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Universität Augsburg 08.11.2006 Lehrstuhl für Soziologie WS 06/07 PS: Einführung in soziologische Theorien. Dozent: Sasa Bosancic, M.A. Referent: Martin Angerer Ethnomethodologie und phänomenologische Soziologie Alfred Schütz und die phänomenologische Soziologie 1. Alfred Schütz 1899 in Wien geboren studierte Jura; arbeitete als Finanzjurist befasste sich aus privatem Interesse mit den Schriften Max Webers und Edmund Husserls 1932: „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“ emigrierte 1938 in die USA hatte dort regen Kontakt mit namhaften Soziologen (T. Parsons, W. James, G. H. Mead) ab 1943 Gastdozent an der New Yorker „New School for Social Research“ ab 1952 Professur für Soziologie und Sozialpsychologie 1959 gestorben 2. Lebenswelt „Die Lebenswelt des Alltags ist folglich die vornehmliche und ausgezeichnete Wirklichkeit des Menschen.“ Wir nehmen die Lebenswelt als natürlich gegeben an; wir wurden in sie hineingeboren und sie wird auch nach uns noch weiter bestehen. Lebenswelt ist keine Privatwelt; wir teilen sie mit anderen Menschen, sie ist intersubjektiv. Bereiche der Wirklichkeit sind nur dem Einzelnen zugänglich, z.B. Traum, Phantasie, individuelle Vergangenheit. Lebenswelt wird durch unsere Handelungen verändert und gibt andererseits unserem Handeln und Denken einen Rahmen vor. 3. Typisierung Im Wissensvorrat sind alle Erfahrungen abgelagert, mit deren Hilfe wir jede Situation definieren und bewältigen. Jede neue Erfahrung wird mit denen aus dem Wissensvorrat verglichen; wenn es eine Beziehung zwischen ihnen gibt, wird die neue Erfahrung dem Typ der schon vorhandenen zugeordnet. „Typisierung ist die Herstellung eines Sinnzusammenhangs.“ (Abels, S. 71)

Ethnomethodologie und phänomenologische Soziologie · PDF fileAnfänge der Ethnomethodologie: Harold Garfinkel • 1917 in den USA geboren ... o In Krisenexperimenten zeigte Garfinkel,

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Universität Augsburg 08.11.2006 Lehrstuhl für Soziologie WS 06/07 PS: Einführung in soziologische Theorien. Dozent: Sasa Bosancic, M.A. Referent: Martin Angerer

Ethnomethodologie und phänomenologische Soziologie

Alfred Schütz und die phänomenologische Soziologie

1. Alfred Schütz

• 1899 in Wien geboren • studierte Jura; arbeitete als Finanzjurist • befasste sich aus privatem Interesse mit den Schriften Max Webers und

Edmund Husserls • 1932: „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“ • emigrierte 1938 in die USA • hatte dort regen Kontakt mit namhaften Soziologen (T. Parsons, W. James, G.

H. Mead) • ab 1943 Gastdozent an der New Yorker „New School for Social Research“ • ab 1952 Professur für Soziologie und Sozialpsychologie • 1959 gestorben

2. Lebenswelt

• „Die Lebenswelt des Alltags ist folglich die vornehmliche und ausgezeichnete

Wirklichkeit des Menschen.“ • Wir nehmen die Lebenswelt als natürlich gegeben an; wir wurden in sie

hineingeboren und sie wird auch nach uns noch weiter bestehen. • Lebenswelt ist keine Privatwelt; wir teilen sie mit anderen Menschen, sie ist

intersubjektiv. • Bereiche der Wirklichkeit sind nur dem Einzelnen zugänglich, z.B. Traum,

Phantasie, individuelle Vergangenheit. • Lebenswelt wird durch unsere Handelungen verändert und gibt andererseits

unserem Handeln und Denken einen Rahmen vor.

3. Typisierung

• Im Wissensvorrat sind alle Erfahrungen abgelagert, mit deren Hilfe wir jede Situation definieren und bewältigen.

• Jede neue Erfahrung wird mit denen aus dem Wissensvorrat verglichen; wenn es eine Beziehung zwischen ihnen gibt, wird die neue Erfahrung dem Typ der schon vorhandenen zugeordnet.

• „Typisierung ist die Herstellung eines Sinnzusammenhangs.“ (Abels, S. 71)

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• Auch Erfahrungen, die uns von Mitmenschen (Lehrern, Eltern, etc.) übermittelt wurden, werden in dieses Typenschema eingeordnet.

4. Idealisierung

• Idealisierung des „Und so weiter“ • Idealisierung des „Ich kann immer wieder“ • Generalthese der wechselseitigen Perspektiven:

o Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standpunkte o Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme

5. Ziele der phänomenologischen Soziologie

• „Die phänomenologische Analyse will Schicht um Schicht freilegen, wie der

Mensch die Wirklichkeit ordnet.“ (Abels, S.79) • Die phänomenologische Soziologie soll zur Lösung alltäglicher Probleme

beitragen.

Ethnomethodologie

1. Anfänge der Ethnomethodologie: Harold Garfinkel

• 1917 in den USA geboren • studierte bei Schütz; jahrelanger Assistent Parsons • 1967: „Studies in Ethnomethodology“ • Professur für Soziologie in Los Angeles

2. Ziele der Ethnomethodologie

• Ethnomethodologie will aufzeigen, wie Handeln im Alltag funktioniert. • Ziel ist „die Aufdeckung jener impliziten Regeln, die soziale Interaktion

strukturieren und ihre Stabilität erst ermöglichen.“ (Legnaro, nach Abels, S. 123)

• Durch den Zusammenbruch der sozialen Ordnung (im Krisenexperiment) will Garfinkel herausfinden, „was diese Ordnung im Innersten zusammenhält“ (Abels, S. 145)

3. Unterstellung von Rationalität und Gründe, weshalb wir glauben uns im Alltag

zu verstehen

• Wir Menschen leben in einer gemeinsamen Welt und glauben uns gegenseitig verstehen zu können.

• Die Typenhaftigkeit der Lebenswelt • Idealisierung der Kontinuität und Wiederholbarkeit • Generalthese der wechselseitigen Perspektiven

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• Es gibt Dinge, die jeder weiß (common-sense knowlegde, Alltagswissen). Wir unterstellen den anderen, dass sie diesen gemeinsamen Wissensvorrat genauso wie wir benutzen, um die Wirklichkeit zu interpretieren.

4. Methoden, die Menschen im Alltag benutzen, um soziales Handeln zu

ermöglichen

• Dokumentarische Methode der Interpretation o Rückschauend - vorausschauende Auslegung der gegenwärtigen

Ereignisse o Ordnung der von uns interpretierten Dinge in uns bekannte Muster

• Indexikalität

o Unsere Sprache ist voll von indexikalischen Äußerungen (Kontextbegriffe, Indices)

o Diese Begriffe (auch Tonfall, Mimik und Gestik) sind nur mit einem bestimmten Hintergrundwissen zu verstehen.

o Problem: jeder Mensch hat anderen Wissensvorrat und interpretiert dadurch indexikalische Begriffe womöglich anders

• Vagheit der Sprache

o Indexikalische Begriffe lassen uns und den Gesprächspartnern Raum für Interpretationen; sie sind vage.

o Die Sprechen unterstellen sich gegenseitig, dass die immer den gleichen Sinn eines Begriffs meinen.

o Vagheit der Sprache erleichtert uns die Kommunikation.

• Konstitutive und freiwillige Regeln o Es gibt praktische Alltagsregeln nach denen wir leben und deren

Verwendung wir auch von anderen erwarten. o Konstitutive Regeln müssen befolgt werden. o Freiwillige Regeln können befolgt werden, müssen aber nicht

notwendigerweise. o In Krisenexperimenten zeigte Garfinkel, dass auch das Nicht-Befolgen

freiwilliger Regeln nicht erwünscht ist.

• Methoden der Normalisierung (falls wir uns im Alltag doch nicht verstehen sollten)

o Praktische Erklärung, Rechtfertigung und Entschuldiung o Konsens über Bedeutung bestimmter Erklärungen o Erklärungen müssen der Situation angemessen sein o Äußere Erscheinung muss mit der Erklärung übereinstimmen

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5. Kritik an der Ethnomethodologie

• „Ethnomethodologische Indifferenz“ (kein Forschungsgegenstand ist dem anderen vorzuziehen)

• Soziologie als „Happening“ und „ein sich elegant gebärdender Anarchismus“ (Gouldner, nach Abel, S. 144)

• Ethnomethodologie würde nichts verändern. (Das will sie aber auch gar nicht! Sie will lediglich aufklären.)

Literatur: Abels, H.: Interaktion, Identität, Präsentation, Wiesbaden 2004. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Opladen 1981. Garfinkel, H.: Studien über die Routinegrundlagen von Alltagshandeln. Auszug aus: Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs, 1967, S. 43 – 58.