kurvenintegral∫

Cdz

1+z2uber der untenstehenden Kurve C.

Wegen 1+ z2 = (1+ i)(1− i) besitzt die Funktion Polstellenerster Ordnung in den Punkten i und −i. Da n(C, i) = 1,n(C,−i) = 0, brauchen wir nur das Residuum um den Punkti zu bestimmen. Aus der Partialbruchzerlegung erhalten wir

f(z) =1

1 + z2=

1

2i

(1

z − i− 1

z + i

)

y

x2-2

i

C

und

h(z) = (z − i)f(z) =1

2i

(

1− z − i

z + i

)

sowie aus dem letzten Satz (m = 1)

Resz=if(z) = h(i) =1

2i.

Fur das Kurvenintegral liefert dann der Residuensatz

C

dz

1 + z2= 2πi n(C, i)Resz=if(z) = 2πi

1

2i= π.

52

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6 Anwendungen des Residuensatzes

6.1 Das Argumentprinzip und der Satz von Rouche Zunachst eine Vorbemerkung. Ist Dein Gebiet und C eine geschlossene Kurve, so schließt diese einen beschrankten Teilbereich ein. Esgibt daher eine kompakte Menge K ⊂ D, in der C und der von C eingeschlossene Bereich enthaltenist. Ist f meromorph und nicht konstant in D, so befinden sich nur endlich viele Nullstellen undPole von f in K und damit auch im von der Kurve eingeschlossenen Bereich (siehe Lemma 5.12).

Ist f holomorph und nicht konstant im Gebiet D und ist C eine geschlossene Kurve in D,auf der sich keine Nullstellen von f befinden, so gibt es nach der Vorbemerkung nur endlich vieleNullstellen von f im eingeschlossenen Bereich, die uberdies nur endliche Vielfachheiten besitzen.Wir konnen daher

f(z) = (z − a1)(z − a2) . . . (z − aj)g(z)

schreiben, wobei jede Nullstelle ai auch mehrfach vorkommen kann, und die holomorphe Funktiong die Bedingungen g(ai) 6= 0 erfullt. Die logarithmischen Ableitung d

dz log f = f ′/f ist dann

f ′(z)

f(z)=

1

z − a1+

1

z − a2+ . . .+

1

z − aj+g′(z)

g(z).

Da g′/g holomorph ist, liefert der Residuensatz

1

2πi

C

f ′(z)

f(z)dz = n(C, a1) + . . .+ n(C, aj).

Nehmen wir hier einen einfach gechlossenen Weg um die Nullstellen herum, zahlt der Ausdruck aufder linken Seite die Nullstellen, wobei mehrfache Nullstellen auch mehrfach gezahlt werden.

Ist f meromorph in D mit Nullstellen aj und Polstellen bk so konnen wir ganz analog vorgehen,

f(z) =∏

j

(z − aj) ·∏

k

1

z − bk· g(z)

mit einer holomorphen Funktion g mit g(aj) 6= 0. Die logarithmische Ableitung ist dann

f ′(z)

f(z)=∑

j

1

z − aj−∑

k

1

z − a2+g′(z)

g(z).

Wir haben damit gezeigt:

Satz 6.1 (Argumentprinzip) Ist f meromorph in D mit Nullstellen aj und Polstellen bk undliegen auf der geschlossenen Kurve C keine Null- oder Polstellen, so gilt

1

2πi

C

f ′(z)

f(z)dz =

j

n(C, aj)−∑

k

n(C, bk).

Korollar 6.2 (Satz von Rouche) Sei C einfach geschlossen im Gebiet D. Sind f, g holomorphin D mit |f | > |g| in C, so besitzen f und f + g die gleiche Anzahl von Nullstellen im eingeschlos-senen Bereich.

Beweis: Die Funktion

φ(t) =1

2πi

C

(f + tg)′(z)

(f + tg)(z)dz, t ∈ [0, 1],

ist definiert, sofern auf C keine Nullstellen von f+tg liegen. Dies ist jedoch durch die Voraussetzungausgeschlossen. Ansonstens hangt sie stetig von t ab und besitzt nur ganzzahlige Werte. Daher istsie in t konstant.

53

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Beispiel 6.3 Fur das Polynom

p(z) = zn + an−1zn−1 + . . .+ a0

gelte |ai| < Ri/n Dann besitzt p innerhalb von |z| < R n Nullstellen.

Zum Beweis schreiben wir f(z) = zn und g(z) = an−1zn−1 + . . . + a0. Auf KR(0) haben wir

|f(z)| = Rn und |g(z)| < Rn. Die Behauptung folgt aus dem Satz von Rouche.

Eine Abbildung f : X → Y zwischen topologischen Raumen X,Y heißt offene Abbildung, wennsie offene Mengen auf offene Mengen abbildet. Wenn man noch zusatzlich weiß, dass f injektiv ist,so ist die auf f(X) definierte Umkehrabbildung f−1 stetig, denn fur f−1 sind die Urbilder offenerMengen offen.

Korollar 6.4 Eine im Gebiet D nichtkonstante holomorphe Funktion ist eine offene Abbildung.

Beweis: Sei f(a) = b. Dann ist a eine isolierte Nullstelle von f(z)− b. Wir wahlen einen kleinenKreis |z − a| ≤ r, in dem a die einzige Nullstelle von f(z) − b ist. Sei s > 0 das Minimum von|f(z) − b| uber Kr(a). Ist |b − b′| < s, so besitzt nach dem Satz von Rouche auch f(z) − b′ einNullstelle in Br(a). Damit enthalt das Bild von Br(a) den Kreis Bs(b). Damit ist jeder Bildpunktvon f innerer Punkt des Bildes und die Abbildung f damit offen.

Das letzte Korollar liefert einen alternativen Beweis des Maximumprinzips. Da dort ebenfallsvorausgesetzt wurde, dass f nicht konstant ist, gibt es in jeder Umgebung von a Punkte z mit|f(z)| > |f(a)|.

Korollar 6.5 (Satz von der Gebietstreue) Eine im Gebiet D nichtkonstante holomorpheFunktion bildet jedes Teilgebiet von D auf ein Gebiet ab.

6.2 Anwendung des Residuenkalkuls auf die reelle Integration In manchen Fallen lassensich reelle Integrale

∫∞−∞ f(x) dx mit Hilfe des Residuensatzes bestimmen, auch wenn keine Stamm-

funktion von f bekannt ist. Grundvorraussetzung dazu ist, dass f eine reell-analytische Funktionist, d.h. f muss auf R unendlich oft differenzierbar sein und die Taylorreihe um ein beliebiges x ∈ Rmuss einen strikt positiven Konvergenzradius R(x) > 0 besitzen.

Notation: Mit CR bezeichnen wir den oberen Halbkreis, der durch

z(t) = Reit, t ∈ [0, π],

parametrisiert wird. CR ist die geschlossene, positiv orientierte Kurve, die sich aus CR und demreellen Intervall [−R,R] zusammensetzt.

Zur Bestimmung eines Integrals uber dem Intervall (−∞,∞) geht man in mehreren Schritten vor:

1.: Fortsetzung von f(x) zu einer Funktion der komplexen Ebene. Dazu wird man die Taylorreihevon f(x) =

∑∞k=0 ak(x − x0)

k

”komplex“ interpretieren als f(z) =

∑∞k=0 ak(z − z0)

k. In einigenFallen sieht man direkt, dass f der Real- oder Imaginarteil einer bekannten komplexen Funktionist.

2.: Wahl einer geeigneten Kurve C = C(R), die das Intervall [−R,R] enthalt, (z.B. CR) undBestimmung des komplexen Kurvenintegrals I(R) =

C(R) f(z) dz.

3.: Grenzubergang R → ∞. Hier muss nachgewiesen werden, dass I(R) konvergiert und dass dasIntegral uber das zuviel integrierte Kurvenstuck (z.B. CR) gegen Null konvergiert.

Beispiel 6.6 Man bestimme∫∞−∞

dx1+x2

. Dieses Beispiel untersuchen wir nur zu Demonstrations-

zwecken. Die komplexe Fortsetzung ist naturlich f(z) = 11+z2

. Ahnlich wie in Beispiel 5.17 wahlen

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wir als Integrationskurve CR. Da der Integrand außer in den Punkten i,−i holomorph ist, andertsich der Wert des Kurvenintegrals fur R > 1 nicht. Aus Beispiel 5.17 entnehmen wir daher

CR

dz

1 + z2= π fur alle R > 1 .

Nun mussen wir das Konvergenzverhalten des Integrals uber dem oberen Halbkreis CR untersuchen

∣∣∣∣

CR

dz

1 + z2

∣∣∣∣=

∣∣∣∣

∫ π

0

1

1 + (Reit)2iR eit dt

∣∣∣∣.

Fur R > 2 gilt

|1 + (Reit)2| ≥ R2 − 1 ≥ 1

2R2

und daher ∣∣∣∣

CR

dz

1 + z2

∣∣∣∣≤∫ π

0

R

1 + 12R

2dt → 0 furR→ ∞.

Wie nicht anders zu erwarten war, erhalten wir

∫ ∞

−∞

dx

1 + x2= π.

Nun betrachten wir einige Typen genauer:

1.Typ: I =

∫ ∞

−∞

pm(x)

qn(x)dx mit Polynomen pm und qn vom Grade m bzw. n. Ein solches Integral

kann nur existieren, wenn m ≤ n − 2 vorausgesetzt wird. Wenn qn keine Nullstelle auf R besitzt,so kann man genauso vorgehen wie im letzten Beispiel und erhalt

I = 2πi · Summe der Residuen der Pole in der oberen Halbebene.

2.Typ: I =∫ π−π R(cos t, sin t) dt, wobei R eine rationale Funktion ist. Mit der Substitution

x = tant

2, sin t =

2x

1 + x2, cos t =

1− x2

1 + x2, dt =

2

1 + x2dx.

fuhrt man dieses Integral auf den 1. Typ zuruck.

3.Typ: I =∫∞−∞ f(x)eix dx mit einer Funktion f(z), die auf der oberen Halbebene Im z ≥ 0 nur

endlich viele Polstellen hat und auf der reellen Achse keine. Zusatzlich fordern wir

lim|z|→∞

f(z) = 0 fur y ≥ 0 (z = x+ iy).

Dann gilt

(6.1) limR→∞

∫ R

−Rf(x)eix dx = 2πi

Resz=zkf(z)eiz,

wobei wieder uber die Residuen zk in der oberen Halbebene y > 0 zu summieren ist. Im Gegensatzzum 1. Typ braucht das Integral in (6.1) nicht absolut zu konvergieren, d.h. der Fall

limR→∞

∫ R

−R

∣∣f(x)eix

∣∣ dx = ∞

55

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ist erlaubt.

Beweis von (6.1): Wir wahlen R so groß, dass außerhalb von CR die Funktion f keine Polstellenmehr besitzt. Dann existiert

M(R) = max0≤t≤π

∣∣f(Reit)

∣∣ .

Fur das Kurvenintegral uber dem oberen Halbkreis CR folgt dann mit z(t) = Reit

∣∣∣∣

CR

f(z)eiz dz

∣∣∣∣≤∫ π

0|f(z(t))|

∣∣eiz(t)

∣∣R∣∣eit∣∣ dt ≤M(R)

∫ π

0R∣∣eiz(t)

∣∣ dt.

Der Absolutbetrag errechnet sich zu∣∣∣eiz(t)

∣∣∣ = e−Im z(t) = e−R sin t,

daher

(6.2)

∣∣∣∣

CR

f(z)eiz dz

∣∣∣∣≤M(R)

∫ π

0Re−R sin t dt.

Wir mussen das Integral auf der rechten Seite von (6.2) abschatzen. Die Funktion sin tt nimmt ihr

Minimum auf dem Intervall [0, π2 ] offenbar fur t =π2 an, also

sin t

t≥ 2

πfur t ∈ [0,

π

2].

Somit∣∣∣∣

CR

f(z)eiz dz

∣∣∣∣≤ 2M(R)

∫ π/2

0Re−R sin t dt ≤ 2M(R)

∫ π/2

0Re−2Rt/π dt

≤ 2M(R)

∫ ∞

0Re−2Rt/π dt = −2M(R)

π

2e−2Rt/π

∣∣∣

0=M(R)π.

Aufgrund der Voraussetzung geht das Kurvenintegral uber CR gegen 0 fur R → ∞. Aus demResiduensatz folgt die Behauptung.

4.Typ: I =∫∞−∞ f(x)eix dx mit einer Funktion f(z), die in der oberen Halbebene nur endlich viele

Polstellen hat und auf der reellen Achse nur eine Polstelle erster Ordnung im Nullpunkt. Wie beimdritten Typ wird ferner

(6.3) lim|z|→∞

f(z) = 0 fur y ≥ 0

gefordert. Dann gilt

(6.4) limR→∞

(∫ −1/R

−R+

∫ R

1/R

)

f(x)eix dx = 2πi∑

Resz=zkf(z)eiz + πiResz=0(f(z)e

iz),

d.h. die Singularitat im Ursprung liefert den ”halben” dessonst ublichen Beitrags. Die

∑erstreckt sich wieder uber

die sonstigen Pole in der oberen Halbebene von f(z).

Beweis von (6.4): Wir verwenden den nebenstehendenIntegrationsweg und erhalten aus dem Residuensatz xR-R 0 ε−ε

-Cε

CR

-

-

(6.5)

∫ −ε

−R+

∫ R

ε+

−Cε

+

CR

= 2πi∑

Res(f(z)eiz).

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Wie beim dritten Typ folgt aus (6.3)

limR→∞

CR

f(z)eiz dz = 0.

Genauso wie in Beispiel 4.2 (i) erhalten wir mit Cε : z(t) = εeit, t ∈ [0, π],

zn dz =

∫ π

0εnenitεieit dt →

{

0 fur n ≥ 0

iπ fur n = −1fur ε→ 0.

Da f(z) einen Pol erster Ordnung besitzt, haben wir eine Laurententwicklung der Form

f(z)eiz =∞∑

k=−1

akzk

und nach gliedweiser Integration

limε→0

f(z)eiz dz = iπa−1.

Mit (6.5) folgt die Behauptung.

Beim ersten und zweiten Typ hatten wir auch uber denunteren Halbkreis integrieren konnen, wobei zu beachten ist,dass das zugehorige Kurvenintegral negativ orientiert ist.Fur eine rationale Funktion R(x), die auf der reellen Achsekeine Polstellen besitzt, folgt daher

x0R-R

∫ ∞

−∞R(x) dx = −2πi

y<0

Res(R(z)).

Wenn dagegen wie im dritten und vierten Typ die Funktion eiz beteiligt ist, so ist die Wahl deroberen Halbebene zwingend, denn auf der unteren Halbebene gilt

sup|z|=R, y<0

|eiz| = eR → ∞ fur R→ ∞.

Wenn also z.B. Integrale der Form ∫ ∞

−∞f(z) sin z dz

zu berechnen sind, muss man

sin z =1

2i(eiz − e−iz)

verwenden und die entstehenden Teilintegrale getrennt berechnen.

Beispiele 6.7 (i) ∫ ∞

0

cosx

x2 + 1dx.

Hier lasst sich die Symmetrie des Integranden ausnutzen, wonach das Integral vom 3. Typ ist,

∫ ∞

0

cosx

x2 + 1dx =

1

2Re

∫ ∞

−∞

eix

x2 + 1dx.

Fur den Integranden haben wir zwei Polstellen 1. Ordnung, namlich z = i und z = −i. DasResiduum in der oberen Halbebene ist

limz→i

(z − i)eiz

(z − i)(z + i)=e−1

2i

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und daher ∫ ∞

0

cosx

x2 + 1dx =

π

2e.

(ii)∫ ∞

0

sinx

xdx =

1

2

∫ ∞

−∞

sinx

xdx =

1

2Im

∫ ∞

−∞

eix

xdx

ist vom 4. Typ. Das Residuum an der Stelle z = 0 ist limz→0zeiz

z = 1, also

∫ ∞

0

sinx

xdx =

π

2.

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7 Folgen holomorpher Funktionen

7.1 Kompakt konvergente Funktionenfolgen Sei D ⊂ C ein Gebiet und (fn) eine Folgevon Funktionen. (fn) konvergiert kompakt gegen f , wenn fur jede kompakte Teilmenge K von Dfn → f gleichmaßig in K.

Lemma 7.1 fn konvergiert genau dann kompakt gegen f , wenn es zu jedem z ∈ D ein Br(z) ⊂ D,r = r(z) > 0, gibt mit fn → f gleichmaßig auf Br(z).

Beweis: Wir uberdecken die kompakte Menge K mit ∪z∈KBr(z). Wegen der Kompaktheit kom-men wir mit endlich vielen dieser Kreise aus. Die gleichmaßige Konvergenz auf jedem dieser Kreiseimpliziert die gleichmaßige Konvergenz auf K. Da jedes Br(z) in einer kompakten Menge liegt, istdie umgekehrte Richtung trivial.

Satz 7.2 (Satz von Weierstraß uber kompakte Konvergenz, Satz von Hurwitz) Dieauf dem Gebiet D holomorphen Funktionen fn konvergieren kompakt auf D gegen f . Dann ist f

holomorph und die Folge der Ableitungen (f(k)n ) konvergiert fur alle k ∈ N kompakt gegen f (k).

Gilt fur die Folgesupn≥1

#{z ∈ D : fn(z) = w} ≤ N <∞,

so ist f entweder konstant w oder die Anzahl der Losungen von f(z) = w ist duch N beschrankt.

Beweis: Das Kurvenintegral uber fn ist wegunabhangig. Weil man jede Kurve C in eine kom-pakte Menge einsperren kann, gilt

lim

Cfn(z) dz =

Cf(z) dz.

Damit ist das Kurvenintegral uber f wegunabhangig. Da f uberdies in der offenen Menge D stetigist, folgt die Holomorphie von f aus dem Satz von Morera 4.9.

Mit den gleichen Argumenten kann man in der Cauchy-Integralformel

(7.1) f (k)n (z) =k !

2πi

Kr(z)

fn(ξ)

(ξ − z)k+1dξ, k ∈ N.

zum Grenzwert ubergehen und diese Konvergenz ist gleichmaßig fur |ξ − z| ≤ r′ < r.

Fur die dritte Aussage verwenden wir den Satz von Rouche. Wir konnen w = 0 annehmen. Sei fnicht konstant 0 und seien z1, . . . , zJ (nicht notwendig alle) Nullstellen von f(z). Da die Nullstellenisoliert sind, gibt es ein ε > 0, so dass |z−zj | ≤ ε keine weiteren Nulllstellen enthalt. Da die Mengeder zj endlich ist, exisiert ein δ > 0 mit |f(z)| > δ in allen |z − zj | = ε. Es gibt ein n0, so dass|f − fn| < δ/2 auf allen |z − zj | = ε fur alle n ≥ n0. Der Satz von Rouche 6.2 besagt nun, dass diefn, n ≥ n0, genau eine Nullstelle in |z − zj | < ε haben. Daher gilt J ≤ N.

Wir sagen, dass eine Folge (fn) im Gebiet D lokal beschrankt ist, wenn es zu jedem z0 ∈ D eineUmgebung U von z0 gibt, in der die Funktionen fn gleichmaßig beschrankt sind, also |fn(z)| ≤Mfur alle n ∈ N und alle z ∈ U .

Ahnlich wie bei der kompakten Konvergenz lasst sich dies auch aquivalent formulieren: Aufjeder kompakten Teilmenge K von D gibt es eine Konstante MK mit |fn(z)| ≤MK fur alle n ∈ Nund alle z ∈ K.

Lemma 7.3 Sei (fn) eine lokal beschrankte Folge holomorpher Funktionen. Dann gibt es zu jedemz0 ∈ D eine Umgebung U von z0 und ein M mit

|fn(z)− fn(z′)| ≤M |z − z′| fur alle z, z′ ∈ U und n ∈ N.

Wir sagen dazu auch: Die Folge ist lokal gleichmaßig lipschitzstetig.

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Beweis: Da die Folge fn in einer Umgebung von z0 beschrankt ist, ist auch die Folge f ′n in einemKreis Br(z0), r > 0, durch eine Konstante M beschrankt wegen der Cauchyschen Integralformel(7.1). Verbinden wir die Punkte z und z′ in Br(z0) durch z(t) = (1− t)z + tz′, so gilt

fn(z)− fn(z′) =

∫ 1

0f ′n(z)z

′(t) dt,

weil fn die Stammfunktion von f ′n ist. Daher

|fn(z)− fn(z′)| ≤ sup

z∈Br(z0)|f ′n(z)| |z − z′| =M |z − z′|.

Satz 7.4 (Satz von Montel) Jede auf einem Gebiet D lokal beschrankte Folge holomorpherFunktionen besitzt eine kompakt konvergente Teilfolge.

Beweis: Sei {ai}i∈N eine dichte Teilmenge von D. Es gilt |fn(ai)| ≤Mi fur alle n. Wir konstruie-ren als erstes ein Teilfolge, die in allen Punkten ai konvergiert. Dazu verwenden wir ein Argument,das Auswahl der Diagonalfolge genannt wird. Wir wahlen eine Teilfolge aus, die im Punkt a1 kon-vergiert und schreiben sie in die erste Zeile einer Tafel. Aus dieser Teilfolge wahlen wir eine Teilfolgeaus, die im Punkt a2 konvergiert und schreiben diese in die zweite Zeile der Tafel. Durch fortge-setzte Auswahl von Teilfolgen erreichen wir, dass in der i-ten Zeile der Tafel eine Teilfolge steht,die in den Punkten a1, . . . , ai konvergiert. Daher konvergiert die Folge, die auf der Diagonalen derTafel steht, in allen Punkten ai.

Die gerade konstruierte Diagonalfolge bezeichnen wir wieder mit (fn). Sei z0 ∈ D. Nach Lemma7.3 gibt es ein r > 0 mit B3r(z0) ⊂ D mit

|fn(z)− fn(z′)| ≤M |z − z′| fur alle z, z′ ∈ B3r(z0) und alle n ∈ N.

Wir zeigen, dass die fn auf K = {|z − z0| ≤ r} gleichmaßig konvergieren.

Sei ε > 0 und δ so gewahlt, dass 0 < δ < min{ εM , r}. Wir konnen die kompakte Menge K mit

endlich vielen Bδ(ai) uberdecken, sagen wir a1, . . . , ak. Es gibt ein n0 mit

|fm(aj)− fn(aj)| < ε fur alle j = 1, . . . , k und m,n ≥ n0.

Zu z ∈ K gibt es ein j mit z ∈ Bδ(aj), insbesondere |z − aj | < δ < ε/M. Damit fur m,n ≥ n0

|fm(z)− fn(z)| ≤ |fm(z)− fm(aj)|+ |fm(aj)− fn(aj)|+ |fn(aj)− fn(z)|

≤M |z − aj |+ ε+M |z − aj | < 3ε.

Der Satz von Montel ist ein Kompaktheitssatz, der stark an den Satz von Bolzano-Weierstraßerinnert: Jede beschrankte Folge besitzt eine konvergente Teilfolge. Normalerweise gilt dieser Satznicht in unendlich dimensionalen Raumen, sagen wir in Banach-Raumen. In der komplexen Analysisist ein solcher Satz moglich, weil grob gesprochen die Beschranktheit einer holomorphen Funktionauch die Beschranktheit der ersten Ableitung impliziert. Genau davon hat der Beweis des Satzesvon Montel ja auch gelebt.

7.2 Unendliche Produkte Fur eine Folge (an) komplexer Zahlen ordnet man dem unendlichenProdukt

∏∞k=0 ak die Folge der Partialprodukte

(n∏

k=0

ak

)

n∈N

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zu. Man mochte unendliche Produkte in moglichst enger Analogie zu den unendlichen Reihen be-handeln. Zum Beispiel mochte man limk→∞ ak = 1 als notwendiges Kriterium fur die Konvergenzdes Produkts haben, so wie man bei unendlichen Reihen ja auch lim ak = 0 als notwendiges Krite-rium fur die Konvergenz besitzt. Aber ein Faktor ak = 0 macht alle folgenden Partialprodukte zu0. Deshalb definiert man die Konvergenz etwas vorsichtiger:

Das unendliche Produkt∏∞k=0 ak heißt konvergent gegen b ∈ C, wenn gilt

(i) limn→∞∏nk=0 ak = b,

(ii) Es gibt ein k0 ∈ N, so dass das Produkt limn→∞∏nk=k0

ak existiert und 6= 0 ist.

Insbesondere sind dann hochstens endlich viele Faktoren 6= 0.

Beispiel 7.5 Die Produkte

0 · 1 · 2 · 3 · . . . oder1

2· 12· 12· . . .

sind nach dieser Definition nicht konvergent.

Das oben formulierte notwendige Konvergenzkriterium ist mit dieser Definition erfullt:

Lemma 7.6 Ist∏∞k=0 ak konvergent, so folgt limk→∞ ak = 1.

Beweis: Fur n > k0 ist

an =

∏nk=k0

ak∏n−1k=k0

,

und Zahler und Nenner haben denselben Grenzwert 6= 0. Also ist lim an = 1.

Ein weiteres Argument fur die Forderung (ii) in der Konvergenz-Definition ist das folgende Krite-rium, das ohne (ii) falsch wird.

Satz 7.7 (Logarithmus-Kriterium) Im unendlichen Produkt∏∞k=0 ak sei kein Faktor = 0 oder

negativ-reell. Dann ist das Produkt genau dann konvergent, wenn die mit dem Hauptwertlogarithmusgebildete Reihe

∞∑

k=0

Log ak

konvergiert.

Beweis: Ist die Reihe konvergent, so wegen der Stetigkeit der Exponentialabbildung auch dieFolge der Partialprodukte

Pn =n∏

k=0

ak = exp(

n∑

k=0

Log ak).

Damit gilt (i) der Definition und wegen limPn = exp(∑∞

k=0 Log ak)6= 0 auch (ii).

Die umgekehrte Richtung ist komplizierter zu beweisen, weil wir nicht einfach den Logarithmusdes Produkts nehmen konnen, um die Summe der Logarithmen zu bekommen (siehe Beispiel 3.21).Wir nehmen an, dass Pn → P 6= 0 und schreiben P = |P |eiφ. Wir wahlen φn so, dass

Pn = |Pn|eiφn mit φ− π < φn ≤ φ+ π.

Dann gilt φn → φ. Aus

(7.2) Sn =n∑

k=0

Log ak = ln |Pn|+ iφn + 2πikn mit kn ∈ Z

61

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folgt

2πi(kn+1 − kn) = Sn+1 − Sn − ln |Pn+1|+ ln |Pn| − i(φn+1 − φn)

= Log an+1︸ ︷︷ ︸

→ 0

− ln |Pn+1|+ ln |Pn|︸ ︷︷ ︸

→ 0

−i (φn+1 − φn)︸ ︷︷ ︸

→ 0

.

Demnach ist kn = kn+1 fur alle hinreichend großen n und aus (7.2) folgt die Konvergenz von (Sn).

Im Folgenden leiten wir ein analoges Kriterium fur die kompakte Konvergenz von Produkten holo-morpher Funktionen her.

Satz 7.8 Sei fk : D → C eine Folge holomorpher Funktionen mit Werten im Schlitzgebiet {z ∈C : Re z > 0 oder Im z 6= 0}. Dann ist das Produkt

∏∞k=0 fk genau dann kompakt konvergent, wenn

die mit dem Hauptwertlogarithmus gebildete Reihe∞∑

k=0

Log fk

kompakt konvergiert.

Beweis: Wir zeigen nur die Richtung ⇐, die wir im Folgenden auch nur benotigen.

Sei

Sn(z) =n∑

k=0

Log fk(z) und S(z) = limSn(z).

Sei K ⊂ D kompakt. Wegen der vorausgesetzten kompakten Konvergenz ist S stetig und da diestetigen Bilder kompakter Mengen kompakt sind, ist auch S(K) kompakt. Fur n ≥ n0 gilt

|Sn(z)− S(z)| ≤ 1 fur alle z ∈ K.

Also gibt es eine kompakte Menge W , die fn(K) und f(K) enthalt. Die Exponentialfunktion istauf W gleichmaßig stetig,

∀v, w ∈W |v − w| < δ ⇒ | exp v − expw| < ε.

Es gibt ein n1 ≥ n0 mit |Sn(z)− S(z)| < δ fur alle z ∈ K und n ≥ n1. Fur diese n gilt dann

| exp(Sn(z))− exp(S(z))| < ε.

Wegen expSn =∏nk=0 fk ist das Produkt auf K gleichmaßig konvergent.

Beispiel 7.9 Im letzten Satz genugt es, wenn nur ab einem Index k0 die Hauptwerte Log ak defi-niert sind und man

∑∞k=k0

Log ak betrachtet. Wir untersuchen das Produkt

∞∏

k=1

(

1− z2

k2

)

auf Konvergenz. Wir nehmen ein r > 0 und wenden fur |z| ≤ r das obige Kriterium fur k ≥ k0 > 2r

an. Dann ist | z2k2| < 1 und mit der Logarithmus-Reihe (5.1) finden wir

∣∣∣∣Log

(

1− z2

k2

)∣∣∣∣=

∣∣∣∣∣

z2

k2+

1

2

(z2

k2

)2

+1

3

(z2

k2

)3

+ . . .

∣∣∣∣∣

=|z|2k2

∣∣∣∣∣1 +

1

2

(z2

k2

)

+1

3

(z2

k2

)2

+ . . .

∣∣∣∣∣

≤ r2

k2

∣∣∣∣∣1 +

(1

4

)

+

(1

4

)2

+ . . .

∣∣∣∣∣=

4r2

3

1

k2.

62

Page 65: EinfuhrungindieFunktionentheorie¨ - Institut für …dobro/fu/b.pdf · 1 Kurven 1.1 Kurven im R 2 Wir haben eine anschauliche Vorstellung davon, was eine Kurve“ im R 2 ist, etwa

Die Reihe der Logarithmen ist also auf |z| ≤ r gleichmaßig konvergent. Nach dem letzten Satz giltdas auch fur das Produkt. Damit stellt das Produkt eine ganze Funktion dar.

7.3 Partialbruchzerlegung des Cotangens Ahnlich wie im Satz fur die Partialbruchzerle-gung 3.15 konnen wir auch fur

π cot(πz) =π cos(πz)

sin(πz)

eine solche Zerlegung versuchen. sin(πz) hat nur Nullstellen fur n ∈ Z, die zudem einfach sind.Nach Beispiel 5.16 sind die Residuen in diesen Nullstellen 1. Der Ansatz

π cot(πz) = g(z) +∑

n∈Z

1

z − n

scheitert jedoch, weil die Summe nicht konvergent ist. Wir versuchen daher, die Summanden miteiner holomorphen Funktion zu korrigieren. Mit einer anderen Funktion g(z) setzen wir an

π cot(πz) = g(z) +∑

n∈Z

( 1

z − n+ gn(z)

)

.

Die Taylor-Reihe von 1z−n , n 6= 0, um den Nullpunkt erhalt man am einfachsten aus der geometri-

schen Reihe1

z − n= − 1

n

1

1− zn

= − 1

n− z

n2− . . .

und fur |z| ≤ r und |n| ≥ 2r gilt

∣∣∣∣

1

z − n+

1

n

∣∣∣∣=

∣∣∣∣

z

n(z − n)

∣∣∣∣=

|z|n2

1

|1− zn |

≤ 2r

n2.

Daher sind die Reihen∑

n≥2r

(1

z − n+

1

n

)

,∑

n≤−2r

(1

z − n+

1

n

)

auf |z| ≤ r gleichmaßig konvergent und

h(z) =1

z+∑

n 6=0

(1

z − n+

1

n

)

ist kompakt konvergent auf dem Komplement von Z, also: Wahlen wir eine kompakte Teilmenge desKomplements von Z, so sind dort die beiden Teilreihen n→ ∞, n→ −∞ gleichmaßig konvergent.

Die Funktiong(z) = π cot(πz)− h(z)

hat hebbare Singularitaten in Z. Nach Heben der Singularitaten entsteht eine ganze Funktion, dieim Folgenden bestimmt wird.

Nach dem Satz von Weierstraß uber kompakte Konvergenz 7.2 durfen wir die Reihe gliedweisedifferenzieren. Wir erhalten die ganze Funktion

g′(z) = −π2 1

sin2(πz)+

1

z2+∑

n 6=0

1

(z − n)2= −π2 1

sin2(πz)+

∞∑

n=−∞

1

(z − n)2.

Sowohl sin(πz) als auch die Reihe sind 1-periodisch. Der Wertevorrat von g′(z) wird daher imStreifen 0 ≤ Re z ≤ 1 angenommen. Wir zeigen, dass g′ dort beschrankt ist. Fur die kompakte

63

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Menge {x + iy : 0 ≤ x ≤ 1, −1 ≤ y ≤ 1} ist das klar. Fur reelle x, y mit 0 ≤ x ≤ 1 und |y| ≥ r,r ≥ 1, ist

∣∣ sin(π(x+ iy))

∣∣ =

1

2

∣∣eiπxe−πy − e−iπxeπy

∣∣ ≥ 1

2

∣∣eπy − e−πy

∣∣ ≥ | sinh(πr)|.

Damit ist der Sinus-Term auf {x + iy : 0 ≤ x ≤ 1, |y| ≥ r} beschrankt durch π2

sinh2(πr). Fur diese

x+ iy gilt auch

|(x+ iy − n)2| ≥{

n2 + r2 fur n ≤ 0

(n− 1)2 + r2 fur n > 0,

also ∣∣∣∣∣

∞∑

n=−∞

1

(z − n)2

∣∣∣∣∣≤

∞∑

n=0

1

n2 + r2+

∞∑

n=1

1

(n− 1)2 + r2<∞.

Damit ist die Funktion g′(z) auf ganz C beschrankt, nach dem Satz von Liouville ist sie konstant.Fur r → ∞ zeigen unsere Abschatzungen, dass sowohl der Sinus-Term, als auch die Reihe gegenNull konvergiert. Damit ist g′(z) = 0 in C und wie erhalten

(7.3)π2

sin2(πz)=

∞∑

n=−∞

1

(z − n)2

sowie

π cot(πz) =1

z+∑

n 6=0

(1

z − n+

1

n

)

+ c.

Ferner ist∑

n 6=0

(1

z − n+

1

n

)

=∞∑

n=1

(z

n(z − n)− z

n(z + n)

)

=∞∑

n=1

2z

z2 − n2.

Da die rechte Seite genau wie 1z eine ungerade Funktion ist, verschwindet die Konstante und wir

erhalten

(7.4) π cot(πz) =1

z+∑

n 6=0

(1

z − n+

1

n

)

=1

z+

∞∑

n=1

2z

z2 − n2.

Fur z = 12 ergibt sich in (7.3)

π2 =π2

sin2(π/2)=

∞∑

n=−∞

4

(2n− 1)2

und damitπ2

8=

∞∑

n=1

1

(2n− 1)2= 1 +

1

9+

1

25+ . . . .

7.4 Produktdarstellung des Sinus Wir hatten in Beispiel 7.9 gezeigt, dass

f(z) =∞∏

k=1

(

1− z2

k2

)

auf C kompakt konvergiert und damit eine ganze Funktion darstellt. Nach dem Satz von Weierstraßuber kompakte Konvergenz 7.2 konnen wir fur die Partialprodukte die logarithmische Ableitungbilden und erhalten mit (7.4)

f ′(z)

f(z)=

∞∑

k=1

−2z

k2 − z2= π cot(πz)− 1

z.

64

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Die nach Heben der Singularitat in ganz C holomorphe Funktion g(z) = sin(πz)/(πz) besitzt dielogarithmische Ableitung

g′(z)

g(z)=π2z cos(πz)− π sin(πz)

π2z2πz

sin(πz)= π cot(πz)− 1

z.

Zwei Funktionen mit gleicher logarithmischer Ableitung unterscheiden sich hochstens um einenFaktor. In unserem Fall gilt f(0) = 1 = g(0), daher

sin(πz)

πz=

∞∏

k=1

(

1− z2

k2

)

oder die Produktformel von Euler

sin(πz) = πz∞∏

k=1

(

1− z2

k2

)

Fur z = 12 folgt

1 =π

2

∞∏

k=1

(2k − 1)(2k + 1)

2k · 2kund damit das Wallissche Produkt

π

2=

2 · 21 · 3 · 4 · 4

3 · 5 · 6 · 65 · 7 · . . . .

7.5 Der Satz von Mittag-Leffler In diesem Abschnitt sehen wir, dass man die Polstelleneiner meromorphen Funktion sowie deren Hauptteile nahezu beliebig vorschreiben kann.

Satz 7.10 (Mittag-Leffler) Gegeben seien eine Folge (an) paarweise verschiedener Punkte inC, die sich nicht haufen, sowie eine Folge von Polynomen (Pn(z)) mit Pn(0) = 0. Dann gibt eseine auf C meromorphe Funktion f , deren Pole gerade die an und deren Hauptteile gerade diehn = Pn(

1z−an

) sind.

Genauer gibt es eine Folge von Polynomen (pn(z)), so dass die Reihe

(7.5) f(z) =∞∑

n=1

(hn(z)− pn(z)

), hn(z) = pn

(1

z − an

)

,

auf dem Komplement der Menge {an}n∈N lokal kompakt gegen die meromorphe Funktion f kon-vergiert. Die pn(z) nennt man konvergenzerzeugende Summanden.

Beweis: Gabe es nur endlich viele an so konnte man gleich f(z) =∑hn(z) oder f(z) =

∑(hn(z)− pn(z)) setzen. Fur unendlich viele an werden wir im Folgenden die pn geschickt wahlen.

Wir konnen annehmen, dass an 6= 0. Dann konvergiert die Taylor-Reihe von hn(z) fur |z| < |an|und sie konvergiert gleichmaßig fur |z| ≤ |an|/2. Es gibt daher ein Polynom pn(z) mit

|hn(z)− pn(z)| <1

2nfur |z| ≤ |an|

2.

Sei r > 0 beliebig gewahlt. Da die an keinen Haufungspunkt besitzen, gibt es ein n0 mit|an|/2 ≥ r fur alle n ≥ n0. Dann ist die Reihe

∑∞n=n0+1 2

−n auf der Kreisscheibe |z| ≤ r einekonvergente Majorante fur

∑∞n=n0+1(hn(z) − pn(z)). Diese Reihe ist dann holomorph auf |z| ≤ r

und

f(z) =∞∑

n=1

(hn(z)− pn(z))

demnach meromorph auf |z| ≤ r. Da r beliebig gewahlt war, ist f eine auf ganz C meromorpheFunktion mit den vorgeschriebenen Hauptteilen.

65

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Korollar 7.11 Jede auf C meromorphe Funktion f mit den paarweise verschiedenen Polen an undHauptteilen hn gestattet eine

”Partialbruchzerlegung“ der Form

f(z) = g(z) +∞∑

n=1

(hn(z)− pn(z))

mit Polynomen pn(z) und einer ganzen Funktionen g(z).

Beweis: Die Pole einer auf ganz C meromorphen Funktion sind isoliert und haufen sich imEndlichen nicht. Nach dem letzten Satz gibt es eine meromorphe Funktion f mit denselben Polenund Hauptteilen wie in (7.5). Dann hat f − f in den Punkten an hebbare Singularitaten und stelltsomit eine holomorphe Funktion dar.

7.6 Der Weierstraßsche Produktsatz

Satz 7.12 (Weierstraßscher Produktsatz) Sei (an) eine Folge in C ohne Haufungspunkt.Dann gibt es eine ganze Funktion f , die nur an den Stellen an verschwindet und zwar so oft,wie an in der Folge vorkommt.

Genauer wird wird eine solche Funktion konstruiert durch

(7.6) f(z) = zm∏

an 6=0

(

1− z

an

)

epn(z/an), pn(z) =

kn∑

k=1

zk

k,

wobei m die Anzahl der an ist mit an = 0. Die epn(z/an) heißen auch konvergenzerzeugende Fakto-ren.

Beweis: Der Hauptzweig Log des Logarithmus kann in z = 1 nach Taylor entwickelt werden mitKonvergenzradius R = 1 (siehe Beispiel 5.2(ii)). Log (1 − z) kann demnach auf |z − 1| ≤ 1

2 durch

seine Taylorreihe −∑∞k=1

zk

k approximiert werden. Wir wahlen eine Folge (kn) naturlicher Zahlenmit

|Log (1− z) + pn(z)| <1

2nfur |z| < 1

2, pn(z) =

kn∑

k=1

zk

k.

Der Rest des Beweises verlauft ganz ahnlich wie der des Satzes von Mittag-Leffler. Sei r > 0beliebig gewahlt. Da die Folge (an) keinen Haufungspunkt besitzt, gibt es ein n0 mit |an| ≥ 2r furalle n ≥ n0. Dann ist die Reihe

∑∞n=n0+1 2

−n auf Br(0) eine konvergente Majorante fur

∞∑

n=n0+1

(

Log(

1− z

an

)

+ pn

( z

an

))

,

und die letzte Reihe konvergiert gleichmaßig gegen eine holomorphe Funktion. Nach dem Logarith-muskriterium konvergiert daher das Produkt

∞∏

n=n0+1

exp(

Log(1− z

an

)+ pn

( z

an

))

=∞∏

n=n0+1

(

1− z

an

)

epn(zan

).

auf Br(0) gleichmaßig gegen eine nirgends verschwindende holomorphe Funktion. Dann definiert

zm∞∏

n=1

(

1− z

an

)

epn(zan

)

auf Br(0) eine holomorphe Funktion, die genau in den an ∈ Br(0) verschwindet mit den richtigenVielfacheiten. Weil r > 0 beliebig war, folgt die Behauptung.

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Korollar 7.13 Ist g eine ganze Funktion mit den mit Vielfachheiten gezahlten Nullstellen an, undist an eine unendliche Folge, so besitzt g eine Darstellung der Form g = feh mit f wie in (7.6)und einer ganzen Funktion h.

Beweis: Nach dem Identitatssatz haben die Nullstellen keine Haufungspunkte. Nach Korollar4.11 ist jede ganze Funktion ohne Nullstellen von der Form eh mit einer ganzen Funktion h.

Korollar 7.14 Jede auf ganz C meromorphe Funktion ist der Quotient zweier ganzer Funktionen,der Korper der meromorphen Funktion auf C ist damit der Quotientenkorper des Rings der ganzenFunktionen.

Beweis: Ist f meromorph auf C mit den Polen bn der Ordnung mn, so wahlen wir eine ganzeFunktion h mit den Nullstellen bn der Vielfachheiten mn. Dann lassen sich die Singularitaten vonfh heben, also ist g = fh eine ganze Funktion und f = g/h.

67

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8 Geometrische Eigenschaften holomorpher Funktionen

8.1 Der Nullstellensatz In diesem Abschnitt wollen wir prazisieren, wann eine holomorpheFunktion lokal umkehrbar ist. Im Umkehrsatz 3.5 hatten wir dazu die Bedingung f ′(z0) 6= 0 kennen-gelernt. Im Reellen zeigt die Funktion f(x) = x3, dass eine Umkehrung auch ohne die Bedingungf ′(x) 6= 0 moglich ist. Nicht so im Komplexen - dort ist der Umkehrsatz scharf, und das wollen wirim Folgenden beweisen.

Lemma 8.1 (Wurzelfunktion) Sei f : D → C holomorph im Gebiet D und sei z0 ∈ D ein Punktmit f(z0) 6= 0. Dann besitzt f auf einer Umgebung von z0 fur jedes n ∈ N \ {0} eine holomorphen-te Wurzel.

Genauer: Ist a ∈ C eine n-te Wurzel aus f(z0) (wovon es n verschiedene gibt), so gibt es eineholomorphe Funktion g auf einer Umgebung U von z0 mit

gn = f∣∣U

und g(z0) = a.

Beweis: Die Ableitung der holomorphe Abbildung z → zn hat in a keine Nullstelle, also gibt esnach dem Umkehrsatz eine offene Umgebung W von f(z0) und darauf eine holomorphe Funktionw : W → C mit w(f(z0)) = a und wn(z) = z fur alle z ∈ W. Weil f stetig ist, gibt es eineUmgebung U ⊂ D von z0 mit f(U) ⊂W, und wir setzen g = w◦f |U . Dann ist gn = wn ◦f

∣∣U= f

∣∣U

und g(z0) = a.

Wir nennen eine holomorphe Abbildung f : D → E biholomorph zwischen den Gebieten D undE, wenn sie bijektiv ist und die Umkehrabbidung ebenfalls holomorph ist. Wie wir gleich sehenwerden, ist die letzte Bedingung automatisch erfullt.

Satz 8.2 (Nullstellensatz) Sei z0 eine Nullstelle der endlichen Ordnung n der holomorphenFunktion f : D → C. Dann gibt es eine biholomorphe Abbildung

h : Br(0) → V (z0), r > 0,

so dass auf Br(0)f(h(z)) = zn.

Bis auf eine biholomorphe Transformation”sieht f bei z0 so aus wie zn bei 0“. Insbesondere nimmt

f in V jeden Wert w mit 0 < |w| < rn genau n-mal an.

Beweis: Nach Satz 5.4 und dem Lemma haben wir

f(z) = (z − z0)ng(z) =

((z − z0)g(z)

)n

mit einer holomorphen Funktion g. Die Abbildung

k(z) := (z − z0)g(z)

hat Ableitung k′(z0) = g(z0) 6= 0, und nach dem Umkehrsatz bildet sie deshalb eine offene Umge-bung von z0 biholomorph auf eine offene Umgebung U von k(z0) = 0 ab. Ohne Einschrankung istU ein Kreis um 0. Aus f(z) = k(z)n folgt fur h := k−1 die Behauptung.

Der Satz gilt sinngemaß fur alle Punkte z0, in denen die Ableitung verschwindet. In diesemFall konnen wir f(z) − f(z0) betrachten und haben fur diese Funktion eine mehrfache Nullstelle.Zusammen mit dem Umkehrsatz gilt daher fur eine holomorphe Funktion f :

(8.1) f ′(z0) 6= 0 ⇔ f lokal bijektiv ⇔ f lokal injektiv ⇔ f−1 lokal holomorph.

Eine Abbildung zwischen zwei Gebieten ist daher genau dann biholomorph, wenn sie bijektiv undholomorph ist.

Wir konnen dieses Prinzip noch mit dem Satz von Hurwitz 7.2 kombinieren:

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Satz 8.3 Die Grenzfunktion einer Folge kompakt konvergenter injektiver holomorpher Funktionenist konstant oder injektiv.

In der klassischen Funktionentheorie nennt man die hier auftretenden injektiven Funktionen auchschlichte holomorphe Funktionen. Der Beweis dieses Satzes ist klar: Ist (fn) kompakt konvergent,so auch (f ′n). Da die f ′n keine Nullstelle besitzen, gilt das nach dem Satz von Hurwitz auch fur f ′.

8.2 Konforme Abbildungen Eine Abbildung f : D → C, D ⊂ C, heißt konform, wenn sieholomorph in D ist mit f ′(z) 6= 0 fur alle z ∈ D.

Sei z(t) ein glatter Weg mit z(0) = z0 ∈ D und α = z′(0) 6= 0. Unter dem Abbildungsmaßstabeiner Abbildung f : D → C in Richtung α verstehen wir die Zahl

A = limt→0

|f(z(t))− f(z0)||z(t)− z0|

.

Wenn A existiert, so lasst es sich als die Langenverzerrung eines kleinen Kurvenstuckes deuten, dasim Punkt z0 in Richtung α verlauft. Wenn f holomorph ist, so gilt

A = limt→∞

|f ′(z0) + o(1)| = |f ′(z0)|.

Der Abbildungsmaßstab einer holomorphen Funktion ist also richtungsunabhangig, d.h. sie istmaßstabstreu.

Sei z(t) ein glatter Weg mit z′(t) 6= 0. Fur konformes f gilt

d

dtf(z(t)) = f ′(z)z′(t) 6= 0,

also ist auch das Bild der Kurve durch f(z(t)) regular parametrisiert.

Fur Kurven z1(t), z2(t), die sich im Punktz0 schneiden, gilt fur den Schnittwinkel

α = argz′1(0)

z′2(0)= arg z′1(0)− arg z′2(0),

fur die Bilder w1 = f(z1), w2 = f(z2) untereiner konformen Abbildung f daher

z1(t) z2(t)

f

w1(t)=f(z1(t))

w2(t)=f(z2(t))

α′ = argddtf(z1(t))ddtf(z2(t))

∣∣∣t=0

= argz′1(0)

z′2(0)= α.

Solche Abbildungen, die den Schnittwinkel und den Drehsinn zweier Kuven unverandert lassen,bezeichnet man als winkeltreu. Wir haben gezeigt:

Satz 8.4 Eine konforme Abbildung ist maßstabs- und winkeltreu.

Beispiele 8.5 (i) f(z) = ez ist wegen f ′(z) = ez in ganz C konform. Wenn im linken Rechteck

α < 2π erfullt ist, bildet die komplexee-Funktion das Rechteck bijektiv auf einRingsegment ab. Fur α > 2π ist ez nicht bi-jektiv.

(ii) f(z) = z2 ist im Ursprung nicht win-keltreu, denn die Kurven

C1 : z1(t) = t, C2 : z2(t) = ti, t ∈ [0, 1],

y

xa b

α

e

y

xea eb

werden beide auf einen Teil der reellen Achse abgebildet.

69

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8.3 Die gebrochen lineare Abbildung ist eine Abbildung der Form

f(z) =az + b

cz + d, z 6= −d

c.

f wird auch Mobius-Transformation genannt. Wir fordern

ad− bc 6= 0,

denn andernfalls waren die Vektoren(ab

),(cd

)linear abhangig und wir konnen f zu einer Konstanten

kurzen. Da wir den Bruch in f(z) mit einer komplexen Zahl erweitern konnen, sind abgesehen vonder Bedingung ad− bc 6= 0 drei Parameter frei wahlbar.

Spezialfalle: (i) c = 0, d = 1 : f(z) = az+ b ist die Komposition von g(z) = az (Drehstreckung)und h(z) = z + b (Translation).

(ii) f(z) = 1z ist die Komposition von g(z) = 1

z (Spiege-lung am Einheitskreis) und h(z) = z (Spiegelung an der re-ellen Achse). Die Spiegelung am Einheitskreis ist auf C\{0}definiert. z 6= 0 wird auf den Punkt abgebildet, der auf demStrahl 0z liegt und die Entfernung 1

|z| vom Ursprung besitzt,d.h.

g(z) =z

|z|2 =1

z.

y

x1

g(z)

z

Jede gebrochen lineare Abbildung lasst sich als Komposition dieser beiden Spezialfalle darstellen,(c 6= 0, sonst trivial)

(8.2) z → z1 = cz + d → z2 =1

z1→ z3 = −ad− bc

cz2 +

a

c= f(z).

Ein verallgemeinerter Kreis in C ist ein Kreis oder eine Gerade (= Kreis mit Radius ∞).

Satz 8.6 Die gebrochen lineare Abbildung f mit ad− bc 6= 0 hat die folgenden Eigenschaften:

(a) f : C \ {−dc} → C \ {ac} ist bijektiv und die Umkehrabbildung ebenfalls gebrochen linear.

(b) f ist auf ihrem Definitionsbereich konform.

(c) f uberfuhrt verallgemeinerte Kreise in verallgemeinerte Kreise.

Beweis: (a) Wir losen

w =az + b

cz + d

nach z auf und erhalten

z =dw − b

−cw + a, w 6= a

c.

Diese Auflosung nach z ist eindeutig. Genauso konnen wir die letzte Gleichung wieder eindeutignach w auflosen und erhalten die Behauptung.

(b) Die Gleichung

f ′(z) =a(cz + d)− (az + b)c

(cz + d)2=

ad− bc

(cz + d)26= 0

gilt fur z 6= −dc , denn ad− bc darf nach Voraussetzung nicht verschwinden.

(c) Hilfssatz: Die Gleichung

(8.3) azz + αz + αz + b = 0 , α ∈ C, a, b ∈ R,

70

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mit D := αα − ab > 0 beschreibt fur a 6= 0 den Kreis mit Mittelpunkt −αa

und Radius

√D

|a| . Fura=0 erhalt man die allgemeine Geradengleichung.

Beweis des Hilfssatzes: Fur a 6= 0 gilt

|z + α

a|2 = (z +

α

a)(z +

α

a) =

αα− ab

a2=D

a2,

d.i. der behauptete Kreis. Fur a = 0 ergibt sich

−b = αz + αz = α1z1 + α2z2 (z = z1 + iz2),

also die allgemeine Geradengleichung.

Nun kommen wir zum Beweis von (c). Fur c = 0 haben wir eine lineare Funktion vor uns, diesogar Kreise und Geraden in Kreise und Geraden uberfuhrt. Fur c 6= 0 lasst sich f nach Gleichung(8.2) als Komposition von linearen Funktionen und 1

z darstellen. Wir mussen die Behauptung dahernur fur 1

z nachweisen. Nach dem letzten Hilfssatz erhalten wir fur w = 1z

a

ww+α

w+α

w+ b = 0

oder nach Multiplikation mit ww

bww + αw + αw + a = 0.

Dies ist von der Form (8.3), also wieder eine verallgemeinerte Kreisgleichung.

Da man bei gebrochen linearen Abbildungen sowohl ein Loch im Definitions- als auch im Wer-tebereich hat, bietet es sich an, sie gleich auf C = C ∪ {∞} zu studieren, zumal in der Metrik derRiemannschen Zahlenkugel

limz→∞

f(z) = limz→∞

az + b

cz + d=a

c, lim

z→− dc

f(z) = ∞,

erfullt ist.

Satz 8.7 Mit f(∞) = ac , f(−d

c ) = ∞ sind die gebrochen linearen Abbildungen f : C → C stetig.Sie bilden eine Untergruppe der Bijektionen von C nach C.

Beweis: Wir zeigen, dass die Komposition zweier gebrochen linearer Funktionen wieder gebro-chen linear ist. Fur

f(z) =az + b

cz + d, g(z) =

αz + β

γz + δ

gilt

f ◦ g(z) = (aα+ bγ)z + (aβ + bδ)

(cα+ dγ)z + (cβ + dδ).

Dies zeigt man, indem man g(z) fur z einsetzt und dann den Bruch mit γz + δ erweitert.

Wie der Beweis zeigt, hat man offenbar eine Korrespondenz zwischen regularen 2×2-Matrizen undgebrochen linearen Abbildungen,

(8.4) Φ :

(

a b

c d

)

7→ az + b

cz + d.

Es gilt Φ(AB) = Φ(A)◦Φ(B). Man kann hier noch die gebrochen linearen Abbildungen durch ad−bc = 1 normieren und erhalt so einen Gruppen-Homomorphismus zwischen SL(2,C), der Gruppeder komplexen 2× 2-Matrizen mit Determinante 1, und den gebrochen linearen Abbildungen.

Man kann die gebrochen linearen Abbildungen zur Konstruktion konformer Abbildungen nut-zen. Dazu muss man aber wissen, wie man die oben genannten drei freien Parameter einsetzensoll.

71

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Lemma 8.8 Eine gebrochen lineare Abbildung ist durch die Vorgabe von paarweise verschiedenenWerten in den Punkten 0, 1 und ∞ eindeutig bestimmt.

Beweis: Fur f(z) =az + b

cz + dist

f(0) =b

d, f(1) =

a+ b

c+ d, f(∞) =

a

c.

Im Fall f(∞) = ∞ ist c = 0 und wir erhalten f(z) = (f(1) − f(0))z + f(0). Im Fall f(0) = ∞ istd = 0 und f(z) = f(∞) + (f(1)− f(∞))/z. Treffen diese beiden Falle nicht zu, so schreiben wir

f(z) =ac z +

bc

z + dc

=f(∞)z + f(0)dc

z + dc

und

f(1) =f(∞) + f(0)dc

1 + dc

.

Die rechte Seite ist gebrochen linear in dc und damit eindeutig nach d

c auflosbar.

Satz 8.9 (6-Punkte-Satz) Sind z1, z2, z3 und w1, w2, w3 paarweise verschiedene Punkte in C, sogibt es genau eine gebrochen lineare Abbildung mit f(zi) = wi fur i = 1, 2, 3. Diese erhalt mandurch Auflosen der 6-Punkte-Formel nach w:

(w − w1)(w2 − w3)

(w1 − w2)(w3 − w)=

(z − z1)(z2 − z3)

(z1 − z2)(z3 − z).

Die Formel gilt sinngemaß auch dann, wenn fur ein wi oder ein zi der Wert ∞ vorgegeben wird. Indiesem Fall kurzt man diesen heraus, beispielsweise fur w3 = ∞,

(w − w1)(w2w3

− 1)

(w1 − w2)(1− ww3

)=

(w − w1)(0− 1)

(w1 − w2)(1− 0)=

w − w1

w2 − w1.

Beweis: Die rechte Seite ist eine nicht konstante gebrochen lineare Abbildung r(z) mit

r(z1) = 0, r(z2) = 1, r(z3) = ∞

und damit auch bijektiv in C. Fur die linke Seite s(w) gilt das gleiche. Damit erfullt f = s−1 ◦ rdie angegebenen Bedingungen. Die Transformation f ◦ r−1 bildet 0, 1,∞ auf w1, w2, w3 ab und istnach dem letzten Lemma eindeutig bestimmt.

Demnach hat man die Moglichkeit, sich mit Hilfe der gebrochen linearen Abbildung konformeAbbildungen zwischen Kreisscheiben und anderen Kreisscheiben oder Halbebenen zu konstruieren.

Beispiele 8.10 (i) Welche gebrochen lineare Abbildungen bilden die obere Halbebene H ={Im z > 0} auf sich ab? Jede dieser Abbildungen bilden reelle Punkte, z.B −1, 0, 1 auf reelle Punkteab. Daher sind in der 6-Punkte-Formel alle Großen reell. Hat man umgekehrt eine gebrochen lineareFunktion mit reellen Koeffizienten, so geht die reelle Achse in sich uber. Ferner gilt

f(i) =ai+ b

ci+ d=

1

c2 + d2(ai+ b)(d− ic) =

ac+ bd

c2 + d2+ i

ad− bc

c2 + d2

und die obere Halbebene wird genau dann auf sich abgebildet, wenn Im f(i) > 0, also ad− bc > 0erfullt ist.

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(ii) Gesucht ist eine Abbildung, die die obere Halbebene konform auf den Einheitskreis abbildet.Wir stellen die Bedingungen

f(0) = i, f(1) = −1, f(∞) = −i.

Da im Urbildbereich das Gebiet links liegt, wenn wir die Punkte 0, 1,∞ abschreiten, muss dasBild auch links liegen, wenn wir i, −1, −i abschreiten (Winkeltreue). Demnach wird die obereHalbebene tatsachlich auf das Innere des Einheitskreises abgebildet und nicht auf das Außere. Wirkonnen naturlich den letzten Satz fur die Konstruktion einer solchen Abbildung finden. Da dasGleichungssystem hier besonders einfach ist, nehmen wir gleich den Ansatz

f(z) =az + b

cz + d

und erhaltenb

d= i,

a+ b

c+ d= −1,

a

c= −i.

Mit der Normierung a = 1 gilt dann

f(z) =z − i

iz − 1.

Mit der gebrochen linearen Funkton konnen wir leicht entscheiden, ob vier verschiedene Punktez1, z2, z3, z4 auf einem Kreis liegen. Wir nehmen dazu die bereits oben verwendete Transformation

f(z) =(z − z2)(z3 − z4)

(z2 − z3)(z4 − z),

die die Punkte z2, z3, z4 auf die Punkte 0, 1,∞ abbildet, was als verallgemeinerter Kreis der reellenAchse entspricht. Damit haben wir gezeigt:

Satz 8.11 (Satz vom Doppelverhaltnis) Die paarweise verschiedenen Punkte z1, z2, z3, z4 lie-gen genau dann auf einem verallgemeinerten Kreis, wenn

DV (z1, z2, z3, z4) =(z1 − z2)(z3 − z4)

(z2 − z3)(z4 − z1),

reell ist. Die Zahl DV (z1, z2, z3, z4) heißt das Doppelverhaltnis der vier Punkte.

Aus der 6-Punkte-Formel folgt dann:

Satz 8.12 Fur je vier paarweise verschiedenene Punkte z1, z2, z3, z4 und einer beliebigen gebrochenlinearen Funktion f gilt

DV (f(z1), f(z2), f(z3), f(z4)) = DV (z1, z2, z3, z4).

Satz 8.13 Die gebrochen linearen Abbildungen, die die Einheitskreisscheibe D = B1(0) auf sichabbilden, sind genau von der Form

f(z) = eiφz − z01− z0z

mit einem beliebigen φ ∈ R und |z0| < 1. Fur diese gilt

|f ′(z)| = 1− |z0|2|1− z0z|2

=1− |f(z)|21− |z|2 .

73

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Beweis: Fur |z| = 1 gilt

|f(z)|2 = zz − (zz0 + zz0) + z0z01− (zz0 + zz0) + z0z0zz

= 1.

Damit bildet f den Einheitskreis auf sich ab und wegen f(z0) = 0 auch das Innere auf sich selbst.

Fur die Ableitung bekommen wir

f ′(z) = eiφ1− z0z + (z − z0)z0

(1− z0z)2= eiφ

1− |z0|2(1− z0z)2

sowie

1− |f(z)|21− |z|2 =

1− z − z01− z0z

z − z01− z0z

1− |z|2 =1− z0z − z0z + |z0|2|z|2 − |z|2 − |z0|2 + z0z + z0z

|1− z0z|2(1− |z|2)

=(1− |z|2)(1− |z0|2)|1− z0z|2(1− |z|2) =

1− |z0|2|1− z0z|2

Als letztes zeigen, dass jede gebrochen lineare Abbildung mit f(D) = D von der angegebenenForm ist. Die Abbildung

g(z) =iz + 1

iz − 1, g−1(w) =

w + 1

iw − i,

bildet die obere Halbebene auf die Einheitskreisscheibe ab. Dies sieht man, wenn man beispielsweisedie Werte g(−1), g(0), g(1) ∈ K1(0) einsetzt sowie g(i) = 0 ∈ D. Damit bildet

h = g−1 ◦ f ◦ g

die obere Halbebene auf sich ab und ist nach Beispiel 8.10(i) von der Form

h(z) =αz + β

γz + δ, αδ − βγ > 0.

Mit (8.4) konnen wir damit die Struktur von f(z) =az + b

cz + dbestimmen

(a bc d

)

=

(i 1i −1

)(α βγ δ

)(1 1i −i

)

=

(

(γ − β) + i(α+ δ) (β + γ) + i(α− δ)

−(β + γ) + i(α− δ) −(γ − β) + i(α+ δ)

)

=

(a b

−b −a

)

.

Daher

f(z) =az + b

−bz − a.

Ware a = 0, so f(0) = ∞ im Widerspruch zu f(D) = D. Mit z0 = − ba folgt

f(z) =a

−az − z01− z0z

.

Der Vorfaktor a/(−a) ist vom Betrag 1. Es gibt daher ein φ mit eiφ = a/(−a). Ferner gilt z0 ∈ Dwegen z0 = f−1(0).

74

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8.4 Das Lemma von Schwarz-Pick

Lemma 8.14 (Lemma von Schwarz-Pick) Sei f : D→ D holomorph. Dann gilt fur alle z ∈ D

(8.5)|f ′(z)|

1− |f(z)|2 ≤ 1

1− |z|2 .

Die Gleichheit in dieser Abschatzung fur ein z impliziert Gleichheit fur alle z ∈ D, und das istgenau dann der Fall, wenn f eine gebrochen lineare Abbildung von D nach D ist, siehe Satz 8.13.

Beweis: Sei z0 ∈ D. Nach Satz 8.13 bilden

φ1(z) =z + z01 + z0z

, φ2(z) =z − f(z0)

1− f(z0)z

D bijektiv auf sich selber ab. Fur F = φ2◦f ◦φ1 gilt daher F (D) ⊂ D. Wegen F (0) = φ2(f(z0)) = 0folgt aus dem Lemma von Schwarz 5.6

1 ≥ |F ′(0)| = |φ′2(f(z0))f ′(z0)φ′(0)|.

Aus Satz 8.13 wissen wir ferner, dass fur jede gebrochen lineare Abbildung, die D bijektiv auf sichselber abbildet, gilt

|φ′(z)| = 1− |φ(z)|21− |z|2 .

In unserem Fall daher

|φ′1(0)| =1− |z0|2

1, |φ′2(f(z0))| =

1

1− |f(z0)|2,

also

1 ≥ |F ′(0| = 1− |z0|21− |f(z0)|2

|f ′(z0)|

und damit die behauptete Ungleichung. Gilt Gleichheit fur ein z0, so ist F nach dem Lemma vonSchwarz eine Drehung und damit f gebrochen linear. Dass dann in (8.5) Gleichheit gilt, hatten wirbereits in Satz 8.13 nachgerechnet.

Korollar 8.15 Ist f : D → D holomorph und bijektiv, so ist f gebrochen linear, nach Satz 8.13also von der Form

f(z) = eiφz − z01− z0z

, z0 ∈ D, φ ∈ R.

Beweis: Nach (8.1) ist auch die Umkehrabbildung holomorph. Anwendung des Lemmas vonSchwarz-Pick auf f−1 liefert

|1/f ′(z)|1− |z|2 ≤ 1

1− |f(z)|2oder

1

1− |z|2 ≤ |f ′(z)|1− |f(z)|2 .

Aus dem Lemma von Schwarz-Pick angewendet auf f folgt dann Gleichheit. Also ist f gebrochenlinear.

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8.5 Der Riemannsche Abbildungssatz Zwei Gebiete der komplexen Ebene heißen biholo-morph aquivalent, wenn es zwischen ihnen eine bijektive holomorphe Abbildung gibt. Nach (8.1)darf die Ableitung einer biholomorphen Funktion nicht verschwinden; eine biholomorphe Abbildungist daher konform. Nach dem Umkehrsatz ist die Umkehrfunktion einer biholomorphen Funktionebenfalls holomorph.

Wir hatten schon viele Beispiele biholomorpher Abbildungen kennengelernt. Nach dem letztenAbschnitt sind Kreisscheiben und Halbebenen biholomorph aquivalent. In Beispiel 8.5(i) hattenwir gesehen, dass ein Rechteck und ein Ringsegment biholomorph aquivalent sind. Dagegen ist diekomplexe Ebene nicht zu einem beschranken Gebiet biholomorph aquivalent wegen des Satzes vonLiouville. Wir fragen, welche Gebiete zur EinheitskreissscheibeD biholomorph aquivalent sind. Allediese Gebiete sind dann auch untereinander biholomorph aquivalent.

Satz 8.16 (Riemannscher Abbildungssatz) Sei D ⊂ C ein von C verschiedenes, einfach zu-sammenhangendes Gebiet. Dann ist D biholomorph aquivalent zu D.

Der Abbildungssatz wurde von Riemann in seiner Doktorarbeit 1851 in etwas modifizierter Formbehandelt, sein Beweis war aber fehlerhaft. Mittlerweile gibt es verschiedene Beweise, der erstekorrekte Beweis stammt von Hilbert aus dem Jahr 1901. Es folgten weitere Verbesserungen undneue Ideen bis Caratheodori 1928 den hier vorzustellenden sehr kompakten Beweis veroffentlichte.

Da D nicht mit C ubereinstimmt, konnen wir nach einer Verschiebung annehmen, dass 0 /∈ D.Wir gehen in mehreren Schritten vor.

A: Konstruktion eines eindeutigen Logarithmus und einer eindeutigen Wurzelfunktionin D: Wir wahlen ein beliebiges z0 ∈ D und ein w0 ∈ C mit ew0 = z0. Auf dem einfach zusam-menhangenden Gebiet D bekommen wir eine Stammfunktion λ von 1

z , die wir durch λ(z0) = w0

normieren. Wegen λ′(z) = 1z 6= 0 konnen wir den Umkehrsatz anwenden und erhalten fur die

Ableitung der Umkehrabbildung

d

dwλ−1(w) =

1

λ′(z)

∣∣z=λ−1(w)

= λ−1(w).

Zusammen mit ew0 = z0 folgt, dass λ die Umkehrung der e-Funktion, also ein Logarithmus ist.Damit gilt eλ(z) = z in D.

Mitw(z) = e

12λ(z)

erhalten wir eine eindeutige Funktion w mit w(z)2 = z, also einen eindeutigen Zweig der Quadrat-wurzel. w ist damit injektiv und wegen (8.1) eine biholomorphe Abbildung zwischen D und einemGebiet w(D).

B: D ist biholomorph aquivalent zu einem beschrankten Gebiet: Diesen Schritt brau-chen wir nur, wenn D unbeschrankt ist. Sei nach wie vor 0 /∈ D, w sei die gerade konstruierteQuadratwurzel. Seien z, z ∈ D mit w(z) = −w(z). Dann gilt

z = w(z)2 = (−w(z))2 = w(z)2 = z,

daher w(z) = −w(z) = 0 im Widerspruch zur Definition von w. Das Gebiet w(D) enthalt daherkeine Spiegelpunkte. Wir wahlen einen abgeschlossenen Kreis {|w − w0| ≤ r} ⊂ w(D) und wissendann, dass der gespiegelte Kreis {|w+w0| ≤ r} keine Punkte von w(D) enthalt. Damit kann w(D)durch w 7→ 1

w+w0auf ein beschranktes Gebiet abgebildet werden.

C: Ein Surjektivitatskriterium:

Lemma Sei D ⊂ D einfach zusammenhangend mit 0 ∈ D und sei

f ∈ F = {f : D → D) : f injektiv und holomorph mit f(0) = 0}

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Ist f(D) 6= D, so gibt es ein F ∈ F mit |F ′(0)| > |f ′(0)|. Ist also |f ′(0)| maximal in F , so ist fsurjektiv.

Beweis: Sei also z0 ∈ D \ f(D) undφ0 eine bijektive biholomorphe Abbildungvon D auf sich mit φ(z0) = 0, siehe Korol-lar 8.15. Damit ist φ0◦f eine biholomorpheAbbildung von D auf ein einfach zusam-menhangende Gebiet D = φ0(f(D)) ⊂ D,das 0 = φ(z0) nicht enthalt. Also gibt esnach A eine injektive Funktion w : D →C mit w(z)2 = z und w(D) ⊂ D. Wie-derum nach Korollar 8.15 gibt es eine bi-jektive biholomorphe Abbildung φ1 von Dauf sich selbst, die w(φ0(0)) auf 0 abbildet.Dann setze

f

F

φ0

h

z0

w

φ1

F (z) = φ1 ◦ w ◦ φ0 ◦ f.Offenbar ist F : D → D injektiv mit F (0) = 0. Man beachte hier, dass φ0, φ1 gebrochen linearsind. Wie im obigen Bild setzen wir h(z) = φ−1

0

(φ−11 (z)2

)mit h(0) = 0 und h ◦ F = f . h ist keine

gebrochen lineare Abbildung, weil sonst die Quadratabbildung φ0 ◦ h ◦ φ1 eine ware. Daher folgtaus dem Lemma von Schwarz 5.6

|h′(0)| < 1 und |f ′(0)| = |h′(0)F ′(0)| < |F ′(0)|.

D: Der Kompaktheitsschluss: Nach B konnen wir D als beschrankt annehmen und nach Trans-lation und Streckung 0 ∈ D ⊂ D. Die Menge F der injektiven holomorphen Funktionen f : D → D

mit f(0) = 0 enthalt f(z) = z und ist damit nichtleer. Wir konstruieren ein f in F mit maximalem|f ′(0|. Nach Schritt C ist dieses f dann surjektiv.

Sei ε > 0 mit Bε(0) ⊂ D. Nach der Cauchyschen Integralformel 4.8 fur die erste Ableitung giltfur alle f ∈ F

|f ′(0)| =∣∣∣∣∣

1

2πi

|z|=ε

f(z) dz

(z − 0)2

∣∣∣∣∣≤ 1

2πi

1

ε22πε =

1

ε.

Also ist

s0 = supf∈F

{|f ′(0)|} ≤ 1

ε<∞.

Sei (fn) eine Folge in F mit lim |f ′n(0)| = s0. Die Folge ist durch 1 beschrankt. Nach dem Satzvon Montel 7.4 enthalt sie eine gegen f kompakt konvergente Teilfolge. Die lokal gleichmaßigeKonvergenz sorgt fur f(0) = 0 und die lokal gleichmaßige Konvegenz fur f ′n impliziert |f ′(0)| = s0.Wegen f ′(0) 6= 0 ist f nicht konstant und nach dem Satz uber die Injektivitat der Grenzfunktion8.3 wie die fn eine injektive Funktion. Nach Konstruktion ist |f | ≤ 1 und nach dem Satz von derGebietstreue 6.5 folgt dann f(D) ⊂ D. Damit ist f ∈ F und nach Schritt C ist f(D) = D.

Im Riemannschen Abbildungssatz wird nicht behauptet, dass es eine winkeltreue Fortsetzungder konformen Abbildung auf D gibt (Man kann von der Winkeltreue einer Abbildung auch inRandpunkten sprechen, wenn man die Schnittkurven innerhalb von D betrachtet).

Beispiel 8.17 f(z) = z2 ist die eindeutig bestimmte konforme Abbildung des Sektors {(r, ϕ) : 0 <r < 1, 0 < ϕ < π

2 } auf den Sektor {(r, ϕ) : 0 < r < 1, 0 < ϕ < π} unter der Dreipunktbedingungf(0) = 0, f(1) = 1, f(i) = −1. Nach Beispiel 8.5 (ii) ist die Abbildung in z = 0 nicht winkeltreu.

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8.6 Potentialstrome Zunachst kommen wir auf die Definition der komplexen Differenzierbar-keit einer Funktion f(z) = u(x, y) + iv(x, y) zuruck, die aquivalent zur reellen Differenzierbarkeitvon u, v und den Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen

(8.6) ∂xu = ∂yv , ∂yu = −∂xv

ist. Es ist daher gleichgultig, ob man holomorphe Funktionen oder ebene Vektorfelder, die dieCauchy-Riemannschen Differentialgleichungen erfullen, studiert.

Satz 8.18 Wenn f = u+ iv holomorph ist, so stehen die Hohenlinien

u = const, v = const,

aufeinander senkrecht.

Beweis: Der Gradient steht senkrecht auf den Hohenlinien.

Sofern ∇u,∇v 6= 0, zeigen die Tangentenvektoren der Hohenli-nien in die Richtungen

vu

u=const

v=const

u− Linien:

(−∂yu∂xu

)

=

(∂xv∂yv

)

, v − Linien:

(−∂yv∂xv

)

= −(∂xu∂yu

)

,

und wegen(

−∂yu∂xu

)(−∂yv∂xv

)

= −(

−∂yu∂xu

)(∂xu∂yu

)

= 0

stehen sie senkrecht aufeinander.

Beispiel 8.19 Fur

f(z) = z2 = (x2 − y2) + 2ixy

erhalten wir das nebenstehende Bild.

y

x

u=const

v=const

Wir wollen nun ein”reelles“ Problem formu-

lieren und es spater ins Komplexe ubersetzen.Erinnert sei an den Rotationsoperator im R

2

rot

(v1v2

)

= ∂xv2 − ∂yv1.

Das Vektorfeld v(x, y) = (v1(x, y), v2(x, y))T heißt ebenes Potentialfeld, wenn es dem System von

partiellen Differentialgleichungen

(8.7) div v = 0, rot v = 0

genugt.

Potentialfelder werden in der Stomungsmechanik benutzt, beschreiben sie doch eine quellen-und wirbelfreie Stromung.

Satz 8.20 Zu einem Potentialfeld v in einem einfach zusammenhangenden Gebiet D existiert einbis auf eine Konstante c eindeutiges (reelles) Potential P mit

(8.8) v = ∇P, ∆P = 0.

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Beweis: Nach Satz 1.12 gibt es solch ein P wegen rot v = 0. Die Bedingung div v = 0 impliziertdann ∆P = 0.

Sei v ein ebenes Potentialfeld mit Potential P. Dann heißen die Hohenlinien von P die Poten-tiallinien. Die Stromlinien stehen senkrecht auf den Potentiallinien.

Die Definition lasst sich an Hand einer Stromung leicht veranschaulichen. Der Gradient von Psteht senkrecht auf den Potentiallinien und zeigt nach (8.8) in Richtung v. Die Stromlinien sindalso die Bahnkurven der Flussigkeitsteilchen.

Vergleichen wir die Gleichungen (8.6) und (8.7), so folgt

(8.9)

(v1v2

)

ist ein Potentialfeld ⇔ f(z) = v1 − iv2 ist holomorph.

Jede holomorphe Funktion erzeugt demnach durch Bildung der komplex konjugierten Funktion einPotentialfeld. Wenn P das Potential zum reellen Potentialfeld (v1, v2)

T ist, so gibt es wegen ∆P = 0nach Satz 3.7(b) eine Funktion Q, sodass F (z) = P (x, y) + iQ(x, y) holomorph ist. Wegen

F ′(z) = ∂xP (x, y) + i∂xQ(x, y) = ∂xP (x, y)− i∂yP (x, y)

erhalten wir aus dem Vergleich mit (8.9):

F ′(z)∧=

(v1(x, y)

v2(x, y)

)

.

Wir haben damit die Korrespondenzen:

Potentiallinien ↔ Hohenlinien vonP ↔ Hohenlinien von ReF,

Stromlinien ↔ (Hohenlinien vonP )⊥ ↔ Hohenlinien von ImF,

wobei die zweite Korrespondenz aus Satz 8.18 folgt. F heißt daher komplexes Potential zu f .

Ein haufiger Anwendungsfall der Potentialstromung ist die Umstromung von Hindernissen. Inreeller Schreibweise sucht man ein Vektorfeld (v1, v2)

T : R2 \D → R

2, wobei D ein Gebiet des R2

(=Hindernis) ist, mitdiv v = 0, rot v = 0 in R2 \D,

n · v = 0 auf ∂D.

n ist hier die Normale von ∂D. Die Randbedingung besagt, dass nichts in das Hindernis ein- oderaus dem Hindernis herausfließen darf. Demnach zeigt v auf ∂D in tangentialer Richtung, d.h. ∂Dist Stromlinie.

Beispiele 8.21 (i) F (z) = 12z

2 ist das Potential zu f(z) = z. Vergleiche die Zeichnung in Beispiel8.19. Wir konnen z als Stromung im ersten Quadranten deuten, die die positive reelle und positiveimaginare Achse umstromt.

(ii) F (z) = J(z) = 12(z + 1

z ) heißt Jukowski-Funktion und wird auf dem Definitionsbereich

D = {z : |z| ≥ 1} betrachtet. Fur die erzeugte Stromung J(z)′ gilt dann

Potentiallinien : x+x

x2 + y2= α,

Stromlinien : y − y

x2 + y2= α.

Schreiben wir die Stromlinien in Polarkoordinaten,

r2 sinϕ− αr − sinϕ = 0,

so folgt fur α = 0, dass r = 1, d.h. ∂D ist Stromlinie.

x

Damit beschreibt die Jukowski-Funktion die Umstromung eines Kreises oder, als dreidimensionaleStromung aufgefasst, die Umstromung eines Kreiszylinders.

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Literatur

[1] L. Ahlfors: Complex Analysis, McGraw-Hill 1953

[2] H. Behnke/F. Sommer: Theorie der analytischen Funktionen einer komplexen Veranderlichen, Studien-ausgabe vom Nachdruck der 3. Auflage, Springer 1976

[3] A. Bobenko: Skriptum Komplexe Analysis

[4] E. Freitag/R. Busam: Funktionentheorie 1, 4. Auflage, Springer 2006

[5] K. Janich: Funktionentheorie, Springer-Lehrbuch, 3. Auflage 1993

[6] D. Ferus: Komplexe Analysis

[7] M. Taylor: Introduction to Complex Analysis

Die Bucher [1],[2] sind die klassischen Lehrbucher der Funktionentheorie. [5] reicht zwar vom Um-fang her nicht ganz aus, ist bei mir und sicherlich bei den meisten Studenten sehr beliebt - einfachein tolles Buch! [3],[6],[7] sind Skripten, die man herunterladen kann, davon sind [3],[7] in engli-scher Sprache. Vor allem [7] lasst wirklich keine Fragen offen. Der einzige schwere Beweis in derFunktionentheorie ist der des Riemannschen Abbildungssatzes. Dort werde ich wie in [6] vorgehen.

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