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Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

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Europäisches Steuerrecht

Prof. Dr. Roman Seer

Lehrstuhl für Steuerrecht

Sommersemester 2014

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Kompetenzen der EU

Überblick über die Kompetenzen der EU im Hinblick auf direkte und

indirekte Steuern

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Kompetenzen der EU auf dem Gebiet der direkten Steuern?

Kompetenzen für jede Art von Rechtsakt

Nicht für direkte Steuern: Harmonisierung der

indirekten Steuern (Art. 113 AEUV)

Rechtsangleichung im Binnenmarkt (Art. 114 Abs. 1 AEUV) – gilt ausdrücklich nicht für Steuern (Art. 114 Abs. 2 AEUV)

Auffang-Kompetenz für Ausnahmefälle (Art. 352 AEUV) – kommt bislang praktisch kaum zur Anwendung

Richtlinienkompetenz Nicht für direkte

Steuern gedacht, aber ggf. auch hierfür einsetzbar: Angleichung von

Rechtsvorschriften zur Errichtung oder Erhaltung der Funktionsfähigkeit des gemeinsamen Marktes (Art. 115 AEUV)

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Kompetenzen der EU auf dem Gebiet der direkten Steuern?

Keine Unionskompetenz für multilaterale Doppelbesteuerungsabkommen

Es bleibt letztlich die allgemeine Kompetenz des Art. 115 AEUV zur Rechtsangleichung (Einstimmigkeitsprinzip)

gleichzeitig gilt aber das Beihilfenverbot der Art. 107 ff. AEUV für direkte Steuern

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Primärrecht mit steuerlichem Bezug

Unions-GrundrechteArt. 6 Abs. 1 EUV i.V.m. EU-GRCh

BeihilferechtArt. 107 -109 AEUV

GrundfreiheitenArt. 28, 45 ff., 49, 56, 63 AEUV

Harmonisierungsauftrag und Rechtssetzungskompetenz für die indirekten Steuern, Art. 113 AEUV

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Akte bzgl. direkter Steuern aufBasis von Art. 115 AEUV

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Fusions-RL

Mutter-Tochter-

RL

Zins- u. Lizenz-

RL

Zins-RL (private Zinsein-künfte)

Zusam-men-

arbeits-RL

---------

Beitrei-bungs-

RL

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Verstärkte Zusammenarbeit in Steuersachen

Art. 20 EUV i.V. mit Art. 326-334 AEUV: mindestens 9 Mitgliedstaaten im Rat auf Vorschlag der EU-Kommission mit Zustimmung des EU-Parlaments

Voraussetzungen: Keine Wettbewerbsverzerrungen und keine Hindernisse für einen funktionierenden Binnenmarkt

Antrag an die Kommission von derzeit 10 Mitgliedstaaten (darunter DL), eine Finanztransaktionssteuer zum 1.1.2016 einzuführen

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Grundfreiheiten

Überblick

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Grundfreiheiten und allg. Diskriminierungsverbot

Freier Warenverkehr(Art. 34 ff. AEUV)

Arbeitnehmerfreizügigkeit(Art. 45 AEUV)

Freier Dienstleistungsverkehr(Art. 56 AEUV)

Freier Kapitalverkehr(Art. 63 AEUV)

Niederlassungsfreiheit(Art. 49 AEUV)

Allgemeines Diskriminierungsverbot(Art. 18 AEUV)

Problem: Abgrenzung

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Der Binnenmarkt, Art. 2 EUV

Mögliche Handelshemmnisse durch: Physische Hindernisse: Passkontrollen an

den inneren Grenzen der Gemeinschaft Technische Hindernisse: Bsp.:

unterschiedliche Standards in elektronischem Zubehör

Fiskalische Hindernisse: Bsp.: die nationalen Systeme zur Erhebung indirekter Steuern

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Anwendungsbereich des Unionsrechts

Nationale Voraussetzungen Nationalität eines MS

Unternehmen mit Sitz in einem MS

Grenzüberschreitender Sachverhalt Ausschließlich inländische Sachverhalte nicht erfasst

Grundsätzlich Sachverhalte mit Bezug zu Drittstaaten nicht erfasst (Ausnahme: Kapitalverkehrsfreiheit)

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Grundfreiheiten des AEUV

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Freier Waren-verkehr

(Art. 30, 34-37 AEUV)

Freier Personen-

verkehr

Freier Dienst-

leistungs-verkehr

(Art. 56-62 AEUV)

Freier Kapital-verkehr

(Art. 63-65 AEUV)

Niederlas-sungsfreiheit(Art. 49 AEUV)

Arbeitnehmer-Freizügigkeit(Art. 45 AEUV)

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Beschränkungen der Grundfreiheiten I

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DiskriminierungsverbotVerbot nicht-diskriminierender

Beschränkungen

Offene Diskrimi-nierung

Versteckte Diskrimi-nierung

Keine Beschränkung des Wegzugs aus einem MS

(Adressat: Wohnsitzstaat)

Keine Beschränkung

des Zugangs zu einem MS (Adressat:

Aufnahmestaat)

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Beschränkungen der Grundfreiheiten II

Diskriminierung Differenzierung zwischen grenzüberschreitenden und

innerstaatlichen Sachverhalten Betrachtungsobjekt: (Ausschnitt der) steuerliche(n)

Situation des Vergleichspaars Beschränkung auf einzelne Regelungen (kompensierende

Effekte nur teilweise zu berücksichtigen) Offene Diskriminierung: nach Staatsangehörigkeit oder

Sitz Versteckte Diskriminierung: nach Wohnsitz,

gewöhnlichem Aufenthalt, Ort der Tätigkeit oder Zahlungsort

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Beschränkungen der Grundfreiheiten III

Beschränkungen Unterschiedliche Rechtssysteme können Marktbarrieren

errichten Wortlaut der Art. 45 und 49 AEUV geht über ein bloßes

Diskriminierungsverbots hinaus; extensive Auslegung durch EuGH

Beschränkungen sind Beschränkungen des Zugangs oder Weggangs zu einem

MS durch einen Mitgliedstaat (grenzüberschreitender Sachverhalt)

durch nationale beschränkende Regelungen ohne, dass die Beschränkung durch ein überwiegendes

öffentliches Interesse gerechtfertigt wäre.

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Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten

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Rechtfertigungsprüfung Legitimes Ziel

“ordre public” Öffentliche Ordnung Öffentliche Sicherheit oder Gesundheit

andere zwingende Gründe des Allgemeinwohls Kohärenz des Steuersystems Territorialitätsprinzip, Steuerüberwachung

durch den Vertrag zugelassene Beschränkungen, Verhältnismäßigkeit i. w. S.

Geeignetheit der Beschränkung zur Erreichung des Ziels.

Erforderlichkeit der Beschränkung zur Erreichung des Ziels.

Angemessenheit der Beschränkungen im Verhältnis zur Zielerreichung.

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Rechtfertigungsgründe in der EuGH-Rechtsprechung

Beispiele für vom EuGH nicht zugelassene Rechtfertigungsgründe Auswirkungen auf den Haushalt Fehlender Grad der Harmonisierung der

Steuersysteme Verweis auf in Zusammenhang stehende anderweitige

Vorteile, die kompensierend wirken Beispiel für (restriktiv) angewendete

Rechtfertigungsgründe Eingeschränkte Informations- und Kontrollmöglich-

keiten der Finanzverwaltung (Steueraufsicht) Kohärenz des Steuersystems, Territorialitätsprinzip Missbrauchsvermeidung (nur, wenn Gegenbeweis im

Einzelfall hinreichend einfach zu erbringen)

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Anwendung der Grundfreiheiten auf die direkten Steuern

Grundlegende EuGH-Rechtsprechung auf dem

Gebiet der Einkommensteuer

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Geltung der Grundfreiheiten für direkte Steuern?

Grundsatz: EU hat keine Kompetenz auf dem Gebiet der direkten Steuern

Kompetenz verbleibt ausschließlich bei den Mitgliedstaaten

EuGH: Auch auf Gebieten, auf denen die EU keine

Kompetenzen hat, sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, ihr Recht unionsrechtskonform auszugestalten.

Daher gelten die Grundfreiheiten als grundlegende Vorschriften des Unionsrechts auch für Rechtsgebiete ohne Kompetenzzuweisung an die EU.

Historisch wohl nicht so gewollt, aber heute geltendes Richterrecht

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Der Fall „Schumacker“

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Unbeschränkte Steuerpflicht:

Einkünfte aus unselbständiger Arbeit in Deutschland besteuert (Art. 15 DBA-Belgien)

Beschränkte Steuerpflicht:

Steuerliche Berücksichtigung der persönlichen Situation oblag dem

Wohnsitzstaat und wurde beschränkt Steuerpflichtigen nicht gewährt

Grenzpendler

Belgien Deutschland

EuGH Urteil v. 14.02.1995, C-279/93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 = DB 1995, 407

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Arbeitnehmerfreizügigkeit Art. 45 ff. AEUV

Subjektiver Anwendungsbereich: Unionsbürger (Art. 20 AEUV) Arbeitnehmer sind frei

innerhalb des Territoriums eines Mitgliedstaats jegliches Arbeitsverhältnis einzugehen und sich In jedem Mitgliedstaat niederzulassen

Verstöße Offene Diskriminierung Versteckte Diskriminierung Nicht gerechtfertigte Beschränkungen

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Arbeitnehmerfreizügigkeit Art. 45 ff. AEUV

Rechtfertigungen Ausdrückliche Schranken des Art. 45 Abs. 3 AEUV

Öffentliche Sittlichkeit Ordnung und Sicherheit

Verhältnismäßigkeit der Beschränkung zum legitimen Ziel

im steuerlichen Kontext: Kohärenz des Steuersystems,

Territorialitätsprinzip Steueraufsicht, -überwachung

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Schumacker-Doktrin

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Auf dem Gebiet der direkten Steuern sind die Situationen von unbeschränkt und beschränkt Steuerpflichtigen grundsätzlich nicht vergleichbar.

Steuerliche Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse obliegt grundsätzlich dem Ansässigkeitsstaat.

Bezieht der Steuerpflichtige jedoch kein oder nur einen geringen Anteil seines Einkommens aus seinem Ansässigkeitsstaat und bezieht den ganz überwiegenden Teil seines Einkommens aus einem anderen Mitgliedstaat (Quellenstaat), obliegt dem Quellenstaat ausnahmsweise die steuerliche Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen.

Unterlässt der Quellenstaat dies, handelt er diskriminierend, da die persönlichen Verhältnisse dann in keinem Staat berücksichtigt werden.

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Der Fall „Gschwind”

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Unbeschränkte Steuerpflicht:

Freistellung mit Progressionsvorbehalt auf Deutsche Einkünfte

Beschränkte Steuerpflicht:

Keine steuerliche Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse in

Deutschland

Kein Splittingtarif

Einkommen der Ehefrau: 42% = 27 T€ Einkommen des Ehemanns: 58% = 37 T€

Ehemann = Grenzpendler

Niederlande Deutschland

EuGH-Urteil v. 14.09.1999 C-391/97 – Gschwind, Slg. 1999, I-5453 = DStR 1999, 1610

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Gschwind-Entscheidung bestätigt die Schumacker-Doktrin

Auf dem Gebiet der direkten Steuern sind die Situationen von unbeschränkt und beschränkt Steuerpflichtigen grundsätzlich nicht vergleichbar.

Wenn genügend Einkünfte im Ansässigkeits-staat vorhanden sind, hat der Ansässigkeitsstaat die persönlichen Verhältnisse bei der Besteuerung zu berücksichtigen.

Deshalb sind die absoluten und relativen Einkommensgrenzen in § 1a Abs. 1 EStG gemeinschaftsrechtskonform.

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Beispiel: Mehrstaatenkonstellation

E

E hat Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien. Er ist als Geschäftsführer für drei Kapitalgesellschaften tätig, die jeweils in Belgien, Deutschland und den Niederlanden liegen. Jede Gesellschaft zahlt ihm ein Gehalt iHv 50.000 €. DBAs vermeiden eine Doppelbesteuerung (Freistellung).

1) Wer muss die persönlichen Verhältnisse berücksichtigen?2) Ist es relevant, wenn ein Staat die persönlichen Verhältnisse anteilig berücksichtigt, obwohl er es nicht muss?

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Der Fall „Danner“

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Gesetzliche Rentenversicherung

BerufsständischeRentenversicherung

Beitragsleistung

Beitragsleistung

Finnland Deutschland

Finnisch/Deutscher Doppel-Staatsangehöriger– zog von Deutschland nach Finnland– Beitragsleistungen in Finnland nicht abziehbar

EuGH-Urteil v. 03.10.2002, C-136/00 – Danner, Slg. 2002, I-8147 = DStRE 2002, 1449

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DienstleistungsfreiheitArt. 56-62 AEUV

Gewährleistungsinhalt Aktive Dienstleistungsfreiheit:

Leistender erbringt Dienstleistungen in einem MS, in dem er keinen Betrieb unterhält, oder

Passive Dienstleistungsfreiheit: Leistungsempfänger reist in einen anderen MS als

seinen Wohnsitzstaat, um dort Dienstleistungen zu erhalten

Grenzüberschreitende Dienstleistung, ohne dass tatsächlich ein grenzüberschreitender Reisevorgang vorliegt

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DienstleistungsfreiheitArt. 56-62 AEUV

Anwendungsbereich Sachlicher Anwendungsbereich:

Dienstleistung: Legaldefinition in Art. 57 AEUV Grenzüberschreitender Sachverhalt (Art. 56 Abs. 1 AEUV) Entgeltlichkeit

Persönlicher Anwendungsbereich Natürliche Personen: Unionsbürger (Art. 20 AEUV) Juristische Personen: Zuordnung zur Rechtsordnung eines

Mitgliedstaats (Sitztheorie/Gründungstheorie) Verstöße

Offene Diskriminierung Versteckte Diskriminierung Beschränkungen

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DienstleistungsfreiheitArt. 56-62 AEUV

Rechtfertigungen Geschriebene Rechtfertigungen (Art. 62 AEUV verweist auf Art.

51-54 AEUV): Öffentliche Sittlichkeit Ordnung und Sicherheit Schutz der Gesundheit und des Lebens von

Menschen Ungeschriebene Rechtfertigungen: „Zwingende Gründe des

Allgemeinwohls“ (Cassis de Dijon-Formel) in ständiger EuGH-Rechtsprechung sowohl für Diskriminierungen als auch für Beschränkungen

Verhältnismäßigkeit der Beschränkung zum legitimen Ziel

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Schlussfolgerungen aus dem Fall „Danner“

Art. 56 AEUV steht einer Regelung eines MS entgegen, nach der Beitragsleistungen zu freiwilligen Rentenversicherungen, die an Anbieter anderer MS gezahlt werden, steuerlich nicht berücksichtigt werden, obwohl solche Zahlungen an ansässige Anbieter berücksichtigt würden.

Dienstleistungsfreiheit wird verletzt, indem Steuerpflichtige davon abgehalten werden, Versicherungsleistungen ausländischer Anbieter zu beziehen.

Kohärenz der Steuersysteme kann diese Beschränkung nicht rechtfertigen, weil keine unmittelbare Verbindung zwischen der Abzugsfähigkeit der Beitragsleistungen und der Besteuerung der (ausländischen) Rentenbezüge existiere.

Kritik?

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Der Fall „Turpeinen“

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Staatliche Pensionskasse

Wegzug

Ruhegehalt

Finnland Spanien

Finnische Staatsangehörigezog von Finnland nach Spanien

DBA Finnland-Spanien: KassenstaatsprinzipFinnland: pauschaler Quellensteuersatz 35% statt28,5%

EuGH-Urteil v. 09.11.2006, C-520/04 – Turpeinen, Slg. 2006 I-10685 = DStRE 2007, 862

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Freizügigkeit - Fall „Turpeinen“

Art. 21 AEUV tritt als Auffang-Freizügigkeitsrecht an die Stelle von Art. 45 AEUV (Unionsbürgerstatuts)

Schumacker-Doktrin ist auch im Rahmen des Art. 21 AEUV anwendbar

Persönliche Freizügigkeit wird verletzt, indem der Gebietsfremde steuerlich diskriminiert wird.

Wirksamkeit der Steuererhebung/Steueraufsicht kann diese Beschränkung nicht rechtfertigen, weil Amtshilfe-RL und der Beitreibungs-RL hinreichende Möglichkeiten zur Sachaufklärung und Durchsetzung des Steueranspruchs böten

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Der Fall „Schempp“

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Hr. Schempp

Geschiedene Fr.Schempp

Deutschland

Österreich

Unterhalt

Abzug der Unterhaltszahlung in Deutschland?

Korrespondenzprinzip: Abzugsfähigkeit setzt Versteuerung beim Empfänger voraus

kein Abzug für Unterhaltszahlungen und daher auch keine Versteuerung von bezogenem Unterhalt

EuGH-Urteil v. 12.07.2005, C-403/03 – Schempp, Slg. 2005, I-6421 = DStR 2005, 1265

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Schlussfolgerungen aus dem Fall „Schempp“

Schutzbereich der Grundfreiheiten kann ggf. auch eröffnet sein, wenn die geschützte Person nicht selbst von ihren Grundfreiheiten Gebrauch macht.

Deutschland gewährt Abzug nur, wenn im anderen Mitgliedstaat die Einkünfte besteuert werden – derartige Bezugnahme auf fremdes Steuersystem beinhaltet nach dem EuGH keine Diskriminierung

Unerheblich, ob im Inlandssachverhalt die gleiche Voraussetzung greift.

Grenzüberschreitende Sachverhalte können mangels Harmonisierung weiterhin hinzunehmende Nachteile auslösen.

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Unbeschränkte Steuerpflicht:

Freistellung mit Progressionsvorbehalt auf Deutsche Einkünfte (Art. 20 III DBA-NL)

Beschränkte Steuerpflicht:

Keine steuerliche Berücksichtigung der

persönlichen Verhältnisse

Keine anteiliger Grundfreibetrag

Bruttoeinkünfte 28.000 €

3.000 €

Deutsche Abzugsteuer:- § 50a EStG- 25% der Bruttoeinkünfte- Kein Betriebsausgabenabzug

Der Fall „Gerritse“Niederlande Deutschland

EuGH-Urteil v. 12.06.2003, C-234/01 – Gerritse Slg. 2003, I-5933 = DStR 2003, 1112

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Schlussfolgerungen aus „Gerritse“ Eine Regelung, die (unter bestimmten Umständen) nur die

Einkünfte und keine Betriebsausgaben berücksichtigt, stellt eine Diskriminierung dar, wenn ansässige Steuerpflichtige in einer vergleichbaren Situation zum Betriebsausgabenabzug berechtigt sind.

Die steuerliche Berücksichtigung des Existenzminimums obliegt dem Staat, in dem der Steuerpflichtige des ganz überwiegenden Teil seiner Einkünfte bezieht.

Hinsichtlich des Steuersatzes befinden sich Ansässige und Nicht-Ansässige in einer vergleichbaren Situation. Deshalb ist ein fester Steuersatz für beschränkt Steuerpflichtige grds. diskriminierend, wenn sich unter dem progressiven Tarif des Mitgliedstaats für Ansässige ein niedrigerer Steuersatz ergeben hätte.

Reaktion des JStG 2009 v. 19.12.2008: Abschaffung der Mindestbesteuerung des § 50 III EStG, Möglichkeit einer Nettobesteuerung in § 50a III EStG 2009 statt abgeltende Bruttobesteuerung i.H.v. 15%

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100 %-tige Beteiligung an einerdeutschen Kapitalgesellschaft

T

V

S

V überträgt seine 100%-tige GmbH-Beteiligung zu gleichen Anteilen auf seine Kinder T und S (je 50 %). Diese verpflichten sich zur Erbringung lebenslanger Versorgungsleistungen. Sowohl T als auch S werden bei der GmbH Geschäftsführer. S hat Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in den Niederlanden.

EuGH v. 31.3.2011 – Rs. C-450/09, IStR 2011, 301

Der Fall „Schröder “

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Kapitalverkehrsfreiheit Art. 63-65 AEUV

Anwendungsbereich Beschränkung von Kapitalbewegungen zwischen den

Mitgliedstaaten auch Beschränkungen zwischen Mitgliedstaaten und

Drittstaaten Keine Definition von “Kapitalverkehr” im AEUV Definition abgeleitet aus der Kapitalverkehrsrichtlinie

Verletzungen Diskriminierung des grenzüberschreitenden

Kapitalverkehrs aufgrund von Nationalität Aufenthaltsort Ort der Investition

Beschränkungen 40

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Kapitalverkehrsfreiheit Art. 63-65 AEUV

Rechtfertigung Art. 64 AEUV: sog. „standstill-clause“ Steuervorbehalt des Art. 65 Abs. 1 a) AEUV:

ausdrückliche Rechtfertigung, wenn keine willkürliche Diskriminierung oder “verschleierte Beschränkung” vorliegt

Art. 65 Abs. 1 b) AEUV: öffentliche Ordnung und Sicherheit: effektive Steueraufsicht

Art. 65 Abs. 3 AEUV: Verbot einer verschleierten Diskriminierung/Beschränkung EuGH: innerhalb der EU regelmäßig Verweis auf die

Amtshilferichtlinie Im Verhältnis zu Drittstaaten wohl deutlich kritischer

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Steuerliche Würdigung in Ansehung von S

Beschränkte Steuerpflicht mit seinen Einkünften als Geschäftsführer der GmbH bzw. mit etwaigen Ausschüttungen aus der GmbH

Problem: Gemäß § 50 I 3 EStG ist § 10 I Nr. 1a EStG im Falle der beschränkten Steuerpflicht nicht anwendbar. Im Gegensatz zu T würde S mithin den Sonderausgabenabzug nicht bekommen

Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten?

Problem im Fall Schröder

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Vereinbarkeit der §§ 50 I 3; 10 I Nr. 1a EStG mit den Grundfreiheiten?

1. Schutzbereich

EuGH: Kapitalverkehrsfreiheit betroffen, da Schenkung = vorweggenommene Erbfolge (Problem: Teilentgelt-lichkeit)

2. Eingriff

Mittelbare Diskriminierung aus Sicht des Empfängers des Vermögens? Entscheidende Frage: Befinden sich Gebietsansässige (hier T) und Gebietsfremde (hier S) in einer objektiv vergleichbaren Situation?

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EuGH: Ja, weil es beim Abzug als Sonderausgaben nach § 10 I Nr. 1a EStG um Aufwendungen gehe, die mit Einkünften in einem inneren Zusammenhang stehen. Die Tatsache, dass der dt. Gesetzgeber die Versorgungsleistungen dem subjektiven Nettoprinzip zugeordnet habe, sei irrelevant; es gehe nicht um persönliche Aufwendungen, die von dem Staat zu berücksichtigen seien, der als Ansässigkeitsstaat das Welteinkommen besteuert.

Ungeachtet dessen:

Beschränkung aus Sicht des Schenkers (Übertragung des Vermögens an einen im EU-Ausland ansässigen Angehörigen wird unattraktiv)?

EuGH im Fall Schröder

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Grundfreiheiten und Gemeinnützigkeitsrecht

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„Centro di Musicologoia Walter Stauffer“) -

Centro di Musicologia Walter Stauffer

(Stiftung italienischen rechts)

Italien Deutschland

EuGH v. 14.09.2006 - C-386/04, Slg. 2006 I-8203 = DStR 2006, 1736

Vermietungseinkünfte

Steuerbefreiung des § 5 Abs.2 Nr.3 KStG?

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Folgerungen aus BFH vom 20.12.2006, I R 94/02, BStBl. II 2010, 331

Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit ( Art. 63 AEUV) bei Auslegung nach BMF v. 20.09.2005 Auslegung des § 5 Abs.2 Nr.3 KStG im Sinne der

Kapitalverkehrsfreiheit erforderlich

Einschränkung auf lediglich nationale Zwecke muss gesetzlich geregelt sein

Stiftungszwecke ausschließlich im Ausland schaden nicht der Förderung der Allgemeinheit i. S. des § 52 AO

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Folgerungen aus BFH I R 94/02

Die ausländische Stiftung muss jedoch den Anforderungen an eine deutsche Stiftung entsprechen Die Anforderungen sind zu Überprüfen durch die

deutsche Steuerverwaltung

Durch Amtshilfe der anderen Mitgliedstaaten Durch Mitwirkungspflichten der Stiftung, die

die Steuerbefreiung begehrt nach § 90 AO.

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- „Persche“

Hein Persche

(Spender)

Deutschland Portugal

Sachspende

Spendenabzug nach § 10b EStG?

EuGH v. 27.01.2009 - C-318/07, Slg. 2009 I-359 = DStR 2009, 207

Centro Popular di Lagoa

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Grenzüberschreitende (Sach-)Spenden an in der EU ansässige Körperschaften werden durch die Kapitalverkehrsfreiheit ( Art. 63 AEUV) geschützt Beschränkung auf im Inland ansässige

Spendenempfänger verletzen Art. 63 AEUV Erfordernisse der Steueraufsicht können den generellen

Ausschluss des Spendenabzugs nicht rechtfertigen Nationales Steuergesetz kann aber Anforderungen an den

Nachweis der Gemeinnützigkeit des ausländischen Spendenempfängers stellen, muss nicht die Mittel des grenzüberschreitenden Informationsaustausches (EU- Amtshilfe, s. Kooperations-RL 2011/16/EU) nutzen!

- „Persche“

EuGH v. 27.01.2009 - C-318/07, Slg. 2009 I-359 = DStR 2009, 207

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Abzugsmöglichkeit von Auslandsspenden

Mitgliedstaat ist berechtigt, allgemein den Nachweis über die Gemeinnützigkeit des Spendenempfängers zu verlangen, den er für die Überprüfung notwendig und angemessen hält

Stpfl. trägt die objektive Beweislast

Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen: Die Unterlagen für den Nachweis befinden sich nicht in der Sphäre des Stpfl., sondern in der eines ausländ. Dritten!

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Folgerung: Änderung der §§ 10b I EStG, 9 I Nr. 2 KStG, 9 Nr. 5 GewStG

Gesetz v. 8.4.2010, BGBl. I 386:

Erweiterung auf in EU/EWR-Staaten ansässige Körperschaften, die nach § 5 I Nr. 9, II KStG steuerbefreit wären, wenn sie inländ. Einkünfte erzielen würden

Voraussetzungen: ausländ. Staat leistet nach Maßgabe der Amtshilfe- u. BeitrRL grenzüberschreitende Hilfe

Widerspruch: Art. 63 AEUV schützt auch den Kapital-verkehr mit Drittstaaten. Spenden sind aber nach wie vor nicht abzugsfähig.

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Grundfreiheiten und Erbschaftsteuerrecht

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- „Margarete Block“

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Erblasserin

Deutschland Spanien

Spanien: beschränkte Erbschaftsteuerpflicht = Territorialitätsprinzip bezogen auf das in einer span. Bank gehaltene Kapitalvermögen

EuGH-Urteil v. 12.2.2009, C-67/08 – Block, Slg. 2009 I-883 = DStR 2009, 373

AlleinerbinBlock

DL: unbeschränkte Erbschaftsteuerpflicht = Weltvermögensprinzip, keine Anrechnung spanischer ErbSt n. § 21 II Nr.1 ErbStG i.V. mit §121 BewG

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„Block“-Entscheidung Erbschaft = Kapitalverkehr i.S. des Art. 63

AEUV. Es entsteht zwar eine Doppelbesteuerung. Diese

wird aber nicht durch eine Diskriminierung eines Staates (hier durch DL) ausgelöst, sondern durch die gleichzeitige Ausübung ihrer Steuersouveränität durch 2 Mitgliedstaaten.

EU-Recht zwingt weder zum Abschluss eines ErbSt-DBA noch zur Harmonisierung der ErbSt innerhalb der EU!

EU-Recht zwingt nicht dazu, dass die Verlegung des Wohnsitzes in einen anderen EU-Staat steuerneutral ist!

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Deutschland

Niederlande

Mutter Mattner schenkt das in DL belegene Grundstück; beide leben seit vielen Jahren in den NL

Beschränkte Stpfl. In DL:

Freibetrag nur 2 T€ statt 400 T€

Der Fall „Vera Mattner“EuGH v. 22.4.2010 – C 310/08, Slg. 2010 I-3553 = DStR 2010, 861

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„Mattner“-Entscheidung Schenkung = Kapitalverkehr i.S. des Art. 63

AEUV. DL beschränkt den Kapitalverkehr, indem es an

die Schenkung inländ. Vermögens unter Gebietsfremden eine höhere Steuer knüpft als unter Gebietsansässigen

Rechtfertigung: nicht durch Schumacker-Doktrin; Gefahr kumulierter Steuerfreibeträge (DL+NL); FB-Regelung in DL nimmt aber keine Rücksicht darauf

Auch Kohärenzgedanke rechtfertigt Schlechterstellung der Gebietsfremden nicht

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Folgerung: Ergänzung des ErbStG um § 2 III ErbStG

BeitrRLUmsG v. 7.12.2011, BGBl. I 2592:

Option zur unbeschränkten Steuerpflicht, wenn Erblasser, Schenker oder Erwerber im Zeitpunkt des Erwerbs in einem EU/EWR-Staat ansässig war

Freibeträge nach § 16 I ErbStG sind anwendbar

Widerspruch: Art. 63 AEUV schützt auch den Kapital-verkehr mit Drittstaaten. Gebietsansässige von Drittstaaten sind aber weiterhin von der Option ausgenommen.

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Deutschland

Schweiz

Beschränkte Stpfl. In DL:

Freibetrag nur 2 T€ statt 500 T€

Der Fall „Eheleute Weite“EuGH v. 17.10.2013 – C 181/12, IStR 2013, 954

Eheleute Weite lebten seit Jahren in der Schweiz, der Erblasserin Frau Weite gehörte neben Schweizer Geldvermögen (ca.170 T€), Geldvermögen (ca. 33 T€) und das Grdstck. In Deutschland Alleinerbe Ehemann Weite wird beschränkt stpfl. in DL wegen des geerbten Grdstcks.

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Unternehmensbesteuerung in Europa

Besteuerung von Gesellschaften und

Gesellschaftern

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„P Oy“ – EuGH v. 18.7.2013 – C-6/12, DStR 2013, 1588

P Oy

Ges.-Anteil

Verlustvortrag

Finn. Mantelkaufregelung:

Verlustvortrag geht unter bei Veräußerung

von Ges‘-Anteilen > 50%

aber Dispensfähigkeit bei bestimmten Fallgruppen

Mehrheitsges‘er

A

Frage: Dispens = unzulässige steuerliche Beihilfe?

B

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Entscheidungsgründe P Oy Verlustabzug kann als steuerlicher Vorteil eine

Beihilfe i.S.d. Art. 107 AEUV sein Dazu muss die steuerliche Maßnahme selektiv sein

dazu ist das Referenzssystem („normale Regelung“) zu bestimmen

im zweiten Schritt: Frage der Abweichung von diesem Referenzsystem

Wettbewerbsbeeinträchtigung zwischen den MS Genehmigungsverfahren

- Weites Ermessen, wo außersteuerliche Erwägungen (z.B. Erhalt von Arbeitsplätzen) relevant sind, führt zur Selektivität und Wettbewerbsbeeinträchtigung

- EuGH: Bezugssystem enthalte den Ausschluss des Verlustabzugs, daher sei die Genehmigung eine Abweichung (Fraglich in DL im Zusammenhang mit § 8c Ia KStG)

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KapGes

Belgien

Frankreich

Verkehrswert > AnschaffungskostenWegzugsteuer

auf stille Reserven?

Der Fall „Lasteyrie du Saillant“

> 25% der Anteile

EuGH v. 11.3.2004 – Rs. C-9/02, Slg. 2004 I-2431 = DStR 2004, 551

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NiederlassungsfreiheitArt. 49 ff. AEUV Anwendungsbereich

Sachlicher Anwendungsbereich: NiederlassungAusübung einer wirtschaftlichen TätigkeitMittels einer festen EinrichtungIn stabiler und kontinuierlicher Weise

Persönlicher Anwendungsbereich Natürliche Personen: Unionsbürger (Art. 20 AEUV) Juristische Personen: Zuordnung zur

Rechtsordnung eines Mitgliedstaats (Sitztheorie/Gründungstheorie)

Bereichsausnahme in Art. 51 AEUV Verstöße

Offene Diskriminierung Versteckte Diskriminierung Beschränkungen

64

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NiederlassungsfreiheitArt. 49 ff. AEUV

Rechtfertigungen Geschriebene Rechtfertigungen (Art. 52 Abs. 1 AEUV):

Öffentliche Sittlichkeit Ordnung und Sicherheit Schutz der Gesundheit und des Lebens von

Menschen Ungeschriebene Rechtfertigungen: „Zwingende

Gründe des Allgemeinwohls“ (Cassis de Dijon-Formel) Verhältnismäßigkeit der Beschränkung zum legitimen

Ziel

65

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Schlussfolgerungen aus „Lasteyrie du Saillant“

Wegzugsbesteuerung bewirkt eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV)

Rechtfertigungsgründe: Wegzugsbesteuerung ist kein generelles Mittel gegen die

Steuerumgehung Wegzugsbesteuerung ist nicht erforderlich, um die

Kohärenz des französ. Steuersystems zu sichern: kein angemessenes Mittel, um die während der französ. Steuerpflicht eingetretenen Wertsteigerungen zu besteuern

Nicht ausreichend: Steuerstundung gegen Sicherheitsleistung, da gegenseitige EG-Amtshilfe möglich sei

Reaktion durch das sog. SEStEG v. 7.12.2006: - § 6 V AStG: Stundung des Entstrickungsgewinns- §§ 4 I 4, 4g EStG: Entnahmegewinn innerhalb von 5 Jahren

als Ausgleichsposten aufzulösen

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67

„National Grid Indus“- EuGH (Große Kammer) v. 29.11.2011 – C-371/10, Slg. 2011 I-12273 =

IStR 2012, 27

Großbritannien

Niederlande

Wegzugsteuer auf stille Reserven in NL?

Forderung: Kursgewinn

National Grid Indus B.V.

National Grid Company plc.

Sitzverlegung nach GB, Betriebsstätte nur noch in GB

Besteuerungsrecht DBA NL/GB nur noch GB

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Entscheidungsgründe „National Grid Indus“

Niederlassungsfreiheit Art. 49, 54 AEUV verbietet auch, dass der Herkunftsstaat die

Niederlassung eines Staatsangehörigen/inländ. KapGes. in anderem Mitgliedstaat behindert

sofortige Besteuerung des bisher nicht realisierten Wertzuwachses kann Gesellschaft vom Wegzug in einen anderen MS abhalten

Rechtfertigung: zwingende Gemeinwohlgründe können Bedürfnisse der Aufteilung der Steuerhoheiten sein aber Verhältnismäßig-keitsgrundsatz zu wahren!

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Entscheidungsgründe „National Grid Indus“

Rechtfertigungsgrund „Aufteilung der Steuerhoheiten“ – „Schranken-Schranke“ des Verhältnismäßigkeitsprinzips Wirkt auf den Zeitpunkt der Wertzuwachsbe-

steuerung: Besteuerung bereits bei Wegzug gefährdet Liquidität des Unternehmens

Lt. EuGH ist sofortige Besteuerung nicht notwendig, um Aufteilung der Steuerhoheiten zu bewirken; (Festsetzung) reiche aus (Wahlrecht der Sofortbesteuerung)

Risiko der Nichteinziehung: dem kann durch Sicherheitsleistung begegnet werden; außerdem hilft BeitrRL 2010/24/EU

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EuGH v. 06.06.2000 – C-35/98 -, Slg. 2000 I-4113 = DStRE 2000, 742 „Verkooijen“

Niederlande

Belgien

Steuerbefreiung für einen niederländ. Anteilseigner, wenn der ausgeschüttete Gewinn keiner niederländischen Steuer, aber einer

belgischen Quellensteuer von 25% unterlag?

Petrofina NV

Gewinnausschüttung

Mr. Verkooijen

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„Verkooijen“-Entscheidung Wird eine Steuerbefreiung für Stpfl., die

Ausschüttungen für Anteile an eine Gesellschaft, die in einem anderen MS sitzt, versagt, liegt darin eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit i.S. des Art. 63 AEUV.

Effekt: Niederländ. Staatsangehörige werden davon abgehalten, ihr Kapital in Unternehmen mit Sitz in anderen MS‘en zu investieren.

Keine Rechtfertigung durch das Kohärenz-prinzip weil kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Steuerbefreiung und der Dividenden-besteuerung existiere (separate Steuern die unterschiedlichen Stpfl. auferlegt werden).

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EuGH v. 7.9.2004 – C-319/02, Slg. 2004 I-7498 = DStRE 2004, 1220 -

„Manninen“

Finnland

Schweden

Steueranrechnung für einen finnischen Anteilseigner im finnischen Anrechnungsverfahren für Ausschüttungen einer schwedischen AG,

deren Gewinn mit schwedischer Körperschaftsteuer belastet ist?

schwedische AG

Gewinnausschüttung

Petri Manninen

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„Manninen“ Entscheidung – I. Vergleichspaar: Finnischer Anteilseigner hält

Anteile an finnischer oder schwedischer AG ► Das Halten von Anteilen an schwedischer

Gesellschaft ist weniger günstig wegen der Verweigerung der Steueranrechnung

Effekte: Erschwerung für schwedische Gesellschaften, Kapital

aus Finnland zu akquirieren Hält finnische Anteilseigner von Investments in

Schweden ab ► Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit

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„Manninen“ Entscheidung – II.

Keine ausdrückliche Rechtfertigung i.S. des Art. 65 I AEUV

Abgelehnte Rechtfertigungsgründe: Verlust an nationalem

Steueraufkommen Territorialitätsprinzip Kohärenz des des finnischen

Steuersystems

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Folgerungen aus „Manninen“

MS mit KSt-Anrechnungsverfahren müssen ausländ. KSt anderer MS anrechnen.

KSt-Anrechnungsverfahren ist bei rein nationaler Ausrichtung mit EG-Recht unvereinbar

Aber: MS wollen nicht das Steueraufkommen anderer MS finanzieren

Problem: KSt-Anrechnungsverfahren ist die konsequenteste Methode, die wirtschaftl. Doppelbelastung zwischen KapGes u. Ges‘er zu vermeiden

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Folgerungen aus „Manninnen“

EuGH verneinte die Rechtfertigungsgründe des Kohärenz- u. Territorialitätsprinzips

Frage: Was bleibt als dogmatischer Inhalt dieser Rechtfertigungsgründe?

In Abweichung zu Verkooijen hat der EuGH hier wenigstens nicht mehr darauf abge-stellt, dass das Kohärenzprinzip bereits wegen dem Vorliegen zweier unter-schiedlicher Steuersubjekte ausscheide.

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Eigene Ansicht – Seer, European Taxation 2006, 470 ff.

Kohärenz meint Konsequenz u. Folgerichtigkeit des einzelnen nationalen Steuersystem als Konkretisierung des Territorialitätsprinzips und Ausdruck der Souveränität der nationalen MS im Bereich der direkten Steuern

Eine formale Sicht der Kohärenz überzeugt nicht: Systemkonsequenz ist nicht auf eine Steuerart und einen Steuerschuldner beschränkt

Grundfreiheiten und nationale Steuersystem-konsequenz müssen zu einem möglichst schonenden (neutralen Ausgleich) gebracht werden

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EuGH v. 6.3.2007- C 292/04, Slg. 2007 I-1835 = DStR 2007, 485 u. EuGH v. 30.6.2011 – C-262/09, DStR 2011, 1262

„Meilicke I+II“

Deutschland

Andere MS’en

KSt-Anrechnung für einen deutschen Anteilseigner, der Ausschüttungen ausländischer AG’en erhält, die in den anderen

MS’en dort der KSt unterlegen haben?

Dänische u. niederländ. AG

Gewinnausschüttungen

Wienand Meilicke

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„Meilicke“ - Entscheidungen

Parallele zur Meilicke-Entscheidung Wirkung der EuGH-Entscheidung = ex tunc Begrenzungs-Antrag Deutschlands:

Fiskalische Auswirkungen seien zu groß Deutschland habe die KSt-Anrechnung im

Vertrauen auf die Europarechtskonformität erlassen

Seit der Verkooijen-Entscheidung konnte die deutschen Bundesregierung nicht mehr länger auf die Europarechtskonformität vertrauen

Page 79: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

„Meilicke“ - Entscheidung

Auffassung der GAin Stix-Hackl (versus früheren GA Tizzano) wurde bestätigt keine Begrenzung der Urteilswirkungen des

EuGH

Evaluation Die Position des EuGH im Verhältnis zu den MS

wäre deutlich geschwächt Rechtsfolgenlotterie ist verhindert worden!

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Niederlande

Bosal Holding N.V.

Abzug der Finanzierungs-kosten als Betriebsaus-gaben?

Tochterges. 1

Ausschüttung

„Bosal“ – EuGH v. 18.9.2003 -168/01, Slg. 2003 I-9430

……...

In 9 anderen Mitgliedstaaten:

Tochterges. 2

Tochterges. 3

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Entscheidung - „Bosal“

Mutter-Tochter-Richtlinie ermöglicht den Ausschluss von Holdingkosten vom Abzug auf der Ebene der Mutterges. aber: Grundfreiheiten sind vorrangig gegenüber der

Richtlinie! Abzugsverbot für Holdingkosten = Beschränkung

der Niederlassungsfreiheit bei Gründung von Tochterges. in anderen MS, Art. 49, 54 AEUV Keine Rechtfertigung durch das Kohärenzprinzip (NL-

Steuersystem), weil kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen einer Steuervergünstigung und dem Abzugsverbot bestehe (unterschiedliche Stpfl. und unterschiedliche Steuern)

Page 82: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

Deutschland

Österreich

Keller Holding GmbH

Keller Grundbau GmbH

Keller Wien GmbH

Gewinnausschüttung

Gewinnausschüttung

„Keller Holding“ – EuGH v. 3.2.2006 – C-471/04, Slg. 2006 I-2107 = BStBl. II 2008, 834

Abzug der Finanzierungs-kosten als Betriebsaus-gaben?

Page 83: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

Keller-Holding-Entscheidung

Die Entscheidungsgründe „Bosal“ gelten auch für indirekte Holdings

Abzugsverbot für Holdingkosten = Beschränkung der Niederlassungsfreiheit bei Gründung von Tochterges. in anderen MS, Art. 49, 54 AEUV keine Rechtfertigung durch das Kohärenzprinzip bzg.

des deutschen Steuersystems, weil kein unmittelbarer Zusammenhang i.S. einer Korrespondenz zwischen der Abzugsfähigkeit der Finanzierungskosten der Mutterges. und der Steuerbarkeit des Gewinns der Tochterges. bestehe

Aus demselben Grund wird die Beschränkung auch nicht durch das Territorialitätsprinzip gerechtfertigt

Page 84: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

Lankhorst-Hohorst GmbH

Lankhorst-Hohorst B.V.

Lankhorst Taselaar B.V.

100 %

100 %Darlehen

Zinsen

Deutschland Niederlande

„Lankhorst-Hohorst“- EuGH v. 12.12.2002 – C-324/00 Slg. 2002 I-11802 = DStR 2003, 25

Page 85: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

„Lankhorst-Hohorst“-Entscheidung

Vergleichspaar: Deutsche Enkelges. mit Deutscher Mutter/EU-Mutter

Diskriminierung/Beschränkung (Art. 49, 54 AEUV)

Keine Rechtfertigungsgründe Nationale Steuerausfälle

Here: keine Missbrauchsintention ersichtlich Here: keine bloß künstliche Gestaltung

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„Lankhorst-Hohorst“-Entscheidung

Kohärenz Idee = jeder im Inland erzielte Gewinn hat einmal einer

inländischen Steuer zu unterliegen Dieses Prinzip kann der Anteilseigner leicht durch

eine Darlehenskonstruktion umgehen: Steuerüberwachung

EG-Amtshilfe-RL

Konsequenz des nationalen Gesetzgebers: Ausdehnung des § 8a KStG auf rein nationale Sachverhalte (heute: sog. Zinsschranke - § 4h EStG)

Page 87: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

Unternehmensbesteuerung in Europa

Grenzüberschreitende Zuordnung von Gewinn

und Verlusten

Page 88: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

Großbritannien

Niederlande

Marks & Spencer plc

Marks & Spencer International Holding Ltd.

Marks & Spencer S.A.

Marks & Spencer Netherlands B.V.

Marks & Spencer N.V.

Marks & Spencer GmbH

Frankreich Belgien Deutschland

Verluste

VerlusteVerlusteVerluste

keine grenzüber-schreitende Berücksichtigung von Verlusten

„Marks & Spencer“ – EuGH v. 13.12.2005, C-446/03, Slg. 2005 I-10866 = DStR 2005, 2168

Page 89: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

Rechtfertigungsgründe -„Marks & Spencer“ Niederlassungsfreiheit Art. 49, 54 AEUV:

Territorialitätsprinzip: Aufteilung der Steuergewalt zwischen den MS: nur

inländ. Gewinn, dann ggf. auch kein Verlustabzug Risiko einer doppelten Verlustberücksichtigung Risiko einer Steuerumgehung

Unterschied ist gerechtfertigt! Aber Verhältnismäßigkeitsprüfung:

beschränkende Maßnahme darf nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die verfolgten Ziele zu erreichen (Suche nach weniger belastenden Maßnahmen).

Page 90: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

Folgerungen aus „Marks & Spencer“

Sitz-Staat der Mutterges. muss ultima ratio die Verluste berücksichtigen, wenn keine Möglichkeit mehr bei den ausländ. Tochterges. besteht

Nachweispflichtig ist das Unternehmen Problem: Unionsrechtswidrigkeit hängt

vom Umfang des Verlustabzugs der MS der Tochterges. ab!

Page 91: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

„A Oy“ – EuGH v. 21.2.2013 – C-123/11, DStR 2013, 392

A OyFinnland

Betriebsstätten

Schweden

nur VerlusteKeine Berücksichtigung des Verlustes:

a)Schweden: kein Gewinn

b)Finnland: keine grenzüberschreitende Verlustverrechnung

Tochter A Oy-

Schweden

Fusion

Page 92: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

Folgerungen aus „A Oy“ Gleichstellung von ausländ. mit inländ.

Tochtergesellschaften Mutterges. muss ultima ratio die Verluste

berücksichtigen, wenn keine Möglichkeit mehr bei den ausländ. Tochterges. besteht (finale Verluste)

Nationale Gerichte haben zu prüfen, ob A Oy nachgewiesen hat, dass alle Möglichkeiten zur Verlustnutzung in Schweden ausgeschöpft worden sind

Verlustfinalität wird aber nicht allein durch umwandlungsbedingten Untergang begründet

Page 93: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

„Lidl Belgium “ – EuGH v. 15.05.2008 – C-414/06 Slg 2008 I-3601 = DStR 2008, 1030

Lidl Belgium (GmbH & Co. KG)

Deutschland

Betriebsstätte

Luxemburg

Verlust

Keine Berücksichtigung des Verlustes

Verlustverrechnung in späteren Besteuerungszeiträumen

Page 94: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

EuGH v. 15.05.2008 – C-414/06 „Lidl Belgium “ - Slg 2008 I-3601

Übertragung der Grundsätze von „Marks & Spencer“ auf Betriebsstätten

Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ist gerechtfertigt Aufteilung der Besteuerungsbefugnis unter den

MS Risiko der doppelten Verlustberücksichtigung Verhältnismäßigkeitsprüfung ist vorzunehmen.

Page 95: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

Folgerungen aus „Lidl Belgium“

Gleichstellung von ausländischen Betriebsstätten mit ausländischen Tochtergesellschaften Sitz-Staat des Stammhauses muss ultima ratio

die Verluste berücksichtigen, wenn keine Möglichkeit mehr bei den ausländ. Betriebsstätten besteht (finale Verluste)

Nachweispflichtig ist das Unternehmen Gemeinschaftsrechtswidrigkeit hängt vom

Verlustabzug im Betriebsstättenstaat ab.

Page 96: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

Weitere Entscheidungen zur grenzüber-schreitenden Verlustverrechnung

EuGH v. 23.10.2008 – C-157/07, Slg. 2008 I-8061 = DStRE 2009, 556 (Krankenheim Ruhesitz Wannsee)

EuGH v. 25.2.2010 – C- 337/08, Slg. 2010 I-1215 = DStR 2010, 427 (X-Holding BV)

Page 97: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

Unternehmensbesteuerung in Europa

Grenzüberschreitende Zuordnung von Gewinnen u.

Verlusten–

“Controlled Foreign Companies”

Page 98: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

CFCAktives und passives Einkommen

Deutsches AStG Klassifizierung von Einkommen

Aktive Einkünfte: Produktion u.ä. Passive Einkünfte: Kapitalüberlassung u.ä.

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GB – Steuersatz 55%

Irland (IFSC) –

Steuersatz 10%

Cadbury Schweppes plc

Cadbury Schweppes Overseas Ltd.

Cadbury Schweppes Treasury Services

Cadbury Schweppes Treasury International

VerlusteGewinne

„Cadbury Schweppes“ – EuGH v. 12.9.2006, C-196/04, Slg. 2006 I-7995 = DStR 2006, 1686

Page 100: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

Entscheidungsgründe „Cadbury Schweppes“

Anwendung der Grundfreiheiten Niederlassung in einem MS, um eine niedrige

Besteuerung auszunutzen, stellt noch keinen Missbrauch von Grundfreiheiten dar

GB: wenn Steuer > 75% der GB-Steuer, keine Zusatz „CFC“-Steuer ist anwendbar; anders wenn Steuer < 75% der GB-Steuer

Eine derartige CFC-Gesetzgebung kann die Ausübung der Niederlassungsfreiheit hindern → Beschränkung der Art. 49, 54 AEUV

Page 101: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

Folgerungen von „Cadbury Schweppes“

Rechtfertigung: zwingende Gründe des öffentlichen Interesses = Steuerumgehung Verhältnismäßigkeitsprüfung = 3 Elemente

öffentliches Interesse ist zu definieren Mittel muss zur Verwirklichung des öffentlichen Interesses

geeignet sein Eingriff in die Grundfreiheit darf nicht über das erforderliche

Maß hinausgehen Es gibt keine generelle Vermutung der

Steuerhinterziehung Maßnahme muss sich speziell gegen rein künstliche

Gestaltungen richten Echte Niederlassung (= tatsächliche Ausübung einer

festen Einrichtung auf unbestimmte Zeit) fällt nicht darunter

Page 102: Europäisches Steuerrecht Prof. Dr. Roman Seer Lehrstuhl für Steuerrecht Sommersemester 2014

Folgerungen aus „Cadbury Schweppes“

Wirtschaftlicher Substanztest Niederlassung verfolgt eigenständiges wirtschaftliches

Ziel Niederlassung ist sachlich u. personell in für die

wirtschaftliche Aktivität angemessener Weise ausgestattet

Ausgestaltung CFC-Gesetzgebung Steuerumgehung muss für jeden Fall analysiert

werden Keine generelle Umgehung ohne Möglichkeit

des Gegenbeweises der wirtschaftliche Gründe des Gegenbeweises der hinreichenden Ausstattung

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Reaktion des deutschen Gesetzgebers im JStG 2008

§ 8 II AStG: Entlastungsbeweis einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit

Voraussetzung: EG-Amtshilfe-RL 77/799/EWG v. 19.12.77 oder Amtshilfe-Abkommen ermöglichen gegenseitige Auskünfte der MS

BMF-Schreiben BStBl. I 2007, 99

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„Columbus Container Services“- BFH v. 21.10.2009, BStBl. II 2010, 774

Kommanditgesellschaft belgischen Rechts

GesellschafterPersonengesellschaft

Steuersatz < 30 %

Belgien

DeutschlandAnwendung § 20 Abs.2 AStG a.F.?(Anrechnungsmethode)

(Anschlussurteil zu EuGH v. 06.12.2007 – C 298/05 „Columbus Container Services“, Slg. 2007, I-10451 = DStR 2007, 2308)

Gewerbliche Einkünfte

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„Columbus Container Services“- BFH v. 21.10.2009, BStBl. II 2010, 774

Entscheidung des EuGH v. 06.12.2007, Slg. 2007, I- 10451 (Vorlage des FG Münster): Niederlassungsfreiheit Art.49 AEUV und

Kapitalverkehrsfreiheit Art.63 AEUV stehen den Umschaltklauseln des § 20 Abs.2, 3 AStG a.F. nicht entgegen.

BFH: Verstoß gegen Niederlassungsfreiheit bei Bestehen des sog. Motivtestes Nach Ansicht des BFH ist die Vorlagefrage und

damit die Entscheidung unvollständig, da keine Einbeziehung der §§ 7 ff. AStG a.F

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Folgerungen aus BFH v. 21.10.2009

§ 20 Abs.2 AStG ist nicht anzuwenden, wenn der Motivtest bestanden wird. § 20 Abs.2, 3 AStG ist eine Vorschrift zur Verhinderung

von Missbrauch §§ 7 AStG sind tatbestandliche Voraussetzung für § 20

Abs.2, 3 AStG Rechtsgrundsätze aus „Cadburry Schweppes“ sind auch

in diesem Fall anzuwenden Der sog. Motivtest ist EU- rechtskonform in die Regelung

hineinzulesen. Rechtslage eindeutig nach BFH, daher keine

erneute Vorlage an EuGH