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Im Blickpunkt 53 Dr. Clemens Bechin- ger, Dr. Hans- Hennig von Grün- berg, Prof. Dr. Paul Leiderer, Universität Konstanz, Fakultät für Physik, Univer- sitätsstraße 10, 78457 Konstanz Entropie, eine anschaulich schwer faßbare Größe, kann in Vielteil- chensystemen zu direkt beobacht- baren Kräften führen. Taucht man zwei große harte Kugeln in ein Bad aus kleinen harten Kugeln, so läßt sich eine effektive Kraft zwi- schen beiden großen Kugeln fest- stellen, die anziehend ist, und dies, obwohl keine attraktiven Paarwechselwirkungen existieren. Schon 1954 vorhergesagt, lassen sich nun solche entropischen Kräfte direkt nachweisen und ver- messen. Sie sind in der statisti- schen Physik und der Biophysik von grundlegender Bedeutung, etwa für die Entmischung binärer Hartkugelmischungen oder die Koagulation roter Blutkörperchen. W ährend eines Symposiums über Vielteilchenprobleme im Jahre 1957 in Hoboken, New Jersey, griff der Vorsitzende George Uhlenbeck zu einem unge- wöhnlichen Mittel: Er ließ das Ple- num über die Frage abstimmen, ob harte Kugeln kristallisieren können [1]. Aber die Abstimmung zeigte, daß die Experten in zwei Fraktio- nen gespalten waren – sie endete unentschieden. Ursache dieses Dis- putes war die damals vorherrschen- de Ansicht, daß die Bildung eines Kristalls aus einer Flüssigkeit nur bei Vorhandensein attraktiver Paar- wechselwirkungen möglich ist. Die hiermit verbundene Energieabsen- kung der kristallinen Phase über- kompensiert nach dieser Vorstel- lung gerade die durch die kristalline Ordnung scheinbar reduzierte En- tropie. Da harte Kugeln hingegen über keinerlei attraktive Wechsel- wirkung verfügen, hatte man die Kristallisation harter Kugeln für un- möglich gehalten. Doch gerade dies schienen Computersimulationen nahezulegen [2, 3]. Am Ende der Kontroverse stand die Einsicht, daß ein höherer Ord- nungsgrad nicht automatisch mit ei- nem Verlust an Entropie verbunden sein muß. Dies läßt sich folgender- maßen verstehen: Die maximale Raumerfüllung, die sich mit einer ungeordneten Kugelpackung (ran- dom close packing, rcp) erzielen läßt, beträgt 64 %. Werden Kugeln dagegen auf einem kristallinen (z. B. hcp-) Gitter angeordnet, so läßt sich eine maximale Packungs- dichte von 74 % erreichen. Wäh- rend die Kugeln in der rcp-Anord- nung in unmittelbarem Kontakt stehen, d. h. fest ineinander verkeilt sind, bietet also ein hcp-Kristall bei gleicher Packungsdichte immer noch einen gewissen Bewegungs- spielraum für jede Kugel (Abb. 1.). Dieser Spielraum muß in der Entro- piebilanz Berücksichtigung finden, sein Anteil nennt sich die Entropie des „freien Volumens“. Diese ist gegen die sich allein auf die Mittel- punkte der Kugeln beziehende En- tropie (Konfigurationsentropie) auf- zurechnen. Es zeigt sich, daß die ungeordnete Phase zwar stets eine höhere Konfigurationsentropie, aber für wachsende Packungsdich- ten eine so stark sinkende Entropie des freien Volumens hat, daß es ab einer Raumerfüllung von 54,5 % zu einem Übergang von der unge- ordneten in die kristalline Phase kommt. Harte Kugeln kristallisieren also nicht trotz, sondern gerade wegen der Entropie. Obwohl die Entropie hier also faktisch die Rolle einer attraktiven, die Kristallisation fördernden Kraft übernimmt, kann man sie in Hart- kugelsystemen mit einheitlicher Ku- gelgröße schwerlich als solche er- kennen oder messen. Ganz anders verhält es sich hingegen in Hartku- gelmischungen, die aus großen und kleinen Teilchen bestehen (binäre Systeme). An solchen Systemen läßt sich sehr gut studieren, daß Entro- pie eine direkte, experimentell be- obachtbare Kraft nach sich ziehen kann. So erfahren aufgrund solch einer entropischen Kraft zwei große harte Kugeln im Bad kleiner Kugeln eine effektive Anziehung, obwohl keine direkten attraktiven Wechsel- wirkungen vorhanden sind. Dieser Effekt soll in Abb. 2 er- klärt werden. Die dort gestrichelt eingezeichneten Bereiche kenn- zeichnen die Volumina, die für die Mittelpunkte der kleinen Kugeln nicht zugänglich sind. Sie werden als „ausgeschlossene Volumina“ be- zeichnet. Kommen sich die großen Kugeln so nahe, daß dies zu einem Überlapp DV ihrer ausgeschlosse- nen Volumina führt, steigt das den kleinen Kugeln zur Verfügung ste- hende Volumen an. Hiermit ist ein Entropische Kräfte Warum sich repulsiv wechselwirkende Teilchen anziehen können Clemens Bechinger, Hans-Hennig von Grünberg und Paul Leiderer Physikalische Blätter 55 (1999) Nr. 12 0031-9279/99/1212-53 $17.50+50/0 © WILEY-VCH Verlag GmbH, D-69451 Weinheim, 1999 Abb. 1: a) Die zufällig dichtest gepackte Kugelpackung (random clo- se packing) besitzt eine hohe Konfigurationsentropie, allerdings sind die einzelnen Kugeln fest gegeneinander verkeilt und ha- ben daher eine geringe Entropie des frei zugänglichen Volu- mens. b) Bei der kristallinen Anordnung mit gleicher Packungsdich- te verhält es sich dagegen umgekehrt, die einzelnen Kugeln können sich um ihre Gleichgewichtspositionen noch bewegen. Der damit verbundene Entropiegewinn führt zu einer Kristalli- Abb. 2: Hartkugelmischungen im Volumen (oben) und vor einer Wand. Die gestri- chelten Bereiche kennzeichnen die für die Mittelpunkte der kleinen Kugeln aus- geschlossenen Volumina. Kommt es zu einem Überlapp dieser Bereiche, so wird die Entropie der kleinen Kugeln erhöht. Das führt zu einer effektiven, attraktiven Kraft zwischen großen Kugeln bzw. zwi- schen Kugel und Wand.

Entropische Kräfte: Warum sich repulsiv wechselwirkende Teilchen anziehen können

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Page 1: Entropische Kräfte: Warum sich repulsiv wechselwirkende Teilchen anziehen können

Im Blickpunkt

53

Dr. Clemens Bechin-ger, Dr. Hans-Hennig von Grün-berg, Prof. Dr. PaulLeiderer, UniversitätKonstanz, Fakultätfür Physik, Univer-sitätsstraße 10,78457 Konstanz

Entropie, eine anschaulich schwerfaßbare Größe, kann in Vielteil-chensystemen zu direkt beobacht-baren Kräften führen. Taucht manzwei große harte Kugeln in einBad aus kleinen harten Kugeln, soläßt sich eine effektive Kraft zwi-schen beiden großen Kugeln fest-stellen, die anziehend ist, unddies, obwohl keine attraktivenPaarwechselwirkungen existieren.Schon 1954 vorhergesagt, lassensich nun solche entropischenKräfte direkt nachweisen und ver-messen. Sie sind in der statisti-schen Physik und der Biophysikvon grundlegender Bedeutung,etwa für die Entmischung binärerHartkugelmischungen oder dieKoagulation roter Blutkörperchen.

Während eines Symposiumsüber Vielteilchenproblemeim Jahre 1957 in Hoboken,

New Jersey, griff der VorsitzendeGeorge Uhlenbeck zu einem unge-wöhnlichen Mittel: Er ließ das Ple-num über die Frage abstimmen, obharte Kugeln kristallisieren können[1]. Aber die Abstimmung zeigte,daß die Experten in zwei Fraktio-nen gespalten waren – sie endeteunentschieden. Ursache dieses Dis-putes war die damals vorherrschen-de Ansicht, daß die Bildung einesKristalls aus einer Flüssigkeit nurbei Vorhandensein attraktiver Paar-wechselwirkungen möglich ist. Diehiermit verbundene Energieabsen-kung der kristallinen Phase über-kompensiert nach dieser Vorstel-lung gerade die durch die kristallineOrdnung scheinbar reduzierte En-tropie. Da harte Kugeln hingegenüber keinerlei attraktive Wechsel-wirkung verfügen, hatte man dieKristallisation harter Kugeln für un-möglich gehalten. Doch gerade diesschienen Computersimulationennahezulegen [2, 3].

Am Ende der Kontroverse standdie Einsicht, daß ein höherer Ord-nungsgrad nicht automatisch mit ei-nem Verlust an Entropie verbundensein muß. Dies läßt sich folgender-maßen verstehen: Die maximaleRaumerfüllung, die sich mit einerungeordneten Kugelpackung (ran-

dom close packing, rcp) erzielenläßt, beträgt 64 %. Werden Kugelndagegen auf einem kristallinen(z. B. hcp-) Gitter angeordnet, soläßt sich eine maximale Packungs-dichte von 74 % erreichen. Wäh-rend die Kugeln in der rcp-Anord-nung in unmittelbarem Kontaktstehen, d. h. fest ineinander verkeiltsind, bietet also ein hcp-Kristall beigleicher Packungsdichte immernoch einen gewissen Bewegungs-spielraum für jede Kugel (Abb. 1.).Dieser Spielraum muß in der Entro-piebilanz Berücksichtigung finden,sein Anteil nennt sich die Entropiedes „freien Volumens“. Diese istgegen die sich allein auf die Mittel-punkte der Kugeln beziehende En-tropie (Konfigurationsentropie) auf-zurechnen. Es zeigt sich, daß dieungeordnete Phase zwar stets einehöhere Konfigurationsentropie,aber für wachsende Packungsdich-ten eine so stark sinkende Entropiedes freien Volumens hat, daß es abeiner Raumerfüllung von 54,5 % zu einem Übergang von der unge-ordneten in die kristalline Phasekommt. Harte Kugeln kristallisierenalso nicht trotz, sondern geradewegen der Entropie.

Obwohl die Entropie hier alsofaktisch die Rolle einer attraktiven,die Kristallisation fördernden Kraftübernimmt, kann man sie in Hart-kugelsystemen mit einheitlicher Ku-gelgröße schwerlich als solche er-kennen oder messen. Ganz andersverhält es sich hingegen in Hartku-gelmischungen, die aus großen undkleinen Teilchen bestehen (binäreSysteme). An solchen Systemen läßtsich sehr gut studieren, daß Entro-pie eine direkte, experimentell be-obachtbare Kraft nach sich ziehenkann. So erfahren aufgrund solcheiner entropischen Kraft zwei großeharte Kugeln im Bad kleiner Kugelneine effektive Anziehung, obwohlkeine direkten attraktiven Wechsel-wirkungen vorhanden sind.

Dieser Effekt soll in Abb. 2 er-klärt werden. Die dort gestrichelteingezeichneten Bereiche kenn-zeichnen die Volumina, die für dieMittelpunkte der kleinen Kugelnnicht zugänglich sind. Sie werden

als „ausgeschlossene Volumina“ be-zeichnet. Kommen sich die großenKugeln so nahe, daß dies zu einemÜberlapp DV ihrer ausgeschlosse-nen Volumina führt, steigt das denkleinen Kugeln zur Verfügung ste-hende Volumen an. Hiermit ist ein

Entropische KräfteWarum sich repulsiv wechselwirkende Teilchen anziehen können

Clemens Bechinger, Hans-Hennig von Grünberg und Paul Leiderer

Physikalische Blätter55 (1999) Nr. 120031-9279/99/1212-53$17.50+50/0© WILEY-VCH Verlag GmbH,D-69451 Weinheim, 1999

Abb. 1:�� a) Die zufällig dichtest gepackte Kugelpackung (random clo-se packing) besitzt eine hohe Konfigurationsentropie, allerdingssind die einzelnen Kugeln fest gegeneinander verkeilt und ha-ben daher eine geringe Entropie des frei zugänglichen Volu-mens. �� b) Bei der kristallinen Anordnung mit gleicher Packungsdich-te verhält es sich dagegen umgekehrt, die einzelnen Kugelnkönnen sich um ihre Gleichgewichtspositionen noch bewegen.Der damit verbundene Entropiegewinn führt zu einer Kristalli-

Abb. 2:Hartkugelmischungen im Volumen(oben) und vor einer Wand. Die gestri-chelten Bereiche kennzeichnen die fürdie Mittelpunkte der kleinen Kugeln aus-geschlossenen Volumina. Kommt es zueinem Überlapp dieser Bereiche, so wirddie Entropie der kleinen Kugeln erhöht.Das führt zu einer effektiven, attraktivenKraft zwischen großen Kugeln bzw. zwi-schen Kugel und Wand.

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Physikalische Blätter55 (1999) Nr. 1254

Im Blickpunkt

Entropiezuwachs des Systems ver-bunden. Betrachten wir die kleinenKugeln mit der Anzahl N als idealesGas, so erhöht sich die Entropiedes Systems mit dem Volumen Vum den Betrag DS = kBN ln((V +DV)/V). Entsprechend sinkt diefreie Energie F um den Wert

(1)

Der Überlapp ausgeschlossenerVolumina bringt also einen Energie-gewinn mit sich, der rein entropi-scher Natur ist. Bezogen auf diebeiden großen Kugeln kann dies alseine effektiv attraktive Wechselwir-kung aufgefaßt werden. Die Reich-weite des Potentials ist mit demDurchmesser 2r der kleinen Kugelnidentisch, da für z > 2r der ÜberlappDV verschwindet (z ist der Abstandzwischen den großen Kugeln).Auch für den Fall, daß sich eingroßes Teilchen vor einer Wand be-findet, kommt es bei kleinen Ab-ständen wieder zu einem Überlappausgeschlossener Volumina und da-

mit zu einer attraktiven Kraft(Abb. 2, unten). Diese ist bis auf ei-nen Geometriefaktor mit derjenigenin Abb. 2, oben, identisch. Anschau-lich läßt sich dieser Effekt auch ineinem kinematischen Bild verste-hen: Ist der Abstand zwischen dengroßen Kugeln geringer als derDurchmesser einer kleinen Kugel,so wird der Zwischenraum zwi-schen den großen Teilchen vomBombardement der kleinen Partikelabgeschirmt. Von „außen“ stoßenweiterhin kleine Kugeln auf diegroßen. Als Folge hiervon werdendie beiden großen Kugeln zusam-mengeschoben.

D DF T S= − .

Experimenteller Nachweis Eine besonders elegante, weil

berührungsfreie Methode, mit dersich entropische Kräfte nachweisenlassen, ist die evaneszente Licht-streuung [4], die in Abb. 3 skizziertist. Hierzu wird an der Oberflächeeines Glasprismas ein evaneszentesLichtfeld erzeugt, dessen Intensitätsenkrecht zur Wand exponentiellabfällt. Dies geschieht durch Refle-xion eines Laserstrahles knappoberhalb des Winkels der Totalre-flektion Uc. Befindet sich ein kolloi-dales Teilchen innerhalb der Ab-klinglänge des evaneszenten Feldes,so emittiert es Streulicht, aus des-sen Intensität sich der momentaneAbstand z der Partikeloberflächevor der Wand berechnen läßt [5].Aufgrund von Brownscher Bewe-gung des beobachteten Teilchens imLösungsmittel ändert sich dessenPosition ständig, so daß manschließlich eine Wahrscheinlich-keitsverteilung des Partikel-Wand-Abstandes aus den Streudaten er-rechnen kann. Für den Fall, daßsich das System während der Mes-sung im thermodynamischenGleichgewicht befindet, läßt sichaus dieser Verteilung das Potentialdes Teilchens vor der Wand, P(z),bestimmen.

Entropische Kraft auf harteKugeln nahe einer Oberfläche Abbildung 4 zeigt die Partikel-

Wand-Potentiale eines negativ ge-ladenen Kolloidteilchens aus Poly-styrol (PS) mit einem Radius vonR = 3 mm für verschiedene Konzen-trationen n von kleineren Teilchenin wäßriger Lösung. Für n = 0 erhältman das Potential 4a, welches zugrößeren Abständen hin linear an-steigt. Ursache hierfür ist die Gravi-tation, die das Teilchen von obenan die horizontal stehende Wanddrückt. Für kleinere Abstände wirddas Potential durch die elektrostati-sche repulsive Wechselwirkung zwi-schen dem negativ geladenen Kol-loidteilchen und der (in Kontaktmit Wasser) ebenfalls negativ gela-denen Glasoberfläche bestimmt.

Gibt man nun zusätzlich kleine-re Teilchen in das System, so wirdaufgrund der oben besprochenenentropischen Effekte eine deutlicheÄnderung dieses Wechselwirkungs-potentials beobachtet. Bei den klei-nen Kugeln handelte es sich hierum in Wasser gelöste Polymerknäu-el aus Polyethylenoxid (PEO), dieeinen Radius r ≈ 150 nm besitzen.Diese sind ungeladen, und ihre

mittlere Wechselwirkung mit denPolystyrolteilchen entspricht in gu-ter Näherung der zwischen hartenKugeln. Der Beitrag der PEO-Teil-chen zur gesamten Streuintensitätist dabei zu vernachlässigen, so daßsich mit der evaneszenten Licht-streuung wiederum das Potentialdes großen Teilchens – nun unter

dem zusätzlichen Einfluß kleinererKugeln – vor einer Wand bestim-men läßt. Während das Potentialbei großen Abständen unverändertbleibt, weicht es für kleinere Ab-stände bei schrittweiser Zugabe vonPEO von der ursprünglichen Kurve4a in Wandnähe deutlich ab. Offen-bar wirkt auf das PS-Teilchen unter-halb ca. 300 nm ein zusätzlichesattraktives Potential, das für sehrkleine Abstände durch die elektro-statische Repulsion mit der Wandüberkompensiert wird. Dabei läßtbereits die Einsatzschwelle des Po-tentials (300 nm ≈ 2r) auf entropi-sche Kräfte schließen. Für einenquantitativen Vergleich berechnetman den Überlapp der ausgeschlos-senen Volumina zwischen dergroßen Kugel und der Wand alsFunktion ihres Abstandes V(z) underhält unter Verwendung von Glei-chung (1) und für z � 2r die entro-pisch getriebene Energieabsenkungder großen Kugel im Bad der klei-neren Kugeln vor einer Wand [6]:

Abb. 3:Prinzip der evaneszenten Lichtstreuung.Ein kolloidales Teilchen (stark vergrö-ßert) wird durch ein evaneszentes Licht-feld beleuchtet und emittiert Streulicht.Aus der Intensität des Streulichts läßtsich der momentane Abstand des Teil-chens vor der Wand berechnen. Wird dieMessung über einen statistisch langenZeitraum durchgeführt, erhält man hier-aus das Potential des Teilchens vor derWand.

Abb. 4Experimentell bestimmte Potentialkurven(Symbole) einer 3 mmm großen PS-Kugelvor einer Wand für PEO-Konzentratio-nen n = 0 (a), 7,6 mmm–3 (b), 10,2 mmm–3 (c),12,7 mmm–3 (d) und 25,5 mmm–3 (e). Der li-neare Anstieg zu größeren Abständen hinwird durch die Gewichtskraft des PS-Teilchens verursacht, während die Poten-tiale bei kleinen Abständen durch dieelektrostatische Wechselwirkung mit derWand dominiert werden. Die durchgezo-genen Linien entsprechen theoretischenVorhersagen [7].

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Physikalische Blätter55 (1999) Nr. 12

Im Blickpunkt

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Abb. 6:Qualitativer Ver-lauf der entropi-schen Kraft zwi-schen zwei großenKugeln mit Ab-stand z (RadiusR = 2r) im Badkleiner Kugeln(Radius r). DieKraft zeigt in Rich-tung der Verbin-dungsachse. DiePfeile weisen aufAbstände, für diein Abb. 5 die Dich-teverteilungen dar-gestellt sind.

.

(2)

Setzt man die experimentell be-kannten PEO-Konzentrationen nsowie die entsprechenden Radiender Teilchen ein, so erhält man diedurchgezogenen Kurven, die gutmit den Experimenten übereinstim-men [7] und damit die Existenz en-tropischer Kräfte in Mischungenaus Kolloiden und Polymeren ein-deutig bestätigen.

Repulsive entropische KraftDie in Gl. (2) angegebene, ur-

sprünglich von Asakura und Oo-sawa (AO) abgeleitete Formel be-schreibt die entropischen Kräfte imGrenzfall geringer Dichten der klei-nen Kugeln und kleiner Wand-Teil-chen Abstände. Sie sagt stets eineeffektive Anziehung voraus. Dochlassen sich bei größeren Abständenauch repulsive entropische Kräftebeobachten. Eine solche repulsiveWechselwirkung, die mit der AO-Theorie nicht zu verstehen ist, be-darf einer expliziten Berücksich-tung der bislang vernachlässigtenKorrelationen zwischen den klei-nen Kugeln [8]. Dies wollen wirwiederum am Beispiel zweier gro-ßer harter Kugeln inmitten einerFlüssigkeit von kleinen harten Ku-geln diskutieren.

Will man Korrelationen ein-führen, so hat man dem UmstandRechnung zu tragen, daß sich umdie beiden großen Kugeln eine in-homogene Dichteverteilung r(r�) derangrenzenden Flüssigkeit einstellt.Aus dieser Verteilung errechnet sichdie totale Kraft F�, die die Flüssig-keitsteilchen auf eine einzelne die-ser großen Kugeln ausüben:

(3)

wobei O die Oberfläche der großenKugeln und dA� ein mit dem nachaußen zeigenden Normalenvektormultipliziertes Oberflächenelementbezeichnet. Dieser Ausdruck, dersich direkt aus dem großkanoni-schen Potential [8] herleiten läßt,kann mit Hilfe des in der statisti-schen Physik bekannten Wand-Druck-Theorems plausibel gemachtwerden. Danach ist der AusdruckkBTr(r) auf der Oberfläche O als lo-kaler kinetischer Druck interpre-tierbar, den die Flüssigkeit kleinerKugeln auf das Flächenelement dA�

der eingetauchten Kugel ausübt.

��

F k T r dAO

= − zB r( ) ,

DFk T

n Rr r

n z R r z Rrz

B= − +LNM

OQP

− + − −LNM

OQP

p

p

443

13

4

2 3

3 2( )

Das Produkt beider Größen istdann die Kraft auf das einzelneFlächenelement und das Integralüber die gesamte berandendeFläche O folglich die totale Kraft.Diese Kraft auf eine einzelne Kugelkann als die effektive Wechselwir-kungskraft zwischen beiden Kugelnverstanden werden, „effektiv“natürlich deshalb, weil sie durchdie Flüssigkeit moderiert und vonihr abhängig ist.

Mit Gl. (3) wird das Problemnun von den Kräften auf die Dich-teverteilung der Flüssigkeit auf denOberflächen der Kugeln (Kontakt-dichten) verlagert. Zunächst istklar, daß eine einzelne, von ande-ren Objekten räumlich weit entfern-te Kugel nie eine Netto-Kraft durchdie Flüssigkeit wird erfahren kön-nen; denn die Dichteverteilung inihrer Umgebung ist sphärisch sym-metrisch, so daß sich die Kraft-beiträge auf die einzelnen Flächen-elemente in der Summe gegenein-ander aufheben. Wird dagegen einzweites Objekt in die unmittelbareNähe des ersten gebracht, ist diesesphärische Symmetrie und damitdas Gleichgewicht zwischen denKräften auf die Flächenelementegestört, und aus Gl. (3) ergibt sichdann eine nicht-verschwindendeKraft.

Abbildung 5 illustriert dieseÜberlegungen. Berechnet wurde diedreidimensionale statische Dichte-verteilung von kleinen harten Ku-geln (Radius r) um zwei größereharte Kugeln (R = 2r) mit Abstand zzwischen ihren Oberflächen. Abbil-dung 5a zeigt einen Schnitt durchdie Dichteverteilung für den Fall,daß die beiden großen Kugeln ein-ander berühren. Da die Verteilungder Mittelpunkte der kleinen Ku-geln gezeigt ist, sind die beidengroßen Kugeln von dem bereits er-

wähnten ausgeschlossenen Volu-men (weiß) umgeben, in den dieMittelpunkte der kleinen Kugelnnicht eindringen können. Beidegroßen Kugeln werden, darananschließend, von einer Region ex-trem hoher Flüssigkeitsdichte (rot)umschlossen – dies ist die Kontakt-dichte –, auf die wiederum eine Re-gion geringerer Dichte (gelb, grün)folgt.

Aus der stark anisotropen Kon-taktdichtenverteilung in Abb. 5a er-gibt sich unter Verwendung von Gl.(3) eine attraktive Kraft zwischenden beiden Kugeln. Eine repulsiveKraft hingegen errechnet sich fürden in Abb. 5b gezeigten Abstand,bei dem die Dichte der kleinen Ku-geln im Schlitz zwischen den bei-

den großen Kugeln besonders hochist. Dies läßt sich auf die Entste-hung von Flüssigkeitslagen zurück-führen. In Abb. 5b hat sich eine er-ste solche Lage ausgebildet, und dader Abstand z zwischen den Kugel-oberflächen nur knapp größer als 2rist, hat das einzelne Flüssigkeitsteil-chen in dieser Lage noch wenigerRaum zur Verfügung, als es im Bulkhätte: Die Dichte ist entsprechendhoch. Das wird sich bei etwas grö-ßeren Abständen wieder ändern:Kurz bevor die nächste Lage zwi-

Abb. 5:Schnitt durch eine dreidimensionaleDichteverteilung [9] von kleinen hartenKugeln (Radius r) um zwei große harteKugeln (blau, Radius 2r). Der Farbcodegeht von rot für Regionen hoher Dichte

über gelb nach grün für Regionen gerin-ger Dichte. Die Dichteverteilung in (a)führt zu einer attraktiven entropischenKraft zwischen den beiden blauen Ku-geln, in (b) zu einer repulsiven.

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Im Blickpunkt

schen die Kugeln paßt, wird dasFlüssigkeitsteilchen der Lage mehrRaum als im Bulk zur Verfügunghaben, die Dichte also wieder ab-nehmen. Daraus ersieht man, daßund warum die Kontaktdichten imSchlitz als Funktion des Abstandesvariieren. Folge ist, daß auch dasVorzeichen der Kraft zwischen dengroßen Kugeln in Korrespondenzzu den Lagen im Schlitz alterniert(Abb. 6). Dies wurde erst kürzlichin Experimenten bestätigt [10].

Bedeutung entropischerKräfteWir haben gesehen, daß in

binären Hartkugelmischungen at-traktive Kräfte existieren. Diesekönnen zu einer Entmischung bzw.Phasenseparation führen. Demwirkt die Mischungsentropie entge-gen, die eine möglichst homogeneVerteilung der Kugelsorten anstrebt.Welcher von beiden Effekten domi-niert, hängt u. a. von der Dichte so-wie den Mischungs- bzw. Radien-verhältnissen der beiden Teilchen-sorten ab. Die detaillierte Kenntnis

von Phasendiagrammen solcher Ku-gelmischungen ist aber nicht nurvon grundsätzlichem physikalischenInteresse, sondern spielt auch invielen industriellen Anwendungeneine Rolle, z. B. bei der Herstellungvon Nahrungsmitteln, Medikamen-ten oder Papier, wo typischerweisebi- bzw. polydisperse Teilchenmi-schungen eingesetzt werden. Dane-ben werden entropische Kräfteauch in biologischen Systemen dis-kutiert. Als treibende Kraft für dasZusammenklumpen von roten Blut-körperchen war bislang die nicht-spezifische Adsorption von Plasma-proteinen vermutet worden. Aller-dings existieren hierfür noch keineeindeutigen experimentellen Befun-de [11]. Möglicherweise läßt sichdieser Effekt auch durch rein entro-pische Wechselwirkungen erklären.

*

Diese Arbeit wurde im Rahmendes Sonderforschungsbereichs 513der DFG, Nanostrukturen anGrenzflächen und Oberflächen, ge-fördert.

Literatur[1] Proceedings of the symposium on

the many-body problem, (NewYork, London, 1963) p. 498

[2] B. J. Alder und T. E. Wainwright, J. Chem. Phys. 27, 1208 (1957)

[3] W. W. Wood und J. D. Jacobson, J. Chem. Phys. 27, 1207 (1957)

[4] J. Y. Walz, Current opinion in col-loidal interfaces & science 2, 600(1997)

[5] D. C. Prieve und J. Y. Walz, Appl.Opt. 32, 1629 (1993)

[6] S. Asakura und F. Oosawa, J. Chem. Phys. 22, 1255 (1954)

[7] D. Rudhardt, C. Bechinger und P.Leiderer, Phys. Rev. Lett. 81, 1330(1998)

[8] B. Götzelmann, R. Evans undS. Dietrich, Phys. Rev. E 57, 6785(1998)

[9] H. H. von Grünberg und R. Klein,J. Chem. Phys. 110, 5421 (1999)

[10] J. C. Crocker, J. A. Matteo, A. D.Dinsmore und A. G. Yodh, Phys.Rev. Lett. 82, 4352 (1999)

[11] J. Janzen und D. E. Brooks, ClinicalHemorheology 9, 695 (1989)