25
Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 1 Epochenstil - Zeitstil Nur ein kurzer Blick in sprachgeschichtliche Epochen ca. 1400 Jahre deutsche Sprache, ausgegliedert aus dem Westgermanischen als Althochdeutsch (ca. 650-1050) Mittelhochdeutsch (ca. 1050-1350) Frühneuhochdeutsch (ca. 1350-1650) Neuhochdeutsch einschließlich der Gegenwartssprache

Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 1

Epochenstil - Zeitstil

Nur ein kurzer Blick in sprachgeschichtliche Epochen

ca. 1400 Jahre deutsche Sprache, ausgegliedert aus dem Westgermanischen als• Althochdeutsch (ca. 650-1050)• Mittelhochdeutsch (ca. 1050-1350)• Frühneuhochdeutsch (ca. 1350-1650)• Neuhochdeutsch einschließlich der Gegenwartssprache

Page 2: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 2

Epochenstil - Zeitstil

Lorscher Bienensegen (9. Jahrhundert)

kirst imbi ist hucze nu fluic du uihu minaz herafridu frono in godes munt heim zu comonne gisunt

sizi sizi bina inbot dir sancte mariahurolob ni habe du zi holce ni fluc dunoh du mir nindrinnes noh du mir nintuuinnestsizi uilu stillo vuirki godes uuillon

Christus, der Bieneschwarm ist heraußen! Jetzt flieg, du mein Vieh, herbei. Im Frieden des Herrn, im Schutz Gottes, gesund heim zu kommen.

Sitze, sitze, Biene. Das gebot dir die heilige Maria.Urlaub habe du nicht; zum Holze (in den Wald) flieg du nicht;weder sollst du mir entrinnen, noch mir entkommen.Sitz ganz still, wirke Gottes Willen.

Ahd. Text: Braune/Helm: Althochdeutsches Lesebuch, Tübingen 1958 13. Aufl.), S. 86

Page 3: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 3

Epochenstil - ZeitstilLudwigslied 9. Jahrhundert (rheinfränkisch)

Einan kuning uueiz ih, Heizsit her Hluduig,Ther gerno gode thionot: Ih uueiz her imos lonot.Kind uuarth her faterlos. Thes uuarth imo sar buoz:Holoda inan truhtin, Magaczogo uuarth her sin.Gab her imo dugidi, Fronisc githigini,Stuol hier in Vrankon. So bruche her es lango!Thaz gideilder thanne Sar mit Karlemanne,Bruoder sinemo, Thia czala uuunniono.So thaz uuarth al gendiot, Koron uuolda sin god,Ob her arbeidi So iung tholon mahti.Lietz her heidine man Obar seo lidan,Thiot Vrancono Manon sundiono.Uuurdun sum erkorane, Sume sar verlorane.Haranskara tholota Ther er misselebeta.

Aus: Niemeyer Verlag Althochdeutsches Lesebuchhttp://www.linguistics.ruhr-uni-bochum.de/~strunk/Deutsch/ludwigli.htm

Page 4: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 4

Epochenstil - Zeitstil

Ther ther thanne thiob uuas, Ind er thanana ginas,Nam sina vaston: Sidh uuarth her guot man.Sum uuas luginari, Sum skachari,Sum fol loses, Ind er gibuozta sih thes.Kuning uuas ervirrit, Thaz richi al girrit,Uuas erbolgan Krist: Leidhor, thes ingald iz.Thoh erbarmedes got, Uuisser alla thia not:Hiez her Hluduigan Tharot sar ritan:'Hluduig, kuning min, Hilph minan liutin!Heigun sa Northman Harto biduuungan';Thanne sprah Hluduig: 'Herro, so duon ih,Dot ni rette mir iz, Al thaz thu gibiudist'.Tho nam her godes urlub, Huob her gundfanon uf,Reit her thara in Vrankon Ingagan Northmannon.Gode thancodun The sin beidodun,

Page 5: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 5

Epochenstil - Zeitstil

Quadhun al 'fro min, So lango beidon uuir thin'.Thanne sprah luto Hluduig ther guoto:'Trostet hiu, gisellion, Mine notstallon.Hera santa mih god Ioh mir selbo gibod,Ob hiu rat thuhti, Thaz ih hier gevuhti,Mih selbon ni sparoti, Uncih hiu gineriti.Nu uuillih thaz mir volgon Alle godes holdon.Giskerit ist thiu hieruuist So lango so uuili Krist:Uuili her unsa hinavarth, Thero habet her giuualt.So uuer so hier in ellian Giduot godes uuillion,Quimit he gisund uz, Ih gilonon imoz,Bilibit her thar inne, Sinemo kunnie'.Tho nam her skild indi sper. Ellianlicho reit her:Uuolder uuar errahchon Sinan uuidarsahchon.Tho ni uuas iz burolang, Fand her thia Northman:

Page 6: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 6

Epochenstil - Zeitstil

Gode lob sageda, Her sihit thes her gereda.Ther kuning reit kuono, Sang lioth frano,Ioh alle saman sungun 'Kyrrieleison'.Sang uuas gisungan, Uuig uuas bigunnan,Bluot skein in uuangon: Spilodun ther Vrankon.Thar vaht thegeno gelih, Nichein soso Hluduig:Snel indi kuoni, Thaz uuas imo gekunni.Suman thuruhskluog her, Suman thuruhstah her.Her skancta cehanton Sinan fiantonBitteres lides. So uue hin hio thes libes!ilobot si thiu godes kraft: Hluduig uuarth sigihaft;Ioh allen heiligon thanc! Sin uuarth ther sigikamf.Uuolar abur Hluduig, Kuning uilo salig!So garo soser hio uuas, So uuar soses thurft uuas.Gihalde inan truhtin Bi sinan ergrehtin.

Page 7: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 7

Epochenstil - Zeitstil

Quadhun al 'fro min, So lango beidon uuir thin'.Thanne sprah luto Hluduig ther guoto:'Trostet hiu, gisellion, Mine notstallon.Hera santa mih god Ioh mir selbo gibod,Ob hiu rat thuhti, Thaz ih hier gevuhti,Mih selbon ni sparoti, Uncih hiu gineriti.Nu uuillih thaz mir volgon Alle godes holdon.Giskerit ist thiu hieruuist So lango so uuili Krist:Uuili her unsa hinavarth, Thero habet her giuualt.So uuer so hier in ellian Giduot godes uuillion,Quimit he gisund uz, Ih gilonon imoz,Bilibit her thar inne, Sinemo kunnie'.Tho nam her skild indi sper. Ellianlicho reit her:Uuolder uuar errahchon Sinan uuidarsahchon.Tho ni uuas iz burolang, Fand her thia Northman:

Page 8: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 8

Epochenstil - ZeitstilIch zôch mir einen valken mêre danne ein jâr.Dô ich in gezamete als ich in wolde hânund ich im sîn gevidere mit golde wol bewant,er huop sich ûf vil hôhe und floug in anderiu lant.

Sît sach ich den valken schône fliegen:Er fuorte an sînem fuoze sîdîne riemen,und was im sîn gevidere alrôt guldîn.Got sende si zesamene die gerne geliep wellen sîn!

Der von Kürenberg (2. Hälfte 12, Jahrh.)

ÜbertragungIch zog mir einen Falken mehr als ein Jahr.Da ich ihn gezähmt (hatte), wie ich ihn haben wollte,und ich ihm sein Gefieder mit Gold wohl schmückte,hob er sich sehr hoch hinauf und flog in andere Länder.

Seither sah ich den Falken schön fliegen:Er führte an seinem Fuße seidene Riemen,und war ihm sein Gefieder über und über rotgolden.Gott sende sie zusammen die gerne geliebt sein wollen!

Page 9: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 9

9 Martin Luther: „Über das Schreyberamt“

Es meinen wohl ettliche / das Schreiber ampt sey ein leicht geringe ampt / Aber im harnissch reiten / hitz, frost, staub, durst und ander vngemach leiden, das sey eine erbeit / Ja das ist das alte gemein teglich liedlin / das keiner sihet, / wo de andern der schuch druckt / Jedermann fulet allein sein vngemach / und gaffet auff des andern gut gemach. War ists / Mir were es schwer jm harnissch zu reiten / Aber ich wolt auch gern widderumb den reuter sehen / der mir kundte einen gantzen tag still sitzen / vnd in ein buch sehen / wenn er schon nichts sorgen / tichten / dencken / noch lesen solt / Frage einen Cantzel schreiber / Prediger vnd Redener / was schreiben und seden fur erbeit sey / frage einen Schulmeister / was leren vnd knaben zihen fur erbeit sey. Leicht ist die schreibfedder / das ist war / ist auch kein handzeug vnter allen handwerkcen bas zu erzeugen / denn der schreiberey / denn sie bedarff allein der gense fittich / deren man vmb sonst allent halben gnug findet / Aber es muß gleich wol das beste stücke (als der kopff) vnd das edelste gelied (als die zunge) vnd das hohest werck (als die Rede) so am menschen leibe sind / hie her halten vnd am meisten erbeiten / da sonst bey andern / entweder / die faust / fuß / rucken odder der gleichen glied allein erbeiten / vnd sie können da neben frölich singen vnd frey schertzen / das ein schreiber wol lassen mus / Drey finger thuns (sagt man von Schreibern) Aber gantz Leib vnd seel erbeiten dran.

(Aus: Luthers Werke in Auswahl, Band 4: Berlin 1959, S. 171

Page 10: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 10

Epochenstil - Zeitstil

Page 11: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 11

Andreas Gryphius1616-1664

Page 12: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 12

Epochenstil - Zeitstil

Paul Fleming (1609-1640)

Wie er wolle geküsset seinNirgends hin als auf den Mund;Da sinkt‘s in des Herzens Grund;Nicht zu frei, nicht zu gezwungen,Nicht mit gar zu fauler Zungen.

Nicht zu wenig, nicht zu viel:Beides wird sonst Kinderspiel;Nicht zu laut und nicht zu leise:Bei dem Maß die rechte Weise.

Nicht zu nahe, nicht zu weit:Dies macht Kummer, jenes Leid;Nicht zu trocken, nicht zu feuchte,Wie Adonis Venus reichte.

Nicht zu harte, nicht zu weich,Bald zugleich, bald nicht zugleich.Nicht zu langsam, nicht zu schnelle,Nicht ohn Unterschied der Stelle..

Halb gebissen, halb gehaucht,Hab die Lippen eingetaucht;Nicht ohn Unterschied der Zeiten,Mehr alleine denn bei Leuten.

Küsse nun ein jedermann,Wie er weiß, will, soll und kann!Ich nur und die Liebste wissen, Wie wir uns recht sollen küssen.

Aus: Carl Otto Conrady: Das große deutsche Gedichtbuch. Athenäum, Kronberg/Ts. 1977, S. 84

Page 13: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 13

Epochenstil - Zeitstil

Schäferlyrik (Anakreontik) und Rokoko

Christian Felix Weisse (1726-1804)

Der Kuss

Ich war bei Chloen ganz allein,Und küssen wollt’ ich sie;Jedoch sie sprach, sie würde schrein,Es sei vergebne Müh.Ich wagt’ es doch, und küsste sieTrotz ihrer Gegenwehr.Und schrie sie nicht? Ja wohl, sie schrie, –Doch lange hinterher.

Das Gedicht von Weisse ist dem Kommentar zu Goethes Gedicht S. 419 entnommen; es ist 1758 in Leipzig in den Sammelband Scherzhafte Lieder erschienen. Goethes Gedicht: Goethes Werke Band 1, hrsgg. von Erich Trunz, 3. Auflage Christian WegnerVerlag Hamburg 1956, S. 18.In beiden Gedichten ist die Rechtschreibung der Quelle beibehalten. Goethe hatte, das nur als Hinweis, zu seinen Lebzeiten mehrerer Rechtschreibungen erlebt und akzeptiert.

Page 14: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 14

Epochenstil - Zeitstil

Johann Wolfgang Goethe (1749-1832)

Das Schreien

Jüngst schlich ich meinem Mädchen nach,Und ohne HindernisUmfasst ich sie im Hain; sie sprach:“Lass mich, ich schrei gewiss!“Da droht’ ich trotzig: „Ha, ich willDen töten, der uns stört!““Still“, winkt sie lispelnd, „Liebster, still,Damit uns niemand hört!“

Page 15: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 15

Epochenstil - Zeitstil

Johann Wolfgang Goethe

Gefunden

Ich ging im WaldeSo für mich hin,Und nichts zu suchen,Das war mein Sinn.

Im Schatten sah ichEin Blümchen stehn,Wie Sterne leuchtend,Wie Äuglein schön.

Ich wollt es brechen,Da sagt es fein:Soll ich zum WelkenGebrochen sein?

Ich grub’s mit allenDen Würzlein aus,Zum Garten trug ich’sAm hübchen Haus.

Und pflanzt’ es wiederAm stillen Ort;Nun zweigt es immerUnd blüht so fort.

Lied: Richard StraussDietrich Fischer-DiskauKlavier: Karl Engel

Page 16: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 16

Epochenstil - Zeitstil

Heinrich Heine

Im wunderschönen Monat Mai,Als alle Knospen sprangen,Da ist in meinem HerzenDie Liebe aufgegangen.

Im wunderschönen Monat Mai,Als alle Vögel sangen,Da hab ich ihr gestandenMein Sehnen und Verlangen.

Page 17: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 17

Epochenstil - Zeitstil

Heinrich Heine

Im wunderschönen Monat Mai,Als alle Knospen sprangen,Da ist in meinem HerzenDie Liebe aufgegangen.

Im wunderschönen Monat Mai,Als alle Vögel sangen,Da hab ich ihr gestandenMein Sehnen und Verlangen.

Heinrich Heine: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden.Hanser Verlag München 1976, Bd. 1, S. 75, Bd.7, S. 331

Page 18: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 18

Epochenstil - ZeitstilPoetischer Realismus

Conrad Ferdinand Meyer (1825-1899)

Zwei SegelZwei Segel erhellendDie tiefblaue Bucht!Zwei Segel sich schwellendZu ruhiger Flucht!

Wie eins in den WindenSich wölbt und bewegt,Wir auch das EmpfindenDes andern erregt.

Begehrt eins zu hasten,Das andre geht schnell,Verlangt eins zu rasten,Ruht auch sein Gesell.Aus: Otto Conrady: Das große deutsche Gedichtbuch.Athenäum, Kronberg/Ts. 1977, S. 541/2

Page 19: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 19

Epochenstil - Zeitstil

Übergang zum Expressionismus

Else Lasker-Schüler (1869-1945)

Ein alter Tibetteppich

Deine Seele, die die meine liebet,Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet.

Strahl in Strahl, verliebte Farben,Sterne, die sich himmellang umwarben.

Unsere Füße ruhen auf der Kostbarkeit,Maschentausendabertausendweit.

Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron,Wie lange küsst dein Mund den meinen wohlUnd Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon?

Aus: Otto Conrady: Das große deutsche Gedichtbuch.Athenäum, Kronberg/Ts. 1977, S. 701

Page 20: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 20

Epochenstil - Zeitstil

Joachim Ringelnatz (1883-1934)

Ich habe dich so lieb

Ich habe dich so lieb!Ich würde dir ohne BedenkenEine Kachel aus meinem OfenSchenken.Ich habe dir nichts getan.Nun ist mir traurig zu Mut.An den Hängen der EisenbahnLeuchtet der Ginster so gut.Vorbei – verjährt –Doch nimmer vergessen.Ich reise.Alles, was lange währt,Ist leise.

Die Zeit entstelltAlle Lebewesen.Ein Hund bellt.Er kann nicht lesen.Er kann nicht schreiben.Wir können nicht bleiben.Ich lache.Die Löcher sind die HauptsacheAn einem Sieb.

Page 21: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 21

Epochenstil - ZeitstilNeue SachlichkeitErich Kästner (1899-1974)

Sachliche Romanze

Als sie einander acht Jahre kannten(und man darf sagen: sie kannten sich gut),kam ihre Liebe plötzlich abhanden.Wie andern Leuten ein Stock und ein Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,versuchten Küsse, als ob nichts sei,und sahen sich an und wussten nicht weiter.Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vierund Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café am Ortund rührten in ihren Tassen.Am Abend saßen sie immer noch dort.Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wortund konnten es einfach nicht fassen.

Page 22: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 22

Epochenstil - Zeitstil

Ulla Hahn (geb.1946)

Bildlich gesprochen

Wär ich ein Baum ich wüchsedir in die hohle Handund wärst du das Meer ich bautedir weiße Burgen aus Sand.

Wärst du eine Blume ich grübedich mit allen Wurzeln auswär ich ein Feuer ich legtein sanfte Asche dein Haus.

Wär ich eine Nixe ich saugtedich auf den Grund hinabund wärst du ein Stern ich knalltedich vom Himmel ab.

Page 23: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 23

Epochenstil - Zeitstil

Ernst Jandl (1925-2002)

du warst zu mir ein gutes mädchenwarst zo mür eun gotes mödchen

du warst zu mir ein guteszo müreun gotes mödchen

du warst zu mir einmür eun gotes mödchen

du warst zu mireun gotes mödchen

du warst zugot mödchen

du warstzo mürzu gutmödchen

worst zo gotzumür

Page 24: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 24

Epochenstil - Zeitstil

Robert Gernhardt (geb. 1937)

Schöne Fraun

Schöne Fraun, die haben immer rechtSie mögen zwar böse sein, doch sind sie nie schlecht.

(Schöne Fraun und schlecht –das wer ja noch schöner!)

Schöne Fraun, die tun nicht immer gut.Jedoch allein ihr Anblick! Wie gut der tut!

(Es gibt nichts Schöneresals den Anblick schöner Fraun!)

Schöne Fraun, die sind das Schönste auf der Welt.Und wir Männer sind der Hund, der den Mond anbellt.

Daß sie uns auch noch den allerletzten Rest Verstandrauben, das ist das Allerschönste an schönen Fraun!

Schöne Fraun! Wer möchte sie nicht immer sehn!Doch bleiben schöne Fraun gottlob nicht immer schön.

(Dann wird man endlich auch drei, vier Worte über den Charakterdieser Biester verlieren können.Bis dahin aber heißt es:

Schöne Fraun etc.

Rezitation: Lutz Görner

Page 25: Epochenstil - Zeitstil · Wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, Bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, Nicht ohn Unterschied

Prof. Dr. Karl-Dieter Bünting (Univ. Duisburg-Essen, Campus Essen): Sprachstil 25

Epochenstil - Zeitstil