17
EINZELKAPITEL

EINZELKAPITEL - Kunstuniversität Linz...glas der Firma Rodenstock („Impression freesign“) für die Qualität des Sehens eine nahezu revolutionäre Entwicklung, welche SEHEN IM

  • Upload
    others

  • View
    6

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • 1

    EINZELKAPITEL

  • 288

    SEHENIM TRAUM

    2011

  • 289

    Junge Frau mit Sehschärfenbestimmer

  • 290„Sehen im Traum“, Gesamtauslage von Hartmann Brilliance, Eröffnung, Neonskulptur der Gruppe Gelatin im Schaufenster links, Motive der Tapete (Lachmayer/Nobis) semitransparent auf die Schaufensterscheiben geklebt

  • 291

  • 292

    Bisweilen glaubt man im Traum genauer und intensiver zu sehen als im Wachzustand. Auch der Übergang vom Träumen zum Wachsein hat, insbesondere in der Selbstbeobachtung von KünstlerInnen, Anlass zu eingehender Beschäftigung gegeben. Dieser „hypnagogi-sche“ Zwischenzustand – wenn man sich noch im Traum wähnt und gleichzeitig die Wirklich-keit des Tages ihr Realitätsprinzip einfordert – ist dadurch charakterisiert, dass man ver-meint, sich wieder in den Traum zurückziehen zu können. Mit dem Sehen im Traum verhält es sich wie mit überdeutlichen Vorstellungen ge-nerell, die implizieren, dass die Wahrnehmung schwächer sei. Doch an einer „Vorstellung“ des Säulengangs von Bernini am Petersplatz in Rom kann man die Säulen nicht zählen.

    Für einen Optiker-Meisterbetrieb wie den von Erich Hartmann in der Singerstraße in Wien eine Installation zum Thema „Sehen im Traum“ einzurichten, fokussiert den Inhalt naturgemäß auf die Brille als relevantes Ge-sichtsaccessoire, das über die Sehkorrektur hi-naus den TrägerInnen den Wunsch nach einer zusätzlichen Individualisierung erfüllen soll.

    Das Innovationspotenzial von Brillen mag heute durch das Ausloten technologischer Möglichkeiten marginal und in der Fülle des Angebots unübersichtlich erscheinen – und dennoch gibt es durch das neue Gleitsicht-glas der Firma Rodenstock („Impression freesign“) für die Qualität des Sehens eine nahezu revolutionäre Entwicklung, welche

    SEHEN IM TRAUM

    „Sehen im Traum“, Fotomontage des Innenraums von Hartmann Brilliance mit Tapetenentwurf von Herbert Lachmayer und Margit Nobis

  • 293

  • 294

    Tapete „Sehen im Traum“, Herbert Lachmayer und Margit Nobis

  • 295

  • 296

    die optionalen Leistungen des Auges, als „Pforte der Wahrnehmung“, um einen klei-nen Quantensprung steigert. Bei korrektur-bedürftiger Fehlsichtigkeit verhält es sich nämlich so, dass – unter Verwendung der üblichen Brillengläser – nur 60 Prozent der Wahrnehmungsleistung der Augen aktiviert werden. Mit der Erfindung der Doppelglas-gläser ist nun gewährleistet, dass nicht allein der zentrale Blick schärfer wird, sondern vor allem die Randbereiche des Blickfelds.

    Die Auswirkungen der physiologisch nach-weisbaren Optimierung eines durch Seh-schwäche reduzierten Blickfelds gehen über das quantitativ Messbare deutlich hinaus, werden doch BrillenträgerInnen mit einer un-vermutet intensivierten wie geschärften Auf-merksamkeit konfrontiert, die plötzlich eine Fülle von Deutbarem „ins Spiel bringt“. Der Effekt muss so überzeugend bis radikal sein, dass es einige BrillenträgerInnen schlicht ablehnten, sich zu einem derartig brillanten Sichtfeld verhelfen zu lassen – sie wollten es wohl nicht mehr so genau wissen und „alles“ überdeutlich in den Blick bekommen.

    Die neue Technologie fordert bei den Bril-lenträgerInnen jedoch nicht nur eine kreative Deutung des erweiterten Sehfelds her-aus, sondern wirkt sich auch produktiv auf deren Einbildungskraft aus, wodurch die „Welt im Kopf“ vor dem Panorama des Un-bewussten plastischer werden mag. Dieses „innere Sehen“ wird deutlicher manifest – Wahrnehmung, Innovation und Fantasie rü-cken näher zusammen und vermischen sich auch. So entstehen „Möglichkeitswelten“ bei

    „Sehen im Traum“, Detail, Grafik: Kai Matthiesen

    Zeichnung Ernst Mach, Visuelles Feld des linken Auges

  • 297

    qualitätsbewussten KundInnen, die mit einem Produkt zugleich auch die weit verzweigten Auswirkungen „erwerben“ – mit der Optimie-rung der messbaren Eigenschaften eines Ge-räts auch eine Bereicherung der Fantasiewelt,jener Bühne der „möblierten Psyche“, um es

    mit Walter Benjamin zu sagen, als Erweite-rung der psychisch-seelischen Befindlich-keiten durch Anwendung desselben.

    Monitorausschnitt der Bildfolge von Herbert Lachmayer

    Bildfolge: Biene auf Augapfel, saugend Bildfolge: Jules Verne, „Le voyage dans la lune“

  • 298

    Die „Erzählende Tapete“ vermittelte eine Al-legorie zwischen surrealen Traumbildern und einer hyperrealistischen Blickschärfe, die der Kunst und Comics entlehnt war. Indem Ernst Mach das Sehfeld seines linken Auges im Fauteuil liegend zeichnet, macht er sich den Automatismus des gelernten Sehens bewusst, das routinemäßig derartige Ausschnitte nicht mehr segmentiert. Die Zeichnung steht für die wissenschaftlich-philosophische Bewusst-machung des Sehvorgangs als Rekonstruktion des Wahrnehmungsprozesses. Dies soll ver-deutlichen, dass dem Philosophen des Wie-ner Kreises der „innere Blick“ auf der Ebene wissenschaftlicher Deutung so wichtig war, dass er zum Selbstexperiment schritt. Das ganze Prozedere ist für sich genommen aber

    auch ein Kunstwerk, und als solches wurde es in die Tapete emblematisch aufgenommen. Demgegenüber verweist das Foto Man Rays vom Auge mit den langen Wimpern und den

    Bildfolge: Charles Maurice de Talleyrand, kurzsichtig

    Bildfolge: Talleyrands subjektive Wahrnehmung des Gemäldes „Ruhendes Mädchen“ (Marie-Loise O’Murphy, Mätresse Ludwigs IX.) von François Boucher

  • 299

    falschen Tränen auf die Illusionierungsbe-reitschaft der Menschen, wobei unser Blick auf das Auge der anderen mit emotionalen Projektionen und Wunschfantasien überfrach-tet sein mag – Man Ray führt uns so nah ans Auge heran, dass wir die Tränen als „falsche“ erkennen können: Das mag an unserer Sehn-suchtsprojektion nichts ändern, vielleicht sogar noch eine Intensivierung bewirken.Dazwischen der Luftballonhase von Jeff Koons, ein Fremdkörper allemal – und dennoch bringt seine Anwesenheit einen Touch Pop-kunst ins Spiel, vielleicht malt jemand noch eine Brille drauf. Magrittes grüne Äpfel mit lila Karnevalsaugenlarve stehen für das blinde Sehen von Karyatiden, die an historistischen Hausfassaden leer auf die Straßen und Plätze

    blicken – für uns ist dieses Emblem eine Na-tura morta, ein Vergänglichkeitssymbol: Der Apfel verschrumpelt und verfault, die Maske bleibt. Andy Warhol mit dem augenärztlichen

    Bildfolge: Talleyrands subjektiv verbesserte Wahrnehmung des Gemäldes „Ruhendes Mädchen“ (Marie-Loise O’Murphy, Mätresse Ludwigs IX.) von François Boucher

    Bildfolge: Charles Maurice de Talleyrand, bebrillt

  • 300

    Monitorstele im Nachtbetrieb

  • 301

    Messapparat für Sehschärfe reflektiert den Voyeurismus des Meisters – braucht er doch keinerlei Sehhilfe, um selbst bei „schwachen Augen“ seine Vorstellungen immer noch in hyperrealistischer Deutlichkeit zu sehen. Das laufende Stelzenbett mit Little Nemo und seinem boshaften Freund soll uns in die Welt der Kindheitsträume führen, als uns noch die Sicherheit der Schlafstätte selbst auf den

    geträumten Abenteuern begleitete, bis Little Nemo nach der Überwindung großer Ge-fahren aufwacht – neben dem Bett auf dem harten Boden, versteht sich. Das „Hermeneu-tic Wallpaper“ „Sehen im Traum“ soll dem ambiguösen Zwischenzustand von Wachsein und Träumen als eine semipermeable Mem-bran begegnen, die Durchlässigkeit erzeugt: Das Reale erscheint uns plötzlich als surreal,

    und das fantasieträchtige Symbol stellt sich als Brücke zur Wirklichkeit heraus. In die Ta-pete plan eingelassen war ein Monitor, über den bizarre Bildfolgen liefen, die Neugiererweckten: So konnte man etwa um zwei Uhr früh immer noch vereinzelt Nachtschwär-merInnen erblicken, die in Ruhe die charmante Poesie der Bildfolgen genossen. Diese wurden alle vier Wochen verändert: Vorweihnachts-zeit, Silvester und die Zeit bis Ostern.

    Marilyn Monroe als Sekretärin, bebrillt

    Bildfolge: Brille, unter der Perücke zu befestigen

    Bildfolge: Venezianische Karnevalsbrille

  • 302

    So gesehen nimmt sich das Thema der Aus-stellung „Sehen im Traum“ jenem bewussten wie zugleich unbewussten Prozess an, der über die Perfektionierung einer „Technologie für Sehhilfe“ zu einer neuen Qualität führt: zur Entfaltung der ganz persönlichen Subjek-tivität und damit des unverwechselbaren In-dividualismus von Wahrnehmung, Vorstellung und Imaginationskraft, weit über das Objek-tivierbare anwendbarer Technologie hinaus.

    Bildfolge: Robin Rhode, From Pan’s Opticon Studies, 2009

    Bildfolge: F. C. Gundlach, Brigitte Bauer, Op-Art-Badeanzug von Sinz, Vouliagmeni/Griechenland, 1966

  • 303

    Kurator: Herbert Lachmayer

    Gestaltung/Aufbau: Kathrin Oder, Margit Nobis, Silke Pfeifer

    Grafik: Kai Matthiesen

    Digital Media: Daniel Dobler

    Hermeneutic Wallpapers: Herbert Lachmayer, Margit Nobis

    KünstlerInnen: Gelatin

    Ort und Institution: Hartmann Brilliance, Singerstraße 8, 1010 Wien

    Dauer: 22. Oktober 2011 – 31. März 2012

    Produktion: Bernhard Raftl

    Kooperationen: Kunstuniversität Linz, PEEK (Programm zur Entwicklung und

    Erschließung der Künste) im Rahmen des FWF – Fonds zur Förderung der wis-

    senschaftlichen Forschung, Hartmann Brilliance, Da Ponte Research Center

    Sponsoren: Vorwerk Teppichwerke, Interactive Media Services

    Bildfolge: Donald Duck, Thanksgiving-Traum