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Ergänzende Bemerkungen über den Zufall in der Kunst Zufall als Prinzip: Spie/welt, Methode und System in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Hg. v. B. Holeczek und L. von Mengen. Heidelberg: Edition Braus 1992 Ausstellungskataloge weröen in jüngster Zeit in zunehmendem Maße als Mono- graphien mit hohem wissenschaftlichen Anspruch konzipiert. ln den Begleit- bänden zu Kunstausstellungen dominiert im allgemeinen noch die Fülle aufwendig gedruckter Reproduktionen; im Textteil gehen die oft renommierten Autoren gern in die Tiefe ihrer speziellen Forschungsrichtung, ohne direkten Bezug zu den ausge- stellten Werken. Auch im vorliegenden Katalog zur Ludwigshafener Ausstellung tut sich das Dilemma der Unabhängigkeit zwischen dem Bildteil und dem 14 Artikel umfassen- den Textteil auf. Der Bildteil ist nach 12 Stichworten von "Dada" bis "Visuelle Poe- ten" geordnet; dieser Kategorien werden die ausstellenden Künstler bio- graphisch und mit Außerungen über ihr eigenes Werk vorgestellt. Die "Allgemeine Literatur zum Zufall" im bibliographischen Anhang enthält interessante Quellen, die unabhängig von den individuellen Beiträgen gesammelt wurden. An dieser ku rz en, aber inhaltsreichen Bibliographie setzte der Referent seine Betrachtungen an, die sich auf den Textteil des Kataloges und vorwiegend auf die wissen- schaftlich faßbaren Überlegungen zum "Zufall in der Kunst" beziehen. Über- legungen können ihren Ausgang bei grundlegenden Studien wie Max Borns "Natu- ral Philosophy of Cause and Chance" (1949) und Jean Monods "Le Hazard et Ia Necessite" (1970) nehmen, aber auch an spezielleren theoretischen Abhandlun- gen über (Pseudo) Zufallszahlen (M. G. Kendall, B. Babington Smith) und zufällige Fraktale (M. Bearnsley) anknüpfen. Letztere sind geeignet, auf Arbeiten von F. Morallet bzw. T. Ulrichs angewendet zu werden. Wenn vom Zufall ' in der künstlerischen Arbeit die Rede ist, muß zunächst zwischen Produzent (Künstler) und Rezipient. (Betrachter) unterschieden werden, den Trä- gern der durch den künstlerischen Arbeitsprozeß gestifteten Veränderung der Welt. Zufälliges entstehen lassen kann der Produzent, zufällig Entstandenes zu entdek- ken bleibt dem Rezipienten vorbehalten. Dabei ist der Produzent selbst Rezipient seines eigenen Werkes. Der Produzent hat zwei Möglichkeiten, den Zufall mit in seine Arbeit einzubeziehen: er kann zufällig in sein Bewußtsein Tretendes als Teil seiner Aussage akzeptieren und mehr oder weniger verändert in die "Komposition" mit einbeziehen, oder er kann Zufallsmechanismen wählen, die ihm diejenigen Entscheidungen vorgeben, welche seiner künstlerischen Intention entsprechen. Die erstgenannte Vorgehansweise ist so alt wie der homo ludens, die zweitge- nannte so jung wie der Computer. Damit ist die Spanne der Themen gekennzeich- net, welche in den Essays des vorliegenden Kataloges angesprochen werden. Im Essay von B. Holecek wird die Geschichte des "schöpferischen Zufalls dargelegt: von Leonardo und Piero di Cosimo über Dada, Collage, Assemblage und objet trouve bis zu den aleatorischen Computer-Programmen von V. Molnar. Zwei Beiträge (T. Zaunschirn , L. Mengden) sind dem Werk Marcel Duchamps gewidmet. Die Betrachtungen zu den "Drei Musterfäden", einer Arbeit, die der Produzent selbst als sein "wichtigstes" und als "Werk konservierten Zufalls" Semiosis 69/70 - 1993 105

Ergänzende Bemerkungen über den Zufall in der Kunst Zufall ... · Auch im vorliegenden Katalog zur Ludwigshafener Ausstellung tut sich das Dilemma der Unabhängigkeit zwischen dem

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Ergänzende Bemerkungen über den Zufall in der Kunst

Zufall als Prinzip: Spie/welt, Methode und System in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Hg. v. B. Holeczek und L. von Mengen. Heidelberg: Edition Braus 1992

Ausstellungskataloge weröen in jüngster Zeit in zunehmendem Maße als Mono­graphien mit hohem wissenschaftlichen Anspruch konzipiert. ln den Begleit­bänden zu Kunstausstellungen dominiert im allgemeinen noch die Fülle aufwendig gedruckter Reproduktionen; im Textteil gehen die oft renommierten Autoren gern in die Tiefe ihrer speziellen Forschungsrichtung, ohne direkten Bezug zu den ausge­stellten Werken.

Auch im vorliegenden Katalog zur Ludwigshafener Ausstellung tut sich das Dilemma der Unabhängigkeit zwischen dem Bildteil und dem 14 Artikel umfassen­den Textteil auf. Der Bildteil ist nach 12 Stichworten von "Dada" bis "Visuelle Poe­ten" geordnet; inne.~halb dieser Kategorien werden die ausstellenden Künstler bio­graphisch und mit Außerungen über ihr eigenes Werk vorgestellt. Die "Allgemeine Literatur zum Zufall" im bibliographischen Anhang enthält interessante Quellen , die unabhängig von den individuellen Beiträgen gesammelt wurden. An dieser kurzen, aber inhaltsreichen Bibliographie setzte der Referent seine Betrachtungen an, die sich ausschli~ßlich auf den Textteil des Kataloges und vorwiegend auf die wissen­schaftlich faßbaren Überlegungen zum "Zufall in der Kunst" beziehen. Solch~ Über­legungen können ihren Ausgang bei grundlegenden Studien wie Max Borns "Natu­ral Philosophy of Cause and Chance" (1949) und Jean Monods "Le Hazard et Ia Necessite" (1970) nehmen, aber auch an spezielleren theoretischen Abhandlun­gen über (Pseudo) Zufallszahlen (M. G. Kendall, B. Babington Smith) und zufällige Fraktale (M. Bearnsley) anknüpfen. Letztere sind geeignet, auf Arbeiten von F. Morallet bzw. T. Ulrichs angewendet zu werden.

Wenn vom Zufall 'in der künstlerischen Arbeit die Rede ist, muß zunächst zwischen Produzent (Künstler) und Rezipient. (Betrachter) unterschieden werden , den Trä­gern der durch den künstlerischen Arbeitsprozeß gestifteten Veränderung der Welt. Zufälliges entstehen lassen kann der Produzent, zufällig Entstandenes zu entdek­ken bleibt dem Rezipienten vorbehalten. Dabei ist der Produzent selbst Rezipient seines eigenen Werkes. Der Produzent hat zwei Möglichkeiten, den Zufall mit in seine Arbeit einzubeziehen: er kann zufällig in sein Bewußtsein Tretendes als Teil seiner Aussage akzeptieren und mehr oder weniger verändert in die "Komposition" mit einbeziehen, oder er kann Zufallsmechanismen wählen, die ihm diejenigen Entscheidungen vorgeben, welche seiner künstlerischen Intention entsprechen. Die erstgenannte Vorgehansweise ist so alt wie der homo ludens, die zweitge­nannte so jung wie der Computer. Damit ist die Spanne der Themen gekennzeich­net, welche in den Essays des vorliegenden Kataloges angesprochen werden.

Im Essay von B. Holecek wird die Geschichte des "schöpferischen Zufalls dargelegt: von Leonardo und Piero di Cosimo über Dada, Collage, Assemblage und objet trouve bis zu den aleatorischen Computer-Programmen von V. Molnar. Zwei Beiträge (T. Zaunschirn , L. Mengden) sind dem Werk Marcel Duchamps gewidmet. Die Betrachtungen zu den "Drei Musterfäden", einer Arbeit, die der Produzent selbst als sein "wichtigstes" und als "Werk konservierten Zufalls"

Semiosis 69/70 - 1993 105

bezeichnet, zeigen in besonders präziser Weise, wie zufällige Strukturen -gedanklich und experimentell realisiert - künstlerische Innovation schaffen können. ln S. Rompzas ~ Beitrag wird der in der konstruktiv-konkreten Kunst auftretende "systematisch erzeugte Zufall" mit besonderer Betonung der Arbeiten von F. Morellet, V. Molnar, H. de Vries und K. Martin erläutert. D. Mahlow propagiert eine Öffnung des künstlerischen Denkens von Produzent und Rezipient in den Indeterminismus hinein. Er weist das "Collage-Denken" bei P. Picasso, R. Rauschenberg und W. de Maria nach. Die Signifikanz der zufälligen Strukturen für die Produktion von Happenings, Musik und (konkreter) Poesie wird in den Beiträ­gen von J. Schilling, S. Schädler bzw. K. Riha dargelegt. Die Artikel von H.-0. Peit­gen und F. Cramer über Chaos und Ordnung in der optisch wahrnehmbaren Natur ~aben in der Sprache Monods weniger mit Zufall als mit Notwendigkeit zu tun. Uber die wohlbekannten Bilder der Bensesehen "Kunstmaschinen" berichten H.W. Franke und G. Nees.

Unter den zahlreichen Perspektiven, die den Essays zu entnehmen sind, sucht der Leser vergeblich nach einer wissenschaftlich begründeten Präzisierung des "Zufalls". Das ist nicht verwunderlich, da in der Stochastik (der Lehre vom Zufall) weniger vom Zufall selbst als von der Wahrscheinlichkeit als Maß für das Eintreten zufälliger Ereignisse die Rede ist. Die Einführung des Wahrscheinlichkeitsmaßes geht auf die Mathematiker R. von Mises und A.N. Kolmogoroff zurück, die in den frühen 30er Jahren die Stochastik als Teildisziplin der Mathematik "hoffähig" machten. Seit deren Arbeiten über "zufallsartige Folgen" bzw. "mittels eines Wahr­scheinlichkeitsmaßes meßbare (zufällige) Ereignisse" existiert ein mathematisch konsistenter Begriffsapparat, so daß man das zufällige Eintreten eines Ereignisses im Kollektiv aller möglichen Ereignisse bzw. die zufällige Auswahl eines Objektes im Kollektiv gleichmäßig verteilter Objekte eindeutig fassen kann. Die durch die moderne Wahrscheinlichkeitstheorie bereitgestellten Methoden basieren auf dem Bedürfnis, den weitverbreiteten subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff durch einen objektiven zu ersetzen. Subjektiv spricht man vom Zufall, wenn man mit Prognosen scheitert (Würfelspiel), objektiv, wenn man erfolgreich zu prognostizieren imstande ist (Pianetenbewegungen). K.R. Popper sieht den Wahrscheinlichkeitsgrad als "Maßstab für das Gefühl der Sicherheit oder Unsicherheit", das wir mit gewissen Aussagen verknüpfen, J.M. Keynes als "Grad der logischen Nahe" zu (deter­ministisch) wahren Sätzen. Diese sprachlich griffigen subjektiven Interpretationen werden in der Stochastik"durch die objektive Interpretation der Wahrscheinlichkeit als Grenzwert relativer Häufigkeiten ersetzt. Das Interesse der Objektivisten konzentriert sich auf zufällige Ereignisse positiver Wahrscheinlichkeit. Solche zu erzeugen bzw. wahrzunehmen macht einen Teil der künstlerischen Arbeit aus. Im Anwendungsbereich der Kunst vertiefen diese Überlegungen die Auffassung der künstlerischen Produktion als eines stochastisch "gesteuerten" Prozesses, dessen Anfangszustand durch eine Mischung von deterministischen Entscheidungen des Kunstproduzenten festgelegt ist.

Wir kommen auf die eingangs erwähnten Beispiele zurück. F. Morellet trifft in seinen "Repartitions aleatoires" eine einzige deterministische Entscheidung (Wahl eines Zufallsgenerators) und überläßt die restlichen Entscheidungen dem "Zufall". Dem Rezipienten eines solchen Bildes gibt Morellet eine konkrete Zusatz­information, indem er den Zufallsgenerator im Bildtitel mitliefert. Damit wird die Entdeckung der zufälligen Komponenten trivialisiert, und das Bild rückt in die Nähe des Abbildes. Es bleibt gedanklich initiiert. Im Gegensatz hierzu sind die "Land-

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schaftsepiphanien" T. Ulrichs' optisch initiiert. Der Künstler entscheidet sich für die Fixierung einer fraktalen "Horizontlinie", die er zufällig beim Entwickeln von Filmen beobachtet, als einer ästhetischen Aussage und bereitet sie auf. Das Bild ist ein Zustand im Prozeß des Experimentierens mit der Fraktalstruktur, die einen indeterministischen Ursprung besitzt. Dem Rezipienten bleibt die Herausforderung erhalten, die zufälligen Komponenten selbst aufzuspüren.

Herbart Heyer

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Internationale Zeitschrift für Semiotik und Ästhetik 18. Jahrgang, Heft 1/21993

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Wir danken Herrn Hans Lense, Laupheim, für die großzügige Unterstützung, die er uns seit Jahren gewährt. Herausgeberin und Redaktion

Inhalt

Hanna Buczynska-Garewicz

Klaus Oehler

Helmut Kreuzer

Karl Gfesser

Thomas Gil

Altred Toth

Cornelie Leopold

Hariss Kidwaii

Karl Herrmann

Rationalism of the Stuttgart School ·

Der Paircesehe Universalienrealismus

Medienphilologie und Fernsehgeschichte

Geltung und Genese der Kategorien bei lmmanuel Kant und Ch. S. Peirce

Das Schicksal der Zeichen im Zeitalter der' Hypertelie Semiotik logischer und metalogischer

Paradoxien

Zum Verhältnis von "reiner" und

"angewandter Geometrie"

Mathematische Zeichensysteme

Betrachtung zur Birkhoffschen Formel

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55

77

91

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Robert M. Strozier, J. Derridas Dekonstrukion des linguistischen 1 03 Strukturalismus, F. de Saussures. (Thomas Gil)

8. Holecek und L. von Mengden [Hg.], Zufall als Prinzip: Spie/weft, 105 Methode und System in der Kunst des 20. Jahrhunderts. (Herbert Heyer)

Arnold Oberschelp, Logik für Philosophen. ( Altred Toth) 109

Karl Herrmann, Eine Verarbeitung eines Textes von Max Bense. 111

Janice Deledalle-Rhodes, The East Asian Semiotic Seminar. 119

Karl Gfesser, Internationales Symposium Interface II 121