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Reiner Wild »Epoche« Liebe und Dichtung in Goethes Sonetten von 1807/1808 Im Zusammenhang eines Gesprächs, in dem es unter anderem um Napoleon geht, überliefert Johann Peter Eckermann die folgende Äußerung Goethes: Solche Männer und ihres Gleichen, erwiderte Goethe, sind geniale Naturen, mit denen es eine eigene Bewandtnis hat; sie erleben eine wiederholte Pubertät, wäh- rend andere Leute nur einmal jung sind. […] Daher kommt es denn, daß wir bei vorzüglich begabten Menschen, auch während ihres Alters, immer noch frische Epochen besonderer Produktivität wahrnehmen; es scheint bei ihnen immer ein- mal wieder eine temporäre Verjüngung einzutreten, und das ist es, was ich eine wiederholte Pubertät nennen möchte. 1 Goethe spricht hier auch von sich selbst, denn solche »wiederholte[n] Puber- tät[en]« hat er mehrfach durchlebt. Sie sind freilich stets auch Krisen, und es fällt nicht schwer, Goethes Leben und Schreiben als eine Abfolge von Kri- sen, von Gefährdungen zu beschreiben. Sie betreffen immer wieder eines: sei- ne dichterische Produktivität, die dann, aus der Krise heraus, neu etabliert wird. Ein zentrales Symptom solcher Krisen ist das Erlahmen der poetischen, vor allem der lyrischen Produktion. Ihre Auflösung oder Bewältigung aber äußert sich stets in Liebesgedichten. Dieser Sachverhalt ist kaum verwunder- lich – nicht etwa, weil die Krise, wie ältere Forschung es mitunter gesehen hat, durch eine Liebesgeschichte bewältigt wurde, sondern weil in der Lie- beslyrik Goethes stets im Wortsinne Grundlegendes in Rede steht. Grund- legendes zum einen, weil ›Liebe‹ bei Goethe – spätestens seit Sesenheim – der Name für ein Weltprinzip ist, mit dem ein wohlgeordnetes Verhältnis umfassender wechselseitiger Abhängigkeit, zugleich aber auch wechselseiti- ger Zuneigung von allem und jedem benannt ist. Dieses Prinzip der Liebe – _____________ 1 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Aus- gabe. 20 Bände in 32 Teilbänden u. 1 Registerband. Hg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder u. Edith Zehm. München 1985– 1998. Bd. 19: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren sei- nes Lebens. Hg. v. Heinz Schlaffer. München 1986, S. 609f. (11. März 1828). Zitate aus der Münchner Ausgabe werden fortan durch die Sigle MA mit arabischen Band- und Seiten- zahlen nachgewiesen. In: Carsten Rohde, Thorsten Valk (Hrsg.): Goethes Liebeslyrik. Semantiken der Leidenschaft um 1800. Berlin / Boston 2013, S. 245–262.

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Reiner Wild

»Epoche«

Liebe und Dichtung in Goethes Sonetten von 1807/1808

Im Zusammenhang eines Gesprächs, in dem es unter anderem um Napoleon geht, überliefert Johann Peter Eckermann die folgende Äußerung Goethes:

Solche Männer und ihres Gleichen, erwiderte Goethe, sind geniale Naturen, mit denen es eine eigene Bewandtnis hat; sie erleben eine wiederholte Pubertät, wäh-rend andere Leute nur einmal jung sind. […] Daher kommt es denn, daß wir bei vorzüglich begabten Menschen, auch während ihres Alters, immer noch frische Epochen besonderer Produktivität wahrnehmen; es scheint bei ihnen immer ein-mal wieder eine temporäre Verjüngung einzutreten, und das ist es, was ich eine wiederholte Pubertät nennen möchte.1

Goethe spricht hier auch von sich selbst, denn solche »wiederholte[n] Puber-tät[en]« hat er mehrfach durchlebt. Sie sind freilich stets auch Krisen, und es fällt nicht schwer, Goethes Leben und Schreiben als eine Abfolge von Kri-sen, von Gefährdungen zu beschreiben. Sie betreffen immer wieder eines: sei-ne dichterische Produktivität, die dann, aus der Krise heraus, neu etabliert wird. Ein zentrales Symptom solcher Krisen ist das Erlahmen der poetischen, vor allem der lyrischen Produktion. Ihre Auflösung oder Bewältigung aber äußert sich stets in Liebesgedichten. Dieser Sachverhalt ist kaum verwunder-lich – nicht etwa, weil die Krise, wie ältere Forschung es mitunter gesehen hat, durch eine Liebesgeschichte bewältigt wurde, sondern weil in der Lie-beslyrik Goethes stets im Wortsinne Grundlegendes in Rede steht. Grund-legendes zum einen, weil ›Liebe‹ bei Goethe – spätestens seit Sesenheim – der Name für ein Weltprinzip ist, mit dem ein wohlgeordnetes Verhältnis umfassender wechselseitiger Abhängigkeit, zugleich aber auch wechselseiti-ger Zuneigung von allem und jedem benannt ist. Dieses Prinzip der Liebe –

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1 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Aus-gabe. 20 Bände in 32 Teilbänden u. 1 Registerband. Hg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder u. Edith Zehm. München 1985– 1998. Bd. 19: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren sei-nes Lebens. Hg. v. Heinz Schlaffer. München 1986, S. 609f. (11. März 1828). Zitate aus der Münchner Ausgabe werden fortan durch die Sigle MA mit arabischen Band- und Seiten-zahlen nachgewiesen.

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von »O Lieb’ o Liebe, | So golden schön, | Wie Morgenwolken | Auf jenen Höhn« im Maifest (MA 1.1, S. 162, V. 13–16) bis »Und nun konnte wieder lieben | Was erst auseinander fiel« in Wiederfinden (MA 11.1.2, S. 89, V. 31f.) – wird in der Liebesbegegnung für das Paar zur jeweils konkreten Erfahrung. Insofern sind Goethes Liebesgedichte immer auch eine Probe auf die Be-dingungen gelingenden – oder misslingenden – Lebens, mithin auch auf die Geordnetheit der Welt und ihrer Verhältnisse. Grundlegendes zum anderen aber deshalb, weil es in Goethes Liebeslyrik stets auch um den Dichter geht, der die Erfahrung der Liebe auszusprechen vermag, mithin um Dichtung, damit aber zugleich – über die poetologische Dimension hinaus – um das Subjekt, das Individuum, das spricht und in diesem Sprechen sein Verhält-nis zur Welt bestimmt. Goethes Liebeslyrik ist somit immer auch Inszenie-rung von Subjektivität; in der Auflösung einer Krise, der ›Häutung‹ in der »wiederholte[n] Pubertät«, geschieht eine Neukonstitution von Subjektivi-tät und zugleich eine Neubestimmung des Verhältnisses von Individuum und Welt sowie der Möglichkeit, davon zu sprechen.

Eine solche Krise ist zweifellos auch in den ersten Jahren nach 1800 zu konstatieren. Sie resultiert aus unterschiedlichen, sowohl allgemeinen wie privat-persönlichen Erfahrungen; einige seien hier kurz genannt. Dazu ge-hört die Schlacht von Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806, die als krie-gerisches Ereignis mit unmittelbaren Folgen für Weimar und für Goethe selbst zugleich in einer Reihe mit anderen markanten Daten steht, so mit der tiefgreifenden Neuordnung der deutschen Staatenwelt durch den Reichsde-putationshauptschluss vom März 1803, der Bildung des Rheinbundes im Sommer 1806, der Niederlegung der römischen Kaiserkrone durch Franz II. am 12. Juli 1806 und damit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deut-scher Nation. Dazu gehören ebenso Goethes lebensgefährliche Krankheit im Frühjahr 1805 und der Tod Schillers im Mai dieses Jahres, aber auch an-derer ihm nahestehender Menschen. Schillers Tod besiegelte das Ende der klassischen Epoche; schon in den Jahren zuvor hatte sich angedeutet, dass das Paradigma der Klassik für Goethe erschöpft war. Eine nicht gering zu schätzende Bedeutung kam sicher auch der unabweisbaren Erfahrung des Älterwerdens zu; Goethe näherte sich seinem sechzigsten Geburtstag. Im Frühjahr 1805, mit der eigenen Krankheit und Schillers Tod, werden diese Erfahrungen für Goethe zur Krise. Sie zeigt sich im Erlöschen der literari-schen Produktion, gerade auch der lyrischen. In jenem Zeitraum zwischen Schillers Tod und Dezember 1807, als die ersten Gedichte des Zyklus der Sonette entstehen, in zweieinhalb Jahren also hat Goethe weniger als zwan-zig Gedichte geschrieben, in der Mehrzahl zudem durch äußere Anlässe motivierte Gelegenheitsgedichte.

Eine erneute Veränderung und mit ihr der Beginn der Bewältigung die-ser Krise geschieht Ende des Jahres 1807, als sich Goethe vom 11. Novem-

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ber bis zum 18. Dezember in Jena aufhält. Noch am 16. November hatte er an Carl Friedrich von Reinhard geschrieben: »Ich sitze hier auf den Trüm-mern von Jena und suche meine eigenen Trümmer zusammen«.2 In einer No-tiz zu den Tag- und Jahresheften berichtet er von den folgenden Wochen:

Es war das erste Mal seit Schillers Tode, daß ich ruhig gesellige Freuden in Jena genoß; die Freundlichkeit der Gegenwärtigen erregte die Sehnsucht nach dem Ab-geschiedenen und der auf’s neue empfundene Verlust forderte Ersatz. Gewohn-heit, Neigung, Freundschaft steigerten sich zu Liebe und Leidenschaft, die, wie alles Absolute, was in die bedingte Welt tritt, vielen verderblich zu werden droh-te. In solchen Epochen jedoch erscheint die Dichtkunst erhöhend und mildernd, die Forderung des Herzens erhöhend, gewaltsame Befriedigung mildernd. Und so war diesmal die von Schlegel früher meisterhaft geübte, von Werner in’s Tra-gische gesteigerte Sonettenform höchst willkommen. Besonders auch sagte sie Riemers geistreich poetischem Talente zu, und ich ließ mich gleichfalls hinreißen, welches auch jetzt noch nicht reuen darf; die kleine Sammlung Sonette, deren Ge-fühl ich immer gern wieder bei mir erneuere, und an denen auch andere gern Teil genommen, schreibt sich aus jener Zeit her. (MA 14, S. 677f.)

Goethe berichtet hier von der Geselligkeit im Hause des Jenaer Verlegers Carl Friedrich Ernst Frommann. Vor dem Hintergrund der Erinnerung an Schil-lers Tod wird der literarisch-gesellige Umgang mit der Sonettform für Goe-the zum Auslöser eigener Produktivität. Insgesamt entstanden siebzehn So-nette; sie sind Goethes erste größere lyrische Produktion seit Schillers Tod. Nicht alle Sonette sind in Jena entstanden, vielmehr setzte Goethe nach sei-ner Rückkehr nach Weimar die Produktion fort und begann zudem, die Ge-dichte zu einem Zyklus zusammenzustellen. Dieser Zyklus, überschrieben mit dem Gattungsnamen Sonette, wurde allerdings erst Jahre später gedruckt, zunächst 1815 mit fünfzehn Sonetten, dann 1827 erweitert um zwei Sonet-te in der Ausgabe letzter Hand, wobei davon auszugehen ist, dass der Zyk-lus schon 1808 in der 1827 gedruckten Gestalt vorlag.3 Der spielerisch-hei-tere, durchaus ironische und – jedenfalls bei Goethe – auch selbstironische Charakter des Jenaer Wettstreits im Schreiben und Vortragen von Sonetten ist in Goethes Sonett Nemesis deutlich erkennbar:

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2 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bände. Hg. v. Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp, Dieter Borchmeyer u. a. Frank-furt a. M. 1985–2013. Abt. II: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 6: Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 10. Mai 1805 bis 6. Juni 1816. Teil 1: Von Schillers Tod bis 1811. Hg. v. Rose Unterberger. Frankfurt a. M. 1993, S. 251–254, hier S. 254.

3 Vgl. zu Goethes Sonetten die nach wie vor wichtige Arbeit von Hans-Jürgen Schlütter: Goethes Sonette. Anregung, Entstehung, Intention. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1969; des Weiteren die ausgreifende und umfängliche, freilich nicht ganz fehlerfreie Arbeit von Katrin Jordan: »Ihr liebt und schreibt Sonette! Weh der Grille!« Die Sonette Johann Wolf-gang von Goethes. Würzburg 2008.

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Nemesis Wenn durch das Volk die grimme Seuche wütet, Soll man vorsichtig die Gesellschaft lassen. Auch hab’ ich oft mit Zaudern und Verpassen Vor manchen Influenzen mich gehütet.

Und obgleich Amor öfters mich begütet, Mocht’ ich zuletzt mich nicht mit ihm befassen. So ging mir’s auch mit jenen Lacrimassen, Als vier- und dreifach reimend sie gebrütet.

Nun aber folgt die Strafe dem Verächter, Als wenn die Schlangenfackel der Erynnen Von Berg zu Tal, von Land zu Meer ihn triebe.

Ich höre wohl der Genien Gelächter; Doch trennet mich von jeglichem Besinnen Sonettenwut und Raserei der Liebe.

(MA 9, S. 17f.)

Die Zitate der antiken Mythologie verweisen auf den Bildungscharakter des gesellig-literarischen Spiels, ebenso die spöttische Bezeichnung der »vier- und dreifach« reimenden Sonette als »Lacrimassen«, die Goethe nach dem Titel eines zeitgenössischen Dramas prägte, in dem in modisch-romantischer Manier romanische Strophenformen reichlich verwendet wurden.4 Ironisch-satirisch gebrochen wird dieses Spiel vor allem durch die rhetorische Figur der Hyperbel, wenn bereits im Titel die Göttin der strafenden Gerechtigkeit genannt wird, später dann die »Erynnen« aufgerufen werden, die denjenigen verfolgen, der nichts anderes getan hat, als eine modische Gedichtform nicht zu schätzen; wenn – andererseits – das modische Schreiben von Sonetten als immerhin schlimme Krankheit, als »grimme Seuche« bezeichnet sowie mit ansteckenden und gefährlichen »Influenzen« verglichen wird. Das Gedicht schließt mit einer gleichfalls ironischen Pointe, bei der die Übertreibung mit der Figur der Umkehrung verbunden wird: Der Wahnsinn, in den die Erin-nyen ihrer mythischen Aufgabe gemäß den Verfolgten treiben – und Goethe zitiert hier mit »Schlangenfackel« und der Jagd der Rachegöttinnen »[v]on Berg zu Tal, von Land zu Meer« eine mächtige Bildtradition –, äußert sich als »Sonettenwut«, als Schreiben von modischen Gedichten.

Goethes Sonette sind Liebesgedichte. Nemesis schließt mit der Wendung von der »Raserei der Liebe«. Vor allem in der älteren Forschung wurde im-mer wieder danach gefragt, welche biographische Erfahrung, welches ›Er-lebnis‹ Goethe zu den Sonetten motiviert habe. Dabei wurde häufig die Be-_____________

4 Es handelt sich um das 1803 erschienene Drama Lacrimas von Wilhelm von Schütz.

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gegnung mit Christiane Friederike Wilhelmine (›Minchen‹) Herzlieb genannt, Pflegetochter im Hause Frommann und damals achtzehn Jahre alt; sie war der Mittelpunkt des gesellig-literarischen Kreises. Wie immer aber Art und Tiefe der Zuneigung Goethes zu Minna Herzlieb Ende 1807 gewesen sein mögen, in den Sonetten wird die Beziehung schon im Prozess der Produk-tion der Gedichte literarisiert. Im Sonett Wachstum, das den biographischen Gegebenheiten sehr nahe kommt, ist diese Literarisierung gestaltet:

Wachstum Als kleines artges Kind, nach Feld und Auen Sprangst du mit mir, so manchen Frühlingsmorgen. »Für solch ein Töchterchen, mit holden Sorgen, Möcht ich als Vater segnend Häuser bauen!«

Und als du anfingst in die Welt zu schauen, War deine Freude häusliches Besorgen. »Solch eine Schwester! und ich wär’ geborgen: Wie könnt’ ich ihr, ach! wie sie mir vertrauen!«

Nun kann den schönen Wachstum nichts beschränken; Ich fühl’ im Herzen heißes Liebetoben. Umfaß’ ich sie, die Schmerzen zu beschwichtgen?

Doch ach! nun muß ich dich als Fürstin denken: Du stehst so schroff vor mir emporgehoben; Ich beuge mich vor deinem Blick, dem flüchtgen.

(MA 9, S. 14)

Das Gedicht benennt Stationen einer Beziehung. In den beiden Quartetten wird von der Vergangenheit gesprochen. In wörtlicher Rede, gleichsam als erinnertes Zitat der damaligen Situation, äußert der Sprecher seine Wunsch-vorstellungen möglicher Beziehungen zu der angesprochenen Frau: als väter-liche zunächst, sodann als brüderliche. Von vorneherein ist damit eine Dis-tanz gesetzt zwischen der realen Erfahrung und der Imagination des Spre-chers, wobei Letztere in der Emphase der erinnerten wörtlichen Rede deutli-chen Vorrang erhält. Die beiden Terzette sind in der Gegenwart gesprochen. Im ersten ist eine weitere Station der Beziehung benannt: Der Sprecher be-kennt seine nunmehr erwachte Leidenschaft, gegen die er jedoch sogleich mit einer Frage selbst Einspruch erhebt. Und wie in den beiden Quartetten folgt, freilich eingeleitet mit der sprachlichen Gebärde der Klage (»ach!«), die Ima-gination einer möglichen, einer fingierten Beziehung. Das durchaus schrof-fe »muß«, anstelle der Konjunktive »[m]öcht’« und »könnt’« in den beiden ersten Strophen, mit dem der Sprecher sich dazu zwingt, die angesprochene Frau nunmehr als »Fürstin« zu »denken«, lässt immerhin den Zwang erken-nen, den diese Beschwichtigung der Leidenschaft, diese Selbstdisziplinierung

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ihm abverlangt. Den imaginierten Beziehungen gemeinsam ist die Tabuisie-rung der Frau; als Tochter, Schwester, »Fürstin« ist sie unerreichbar. Das Medium der Beschwichtigung der Leidenschaft ist jedoch die Dichtung. In-dem der Sprecher die Frau als »Fürstin« imaginiert, um die Unerreichbar-keit und Distanz zu erhalten, nützt er – anders als bei den vorigen, gleich-sam ›natürlichen‹ Tabuisierungen – die Tradition des Liebessonetts. So klingt im Mit- und Gegeneinander von »Liebetoben« und »Schmerzen« im ersten Terzett ein petrarkistisches Motiv an.

Im Wettstreit der Sonettendichter im Frommann’schen Haus wird eine Art Minnedienst inszeniert; nicht der Liebe selbst gilt der Wettstreit, viel-mehr dem Schreiben von Liebesgedichten. In Goethes Sonett Kurz und gut ist dies – erneut ironisch-spielerisch, wie die alltagssprachlichen Wendungen zeigen (»Siehst du, es geht!«; »Allein was nun?«) – festgehalten:

Kurz und gut Sollt’ ich mich denn so ganz an Sie gewöhnen? Das wäre mir zuletzt doch reine Plage. Darum versuch’ ich’s gleich am heut’gen Tage Und nahe nicht dem vielgewohnten Schönen.

Wie aber mag ich dich mein Herz versöhnen, Daß ich im wichtgen Fall dich nicht befrage? Wohlan! Komm her! Wir äußern unsre Klage In liebevollen, traurig heitern Tönen.

Siehst du, es geht! Des Dichters Wink gewärtig, Melodisch klingt die durchgespielte Leier, Ein Liebesopfer traulich darzubringen.

Du denkst es kaum, und sieh! das Lied ist fertig; Allein was nun? – Ich dächt’ im ersten Feuer Wir eilten hin, es vor ihr selbst zu singen.

(MA 9, S. 13)

Im Selbstappell an das eigene »Herz« obsiegt das Ich als Dichter, indem es sich dichtend an die Tradition der Liebeslyrik anschließt. So kann es den Zwiespalt von Nähe und Distanzierung, womit im ersten Quartett ein zen-trales Motiv der Liebeslyrik aufgenommen wird, in der Liebesklage aufhe-ben, die es der Geliebten vorträgt. Das Gedicht selbst ist das »Liebesopfer«, und das »Feuer« in der vorletzten Zeile ist nicht etwa als die Glut der Liebe, sondern als dichterischer Enthusiasmus zu verstehen. Mit den »liebevollen, traurig heitern Tönen« werden wiederum, wie in Wachstum, petrarkistische Motive zitiert.

Die Sonette sind in ein Geflecht von Intertextualität eingewoben. Da ist zunächst der gesellig-literarische Wettstreit im Frommann’schen Haus

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selbst, bei dem die Beteiligten mit ihren Gedichten einander antworten. In der Person von Zacharias Werner (den Goethe in seiner bereits zitierten No-tiz zu den Tag- und Jahresheften ausdrücklich nennt) ist im geselligen Kreis zugleich die Renaissance des Sonetts um 1800 repräsentiert; sie bildet ein bestimmendes Moment im Sonetten-Wettstreit. Zum stets präsenten Hin-tergrund wird damit zudem – als das gewissermaßen weiteste intertextuel-le Feld – die Tradition des europäischen Sonetts und insbesondere die des petrarkistischen Liebessonetts. Petrarca und der Petrarkismus bilden einen Assoziationsraum, in dem sich die am Wettstreit Beteiligten bewegen. Im Sonett Epoche wird der Dichter ausdrücklich genannt:

Epoche Mit Flammenschrift war innigst eingeschrieben Petrarcas Brust, vor allen andern Tagen, Charfreitag. Eben so, ich darf’s wohl sagen Ist mir Advent von Achtzehnhundert sieben.

Ich fing nicht an, ich fuhr nur fort zu lieben, Sie, die ich früh im Herzen schon getragen, Dann wieder weislich aus dem Sinn geschlagen, Der ich nun wieder bin an’s Herz getrieben.

Petrarcas Liebe, die unendlich hohe, War leider unbelohnt und gar zu traurig, Ein Herzensweh, ein ewiger Charfreitag;

Doch stets erscheine, fort und fort, die frohe Süß, unter Palmenjubel, wonneschaurig, Der Herrin Ankunft mir, ein ew’ger Maitag.

(MA 9, S. 20f.)

Auf das dritte Sonett aus Petrarcas Canzoniere anspielend, in dem die erste Begegnung mit Laura auf Karfreitag datiert wird, benennt der Sprecher im ersten Quartett die von Petrarca geschilderte Initialerfahrung und setzt – »Eben so« – die eigene Erfahrung damit parallel. Er spricht hier mithin als Dichter; mit der Datierung auf »Achtzehnhundert sieben« ist zudem ein bio-graphischer Bezug gegeben, und so lässt sich das Sonett als Selbstaussage des Dichters Goethe lesen. Die eigene Erfahrung wird jedoch zugleich in schroffen Kontrast zu der von Petrarca beschriebenen gesetzt. Dies wird freilich in einem ironisch, auch selbst-ironisch distanzierenden Gestus vor-getragen: Dem stilisierten Pathos, mit dem – etwa in der ersten Zeile – über Petrarca gesprochen wird, stehen alltagssprachlich-lässige Wendungen wie »ich darf’s wohl sagen« entgegen, in denen die eigenen Erfahrungen ausge-sprochen werden. Der Plötzlichkeit der von Petrarca geschilderten Erfah-rung wird im zweiten Quartett, in einer Art Kurzfassung des Sonetts Wachs-

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tum, die Kontinuität der eigenen Erfahrung entgegengesetzt und zudem im zweiten Terzett als Äußerung eines Wunsches nachdrücklich auf Dauer ge-stellt. Einen scharfen Kontrast bietet vor allem die Entgegensetzung von »Charfreitag« und »Advent«. Damit wird nicht nur der eine Tag mit einer zeitlichen Dauer kontrastiert; im ersten Terzett, in dem »Charfreitag« erneut genannt ist, wird zudem die religiöse Dimension von »Petrarcas Liebe«, die Überhöhung der unerreichbaren Geliebten ins Himmlische, lapidar und zu-gleich ironisch, ja fast spöttisch – »War leider unbelohnt und gar zu trau-rig« – abgewehrt und zurückgewiesen. Ihrer Unerfülltheit kontrastiert die durchaus irdische, erotisch-sinnliche Liebe; dem »Herzensweh« steht die Glückserfahrung entgegen. Der blasphemische Oberton ist nicht zu über-hören, vor allem im auf »Charfreitag« antwortenden Reimwort »Maitag«, mit dem das Sonett schließt; wobei zudem mit der Elision im gemeinsamen Attribut (»ewiger« versus »ew’ger«) der Ton stilistisch herabgestimmt wird.

Im abschließenden Terzett, das mit seiner komplizierten Syntax und in der komplexen, centoartigen Zusammenfügung von Anspielungen allerdings nicht unbedingt stimmig ist, wird das Gedicht endgültig zum poetologischen. Mit dem Oxymoron »wonneschaurig« verwendet Goethe nochmals ein pe-trarkistisches Stilmittel; zugleich transponiert er den »Advent« in die Os-terwoche, negiert mit »Palmenjubel« jedoch (wie dann mit dem Reimwort »Maitag«) den »Charfreitag« und entkleidet vor allem mit der »Herrin An-kunft« – der »Fürstin« aus dem Sonett Wachstum – die biblischen Anspie-lungen ihrer religiös-christlichen Bedeutung. Goethe spricht damit auch als moderner Dichter;5 Petrarcas religiöse Fundierung von Liebe und Dichtung wird in ästhetische Erfahrung überführt. So ist die Palme seit alters ein Sym-bol des Dichters und des Dichterruhms. Goethe nimmt in »Maitag« ein Mo-tiv aus Klopstocks poetologischer Ode Petrarca und Laura auf;6 zudem lässt sich »Maitag« als Reminiszenz an das Maifest lesen, in dem die Liebeserfah-rung ein neues Dichten begründet: »Wie ich dich liebe | Mit warmen Blut, | Die du mir Jugend | Und Freud und Mut || Zu neuen Liedern, | Und Tänzen gibst« (MA 1.1, S. 163, V. 29–34). So wird in der letzten Zeile die »Herrin« zur Allegorie der Dichtung. Der Titel des Gedichts spricht es aus: Die So-nette markieren eine Wende, eine »Epoche« in Goethes Dichten; in ihnen erarbeitet er sich in der produktiven Auseinandersetzung mit der petrarkis-tischen Tradition eine neue Möglichkeit des lyrischen Schreibens.

Vier zentrale Apekte dieses neuen, in den Sonetten gestalteten Paradig-mas sollen im Folgenden näher betrachtet werden: Geselligkeit (1) und Mehr-

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5 Vgl. dazu Stefan Matuschek: Was ist ein ›Troubadour der Erlebnislyrik‹? Epochenblick durch ein Goethe-Sonett. In: Goethe-Jahrbuch 115 (1998), S. 69–76.

6 Vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. 2 Bände. Hg. v. Karl August Schlei-den. München 41981. Bd. 1, S. 31–34, insbesondere Z. 97f.

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stimmigkeit (2), die Dichterfigur (3) und die Allegorie (4). Geselligkeit ge-hört den Sonetten aufgrund ihrer Entstehung zu; sie bleibt aber auch dann noch ein bestimmendes Moment des Zyklus, als Goethe seine Sonette in der weiteren Produktion nach der Jenaer Phase aus dem konkreten Zusammen-hang der Geselligkeit des Frommann’schen Hauses herauslöst. In Die Zwei-felnden / Die Liebenden wird solche Geselligkeit unmittelbar präsentiert:

Die Zweifelnden Ihr liebt, und schreibt Sonette! Weh der Grille! Die Kraft des Herzens, sich zu offenbaren, Soll Reime suchen, sie zusammenpaaren; Ihr Kinder, glaubt, ohnmächtig bleibt der Wille.

Ganz ungebunden spricht des Herzens Fülle Sich kaum noch aus: sie mag sich gern bewahren; Dann, Stürmen gleich, durch alle Saiten fahren; Dann wieder senken sich zu Nacht und Stille.

Was quält ihr euch und uns, auf jähem Stege Nur Schritt vor Schritt den läst’gen Stein zu wälzen, Der rückwärts lastet, immer neu zu mühen?

Die Liebenden Im Gegenteil, wir sind auf rechtem Wege! Das Allerstarrste freudig aufzuschmelzen Muß Liebesfeuer allgewaltig glühen.

(MA 9, S. 19f.)

Mit den »Zweifelnden« und den »Liebenden« – beide ausdrücklich in der Mehrzahl genannt – sprechen hier Teilnehmer der geselligen Kommunika-tion, die in ihrem Gespräch Argumente des Sonettenstreits austauschen. Im Zyklus der Sonette wird Geselligkeit inszeniert. Die Gedichte erscheinen so als Beiträge zur geselligen Kommunikation, beispielhaft etwa auch das Sonett Charade (MA 9, S. 21), das schon im Titel ein beliebtes Gesellschaftsspiel der Zeit aufnimmt. Auf Die Zweifelnden / Die Liebenden folgt im Zyklus eine weitere Wechselrede, nun zwischen »Mädchen« und »Dichter« (MA 9, S. 20). Das Sonett Das Mädchen spricht (MA 9, S. 13f.) ist ein Rollengedicht, in dem die Liebende spricht. Diese spricht auch in den drei genau in der Mitte des Zyklus platzierten Sonetten Die Liebende schreibt, Die Liebende abermals und Sie kann nicht enden (MA 9, S. 16f.), nunmehr als Verfasserin von Brie-fen, die sie dem Liebenden schreibt. Dem Zyklus der Sonette eignet somit eine spezifische Mehrstimmigkeit (2). Zu hören sind drei Stimmen: die der Gesprächsteilnehmer an der geselligen Kommunikation in Die Zweifelnden / Die Liebenden, die Stimme der liebenden Frau mit immerhin vier Gedich-

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ten und, mit den meisten Gedichten, die Stimme des liebenden Dichters; in Mädchen / Dichter sind seine Stimme und die der Liebenden in einem Dia-loggedicht vereint. Der Zyklus bietet somit ein Wechselspiel von Liebesdia-log zwischen Dichter und Liebender und geselligem Reden über Liebe und Dichtung; hinzu kommen, insbesondere am Beginn und am Ende des Zyklus, Selbstaussagen des liebenden Dichters. In dieser Mehrstimmigkeit, im Mit-einander verschiedener Stimmen und in der Verschränkung unterschiedlicher Redegegenstände wie ebenso in der Abfolge der Gedichte wird im Zyklus der Sonette gesellige Kommunikation inszeniert. Das einzelne Gedicht ist, als ein Redeanteil am geselligen Gespräch, Teil dieser Kommunikation.

Gegenstand dieser geselligen Kommunikation ist die Möglichkeit der Produktion von Sonetten; in Die Zweifelnden / Die Liebenden, in Mädchen / Dichter und ebenso in Nemesis wird dies angesprochen. Dabei erscheint – in Anlehnung an den Petrarkismus – das Sonett vornehmlich als eine Gattung der Liebeslyrik; ›Liebe und Dichtung‹ ist mithin das umfassende Thema der geselligen Kommunikation und also auch des Zyklus. Dieser bietet damit, bei jeder seiner drei Stimmen, eine Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition, voran der petrarkistischen, aber auch der Minne-Tradition in ei-nem weiten Sinne. In Epoche wie ebenso in Kurz und gut oder in Wachstum wird dieser intertextuelle Bezug, der auch die Anlage des Zyklus prägt, ex-plizit gemacht. Die Sonette bieten ein Durchspielen von Möglichkeiten lyri-schen Sprechens über Liebe in petrarkistischer Perspektive; in diesem Durch-spielen gleicht der Zyklus den großen Liebeslyrikzyklen der europäischen Dichtung. So folgt die Anordnung der Gedichte, darin Petrarca folgend, der Motivik von Nähe und Ferne, die in den Stationen Begegnung, Liebeserfah-rung, Abschied und Trennung sowie Überwindung der Trennung variiert wird. Ein weiteres prägendes Merkmal ist der aus der Reflexion auf die Mög-lichkeiten der (Liebes-)Dichtung erwachsende spielerisch-ironische Ton, nicht zuletzt in der Rede und Gegenrede der drei Stimmen; es bietet sich durch-aus an, hier von romantischer Ironie zu sprechen. Parallel zum Thema ›Liebe und Dichtung‹ in der geselligen Kommunikation erscheint in den Sonetten als eine zunächst scheinbar eigene Thematik die Liebeserfahrung der beiden Liebenden, die freilich von Beginn an mit der Frage ihrer angemessenen lyrischen Artikulation – in der Form des Sonetts – verbunden ist. So ver-schwimmt in der Inszenierung des Zyklus die Grenze zwischen der indivi-duellen Liebeserfahrung der beiden Liebenden und der geselligen Rede über Liebe; beide sind, dem Anlass gemäß, aufgehoben im geselligen Spiel der Minne. Es ist kaum zu entscheiden, ob etwa bei Reisezehrung und Abschied (MA 9, S. 15f.) die Fiktion einer ›realen‹ Trennung der Liebenden zu unter-stellen ist oder ob es sich dabei lediglich um das Durchspielen von Motiven der Liebesdichtung handelt. Die Beziehung zwischen individueller Liebes-erfahrung und geselliger Rede über Liebe ist mithin eine komplementäre. In

In: Carsten Rohde, Thorsten Valk (Hrsg.): Goethes Liebeslyrik. Semantiken der Leidenschaft um 1800. Berlin / Boston 2013, S. 245–262.

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diesem Sinne bieten die Sonette eine Inszenierung möglicher lyrischer Rede über Liebe in Anknüpfung an die petrarkistische Tradition. Sie sind Zitat und, in produktiver Auseinandersetzung mit dem Zitierten, Aneignung und Anverwandlung der Tradition zum eigenen lyrischen Ausdruck.

Dem Zyklus der Sonette eignet eine spezifische Dichterfigur (3); seiner Mehrstimmigkeit entspricht eine ebenfalls ›mehrstimmige‹ Rolle des Dich-ters. Als Sprecher der ihm zugeordneten elf Sonette ist er der liebende Dich-ter, also in der Tradition des Petrarkismus – und darüber hinaus der Min-nelyrik – zugleich Dichtender und Liebender. Dabei spricht er freilich mit verschiedenen Stimmen: Er spricht als Liebender, wenn er – wie in Wachs-tum – die Geliebte unmittelbar anspricht oder – wie bei Christgeschenk – sein Gedicht eine Gabe an sie begleitet; er spricht als Dichter, wenn er – wie in Nemesis oder Epoche – über das Schreiben von Sonetten reflektiert; schließ-lich spricht er als Teilnehmer an der geselligen Kommunikation, die im Zy-klus inszeniert wird, so in Kurz und gut oder im Rätselgedicht Charade. Die-se Stimmen oder – besser vielleicht – Sprechweisen sind freilich kaum säu-berlich voneinander zu trennen oder deutlich zu unterscheiden. Auch wenn in dem einen oder anderen Sonett eine der Sprechweisen Vorrang haben mag, so ist doch insgesamt gerade ihr Zusammenspiel, ihr Ineinandergreifen be-stimmendes Merkmal des Zyklus; diese Mehrstimmigkeit kennzeichnet die Dichterfigur der Sonette. So ist auch keineswegs die individuelle und per-sönliche Leidenschaft des liebenden Dichters Thema der Gedichte, sondern vielmehr die Möglichkeit, solche Liebeserfahrung in der Geselligkeit auszu-sprechen, sie somit aber auch in der Geselligkeit, ja gleichsam als Gesellig-keit zu leben. Der Dichter spricht durchaus seine Leidenschaft aus, aber er artikuliert sie im geselligen, mithin literarischen Spiel. Im Sonett Die Zwei-felnden / Die Liebenden und ebenso im darauf folgenden Dialoggedicht Mäd-chen / Dichter wird dies thematisiert:

Mädchen Ich zweifle doch am Ernst verschränkter Zeilen! Zwar lausch’ ich gern bei deinen Sylbespielen; Allein mir scheint, was Herzen redlich fühlen, Mein süßer Freund, das soll man nicht befeilen.

Der Dichter pflegt, um nicht zu langeweilen, Sein Innerstes von Grund aus umzuwühlen; Doch seine Wunden weiß er auszukühlen, Mit Zauberwort die tiefsten auszuheilen.

Dichter Schau, Liebchen, hin! Wie geht’s dem Feuerwerker? Drauf ausgelernt, wie man nach Maßen wettert, Irrgänglich-klug miniert er seine Grüfte;

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Allein die Macht des Elements ist stärker, Und eh’ er sich’s versieht, geht er zerschmettert Mit allen seinen Künsten in die Lüfte.

(MA 9, S. 20)

Dem Einwand des Mädchens, dass sie am »Ernst verschränkter Zeilen« zweif-le und die Leidenschaft des Dichters nur inszeniert sei, setzt dieser im aus-geführten Bild des Feuerwerkers den Einsatz des Lebens, mithin geradezu tödlichen Ernst entgegen. Freilich wäre das Opfer des Lebens – nimmt man die Metapher des Feuerwerkers ernst – ein Unfall, der seine Ursache darin hat, dass der Feuerwerker sein Handwerk, immerhin die Bändigung »des Elements«, nicht zureichend beherrscht. So bleibt, wie auch in Die Zwei-felnden / Die Liebenden, in durchaus ironischer Brechung die Ambivalenz, dass sich nicht entscheiden lässt, was den Vorrang hat: das Leben und die Liebe oder die Dichtung. Beide Dialoggedichte lassen diese Frage offen; der Liebende ist stets auch der Dichter und als Dichter immer auch Teil gesel-liger Kommunikation.

Der Rolle des liebenden Dichters komplementär ist die der liebenden Frau. Bemerkenswert ist zunächst, dass dieser mit ihren Rollengedichten ei-ne eigene Stimme gegeben wird. Goethe durchbricht damit das Muster der petrarkistischen Lyrik (mit ausschließlich männlichem Sprecher) und nimmt zugleich das Motiv des Paares auf, dem bereits in der klassischen Lyrik eine bedeutsame Rolle zukommt,7 wobei nun die Geliebte ihre eigene Stimme er-hält. Die Authentizität dieser weiblichen Stimme hat Goethe dadurch nach-drücklich hervorgehoben und verstärkt, dass er in ihre Gedichte Zitate aus den Briefen Bettine von Arnims an ihn integrierte. Gerade aber mit dieser Montage wird die liebende Frau und Sprecherin der ›weiblichen‹ Sonette zur Rolle, denn die damit gegebenen Bezüge zu Bettine von Arnim sind mit je-nen zu Minna Herzlieb verknüpft. Besonders markant und zugleich als ver-decktes Spiel hat Goethe diese Vermischung im letzten der drei Briefsonette (Sie kann nicht enden) arrangiert. Die erste Zeile des ersten Terzetts ist gra-phisch hervorgehoben: »Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Wesen!« (MA 9, S. 17). Im Gedicht zitiert die Liebende damit aus einem Brief, den sie von ihrem Geliebten erhalten hat. Die Zeile ist ihrerseits ein leicht abge-wandeltes Zitat aus Briefen Bettine von Arnims an Goethe. Am 15. Juni 1807 schreibt sie an Goethe, sie stelle sich vor, dass er zu ihr sage: »mein Kind! mein artig gut Mädgen! Liebes Herz«; in ihrem Brief vom 6. Oktober 1807 variiert sie diese Formulierung und wendet sich an Goethe als »Euer Kind,

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7 Vgl. dazu Reiner Wild: Goethes klassische Lyrik. Stuttgart, Weimar 1999, z. B. S. 237–242 u. passim.

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Dein Herz, und Gut Mädgen«.8 Zugleich jedoch enthält die Zeile des Sonetts mit »Lieb« und »Herz« (wobei Goethe Bettine von Arnims Kombination beider Wörter auseinandergenommen hat) den Familienamen von Minna Herzlieb. Die Sprecherin der ›weiblichen‹ Sonette ist keine individuell zu fixierende Person; sie ist vielmehr – so wie der männliche Sprecher der lie-bende Dichter ist – die Liebende. In Freundliches Begegnen heißt es von dem »Mädchen«, dem der Dichter begegnet, sie sei »ein Himmel anzuschauen, | So musterhaft wie jene lieben Frauen | Der Dichterwelt« (MA 9, S. 12, V. 6–8). Der Dichter und die Liebende der Sonette sind Träger einer Rolle; so ha-ben sie auch beide keine individualisierenden Namen. Im Dichter ist dieser Charakter freilich noch gesteigert, denn er ist nicht nur der Sprecher der ihm zugeordneten Sonette, vielmehr zugleich – insofern er andere, die Lieben-de und das Kollektiv der Teilnehmenden an der geselligen Kommunikation, sprechen lässt – der Arrangeur des Zyklus. Der Dichter der Sonette, als Lie-bender wie als Arrangeur des Zyklus, spricht mithin – anders als der Dich-ter in der bisherigen Lyrik Goethes, auch der klassischen – nicht mehr als autonomes, sich selbst genügendes Individuum, das im Gedicht sich selbst in seiner ihm eigenen Individualität zum Ausdruck bringt; seine lyrische Re-de ist kein monologisches oder solipsistisches Sprechen. Vielmehr ist dieser Dichter immer schon ein mit anderen verbundenes und insofern geselliges Subjekt; er äußert sich, gerade auch als Dichter, in der Kommunikation mit anderen.

Der Wandel im Dichterverständnis bedeutet zugleich eine ebenso grund-legende wie nachhaltige Veränderung der lyrischen Sprech- oder auch Schreib-weise. Gerade darin markieren die Sonette eine Wende in Goethes Lyrik, die, durchaus programmatisch, in den beiden ersten Sonetten Mächtiges Überra-schen und Freundliches Begegnen zum Thema wird.

Mächtiges Überraschen Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale Dem Ozean sich eilig zu verbinden; Was auch sich spiegeln mag von Grund zu Gründen, Er wandelt unaufhaltsam fort zu Tale.

Dämonisch aber stürzt mit einem Male – Ihr folgten Berg und Wald in Wirbelwinden – Sich Oreas, Behagen dort zu finden, Und hemmt den Lauf, begrenzt die weite Schale.

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8 Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden. Hg. v. Walter Schmitz u. Sibylle von Steinsdorff. Frankfurt a. M. 1968–2004. Bd. 2: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde. Frankfurt a. M. 1992, S. 576, 580; so die originalen Briefe, im ›Roman‹ Goethe’s Briefwech-sel mit einem Kinde hat Bettine von Arnim die beiden Briefe auf den 15. Mai 1807 und den 14. Juni 1807 vordatiert.

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Die Welle sprüht, und staunt zurück und weichet, Und schwillt bergan, sich immer selbst zu trinken; Gehemmt ist nun zum Vater hin das Streben.

Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet; Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben.

(MA 9, S. 12)

Dieses Eingangsgedicht des Zyklus, ein Naturgedicht, in dem in durchaus emphatischem, ja hymnischem Vortrag die Macht von Naturkräften und deren Eindämmung dargestellt wird, ist das einzige Gedicht der Sonette, in dem das Personalpronomen der ersten Person – ›ich‹ – nicht vorkommt (neben Die Zweifelnden / Die Liebenden, in dem freilich das Kollektiv der am geselligen Spiel Teilnehmenden spricht und immerhin ›wir‹ gesagt wird). In Mächtiges Überraschen spricht der Dichter nicht als Liebender; seine Aus-sage hat vielmehr den Charakter des Allgemeinen. Mit der Überschrift wird eine unerwartete, zugleich jedoch wirkungsmächtige Erfahrung signalisiert, was in den letzten drei Worten der Schlusszeile des Gedichts nachdrück-lich bekräftigt wird: »ein neues Leben«. Im Bild des Stromes übernimmt Goethe eine zentrale Metaphorik seiner Sturm-und-Drang-Lyrik; zugleich wird in der Eingangszeile »Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale« die Pindar-Ode von Horaz zitiert.9 Das Sonett variiert zentrale Charakte-ristika der Hymnik Pindars, wie sie vor allem von Johann Gottfried Herder vorgetragen wurden, und erinnert mithin an die epochale ästhetische Wen-de in der frühen Lyrik Goethes, in der im Zeichen Pindars und in der Nach-folge seines hymnischen Schreibens das neue und wirkungsmächtige Para-digma der Lyrik als Ausdruck des autonomen Subjekts etabliert wurde.10 Dies wird jedoch in einem Sonett vorgetragen, das heißt in einer Form, die dem freien ›Strömen‹ des sich selbst aussprechenden Subjekts durchaus wi-derspricht: Dem Anspruch auf unmittelbaren, ›natürlichen‹ Ausdruck des Subjekts steht die Artifizialität der Form entgegen. Dabei folgt Goethe ge-nau den Vorgaben des Sonetts, so etwa mit der strikten inhaltlichen Zwei-teilung in die Quartette und die Terzette. In Mächtiges Überraschen bleibt dieser Widerspruch ungelöst. Was er bedeutet, bleibt offen; es wird gleich-_____________

9 Carm. IV, 2, 5–8: »Monte decurrens velut amnis, imbres | Quem super notas aluere ri-pas, | Fervet inmensusque ruit profundo | Pindarus ore« – »Wie ein Bergstrom stürzt, dem der Regen schwellte | Hoch zum Bord hinaus des gewohnten Bettes, | Also braust und stürzt wie aus tiefem Borne | Schrankenlos Pindar« (Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch-deutsch. Hg. u. übers. v. Hans Färber. München 1964. Teil 1, S. 180f.).

10 Vgl. dazu und zum Folgenden Gerhart von Graevenitz: Gewendete Allegorie. Das Ende der ›Erlebnislyrik‹ und die Vorbereitung einer Poetik der modernen Lyrik in Goethes So-nett-Zyklus von 1815/1827. In: Eva Horn u. Manfred Weinberg (Hg.): Allegorie. Konfigu-rationen von Text, Bild und Lektüre. Opladen u. a. 1998. S. 97–117.

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sam eine offene, auch in diesem Sinne ›überraschende‹ Erfahrung inszeniert, die freilich, wie die Schlusszeile andeutet und die Überschrift des vorletzten Sonetts des Zyklus dann bestätigt, »Epoche« gemacht hat. Allenfalls bietet die Abfolge der Bilder, in der das Strömen vom Ruhen abgelöst wird, einen Hinweis. Und möglicherweise geben auch die Abschlussworte – »ein neues Leben« – einen Wink: Sie lassen sich als Anspielung auf Dantes Vita nuova lesen, immerhin eines der Vorbilder für Petrarcas Canzoniere.

Im nachfolgenden Sonett Freundliches Begegnen, das die Begegnung der beiden Liebenden präsentiert und insofern als das eigentliche Eingangsge-dicht des Zyklus verstanden werden kann, werden die Konsequenzen aus der Erfahrung gezogen, die in Mächtiges Überraschen gestaltet ist.

Freundliches Begegnen Im weiten Mantel bis ans Kinn verhüllet Ging ich den Felsenweg, den schroffen, grauen, Hernieder dann zu winterhaften Auen, Unruh’gen Sinns, zur nahen Flucht gewillet.

Auf einmal schien der neue Tag enthüllet: Ein Mädchen kam, ein Himmel anzuschauen, So musterhaft wie jene lieben Frauen Der Dichterwelt. Mein Sehnen war gestillet.

Doch wandt’ ich mich hinweg und ließ sie gehen, Und wickelte mich enger in die Falten, Als wollt’ ich trutzend in mir selbst erwarmen;

Und folgt ihr doch. Sie stand. Da war’s geschehen! In meiner Hülle konnt’ ich mich nicht halten, Die warf ich weg, sie lag in meinen Armen.

(MA 9, S. 12f.)

Das Sonett beginnt in der Stillage von Mächtiges Überraschen, die jedoch im Verlauf des Gedichts in die der nachfolgenden Sonette moduliert wird; in den einfachen und kurzen, lapidar feststellenden Sätzen des letzten Terzetts ist sie erreicht. Und wie Mächtiges Überraschen ist auch Freundliches Begegnen von einem Selbstzitat Goethes bestimmt. In der Begegnung des Dichters mit dem Mädchen schließt Goethe an Zueignung (MA 2.1, S. 93–96) an, mithin an eines seiner zentralen poetologischen Programmgedichte. So ist in der Zei-le »Auf einmal schien der neue Tag enthüllet« die morgendliche Szenerie von Zueignung in prägnanter Konzentration benannt. Bereits in Zueignung wird auf Petrarca angespielt, wobei der Bezug allerdings eher im Allgemeinen ver-bleibt; im Aufstieg des Dichters wird Petrarcas Besteigung des Mont Ven-toux als eine Art Urszene moderner Dichtung gewissermaßen wiederholt. Hingegen wird in Freundliches Begegnen, den über Zueignung bereits herge-

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stellten Bezug verstärkend, Petrarca selbst zitiert. Die im Eingangsquartett dargestellte Situation des Sprechers nimmt Petrarcas Sonett Solo et pensoso auf.11 In Freundliches Begegnen spricht der liebende Dichter; was in Mäch-tiges Überraschen unpersönlich, das heißt als ein Allgemeines präsentiert ist, wird ihm nun zur eigenen, zur individuellen Erfahrung. Dies geschieht je-doch im Zeichen Petrarcas und damit in spezifischer Weise. Denn das Indi-viduelle, das »ich« des Dichters und ebenso das »Mädchen«, ist zugleich ein Allgemeines: sie als »musterhaft wie jene lieben Frauen | Der Dichterwelt«, er als der liebende Dichter, der zu seinem Ausdruck findet, indem er sich in die Tradition des Petrarkismus einfügt, gewissermaßen aus ihr heraus spricht, sich dabei jedoch von der Stillage des hymnischen Sprechens löst.12 Das lyri-sche Sprechen, zu dem der Dichter findet, ist vorgeprägt; wie die Erfahrung selbst, die im Gedicht ihren Ausdruck findet, ist dieses Sprechen Individua-tion eines vorgegebenen Musters. Dies wird im Zyklus der Sonette durch-geführt, so schon in dem auf Freundliches Begegnen unmittelbar folgenden Sonett Kurz und gut, in dem der Dichter den Schmerz der Trennung bewäl-tigt und mit seiner Klage an die Tradition der Liebeslyrik anschließt:

Wie aber mag ich dich mein Herz versöhnen, Daß ich im wichtgen Fall dich nicht befrage? Wohlan! Komm her! Wir äußern unsre Klage In liebevollen, traurig heitern Tönen.

Siehst du, es geht! Des Dichters Wink gewärtig, Melodisch klingt die durchgespielte Leier, Ein Liebesopfer traulich darzubringen.

(MA 9, S. 13)

In den beiden Eingangssonetten inszeniert Goethe eine durchaus grundle-gende poetologische Wende. Er verabschiedet das von ihm selbst in seiner frühen Lyrik im Zeichen Pindars begründete Paradigma der Lyrik als eines unmittelbaren Ausdrucks des autonomen, aus sich selbst sprechenden und allein sich selbst verpflichteten Subjekts, und er etabliert in der Nachfolge _____________

11 In der Übersetzung von Johann Diederich Gries, einem der Teilnehmer am Jenaer Sonet-tenwettstreit, lautet dessen erste Strophe: »Einsam, gedankenvoll, die öd’sten Lande | Geh’ ich durchmessend, langsam und verdrossen, | Und wend’ umher den Blick, zur Flucht ent-schlossen, | Wo Menschenspur sich eingedrückt dem Sande« (J. D. Gries: Gedichte und poetische Übersetzungen. 2 Bände. Stuttgart 1829. Bd. 2, S. 90). Vgl. Francesco Petrarca: Canzoniere. Nach einer Interlinearversion von Geraldine Gabor in deutsche Verse gebracht von Ernst Jürgen Dreyer. Mit Anmerkungen zu den Gedichten von Geraldine Gabor. Ba-sel, Frankfurt a. M. 1989, S. 102: »Solo et pensoso i piú deserti campi | o mesurando a pas-si tardi et lenti, | et gli occhi porto per fuggire intenti | ove vestigio human la rena stampi«.

12 Eine vergleichbare Beziehung wie zwischen Mächtiges Überraschen und Freundliches Be-gegnen besteht zwischen den Sonetten Die Zweifelnden / Die Liebenden und Mädchen / Dichter; auch hier erfüllt das Individuelle das Muster des Allgemeinen.

In: Carsten Rohde, Thorsten Valk (Hrsg.): Goethes Liebeslyrik. Semantiken der Leidenschaft um 1800. Berlin / Boston 2013, S. 245–262.

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Petrarcas zugleich ein neues lyrisches Paradigma. In der germanistischen Tra-dition wird – nicht zuletzt im Anschluss an Goethes oft zitierte Äußerun-gen zu Symbol und Allegorie in den Maximen und Reflexionen – die lyrische Schreibweise des unmittelbaren Ausdrucks gemeinhin als symbolische be-zeichnet. In Verbindung mit dem Konzept der Erlebnisdichtung wurde sie, jedenfalls über lange Zeit hinweg und nachwirkend bis in die Gegenwart, als Inbegriff von Lyrik überhaupt verstanden.13 Leitidee der symbolischen Ly-rik ist die Vorstellung, dass das Einzelne und Besondere – das im Gedicht präsentierte ›Bild‹ – aus sich heraus bedeutend sei und so in ihm das Allge-meine wahrgenommen werde. Somit suggeriert dieser Begriff des Symboli-schen die Möglichkeit der Erfahrung von Unmittelbarkeit. Dieser Erfahrung entspricht die Unbedingtheit des autonomen Subjekts, denn das Symboli-sche, das aus sich selbst heraus spricht, ist Ausdruck und damit Leistung ebendieses Subjekts, des Genies.14 Davon setzen sich die Sonette ab. Die lyri-sche Schreibweise, zu der Goethe in ihnen findet, ist bestimmt von den Merk-malen der Vermitteltheit und der Bedingtheit. Das im Gedicht präsentierte Besondere ist Individuation eines Allgemeinen; seine Bedeutung erschließt sich in der Reflexion auf das Allgemeine, als dessen Teil sich das Einzelne und Besondere erweist. Das Vermittelnde ist die Form; sie ist ein vorgegebe-nes Muster, das als historisch gewordenes in sich Bedeutung trägt – in die-sem Falle das Sonett, zu dessen historischer Semantik, die in Goethes Sonet-ten aufgenommen, reflektiert und verändert wird, der Petrarkismus gehört. Zugleich ist diese lyrische Schreibweise Ausdruck der Bedingtheit des spre-chenden Subjekts. Der Dichter der Sonette spricht nicht als autonomes Sub-jekt, sondern als ›Individuation‹, als ein in seiner Konkretheit und je spezi-fischen Besonderheit zugleich historisch und sozial bedingtes Individuum. Die lyrische Schreibweise der Sonette ist eine allegorische, freilich nicht im Sinne einer Rückkehr zur traditionellen Allegorie etwa des Barock, sondern im Sinne des Begriffs einer modernen Allegorie (4), wie sie als Erster Heinz

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13 Vgl. Gerhart von Graevenitz’ scharfe Kritik an dieser Tradition des ›Symbolischen‹ (G. von Graevenitz: Gewendete Allegorie (Anm. 10), S. 99f.).

14 Diesen Zusammenhang hat bereits Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode (zu-erst 1960) in den Abschnitten »Genieästhetik und Erlebnisbegriff« und »Die Grenze der Erlebniskunst. Rehabilitierung der Allegorie« herausgestellt. Vgl. H.-G. Gadamer: Ge-sammelte Werke. 5 Bände in 10 Teilbänden. Tübingen 1985–1995. Bd. 1: Hermeneutik: Wahrheit und Methode. Teil 1: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 5., durch-gesehene u. erweiterte Auflage. Tübingen 1986, S. 61–76, 76–87, z. B. S. 86: »Die feste Vor-findlichkeit des Begriffsgegensatzes ›das ›organisch‹ gewachsene Symbol – die kalte ver-standesmäßige Allegorie‹ verliert ihre Verbindlichkeit, wenn man ihre Bindung an die Ge-nie- und Erlebnisästhetik erkennt. […] Die Grundlage der Ästhetik des 19. Jahrhunderts war die Freiheit der symbolisierenden Tätigkeit des Gemüts. […] Wenn man das erkennt, muß sich der Gegensatz von Symbol und Allegorie wieder relativieren, der unter dem Vorurteil der Erlebnisästhetik ein absoluter schien«.

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Schlaffer für Faust II und damit für Goethes Spätwerk erarbeitet hat.15 Eine prägnante Bestimmung dieses ›Allegorischen‹ hat Goethe selbst in seiner Far-benlehre gegeben, deren theoretische Aussagen bekanntermaßen immer auch als poetologische gelesen werden können. Dort heißt es vom »allegorischen« Gebrauch der Farben:

Bei diesem ist mehr zufälliges und willkürliches, ja man kann sagen etwas Kon-ventionelles, indem uns erst der Sinn des Zeichens überliefert werden muß, ehe wir wissen, was es bedeuten soll, wie es sich zum Beispiel mit der grünen Farbe verhält, die man der Hoffnung zugeteilt hat. (MA 10, S. 262f.)

Goethe vermerkt hier – in linguistisch-semiotischer Terminologie formu-liert – die Konventionalität und Arbitrarität des Zeichens und stellt zugleich heraus, dass die angemessene Verwendung eines Zeichens seinen histori-schen Gebrauch, die Tradition des Zeichens, zur Voraussetzung hat. Inso-fern ist in den Sonetten die Form selbst allegorisch: Das Sonett fungiert als Zeichen, dessen Signifikant die Form und dessen Signifikat die Tradition pe-trarkistischer Liebeslyrik ist. In den Sonetten wird – so ließe sich in apho-ristischer Zuspitzung sagen – dasjenige poetische, lyrische Praxis, was in Wilhelm Meisters Lehrjahren von Wilhelm erfahren und was Goethe wenig später in den Wahlverwandtschaften experimentell durchführen wird: die soziale und historische Bedingtheit des Subjekts.

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15 Vgl. Heinz Schlaffer: Faust zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts. Sonderausga-be. Stuttgart 1989; grundlegend die Feststellung auf S. 5, in der gleichermaßen der Unter-schied der ›modernen‹ Allegorie zur traditionellen sowie deren spezifische Leistung be-nannt wird: »Goethes Allegorie hat sich die neue Aufgabe gestellt, statt der ewigen me-taphysischen Mächte über dem menschlichen Leben, denen die traditionellen Allegorien verpflichtet waren, die geschichtlich begrenzte Grundkonstellation des modernen Lebens ins Bild zu fassen«.

In: Carsten Rohde, Thorsten Valk (Hrsg.): Goethes Liebeslyrik. Semantiken der Leidenschaft um 1800. Berlin / Boston 2013, S. 245–262.

Erstpublikation

Reiner Wild: »Epoche«. Liebe und Dichtung in Goethes Sonetten von 1807/1808. In: Carsten Rohde, Thorsten Valk (Hrsg.): Goethes Liebeslyrik. Semantiken der Leidenschaft um 1800. Berlin / Boston 2013, S. 245–262.

In: Carsten Rohde, Thorsten Valk (Hrsg.): Goethes Liebeslyrik. Semantiken der Leidenschaft um 1800. Berlin / Boston 2013, S. 245–262.