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Der Europäische Rat ist in der europäischen Klimaschutzpolitik das zentrale Lenkungsorgan der Europäischen Union (EU). Für diese gab er konkrete Ziele zur Senkung ihrer Treibhausgasemissi- onen (THG-Emissionen) vor. Während das 2020-Ziel durch eu- ropäisches Sekundärrecht umgesetzt wurde, steht die rechtsverbind- liche Umsetzung für das 2050-Ziel bislang noch aus. Der folgende Beitrag widmet sich der bis dato nicht beantworteten Frage, welche Rechtsnatur den Zielen selbst zukommt und welche Bindungskraft sie entfalten. In diesem Zusammenhang werden neben dem ver- handlungspolitischen Kontext der Ziele auch ihre Rezeption durch die anderen europäischen Organe in den Blick genommen. 1. Einleitung Der Europäische Rat 1 – der vom Rat der EU 2 und dem Eu- roparat 3 zu unterscheiden ist – formulierte für die EU kon- krete Ziele zur Senkung ihrer THG-Emissionen bis 2020 und 2050. Diese THG-Emissionsminderungsziele werden von den Mitgliedstaaten als verbindliche Vorgaben begrif- fen und sind teilweise auch bereits in europäische Rechts- akte gemündet. Der prägende Einfluss des Europäischen Rates auf die EU ist nicht nur in der europäischen Kli- maschutzpolitik deutlich sichtbar, sondern auch in anderen Unionspolitiken: So fasst der Europäische Rat als politi- scher „Verfassungsarchitekt“ 4 und oberstes Lenkungsorgan Dr. iur. Uta Stäsche, wissenschaftliche Referentin im Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität (IKEM); Dozentin an der Hochschule für Wirtschaft und Verwaltung (HWR), Berlin, Deutschland der EU politische Grundsatz- und Leitentscheidungen ins- besondere in der Finanz-, Agrar- und Strukturpolitik, der Wirtschafts- und Währungspolitik, den europäischen Beitrittsverhandlungen und den Vertragsrevisionskonfe- renzen. 5 Für die konstitutionellen Entscheidungen wurde das zuletzt im Entscheidungsprozess über den Lissabonner Vertrag 6 offenbar, für den Wirtschafts- und Währungsbe- reich kommt dies aktuell im Umgang mit der europäischen Währungskrise 7 zum Ausdruck. Der folgende Beitrag widmet sich dem Wirken des Eu- ropäischen Rates in der europäischen Klimaschutzpolitik. Zunächst werden in einem Grundlagenteil das Wesen des Europäischen Rates (2.1) und der verhandlungspolitische Insgesamt ist die Rechtsprechung des EuGH im Papen- burg-Urteil daher als Bestätigung des Herzmuschelfischerei- Urteils anzusehen. Bei einer einheitlichen Genehmigung für viele Jahre sind nur die nach ihren Auswirkungen gleichblei- benden Projekte erfasst, was sich bei einheitlicher Ausfüh- rung widerleglich vermuten lässt. Jede später aufkommende, auch durch rein natürliche Entwicklungen entstehende tat- sächliche Verschlechterung 126 kann die Verträglichkeitsprü- fung nachträglich auslösen. Eine Aufweichung des materi- ell-rechtlichen Schutzstandards liegt hierin nicht. Problematisch erscheint dagegen die verfahrensrechtli- che Abweichung vom Vorsorgegrundsatz, wonach die bloße Möglichkeit der Beeinträchtigung von Erhaltungszielen im Falle einheitlicher Maßnahmen nicht zur präventiven Ver- träglichkeitsprüfung führt. Den so eröffneten Vollzugsdefizi- ten bei der Überwachung und Durchsetzung des Verschlech- terungsverbotes wird insbesondere unter den sich infolge des Klimawandels verändernden ökologischen Bedingungen nicht in allen Fällen ausreichend begegnet werden können. 127 Nicht zuletzt aus diesem Grund ist es daher zu erwä- gen, möglichst auch für einheitliche Maßnahmen (wie für neue, genehmigungsfreie Projekte) jedenfalls einma- lig nach der Gebietsausweisung im Interesse der Rechtssi- cherheit eine Ex-ante-Verträglichkeitsprüfung einschließ- lich möglicher Abweichungs- und Kompensationsent- scheidungen im Wege des Anzeigeverfahrens nach § 34 Abs. 6 BNatSchG herbeizuführen, anstatt die Interven- tion der Behörde nach § 33 Abs. 1 BNatSchG abzuwarten. Dabei sind insbesondere mögliche Folgen des Vorranges des Europarechts für die innerstaatlichen Bestandskraft- wirkungen zu bedenken. Ein solches Vorgehen dürfte so- wohl im Interesse des Vorhabenträgers als auch des dauer- haften und planvollen Schutzes des europäischen Natur- erbes liegen. DOI: 10.1007/s10357-014-2624-5 Europäischer Klimaschutz und Europäischer Rat – Rechtsnatur und Entwicklung der Treibhausgasminderungsziele auf europäischer Ebene Uta Stäsche © Springer-Verlag 2014 Stäsche, Europäischer Klimaschutz und Europäischer Rat 123 246 NuR (2014) 36: 246–253 1) Dazu unter 2.1. 2) Der Rat der EU ist neben dem Europäischen Parlament das Ge- setzgebungsorgan der EU, s. Art. 16 Abs. 1 S. 1 EUV i. V. m. Art. 293 ff. AEUV. Er besteht aus je einem Vertreter der Mitglied- staaten auf Ministerebene (sog. Ministerrat), vgl. Art. 16 Abs. 2 EUV. 3) Der Europarat mit Sitz in Straßburg ist eine von der EU unabhän- gige internationale Organisation, die den Menschenrechtsschutz weiterentwickelt und den Rechtsschutz des Einzelnen über den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sichert. 4) Wessels, integration 1997, 117, 130. 5) Dazu Stäsche, Die Entscheidungsproduktivität des Europäischen Rates. Rechtliche und empirische Untersuchung vom Europä- ischen Währungssystem bis zum Vertrag von Lissabon, Berlin 2011. 6) ABl. 2008 Nr. C 115/47. 7) Vgl. Kunstein/Wessels, integration 2011, 308 ff. 126) EuGH, Urt. v. 20. 10. 2005 – C-6/04 („Gibraltar“), NuR 2006, S. 494–498, Rdnr. 34. 127) Gies/Albrecht/Sienkiewicz, Legal Aspects of Climate Change Ad- aptation, in: Rannow/Neubert (Hrsg.), Managing Protected Areas in Central and Eastern Europe Under Climate Change, 2014, S. 135–158.

Europäischer Klimaschutz und Europäischer Rat – Rechtsnatur und Entwicklung der Treibhausgasminderungsziele auf europäischer Ebene

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Der Europäische Rat ist in der europäischen Klimaschutzpolitik das zentrale Lenkungsorgan der Europäischen Union (EU). Für diese gab er konkrete Ziele zur Senkung ihrer Treibhausgasemissi-onen (THG-Emissionen) vor. Während das 2020-Ziel durch eu-ropäisches Sekundärrecht umgesetzt wurde, steht die rechtsverbind-liche Umsetzung für das 2050-Ziel bislang noch aus. Der folgende Beitrag widmet sich der bis dato nicht beantworteten Frage, welche Rechtsnatur den Zielen selbst zukommt und welche Bindungskraft sie entfalten. In diesem Zusammenhang werden neben dem ver-handlungspolitischen Kontext der Ziele auch ihre Rezeption durch die anderen europäischen Organe in den Blick genommen.

1. Einleitung

Der Europäische Rat 1 – der vom Rat der EU 2 und dem Eu-roparat 3 zu unterscheiden ist – formulierte für die EU kon-krete Ziele zur Senkung ihrer THG-Emissionen bis 2020 und 2050. Diese THG-Emissionsminderungsziele werden von den Mitgliedstaaten als verbindliche Vorgaben begrif-fen und sind teilweise auch bereits in europäische Rechts-akte gemündet. Der prägende Einfluss des Europäischen Rates auf die EU ist nicht nur in der europäischen Kli-maschutzpolitik deutlich sichtbar, sondern auch in anderen Unionspolitiken: So fasst der Europäische Rat als politi-scher „Verfassungsarchitekt“ 4 und oberstes Lenkungsorgan

Dr. iur. Uta Stäsche, wissenschaftliche Referentin im Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität (IKEM); Dozentin an der Hochschule für Wirtschaft und Verwaltung (HWR), Berlin, Deutschland

der EU politische Grundsatz- und Leitentscheidungen ins-besondere in der Finanz-, Agrar- und Strukturpolitik, der Wirtschafts- und Währungspolitik, den europäischen Beitrittsverhandlungen und den Vertragsrevisionskonfe-renzen. 5 Für die konstitutionellen Entscheidungen wurde das zuletzt im Entscheidungsprozess über den Lissabonner Vertrag 6 offenbar, für den Wirtschafts- und Währungsbe-reich kommt dies aktuell im Umgang mit der europäischen Währungskrise 7 zum Ausdruck.

Der folgende Beitrag widmet sich dem Wirken des Eu-ropäischen Rates in der europäischen Klimaschutzpolitik. Zunächst werden in einem Grundlagenteil das Wesen des Europäischen Rates (2.1) und der verhandlungspolitische

Insgesamt ist die Rechtsprechung des EuGH im Papen-burg-Urteil daher als Bestätigung des Herzmuschelfischerei-Urteils anzusehen. Bei einer einheitlichen Genehmigung für viele Jahre sind nur die nach ihren Auswirkungen gleichblei-benden Projekte erfasst, was sich bei einheitlicher Ausfüh-rung widerleglich vermuten lässt. Jede später aufkommende, auch durch rein natürliche Entwicklungen entstehende tat-sächliche Verschlechterung 126 kann die Verträglichkeitsprü-fung nachträglich auslösen. Eine Aufweichung des materi-ell-rechtlichen Schutzstandards liegt hierin nicht.

Problematisch erscheint dagegen die verfahrensrechtli-che Abweichung vom Vorsorgegrundsatz, wonach die bloße Möglichkeit der Beeinträchtigung von Erhaltungszielen im Falle einheitlicher Maßnahmen nicht zur präventiven Ver-träglichkeitsprüfung führt. Den so eröffneten Vollzugsdefizi-ten bei der Überwachung und Durchsetzung des Verschlech-terungsverbotes wird insbesondere unter den sich infolge des Klimawandels verändernden ökologischen Bedingungen nicht in allen Fällen ausreichend begegnet werden können. 127

Nicht zuletzt aus diesem Grund ist es daher zu erwä-gen, möglichst auch für einheitliche Maßnahmen (wie

für neue, genehmigungsfreie Projekte) jedenfalls einma-lig nach der Gebietsausweisung im Interesse der Rechtssi-cherheit eine Ex-ante-Verträglichkeitsprüfung einschließ-lich möglicher Abweichungs- und Kompensationsent-scheidungen im Wege des Anzeigeverfahrens nach § 34 Abs.  6 BNatSchG herbeizuführen, anstatt die Interven-tion der Behörde nach § 33 Abs. 1 BNatSchG abzuwarten. Dabei sind insbesondere mögliche Folgen des Vorranges des Europarechts für die innerstaatlichen Bestandskraft-wirkungen zu bedenken. Ein solches Vorgehen dürfte so-wohl im Interesse des Vorhabenträgers als auch des dauer-haften und planvollen Schutzes des europäischen Natur-erbes liegen.

DOI: 10.1007/s10357-014-2624-5

Europäischer Klimaschutz und Europäischer Rat – Rechtsnatur und Entwicklung der Treibhausgasminderungsziele auf europäischer Ebene Uta Stäsche

© Springer-Verlag 2014

Stäsche, Europäischer Klimaschutz und Europäischer Rat

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246 NuR (2014) 36: 246–253

1) Dazu unter 2.1.2) Der Rat der EU ist neben dem Europäischen Parlament das Ge-

setzgebungsorgan der EU, s. Art.  16 Abs.  1 S.  1 EUV i. V. m. Art. 293 ff. AEUV. Er besteht aus je einem Vertreter der Mitglied-staaten auf Ministerebene (sog. Ministerrat), vgl. Art. 16 Abs. 2 EUV.

3) Der Europarat mit Sitz in Straßburg ist eine von der EU unabhän-gige internationale Organisation, die den Menschenrechtsschutz weiterentwickelt und den Rechtsschutz des Einzelnen über den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sichert.

4) Wessels, integration 1997, 117, 130. 5) Dazu Stäsche, Die Entscheidungsproduktivität des Europäischen

Rates. Rechtliche und empirische Untersuchung vom Europä-ischen Währungssystem bis zum Vertrag von Lissabon, Berlin 2011.

6) ABl. 2008 Nr. C 115/47.7) Vgl. Kunstein/Wessels, integration 2011, 308 ff.

126) EuGH, Urt. v. 20. 10. 2005 – C-6/04 („Gibraltar“), NuR 2006, S. 494–498, Rdnr. 34.

127) Gies/Albrecht/Sienkiewicz, Legal Aspects of Climate Change Ad-aptation, in: Rannow/Neubert (Hrsg.), Managing Protected Areas in Central and Eastern Europe Under Climate Change, 2014, S. 135–158.

Kontext für die von ihm definierten THG-Minderungs-ziele für die EU (2.2) dargestellt. Sodann folgt im Schwer-punkt der Analyse die rechtliche Bewertung der Ziele (3.). In diesem Rahmen wird ebenfalls skizziert, wie die vom Europäischen Rat formulierten THG-Minderungsziele von den anderen Unionsorganen, namentlich dem Rat der EU, der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament 8, rezipiert werden.

2. Grundlagen

2.1 Der Europäische Rat

Der französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing (1974–1980) verkündete die Gründung des Europäischen Rates während der im Dezember 1974 9 stattfindenden Pari-ser Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs mit den berühmten Worten: „Les sommets sont morts, vive le Con-seil Européen.“ 10 Der Europäische Rat sollte die Stagnation der Gemeinschaft beenden, die Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre vorherrschte, indem er ihr neue Impulse gab und den Entscheidungsprozess wieder aufleben ließ. 11

2.1.1 Zusammensetzung und Verfahren

Im Europäischen Rat versammeln sich die Staats- und Re-gierungschefs der EU-Mitgliedstaaten, sein ständiger Präsi-dent – dessen Amt bereits zum zweiten Mal der ehemalige belgische Premierminister und Regierungschef Herman Van Rompuy bekleidet – und der Kommissionspräsident. 12 Infolge der auf seiner Zusammensetzung beruhenden fak-tisch höchsten Autorität setzen die anderen Unionsorgane die Entscheidungen des Europäischen Rates regelmäßig um. Im Licht der europäischen Verfassungslehre trägt der Europäische Rat somit deutliche Züge eines Organs gu-bernativer Rechtsetzung; neben ihm erfüllt aber auch die Kommission bei der Wahrnehmung ihres Initiativmono-pols gubernative Aufgaben. 13 Dabei auftretende interinsti-tutionelle Spannungen zwischen den beiden waren bereits im Gemeinschaftssystem und sind auch weiterhin im Uni-onssystem des Lissabonner Vertrages angelegt; die Position des Europäischen Rates neben den anderen Unionsorganen wird generell kontrovers 14 beurteilt. Von einem zweistufi-gen Gesetzgebungsverfahren, das auf politischer Ebene mit den Entscheidungen des Europäischen Rates beginnt und auf rechtlicher Ebene mit den Umsetzungsmaßnahmen der Kommission, des Rates und des Parlaments endet, kann empirisch allerdings nicht gesprochen werden; auch sind befürchtete Kompetenzverletzungen der anderen Organe und eine Verschiebung des institutionellen Gleichgewichts normativ nicht feststellbar. 15 In der politischen Entschei-dungspraxis des Europäischen Rates besteht vielmehr eine Vernetzung von Akteuren und Verfahren. Daher war auch schon vor Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages nicht mehr scharf zwischen rein intergouvernementalen und su-pranationalen Akteuren zu unterscheiden. Diese Durchläs-sigkeit verstärkt der Lissabonner Vertrag, der den Europäi-schen Rat als echtes Unionsorgan konzipiert, das gleich den anderen Organen explizit an die Verträge gebunden ist, von denen er seine Kompetenzen ableitet. 16 Damit weist der Eu-ropäische Rat nun auch formell supranationale Züge auf.

Die offiziellen Konferenzen des Europäischen Rates fin-den regelmäßig zweimal im Halbjahr statt; 17 daneben sind Sondertagungen möglich. Die Konferenzen erstrecken sich üblicherweise über zwei Tage und schließen mit einer Pres-sekonferenz, bei der der Präsident die sog. Schlussfolgerun-gen des Europäischen Rates zusammenfasst. Für politisch besonders sensible Unionsbereiche und bei Vertragsände-rungen werden die Entscheidungen häufig in für alle Betei-ligten vorteilhaften package deals verabschiedet. Neben den offiziellen Konferenzen kommen die Staats- und Regie-rungschefs mehrmals jährlich zu inoffiziellen, in der Regel kürzeren Treffen zusammen, die ohne die gängigen Schluss-

folgerungen enden; in jüngerer Zeit werden hier vermehrt Erklärungen 18 oder Pressemitteilungen veröffentlicht.

Im Entscheidungsprozess des Europäischen Rates gilt das Prinzip der Gleichheit aller Mitgliedstaaten; er entscheidet gemeinhin konsensual. Mehrheits- oder Einstimmigkeits-entscheidungen sind allein bestimmten Fällen wie Investitur-entscheidungen vorbehalten. 19 Die Nichtöffentlichkeit seiner Verhandlungen und die grds. geheimen Beratungen 20 des Europäischen Rates lassen seine Zusammenkünfte im Ver-gleich zu denen des Rates deutlich flexibler erscheinen. Eine weitere Besonderheit seiner Konferenzen besteht in dem nicht auf förmliche Beschlüsse oder öffentliche Erklärungen ausgerichteten informellen Gedankenaustausch, den Staats-präsident Giscard d’Estaing und Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974–1982) vor allem in den ersten sieben Jahren nach In-sti tutionalisierung des Europäischen Rates pflegten. Konnte der informelle Gedankenaustausch in der Gemeinschaft der Fünfzehn noch in einem vergleichsweise überschaubaren Kreis der Staats- und Regierungschefs stattfinden, wird er nach den letzten Erweiterungsrunden gerade bei komplexen Themen immer weniger im Plenum abgehalten, in dem an-gesichts der Größe des Verhandlungssaals der für Verhand-lungen wichtige Augenkontakt und die Körpersprache kaum noch eine Rolle spielen, sondern häufiger in Gruppen.

2.1.2 Aufgaben

Der Europäische Rat nimmt zahlreiche Befugnisse mit häu-fig fließenden Übergängen wahr, die nur vereinzelt in den

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8) Im Folgenden Rat, Kommission und Parlament.9) Pariser Kommuniqué, Bull. 12/1974, 1104. Das Bulletin der Eu-

ropäischen Gemeinschaft/EU für die Jahre 1996 bis 2009 ist im Internet verfügbar: http://ec.europa.eu/archives/bulletin/de/bullset.htm (Stand: 15. 2. 2014); ab 2010 wurde es eingestellt.

10) „Die Gipfelkonferenzen sind vorüber, es lebe der Europäische Rat“. Vgl. Wessels, Der Europäische Rat. Stabilisierung statt In-tegration? Geschichte, Entwicklung und Zukunft der EG-Gip-felkonferenzen, Bonn 1980, S. 128.

11) So auch der Ausschuss der drei Weisen, Bull. 11/1979, 1.5.2 (S. 28).

12) Art. 15 Abs. 2 S. 1 EUV.13) Der Begriff der Gubernative beschreibt die Aufspaltung der Auf-

gaben des Organs Regierung in einerseits einen gubernativen – rein politischen und rechtlichen Instrumentarien unzugängli-chen – Bereich, in dem die Regierung als Organ der Entschei-dung agiert, andererseits in einen juristischen – lediglich auf Ausführung der parlamentarischen Entscheidungen beschränk-ten – Bereich, in dem die Regierung als Organ der Ausführung einer fremden Entscheidung und demnach als herkömmliche Exekutive handelt. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung: eine Neubestimmung der Rechtsetzung und des Regierungssystems unter dem Grundgesetz in der Perspektive gemeineuropäischer Dogmatik, Tübingen 2000, S. 107 ff.; für den Europäischen Rat Stäsche (Fn. 5), S. 80 f.

14) Negativ: u. a. Martenczuk, EuR 33 (1998), 151, 169 f., 175 f.; Con-stantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Bd. 1, Baden-Baden 1977, S.  500 ff.; Werts, The European Council, London 2008, S.  34 f., 54 ff.; positiv: u. a. Ehlermann, EuR 16 (1981), 335, 354; Jacqué/Simon, The constitutional and juridical role of the European Council, in: Hoscheit/Wessels, The Euro-pean Council 1974–1986, Evaluation and Prospects, Maastricht 1991, S. 105, 127; Kapteyn/VerLoren van Themaat, Introduction of the Law of the European Communities, From Maastricht to Amsterdam, 3. Aufl., London 1998, S. 186, 412.

15) Stäsche (Fn. 5), S. 643 ff., zusammenfassende Thesen.16) Art. 13 Abs. 2 EUV.17) Art. 15 Abs. 3 EUV, Art. 1 Abs. 2 Geschäftsordnung des Euro-

päischen Rates (GO ER), ABl. 2009 Nr. L 315/51 ff.18) Z. B. Erklärung v. 23. 11. 2012 zum mehrjährigen Finanzrah-

men der Union (2014–2020), http://www.consilium.europa.eu/press/press-releases/latest-press-releases/newsroomrelated?bid=76&grp=22147&lang=en (Stand: 15. 2. 2014).

19) Art. 15 Abs. 4 EUV.20) Art. 4 Abs. 3 und 11 Abs. 1 GO ER.

Verträgen abgebildet sind. Diese lassen sich in drei Kern-aufgaben zusammenfassen: „Bestimmen, wo die Europä-ische Union steht, die Arbeit der Union stimulieren und neue Ausrichtungen entwickeln.“ 21 Rechtliche Grundlage für seine Grundsatz- und Leitentscheidungen in Unionsan-gelegenheiten, die das Gros seiner Entscheidungen bilden, ist Art. 15 Abs. 1 S. 1 des Vertrages über die Europäische Union (EUV):

„Der Europäische Rat gibt der Union die für ihre Entwick-lung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politi-schen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest.“

Da der Europäische Rat über ein Selbstbefassungsrecht ver-fügt, ist der Begriff der Unionsangelegenheiten weit zu ver-stehen. Auch ist es den Staats- und Regierungschefs un-benommen, politische Kompromisse zu formen und sog. Berufungsentscheidungen bei politisch brisanten Fragen zu treffen, bei denen der Rat keine Lösung herbeiführen kann. 22 Bei der Wahrnehmung sämtlicher Aufgaben galt für die Rechtslage vor Inkrafttreten des Lissabonner Ver-trages am 1. Dezember 2009, dass der Europäische Rat den bereits erreichten acquis communautaire nicht in Frage stellen oder gegen bestehendes Gemeinschaftsrecht versto-ßen durfte. Mit dem Lissabonner Vertrag sind diese Grund-sätze auf den unionalen Besitzstand und die Unionsorgane zu übertragen.

Art. 15 Abs. 1 EUV stellt klar, dass der Europäische Rat nicht über gesetzgeberische Befugnisse verfügt. Ihm ist es demnach verwehrt, Verordnungen und Richtlinien zu er-lassen, die durch das Parlament und den Rat als den beiden Hauptgesetzgebern der EU angenommen werden und die daher als Gesetzgebungsakte zu qualifizieren sind. Der Eu-ropäische Rat darf allerdings Beschlüsse aufgrund besonde-rer Kompetenzen fassen. Diese Beschlüsse weisen zwar kei-nen Gesetzescharakter auf, da sie nicht das ordentliche oder ein besonderes Gesetzgebungsverfahren gem. Art.  289 Abs. 1 bis 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Eu-ropäischen Union (AEUV) durchlaufen. 23 Es handelt sich bei ihnen aber gleichwohl um verbindliche Rechtsakte und damit um unionales hard law. Sie betreffen institutionelle Regelungen zur Zusammensetzung des Parlaments 24 und zur Festlegung der Ratsformationen 25, für den exekutiven Bereich Investiturentscheidungen 26 sowie die Passerelle-Klausel für Materien der zweiten Säule 27. 28 Die formellen Beschlüsse des Europäischen Rates sind grds. justitiabel; 29 die adressatenlosen Beschlüsse werden im Amtsblatt der EU veröffentlicht. 30 Die Mehrheit seiner Entscheidungen – so auch hinsichtlich der hier untersuchten Klimaschutzziele für die EU – fasst der Europäische Rat allerdings nicht in (formeller) Beschlussform, sondern außerhalb seiner vorge-nannten Spezialkompetenzen.

2.2 Verhandlungspolitischer Kontext

Die vom Europäischen Rat formulierten THG-Minde-rungsziele für die EU sind eingebettet in die Bemühungen der internationalen Klimaschutzpolitik, ein globales Kli-maschutzabkommen und eine zweite Verpflichtungsperi-ode des Kyoto-Protokolls (KP) zu verabschieden.

Das 1997 während der 3. Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention 31 (KRK, UNFCCC) beschlos-sene und 2005 in Kraft getretene KP stellt nach wie vor einen Meilenstein zur Bekämpfung des Klimawandels dar, indem es erstmals verbindliche mengenmäßige Ziele für die Begrenzung und Senkung der sechs wichtigsten Treibhaus-gase – der sog. Kyotogase 32 – in einem klaren Zeitrahmen 33 vorgibt und insoweit die KRK als dem ersten weltweiten Abkommen zum Kampf gegen den Klimawandel ergänzt. Die sog. Marrakesh Accords 34 konkretisierten 2001 das KP, indem sie es um die bis dato fehlenden, doch grundlegen-den Durchführungsbestimmungen anreicherten.

Als Völkerrechtssubjekt war die ehemalige Europä-ische Gemeinschaft (im Folgenden EG) Vertragspartei der KRK 35 wie des ergänzenden KP 36. Die EG hatte sich im

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21) Vgl. Kommissionspräsident Delors, vgl. Reichenbach/Emmerling/Staudenmayer/Schmidt, Integration: Wanderung über europäische Gipfel, Baden-Baden 1999, S. 16.

22) Eine der bekanntesten Berufungsentscheidungen betraf die Lö-sung des sog. britischen Haushaltsproblems durch den Europäi-schen Rat von Fontainebleau nach fünfjährigen Verhandlungen im Juni 1984, s. Bull. 6/1984, 1.1.1–1.1.3, 1.1.9 (1–4). Es besteht allerdings keine allgemeingültige Praxis, dass ein im Rat unge-löstes Problem automatisch zum Europäischen Rat gelangt.

23) Im Regelfall wird der Beschluss allerdings im Gesetzgebungs-verfahren angenommen und stellt dann einen Gesetzgebungsakt dar, s. Art. 289 AEUV. Er ist in Art. 288 Abs. 4 AEUV wie die bisherige Entscheidung definiert.

24) Art. 14 Abs. 2 UAbs. 2 EUV.25) Art. 16 Abs. 6 EUV i. V. m. Art. 236 a) AEUV, ausgenommen

den Rat für Allgemeine Angelegenheiten und den Rat für Aus-wärtige Angelegenheiten. Weitere institutionelle Beschlüsse fasst der Europäische Rat zum Rotationssystem für die Ratsvor-sitze (ausgenommen den Rat für Auswärtige Angelegenheiten, s. Art. 16 Abs. 9 EUV i. V. m. Art. 236 b) AEUV) und für die Kommissare (Art. 17 Abs. 5 EUV i. V. m. Art. 244 AEUV) sowie zur Ernennung der Kommissare (Art. 17 Abs. 7 UAbs. 3 EUV).

26) Investitur des Präsidenten des Europäischen Rates (Art. 15 Abs. 5 EUV), des Kommissionspräsidenten (Vorschlagsrecht und Er-nennung, Art.  17 Abs.  7 EUV) und des Hohen Vertreters der Europäischen Union für die Außen- und Sicherheitspolitik (Er-nennung und Enthebung, Art. 18 Abs. 1 EUV). Da der Europä-ische Rat hier jeweils mit qualifizierter Mehrheit abstimmt, ist unerheblich, dass nicht stets explizit von einem „Beschluss“ die Rede ist, vgl. Art. 15 Abs. 4 EUV i. V. m. Art. 235 AEUV.

27) Art. 31 Abs. 3 EUV. Eine Passerelle- oder Brückenklausel be-zeichnet ein Verfahren, durch das einem Gremium, das grund-sätzlich einstimmig beschließen soll, ermöglicht wird, seine Ent-scheidung stattdessen mit Mehrheit zu fassen.

28) Rechtswirkungen werden ferner erzeugt beim Tätigwerden des Europäischen Rates als konstitutioneller Architekt im Rah-men der allgemeinen Brückenklausel (Art.  48 Abs.  7 EUV), beim Austritt eines Mitgliedstaates aus der Europäischen Union (Art. 50 Abs. 3 EUV) und bei der Feststellung einer Grundsätze-verletzung (Art. 7 Abs. 2 EUV). Beschlüsse darf der Europäische Rat auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) fassen (vgl. Art. 22 Abs. 1, 26 Abs. 1 i. V. m. 31 Abs. 2 UAbs. 1 1. Spstr. EUV und Art. 42 Abs. 2 UAbs. 1 EUV).

29) Art. 263 Abs. 1 AEUV; ausgenommen die Beschlüsse des Euro-päischen Rates in der GASP wegen des intergouvernementalen Charakters der zweiten Säule, vgl. Art. 275 Abs. 1 AEUV.

30) Art. 12 Abs. 1 GO ER.31) Vgl. United Nations Framework Convention on Climate Change

(UNFCCC), 31 ILM (1992), S. 849.32) Kohlendioxid = CO2, Methan = CH4, Distickstoffoxid/Lach gas =

N2O, Hydrofluorkohlenwasserstoffe = HFCs, Perlfluor kohlen was-ser stoff = PFCs und Schwefelhexafluorid = SF6.

33) UNFCCC, http://unfccc.int/essential_background/kyoto_pro-tocol/items/ 1678.php (Stand: 15. 2. 2014). Die im KP niederge-legte Verpflichtung der Industriestaaten und der EU, ihre Treib-hausgasemissionen um mind. 5,2 % bis 2012 (gegenüber 1990) zu senken, haben die EU, Deutschland, Luxemburg, Schweden, die Schweiz und Großbritannien erfüllt.

34) 7. Vertragsstaatenkonferenz der KRK.35) Ratifizierungsbeschluss des Rates der EU 94/69/EG v. 15. 12.

1993, ABl. 1994 Nr. L 33/11.36) Entscheidung des Rates der EU 2002/358/EG v. 25. 4. 2002 über

die Genehmigung des Protokolls von Kyoto zum Rahmenüber-einkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen im Namen der Europäischen Gemeinschaft sowie die gemeinsame Erfüllung der daraus erwachsenden Verpflichtungen, ABl. 2002 Nr. L 130/1. Die Entscheidung wurde gem. Art. 175 Abs. 1 i. V. m. 300 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1, 300 Abs. 3 UAbs. 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der Fassung des Ver-trages von Nizza (EGV NV) (ABl. 2001 Nr. C 80/1 ff.; konsolid. Fassg., ABl. 2002 Nr. C 325/33 ff.) erlassen. Die Ratifizierungsur-kunde hinterlegte die EG am 31. 5. 2002 bei den Vereinten Natio-nen in New York, s. Presseerklärung der Kommission, IP/02/794.

KP für die erste Verpflichtungsperiode (2008 bis 2012) verpflichtet, die gemeinschaftsweiten Emissionen um 8 % gegenüber dem Niveau von 1990 zu verringern. 37 Dieses Gesamtziel wurde in der gemeinschaftsinternen Lastenver-teilung – auch bekannt als burden sharing agreement – unter den ehemals 15 europäischen Mitgliedstaaten, die ihrer-seits Vertragsparteien des KP 38 sind, nach Art. 4 KP auf-geteilt. Mit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages wurde die EU Rechtsnachfolgerin der EG, sie erhielt Rechtsfä-higkeit und trat völkerrechtlich in die Rechte und Pflich-ten der EG ein. 39 Die EU übernahm demnach auch die aus der KRK und dem KP folgende Pflicht zur Senkung der THG-Emissionen.

Mit der Klimakonferenz auf Bali 40 vom Dezember 2007 nahm die Staatengemeinschaft Verhandlungen über ein glo-bales und für alle verbindliches Klimaabkommen nach 2012 auf, für das seinerzeit die EU und Deutschland eingetreten waren. Es scheiterte aber bekanntlich im Dezember 2009 während der Klimakonferenz in Kopenhagen, bei der le-diglich eine politische Vereinbarung 41 verabschiedet wurde. Die Vertragsstaatenkonferenz in Durban 42 kam dann Ende 2011 darüber überein, bis 2015 ein neues, alle Staaten ver-pflichtendes Klimaschutzabkommen für den Zeitraum ab 2020 zu erarbeiten und auf der 21. Vertragsstaatenkonferenz der KRK in Paris zu verabschieden. Die dahingehenden ho-hen Erwartungen 43 an die im November 2013 tagende Welt-klimakonferenz wurden indessen enttäuscht; in Warschau wurde lediglich ein Minimalkompromiss erzielt.

Immerhin verständigten sich Ende 2012 die EU, Nor-wegen, die Schweiz, Australien, Kroatien, Lichtenstein und Monaco nach langen Verhandlungen in Doha/Katar über eine zweite Verpflichtungsperiode des KP (2013 bis 2020). 44 Die EU übernahm hier die Verpflichtung, 20 %, gegebenenfalls 30 % 45, der unionsweiten THG-Emissionen bis 2020 gegenüber 1990 zu senken. Neben ihr sind ihre damals 27 Mitgliedstaaten und nun auch Kroatien als 28. Mitgliedstaat Vertragsparteien. Die Ratifizierung 46 steht allerdings noch aus; die deutsche Bundesregierung hat an-gekündigt, 47 das Ratifizierungsgesetz nach der Bundestags-wahl im September 2013 dem Bundestag zuzuleiten.

3. Die Klimaschutzziele der Europäischen Union

3.1 Zielbestimmung für 2020 und 2050

Der Europäische Rat legte in seinen Schlussfolgerungen ein mittel- und ein langfristiges Ziel zur Senkung der THG-Emissionen für die EU fest. Zunächst bestimmte er im März 2007 48 das mittelfristige Ziel für den Zeitraum nach 2012: Danach „verpflichtet“ er die EU, den gemeinschafts-weiten THG-Ausstoß bis 2020 um mind. 20 %, gegebe-nenfalls um 30 % 49, zu senken. Bei dem 2020-Minderungs-ziel der EU handelt es sich mithin um ein Mindestziel von 20 %. Auch die spätere Äußerung durch den Europäischen Rat ändert daran nichts: So relativierte er im Dezember 2008 zwar auf den ersten Blick die Zielbestimmung, in-dem er nur noch auf ein starres Ziel i. H. v. 20 % verwies. 50 Da er hier aber ersichtlich davon ausging, dass die ambitio-niertere, als Mindestziel ausgestaltete, „Verpflichtung“ der EU bereits im März 2007 entstanden war, bleibt es beim 2020-Ziel als Mindestziel. Auf dieses rekurrieren auch die inzwischen mehrfach novellierte Emissionshandelsricht-linie (EH-RL) 2003/87/EG 51 und die Effort-Sharing-Ent-scheidung (ESD) 52.

Darüber hinaus gab der Europäische Rat ein langfristi-ges Ziel für 2050 vor. Hatte er hierfür im März 2007 53 die Mitgliedstaaten zunächst zu einer THG-Senkung i. H. v. 60 bis 80 % herangezogen, nahm er im Oktober 2009 54 nun die EU in die ambitioniertere Verantwortung, die ge-meinschaftsweiten Treibhausgase bis 2050 um 80 bis 95 % gegenüber 1990 zu verringern. An dieses anspruchsvollere Ziel – das auf dem im Vierten Sachstandsbericht des IPCC 55

empfohlenen Emissionsreduktionskorridor für die Gruppe der Industrieländer zur Begrenzung der globalen Durch-schnittstemperatur auf 2 °C beruht – knüpfte er im Februar 2011 56 an.

3.2 Rechtliche Bewertung

Unstrittig für die Rechtslage vor wie nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages ist, dass es – mit Ausnahme seiner ver-traglich vorgesehenen Spezialkompetenzen (dazu 2.1.2) –

NuR (2014) 36: 246–253 249Stäsche, Europäischer Klimaschutz und Europäischer Rat

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37) Vgl. Art. 3 i. V. m. Anlage B des KP.38) Zum Status der Ratifizierungen s. UNFCCC, http://unfccc.int/

kyoto_protocol/status_of_ratification/items/ 2613.php (Stand: 15. 2. 2014).

39) Art.  1 Abs.  3 S.  3, 47 EUV; dazu Dörr in: Grabitz/Hilf/Net-tesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, EUV/AEUV, Band III, 51. EL (2013), München, Art. 47 EUV, Rdnr. 31 ff.

40) Vgl. http://unfccc.int/key_steps/bali_road_map/items/ 6072.php (Stand: 15. 2. 2014).

41) FCCC/CP/2009/11/Add.1.42) Decision 1/CP.17: Establishment of an Ad Hoc Working Group

on the Durban Platform for Enhanced Action.43) Vgl. u. a. Kreft/Bals, Warschau, Lima, Paris – Im Dreisprung zum

neuen Klimaabkommen, Bonn/Berlin 2013. 44) UNFCCC, http://unfccc.int/key_steps/doha_climate_gateway/

items/ 7389.php (Stand: 15. 2. 2014). Nicht beteiligt sind aller-dings Russland, Japan, Kanada und Neuseeland; die USA haben das KP nicht ratifiziert; deutsche Fassung: http://unfccc.int/re-source/docs/convkp/kpger.pdf (Stand: 15. 2. 2014).

45) Bei einer entsprechenden Verpflichtung anderer Industrieländer und einer angemessenen Beteiligung der Schwellenländer.

46) Zum Legislativvorschlag der Kommission für den EU-Ratifizie-rungsbeschluss v. 6. 11. 2013 s. Presseerklärung der Kommission IP 13/1085.

47) BT-Drs. 17/12976, S. 2.48) „Der Europäische Rat (…) beschließt, dass die EU (…) die feste

und unabhängige Verpflichtung eingeht, die Treibhausgasemis-sionen bis 2020 um mindestens 20 % gegenüber 1990 zu reduzie-ren.“; Schlussfolgerungen des Europäischen Rates v. 8./9. 3. 2007, 7224/1/07 REV 1, CONCL 1, Rdnr. 32, 30.

49) Auch hier bei einer entsprechenden Verpflichtung anderer Indus-trieländer und einer angemessenen Beteiligung der Schwellen-länder.

50) „Das Paket (Legislativpaket „Energie/Klima“) wird die Um-setzung der ehrgeizigen Verpflichtungen gewährleisten, die die Europäische Union im März 2007 und im März 2008 in den Bereichen Energie und Klima eingegangen ist, zu denen insbe-sondere das Ziel gehört, die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2020 um 20 % zu verringern.“ Schlussfolgerungen des Europäi-schen Rates v. 11./12. 12. 2008, 17271/1/08, REV 1, CONCL 5, Rdnr. 22.

51) Richtlinie v. 13. 10. 2003, geändert durch Richtlinie 2009/29/EG v. 23. 4. 2009, ABl. 2009 Nr. L 140/63, konsolid. Fassg., ABl. 2009 Nr. L 87/1 : 3., 5. u. 13. Erwägungsgrund der Präambel RL 2009/29/EG.

52) 4. Erwägungsgrund der Präambel ESD, Entscheidung des Eu-ropäischen Parlaments und des Rates v. 23. 4. 2009, ABl. 2009 Nr. L 140/136.

53) „Ihr Blick (der entwickelten Länder) sollte dabei auch auf das Ziel gerichtet sein, ihre Emissionen bis 2050 gemeinsam um 60 bis 80 % gegenüber 1990 zu verringern.“ Schlussfolgerungen des Eu-ropäischen Rates v. 8./9. 3. 2007, 7224/1/07 REV 1, CONCL 1, Rdnr. 30.

54) „… Er (der Europäische Rat) unterstützt als Ziel der EU, im Rahmen der laut Weltklimarat (IPCC) erforderlichen Redu-zierungen seitens der Gruppe der Industrieländer die Emissio-nen bis 2050 um 80 bis 95 % gegenüber dem Niveau von 1990 zu verringern.“ Schlussfolgerungen des Europäischen Rates v. 29./30. 10. 2009, 15265/1/09 REV 1, CONCL 3, Rdnr. 7.

55) Contribution of Working Group III to the Fourth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change, 2007, Mitigation of Climate Change, Kapitel 13.3.3.3, S. 776.

56) Schlussfolgerungen des Europäischen Rates v. 4. 2. 2011, EUCO 2/1/11 REV 1, CO EUR 2, CONCL 1, Rdnr. 15.

nicht in der Kompetenz des Europäischen Rates lag und liegt, rechtlich bindende Beschlüsse zu fassen. 57 Die Ent-scheidungen des Europäischen Rates, die nicht in formeller Beschlussform ergehen, stellen somit kein gemeinschaftli-ches respektive unionales hard law dar. Dies gilt auch für die von ihm bestimmten Klimaschutzziele für die EU für 2020 und 2050. Im Folgenden wird daher analysiert, wie diese in seinen Schlussfolgerungen festgelegten mittel- und langfristigen Klimaschutzziele rechtlich einzuordnen sind.

Im Hinblick auf die Adressatin der vom Europäischen Rat formulierten THG-Minderungsziele für 2020 und 2050 – die EU – ist zunächst Folgendes voranzustellen: Die EU verfügte zu den Zeitpunkten der Zielformulierung im März 2007 und im Oktober 2009 nach der hier zugrun-dezulegenden Rechtslage des Vertrages von Nizza (NV) 58 nach zutreffender Ansicht 59 noch nicht über Rechtspersön-lichkeit. Daher konnte sie rechtlich nicht Zurechnungssub-jekt der Klimaschutzziele sein. Als Zurechnungssubjekte kamen allein die rechtsfähige EG 60 und ihre Mitgliedstaaten in Betracht. Es ist somit konsequent, wenn der Europäische Rat jedenfalls im Falle des 2020-Ziels ausdrücklich Bei-träge der europäischen Mitgliedstaaten 61 einfordert. Dieser Befund wird für das 2020-Ziel ebenfalls durch die EH-RL und die ESD gestützt: Beide sind allein an die Staaten ge-richtet. 62 In beiden Rechtsakten wird an mehreren Stellen die völkerrechtliche Verpflichtung der Gemeinschaft 63 zur Senkung der THG-Emissionen zitiert und nicht eine Ver-pflichtung der zu diesem Zeitpunkt rechtsunfähigen EU generiert. In diesem Sinne werden auch die Schlussfolge-rungen des Europäischen Rates vom März 2007 verstan-den, in denen nach den Erwägungsgründen der Präambeln beider Rechtsakte 64 die Gemeinschaft durch den Europäi-schen Rat verpflichtet wird.

Somit adressierte der Europäische Rat die EU im Falle des 2020- wie auch des 2050-Ziels jedenfalls nicht als rechtsfähiges Gebilde 65. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass er zu den Zeitpunkten der Zielformulierung die sich bereits deutlich abzeichnende Rechtspersönlichkeit der EU antizipierte: So wurde nur ca. 14 Tage nach der Formu-lierung des 2020-Ziels Anfang März 2007 die sog. Berli-ner Erklärung über die „europäischen Werte und Bestre-bungen“ verabschiedet, die den Reformprozess nach der zwei Jahre währenden Reflexionsphase zur Zukunft des Verfassungsvertrages wieder anstieß und die Vertragsrevi-sionsverhandlungen wieder aufleben ließ. 66 Die Verleihung von Rechtspersönlichkeit an die EU war bereits fast vier Jahre früher, im sog. Konventsentwurf von Konventspräsi-dent Giscard d’Estaing vom Juli 2003 67, vorgesehen. Dieser prägte die in den vertragsändernden Regierungskonferen-zen 2003/04 und 2007 verabschiedeten Folgeverträge, na-mentlich den Verfassungsvertrag vom Oktober 2004 und den Vertrag von Lissabon, ganz wesentlich; so blieb in bei-den die Rechtspersönlichkeit der EU 68 erhalten. Bei der Formulierung des 2050-Ziels im Oktober 2009 und da-mit kurz vor Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages war die primärrechtliche Verleihung der Rechtspersönlichkeit an die EU dann sicher.

3.2.1 Völkerrechtlich einseitige verbindliche Erklärungen

Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates sind zwar streng genommen keine Willensäußerungen des Europäi-schen Rates selbst. Weil über sie aber häufig bis ins Detail beraten wird, bilden sie regelmäßig die Entscheidungen der Staats- und Regierungschefs authentisch ab. 69

Fraglich ist, ob es sich bei den in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates festgelegten mittel- und langfristi-gen Klimaschutzzielen für die EU um völkerrechtlich ein-seitige verbindliche Erklärungen handelt, die er im Vorfeld der internationalen Klimaverhandlungen auf Bali im De-zember 2007 und zwei Jahre später in Kopenhagen verab-schiedete. Einseitige verbindliche Erklärungen waren aus-drücklich in Art.  300 Abs.  2 UAbs.  2 des Vertrages zur

Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der Fassung des Vertrages von Nizza (EGV NV) 70 für die Festlegung des gemeinschaftlichen Standpunkts im Vorfeld von Ver-handlungen internationaler Organisationen vorgesehen, in denen die Gemeinschaft Mitglied war. 71 Voraussetzung war hier allerdings, dass ein Völkerrechtssubjekt tätig wird. Der Europäische Rat war jedoch zu den Zeitpunkten der Ziel-formulierung nicht völkerrechtlich handlungsfähig. Denn seine Rechtsnatur ist an die Rechtsqualität der EU ge-knüpft. Mangels Rechtspersönlichkeit dieser war aber auch der Europäische Rat nicht als ihr handlungsfähiges Uni-onsorgan zu qualifizieren. Vor Inkrafttreten des Lissabon-ner Vertrages am 1. Dezember 2009 stellte er vielmehr eine besondere Form der Regierungskonferenz respektive ein außerhalb der Europäischen Gemeinschaft stehendes poli-tisches „Unionsorgan“ dar. Demnach sind die von ihm be-schlossenen Klimaschutzziele nicht als völkerrechtlich ein-seitige verbindliche Erklärungen einzuordnen.

3.2.2 Soft law

Bei den mittel- und langfristigen Klimaschutzzielen könnte es sich allerdings um soft law handeln. 72 Unter soft law sind Regeln zu verstehen, die das Verhalten anderer beeinflus-

Stäsche, Europäischer Klimaschutz und Europäischer Rat

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250 NuR (2014) 36: 246–253

57) EuGH, Beschl. v. 13. 1. 1995 – C-253/94 P, Slg. 1995, I-7; Be-schl. v. 13. 1. 1995 – C-264/94 P, Slg. 1995, 15; EuG, Beschl. v. 14. 7. 1994 – T-584/93, Slg. 1994, II-587/591 f.

58) Fn. 33.59) Die Rechtssubjektivität der EU im Außenverhältnis wurde nicht

explizit anerkannt und war auch nicht stillschweigend aus dem Gesamtinhalt des Gründungsvertrages (implied powers) abzuleiten. Zur Diskussion der Rechtsqualität der EU und des Europäischen Rates für die Rechtslage des Vertrages von Nizza (ABl. 2002 Nr. C 325/33) und des Lissabonner Vertrages (ABl. 2008 Nr. C 115/47) Stäsche (Fn. 5), S. 66 ff. m. w. N. Selbst wenn der EU eine partielle Völkerrechtssubjektivität zugesprochen wurde, so allein für die GASP und die Polizeiliche und Justitielle Zusammen-arbeit in Strafsachen, im Übrigen wurde ausschließlich die EG als zuständiges Völkerrechtssubjekt betrachtet. Dörr in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 39), Art. 47 EUV, Rdnr. 3.

60) Art. 281 EGV NV. 61) Schlussfolgerungen des Europäischen Rates v. 8./9. 3. 2007,

7224/1/07 REV 1, CONCL 1, Rdnr. 33.62) Art. 31 EH-RL und Art. 16 ESD.63) RL 2003/87/EG, konsolid. Fassg.: 2., 4. f. Erwägungsgrund der

Präambel, Art. 1, 28 Abs. 1 a) u. h); ESD: 4., 8.–10., 28. u. 29. Er-wägungsgrund der Präambel, Art. 1 Abs. 1 u. 2, 4 Abs. 2, 6 Abs. 3 UAbs. 3, 8 Abs. 1 a) u. h), 8 Abs. 6, Art. 9.

64) RL 2009/29/EG: 3.  Erwägungsgrund; ESD: 4.  Erwägungs-grund.

65) Zum Verhältnis zwischen der EU und ihren Teilbereichen exis-tierten für die Rechtslage des Vertrages von Nizza verschiedene Modelle: die sog. strikte Trennungsthese, die sog. gemäßigte Trennungsthese und die sog. Einheitsthese. Dazu Stäsche (Fn. 5), Fn. 266.

66) Zum Verhandlungsprozess und den Ergebnissen der Regierungs-konferenzen 2003/04 und 2007 Stäsche (Fn. 5), S. 489 ff., 614 ff., 623 ff.

67) Art. I-6, IV-3 Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, CONV 850/03, CONV 850/03 COR 4, CONV 850/03 COR 4 REV 1; ABl. 2003 Nr. C 169/1 ff.

68) Art. I-7, IV-438 Vertrag über eine Verfassung für Europa, CIG 87/2/04 REV 2; CIG 87/04 ADD 1 REV 2 (Protokolle und An-hänge); CIG 87/04 ADD 2 REV 2 (Erklärungen und Schlussakte); Art. 1 Abs. 3 S. 3, 47 EUV. Der Verfassungsvertrag war an den Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert.

69) Natürlich mit Ausnahme des informellen Gedankenaustausches; so auch Bonvicini/Regelsberger, The organizational and political implications of the European Council, in: Hoscheit/Wessels (Hrsg.) (Fn. 14), S. 155, 177; Martenczuk (Fn. 14), 151, 155.

70) Nun Art. 218 Abs. 9 AEUV.71) Dazu Dörr in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 39), Art. 47 EUV,

Rdnr. 35 und 52.72) Dazu und im Folgenden Stäsche (Fn. 5), S. 72 ff. m. w. N.; Senden,

Soft Law in European Community Law, Oxford 2004.

sen und in Instrumenten niedergelegt sind, denen keine rechtlich bindende Kraft als solche beigefügt wurde, die aber nichtsdestoweniger bestimmte (indirekte) Rechtswir-kungen erzeugen können bzw. von einer gewissen recht-lichen Reichweite sind.

3.2.2.1 Kategorien von Rechtswirkungen

Generell hat ein Akt Rechtswirkung, wenn er in der Lage ist, neue Rechte und Pflichten zu begründen oder aufzu-erlegen, also die rechtliche Stellung einer Person zu ver-ändern. Das ist in drei Kategorien denkbar: In der ersten ist dem Akt eine rechtliche Bindung beigefügt und gleich-zeitig mit ihm intendiert (inherent legally binding force); hier handelt es sich um klassisches hard law. Dieses scheidet aus den genannten Gründen für die in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates bestimmten Klimaschutzziele aus.

In der zweiten Kategorie haftet dem Akt eine sonstige oder beiläufige rechtliche Bindung an (incidental legally bin-ding force). Dabei hegt der Verfasser die politische Absicht, dass der Akt Rechtswirkungen erzeugen soll, die er ent-weder explizit äußert oder die implizit aus den Formulie-rungen, dem Hintergrund oder der Form des Akts her-zuleiten ist. Der Europäische Rat beabsichtigt bei seinen Entscheidungen und bei der Formulierung der EU-Klima-schutzziele jedoch nicht, dass diese selbst von rechtlicher Bindungskraft sind.

Vorliegend kommt daher allein die dritte Kategorie in Betracht, die auch als „wahres“ oder „formales“ 73 soft law bezeichnet wird: Die Entscheidungen des Europäischen Rates können indirekte rechtliche Bindungswirkungen er-zeugen, indem sie den Willen und die Freiheit der Adres-saten beschränken. Eine Willensbeschränkung tritt vor al-lem ein, wenn die Erwartung der rechtlichen Umsetzung besteht. Während eine solche bei Entscheidungen fehlt, die lediglich der politischen Festlegung von Staaten oder als In-terpretationsquelle dienen, ist sie regelmäßig bei Entschei-dungen vorhanden, an die besonders hohe, weiterreichende Erwartungen gerichtet sind. Derartige Entscheidungen werden häufig im Hinblick auf die Vorbereitung und Aus-arbeitung künftiger europäischer Gesetzgebung und Poli-tik verabschiedet und bereiten den Weg für die Annahme zukünftiger Rechtsakte, indem sie im Vorfeld des Gesetz-gebungsprozesses die Unterstützung für die jeweiligen Re-geln bilden oder fördern (sog. pre-law function). Eine Wil-lensbeschränkung liegt auch dann vor, wenn die Annahme besteht, dass Staaten oder internationale Organisationen ihr Verhalten an den Verhaltensregeln ausrichten; auch hier be-steht eine Erwartung mit rechtlicher Tragweite. Als soft law zu qualifizierende Entscheidungen des Europäischen Rates waren in der Vergangenheit u. a. seine Entscheidungen zu den Finanzrahmen 1988 bis 1992 sowie 1993 bis 1997, zu der Agenda 2000 und der Agenda 2007. 74

Für die Bewertung, ob es sich bei den vom Europäischen Rat vorgegebenen Klimaschutzzielen allein um politische Äußerungen handelt oder ihnen eine indirekte rechtliche Bindung zukommt, ist nunmehr zu eruieren, wie konkret die Entscheidungen im Einzelfall gefasst und in welchem Kontext sie zu verorten sind:

3.2.2.2 Das 2020-Ziel

Unter Berücksichtigung der vorstehenden Kriterien ergibt sich Folgendes: Der Europäische Rat adressierte im März 2007 eindeutig die EU. So beschloss er, „… dass die EU (…) die feste und unabhängige Verpflichtung eingeht, die Treibhausgasemissionen bis 2020 um mindestens 20 % ge-genüber 1990 zu reduzieren.“ 75 Das 2020-Ziel stand da-bei unverkennbar im Kontext der hohen Erwartungen und Hoffnungen auf eine Einigung über ein globales Klimaab-kommen nach 2012 (dazu 2.2); die EU sollte hier ausdrück-lich eine Vorreiterrolle 76 einnehmen.

Auch wenn aus den dargelegten Gründen die EU nicht selbst rechtliches Zurechnungssubjekt dieses Ziels sein

konnte (dazu 3.2), sondern allein die EG und ihre Mitglied-staaten, kann unabhängig davon aus dem hier deutlich ar-tikulierten Willen, eine von den Mitgliedstaaten feste und unabhängige „Verpflichtung“ zu generieren, ein grundle-gendes Bekenntnis zur THG-Senkung in den europäischen Grenzen und zur ernsthaften Bekämpfung des Klimawan-dels abgelesen werden.

Dass mit dem 2020-Ziel die Erwartung rechtlicher Um-setzung verknüpft war, geht direkt aus der Aufforderung des Europäischen Rates gegenüber der Kommission 77 her-vor, mit den fachlichen Vorarbeiten für die Umsetzung der Klimaschutzziele zu beginnen. Zudem zeigte die weitere Entwicklung, dass das vom Europäischen Rat bestimmte 2020-Ziel als pre-law tatsächlich den Weg für das europä-ische Klima- und Energiepaket 78 bereitete, mit dem die-ses Ziel rechtsverbindlich umgesetzt wurde: Die EH-RL und die ESD teilen es auf die innerhalb und außerhalb des Emissionshandels befindlichen Sektoren auf; es handelt sich bei beiden um verbindliche Rechtsakte. 79 Hinzu kommt, dass nachweislich mehrere europäische Mitgliedstaaten – wie Deutschland in seinem Energiekonzept vom 28. Sep-tember 2010 und dem Koalitionsvertrag 2013 80, Frank-reich 81 und Großbritannien 82 – ihr Verhalten an dem vom Europäischen Rat vorgegebenen Ziel für 2020 ausrichte-ten, wenn auch nicht durchgängig in Gesetzesform, son-dern, so in Deutschland, auch in politischen, rechtlich un-verbindlichen Absichtserklärungen. 83 Die Staaten setzen sich teilweise auch anspruchsvollere Ziele; so verpflichtet sich Deutschland zur Senkung seiner THG-Emissionen um mindestens 40 % bis 2020 gegenüber 1990.

Nach alledem handelt es sich bei dem 2020-Ziel für die EU um eine verhaltenslenkende Regel. Demzufolge stellt das vom Europäischen Rat formulierte mittelfristige Kli-

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73) Marquier, Soft Law: Das Beispiel des OSZE-Prozesses – Ein Beitrag zur völkerrechtlichen Rechtsquellenlehre, Bonn 2003, S. 30 ff.

74) Bull. 2/1988, 1.1.1–1.1.11; Bull. 12/1992, I.45–I.72; Bull. 3/1999, I.3–I.38; Bull. 12/2005, I.1, I.4; Bull. 12/2005, 1.7.2.

75) Schlussfolgerungen des Europäischen Rates v. 8./9. 3. 2007, 7224/1/07, REV 1, CONCL 1, Rdnr. 32. S. auch Rdnr. 32: „Der Europäische Rat betont, dass die EU entschlossen ist, Europa zu einer Volkswirtschaft mit (…) geringen Treibhausgasemissionen umzugestalten, …“

76) Ders., a. a. O., Rdnr. 29: „Der Europäische Rat hebt die Vorrei-terrolle der EU beim internationalen Klimaschutz hervor …“

77) Ders., a. a. O., Rdnr.  33: Der Europäische Rat (…) fordert die Kommission auf, als Grundlage für weitere eingehende Beratun-gen (…) unverzüglich mit einer fachlichen Analyse der Kriterien zu beginnen, …“; zum Emissionshandel s. Rdnr. 35.

78) Weitere Elemente des europäischen Klima- und Energiepakets sind neben EH-RL und ESD die Erneuerbare-Energien-Richt-linie, die CCS (Carbon Capture and geological Storage)-Richt-linie 2009/31/EG, die Kraftstoffqualitätsrichtlinie 2009/30/EG, die Verordnung Nr.  443/2009/EG und die Verordnung Nr. 510/2011/EU.

79) Art. 249 Abs. 3 und 4, 251 EGV NV, nun Art. 288 Abs. 3 und 4, 289, 294 AEUV. Die EH-RL gibt für die vom Emissionshandel erfassten Sektoren eine THG-Senkung von 21 % vor, die ESD bestimmt für die übrigen Bereiche eine Verringerung um 10 %, jeweils bis 2020.

80) Bundesregierung, Energiekonzept für eine umweltschonende, zu-verlässige und bezahlbare Energieversorgung, Berlin 2010, S. 4; CDU/CSU/SPD, Koalitionsvertrag. Deutschlands Zukunft ge-stalten, S. 36 f.

81) Art.  2 Französisches Energieprogrammgesetz (Loi de pro-gramme fixant les orientations de la politique énergétique) v. 13. 7. 2005, konsolidiert am 1. 6. 2011, http://www.legifrance.gouv.fr/aff ichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000000813253 (Stand: 15. 2. 2014).

82) Climate Change Act 2008, sec. 5, http://www.legislation.gov.uk/ukpga/ 2008/ 27/contents (Stand: 15. 2. 2014).

83) Vgl. auch Groß, Klimaschutzgesetze im europäischen Vergleich, ZUR 2011, 171 ff.

maschutzziel eine Grundsatz- und Leitentscheidung dar, die als soft law einzustufen ist.

3.2.2.3 Das 2050-Ziel

Auch das 80 bis 95 %-Ziel bildet soft law. Nach dem Wortlaut der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom Okto-ber 2009 ist es zwar schwächer als das 20 %-Mindestziel for-muliert. Danach „unterstützt (der Europäische Rat) als Ziel der EU, im Rahmen der laut Weltklimarat (IPCC) erforder-lichen Reduzierungen seitens der Gruppe der Industrielän-der die Emissionen bis 2050 um 80 bis 95 % gegenüber dem Niveau von 1990 zu verringern.“ 84 Gleichwohl ist die Ziel-festlegung für die EU klar und unmissverständlich, für die der Europäische Rat seine Unterstützung bekundet. Auch das 2050-Ziel stand dabei im Kontext der damaligen Verhand-lungen der Staatengemeinschaft über ein globales und für alle verbindliches Klimaschutzabkommen nach 2012 (dazu 2.2). 85

Allerdings forderte der Europäische Rat – anders als bei dem 2020-Ziel – die Kommission nicht explizit auf, mit fachlichen Vorarbeiten zur Umsetzung des 2050-Ziels zu beginnen. Dies könnte zum einen auf dem unterschiedli-chen Zeithorizont beider Ziele beruhen – es schien dringli-cher, zunächst Maßnahmen für das 2020-Ziel zu ergreifen. Zum anderen könnte es damit zusammenhängen, dass der Europäische Rat erst abwarten wollte, ob zwei Monate spä-ter, im Dezember 2009, während der Klimakonferenz von Kopenhagen tatsächlich ein globales Klimaschutzabkom-men für die Zeit nach 2012 beschlossen werden würde. In-dessen hätte es der EU hier ebenfalls gut gestanden, hätten die Staats- und Regierungschefs die Kommission explizit mit entsprechenden Vorarbeiten beauftragt. Dies wäre ein klares und wichtiges Signal nach außen gerade auch im un-mittelbaren Vorfeld von Kopenhagen gewesen und hätte gezeigt, dass sich die EU – die sich stetig als Vorreiterin 86 für den Klimaschutz darstellt – auch unabhängig von den internationalen Entwicklungen ernsthaft für den europäi-schen Klimaschutz engagiert.

Für die hier interessierende Untersuchung, ob es sich bei dem 2050-Ziel um soft law handelt, ist aber fraglich, ob es überhaupt eines expliziten Auftrages an die Kommission bedurfte oder ob, auch ohne einen derartigen Aufrag, dem Ziel selbst die Erwartungshaltung der rechtlichen Umset-zung anhaftet(e). Fest steht jedenfalls, dass die Kommission auch ohne entsprechenden Auftrag mit klarem Rekurs auf das 2050-Ziel eine Reihe sog. Fahrpläne und Berichte von März 2011 bis November 2012 87 vorlegte, unter denen der Fahrplan für den Übergang zu einer wettbewerbsfähigen CO2-armen Wirtschaft bis 2050 88 und der Energiefahrplan 2050 89 hervorzuheben sind und die ebenfalls Zwischenziele für die EU für 2030 und 2040 benennen. Des Weiteren verwies die Kommission in ihrem Grünbuch „Ein Rahmen für die Klima- und Energiepolitik bis 2030“ 90 vom März 2013 auf das 2050-Ziel. Im Januar 2014 ging sie einen deut-lichen Schritt weiter, indem sie in ihrer auf das Grünbuch folgenden Mitteilung 91 explizit dafür eintrat, das 2030-Ziel der EU zur Senkung der Treibhausgasemissionen um 40 % gegenüber 1990 – als einem für das 2050-Ziel wichtigen Zwischenziel – rechtsverbindlich auszugestalten. Das Par-lament betrachtet das 2050-Ziel ebenfalls als grundlegend 92 und greift es in diversen Entschließungen auf; der Rat Um-welt 93 bekräftigte es in seinen Schlussfolgerungen.

Auch wenn die weitere Entwicklung abzuwarten bleibt und der Diskurs über den Weg der Zielerreichung im Ein-zelnen lebendig ist, 94 zeigt die starke Rezeption des vom Eu-ropäischen Rat vorgegebenen 2050-Ziels durch die ande-ren europäischen Institutionen deutlich die hier vorhandene hohe Erwartungshaltung. Eines expliziten Auftrages an die europäischen Institutionen für Vorarbeiten zur rechtsver-bindlichen Zielumsetzung bedurfte es offenbar nicht. Dass sich diese gleichwohl ihrer Verantwortung bewusst waren und sind, zeichnet sich nicht zuletzt in dem Bestreben der Kommission ab, das 2030-Ziel für die EU in eine rechtlich

verbindliche Form zu gießen und diesen Vorschlag dem Eu-ropäischen Rat für seine Frühjahrstagung im März 2014 vor-zulegen. Die Erwartungen der europäischen Institutionen hinsichtlich des 2050-Ziels gingen auch mit den Entwick-lungen auf internationaler Ebene einher: Führende Länder und die EU hatten in den Vereinbarungen von Cancún 95 vom Dezember 2010 ein globales langfristiges THG-Minderungs-ziel bis 2050 befürwortet, für das langfristige Strategien für eine CO2-arme Entwicklung zu entwickeln waren. 96 Im Fe-bruar 2011 97 ließ auch der Europäische Rat an seiner Erwar-tungshaltung gegenüber der Kommission hinsichtlich ihrer Strategie 2050 für eine CO2-arme Wirtschaft keinen Zwei-fel. Ferner ist zu erwarten, dass er auf seiner Frühjahrstagung im März 2014 den von der Kommission weiter beschrittenen Weg für das 2030-Zwischenziel bestätigt. Nach alledem han-delt es sich bei dem 2050-Ziel ebenfalls um pre-law.

Zu unterstreichen ist sodann, dass wie auch beim 2020-Ziel mehrere europäische Mitgliedstaaten – darunter Deutschland in seinem Energiekonzept und dem Koaliti-onsvertrag 2013 98, Frankreich 99, Großbritannien 100 und Li-

Stäsche, Europäischer Klimaschutz und Europäischer Rat

123

252 NuR (2014) 36: 246–253

84) Schlussfolgerungen des Europäischen Rates v. 29./30. 10. 2009, 15265/1/09 REV 1, CONCL 3, Rdnr. 7.

85) Ders., a. a. O., Rdnr. 5 ff.86) So auch wieder die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates

v. 29./30. 10. 2009, a. a. O., Rdnr. 8.87) Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum,

KOM (2011) 144 endg., S. 3; Fahrplan für ein ressourcenscho-nendes Europa vom September 2011, KOM (2011) 571 endg., S. 28; Bericht über die Lage des CO2-Wertes in der EU im Jahr 2012, KOM (2012) 652 endg., S. 8 f. S. ferner Analyse der Op-tionen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen um mehr als 20 % und Bewertung des Risikos der Verlagerung von CO2-Emissionen, KOM (2010) 265, S. 2, 6.

88) KOM (2011) 112 endg., S. 3 f., 15.89) KOM (2011) 885 endg., S. 2 ff.90) COM (2013) 169 fin., S. 3, 9.91) COM (2014) 15 fin., S. 5 f.92) Entschließung zu einem Fahrplan für den Übergang zu ei-

ner wettbewerbsfähigen CO2-armen Wirtschaft bis 2050, P7_TA(2012)0086, Buchst.  B u.  D, Ziff.  5; Entschließung zum Energiefahrplan 2050, P7_TA-PROV(2013)0088, Ziff. 2. Zur Rolle des Parlaments in der Energiepolitik s. http://www. eu-roparl.europa.eu/aboutparliament/de/displayFtu.html? ftu Id= FTU_ 5.7.1.html (Stand: 15. 2. 2014).

93) Schlussfolgerungen des Rates der Umweltminister v. 14. 3. 2011, 7755/11, Rdnr.  5 a. E.; vgl. ebenfalls Schlussfolgerungen des dänischen Vorsitzes zum Energiefahrplan 2050 v. 18. 6. 2012, Dok. 11553/12.

94) Zunehmend wird die Forderung nach ambitionierteren EU-Klimaschutzzielen erhoben; zuletzt Brot für die Welt/BUND/Germanwatch/Greenpeace/Misereor/WWF und der Sachver-ständigenrat für Umweltfragen (SRU), die nachdrücklich für ein 55 bzw. ein 45 %-Mindestziel für 2030 gegenüber 1990 eintreten. Vgl. Brot für die Welt/BUND/Germanwatch/Green-peace/Misereor/WWF, Energiewende für Europa: Ehrgeizige 2030-Klima-und Energieziele der EU für Klimaschutz, Inves-titionssicherheit und Kosteneffizienz, 2014; SRU, An Ambitious Triple Target for 2030, Berlin 2013; ders., Den Strommarkt der Zukunft gestalten, Eckpunktepapier, Berlin 2013, S. 6.

95) Decision 1/CP/.16, Ziff. I. 5. u. 6; Decision 1/CMP/6, Ziff. 4. Diese Vereinbarungen sind jedoch rechtlich unverbindlich.

96) Vgl. KOM (2011) 112 endg., S. 3.97) Schlussfolgerungen des Europäischen Rates v. 4. 2. 2011, EUCO

2/1/11 REV 1, CO EUR 2, CONCL 1, Rdnr. 15.98) Bundesregierung, Energiekonzept für eine umweltschonende, zu-

verlässige und bezahlbare Energieversorgung, Berlin 2010, S. 4; CDU/CSU/SPD, Koalitionsvertrag. Deutschlands Zukunft ge-stalten, S. 37.

99) Art. 2 Französisches Energieprogrammgesetz (Fn. 81); Art. 2 Loi n° 2009–967 du 3 août de programmation relative à la mise en œuvre du grenelle de 1’environnement, http://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000020949548 (Stand: 15. 2. 2014).

100) Climate Change Act 2008, sec. 1 (Fn. 82).

tauen 101 – ihre nationale Politik bzw. Gesetzgebung an dem vom Europäischen Rat bestimmten 2050-Ziel ausrichteten.

Insoweit ist das 2050-Ziel gleich dem 2020-Ziel als ver-haltenslenkende Regel zu begreifen. Demnach stellt auch das langfristige Klimaschutzziel für die EU eine Grund-satz- und Leitentscheidung des Europäischen Rates dar, die als soft law zu qualifizieren ist.

4. Zusammenfassung

Die mittel- und langfristigen EU-Klimaschutzziele bilden als Grundsatz- und Leitentscheidungen des Europäischen Rates soft law. Handelte es sich hier zunächst um gemein-schaftliches soft law, wandelte sich dieses mit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages zu unionalem soft law. Während

das 2020-Ziel als pre-law bereits den Weg für eine Umwand-lung in hard law ebnete, steht diese für das 2050-Ziel noch aus. Dessen umfängliche Rezeption durch die europäischen Institutionen und verschiedene EU-Mitgliedstaaten und die Bestrebungen, das 2030-Zwischenziel rechtsverbindlich zu gestalten, zeigen aber bereits jetzt, dass es sich bei der rechts-verbindlichen Umsetzung des 2050-Ziels letztlich nur um eine Frage der Zeit handelt. Ebenfalls wird deutlich, dass der Europäische Rat auch in der europäischen Klimaschutzpoli-tik das zentrale Lenkungsorgan der EU ist.

[1.] Ein Straßenverbreiterungsprojekt in den Niederlanden hat Auswirkungen auf ein besonderes Schutzgebiet im Sinne der Habitatrichtlinie 1. Durch das Projekt könnten insbesondere die Flächengröße und/oder die Qualität von Pfeifengraswiesen 2 in dem Gebiet vermindert werden. Um die Schaffung neuer Wiesen an einer anderen Stelle inner-halb des Gebiets sicherzustellen, die die betroffenen Wiesen ersetzen oder ergänzen sollen, wurden bestimmte Maß-nahmen angeordnet. Die ministeriellen Verordnungen, mit denen das Projekt vorbehaltlich der Durchführung dieser Maßnahmen genehmigt wurde, sind angefochten worden.

[2.] In diesem Zusammenhang möchte der Raad van State im Wesentlichen wissen, ob im Sinne der Habitat-richtlinie ein Gebiet als solches beeinträchtigt wird, wenn das Projekt die Schaffung einer gleich großen oder grö-ßeren Fläche dieses Lebensraumtyps in dem Gebiet um-fasst, und, wenn dies zu bejahen ist, ob die Schaffung dieser Fläche als „Ausgleichsmaßnahme“ im Sinne der Richtlinie anzusehen ist.

UnionsrechtHabitatrichtlinie[3.] Art. 1 der Habitatrichtlinie enthält eine Reihe von

Begriffsbestimmungen, …[4.] Art. 2 bestimmt: …[5.] Art. 3 Abs. 1 bestimmt: …[6.] Art. 6 der Habitatrichtlinie lautet: …[7.] Schließlich sind in der Liste der Lebensraumtypen

des Anhangs I der Habitatrichtlinie unter der Rubrik na-turnahes feuchtes Grasland mit hohen Gräsern „6410 Pfei-fengraswiesen auf kalkreichem Boden, torfigen und to-nig-schluffigen Böden (Molinion caeruleae)“ aufgeführt. Hierbei handelt es sich nicht um einen prioritären Lebens-raumtyp.

Eleanor Sharpston, Generalanwältin am Gerichtshof der Europäischen Union, Luxemburg, Luxemburg

Auslegungsleitfaden der Kommission[8.] Die Kommission hat einen Auslegungs leit faden

(2007/2012, im Folgenden: Auslegungsleitfaden) zu Art. 6 Abs.  4 der Habitatrichtlinie veröffentlicht, in dessen Ziff. 1.4.1 es u. a. heißt, dass im Sinne von Art. 6 der Ha-bitatrichtlinie eindeutig zwischen Maßnahmen zur Scha-densbegrenzung und Ausgleichsmaßnahmen zu unter-scheiden sei. Der Begriff „Ausgleichsmaßnahme“ sei in der Richtlinie zwar nicht definiert, jedoch biete sich ausgehend von Erfahrungswerten folgende Unterscheidung an:

„– Maßnahmen zur Schadensbegrenzung im weiteren Sinne sind Maßnahmen, die auf eine Minimierung, wenn nicht gar eine Besei-tigung der negativen Auswirkungen auf ein Gebiet abzielen, die vo-raussichtlich infolge der Durchführung eines Plans oder eines Pro-jekts entstehen werden. Diese Maßnahmen sind fester Bestandteil der Spezifikationen eines Plans oder Projekts …;

– Ausgleichsmaßnahmen im engeren Sinne sind (einschließlich al-ler damit verbundenen Maßnahmen zur Schadensbegrenzung) pro-jektunabhängig. Sie sollen die negativen Auswirkungen eines Plans oder Projekts ausgleichen, so dass die globale ökologische Kohärenz des Netzes Natura 2000 erhalten bleibt.“

[9.] Im Weiteren wird im Auslegungsleitfaden ausge-führt, dass Ausgleichsmaßnahmen zusätzlich zu den Maß-nahmen ergriffen werden sollten, die aufgrund der Vor-gaben der Habitatrichtlinie oder entsprechend den durch Rechtsvorschriften vorgegebenen Verpflichtungen gän-gige Praxis seien, etwa die Durchführung eines Bewirt-schaftungsplans, und über die normalen bzw. Standard-maßnahmen hinausgehen sollten, die zum Schutz und für

Projekt, das sich auf einen Lebensraum in einem Natura-2000-Gebiet auswirktSchlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston vom 27. 2. 2014 in der Rs. C-521/12 (T. C. Briels u. a. gegen Minister van Infrastructuur en Milieu)

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NuR (2014) 36: 253–259 253Schlussanträge

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101) Strategy for National Climate Management Policy 2013–2050, http://climate-adapt.eea.europa.eu/countries/lithuania (Stand: 15. 2. 2014).

S C H L U S S A N T R ÄG E

1) Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. 5. 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. L 206, S. 7).

2) Molinia caerulea (Pfeifengras) ist eine Blütenpflanze aus der Fami-lie der Gräser, die in feuchten Heide-, Sumpf- und Moorgebieten verbreitet ist.