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Evangelisch-reformierte Kirche
Einführungsgottesdienst für Kirchenpräsident Dr. Martin Heimbucher
27. November 2013 – Große Kirche in Leer
Martin Heimbucher: Predigt über Epheser 4,15
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des
Heiligen Geistes sei mit uns allen!
„Gemeinden müssen wachsen wollen!“
Erinnern Sie sich?
So stand es, liebe Gemeinde, herausfordernd in dem Diskussionspapier „Auftrag, Weg und
Ziel“ der Evangelisch-reformierten Kirche aus dem Jahre 1998 – 15 Jahre ist das jetzt her. Die
Provokation hat Schule gemacht in der gesamten Evangelischen Kirche in Deutschland, wenn
auch nicht überall im Sinne ihrer reformierten Erfinder.
Acht Jahre später proklamierte auch das so genannte „Impulspapier“ des Rates der EKD als
Leitlinie für das Engagement der evangelischen Kirche ein „Wachsen gegen den Trend“. Kühn
avisierte man gegen ein stetiges Schrumpfen eine Steigerung der Zahlen bis zum Jahr 2030:
Alle Kinder von Kirchenmitgliedern sollten getauft, alle Ehen kirchlich geschlossen und alle
evangelischen Toten mit einem Gottesdienst bestattet werden. Die Teilnahme an den
Gottesdiensten solle verdoppelt, der prozentuale Anteil evangelischer Christen an der
Gesamtbevölkerung immerhin gehalten werden.
„Gemeinden müssen wachsen wollen.“ Bravo sage ich, auf so eine Formulierung muss man
erst mal kommen. Und sie ist ja wahr: Das Evangelium, die gute Nachricht von Jesus Christus
für alle Menschen, drängt uns hinaus über den Tellerrand der eigenen Gemeinde. Wir haben
den Leuten etwas Gutes zu sagen und zu bringen: die Liebe Gottes in Wort und Tat. Dürfen
wir dann nicht auch erwarten und darauf hinarbeiten, dass sie über kurz oder lang zu uns
kommen und sich fröhlich verstehen als evangelische Christinnen und Christen?
Andererseits: Was ist das eigentlich für eine merkwürdige Zusammenballung von
Hilfsverben: „Müssen“ wir wirklich nur „wollen“, um wachsen zu können?
Unterbrechung
Vorgestern Mittag um Zwölf gab es eine unerwartete Unterbrechung der Arbeit im
Kirchenamt in der Saarstraße. Gleich beim Empfang war eine seltene Szene zu erleben:
Sechs, sieben, acht Erwachsene, vor allem Frauen, zwei Männer waren auch dabei, standen
still und verzückt im Kreis. In ihrer Mitte, auf dem Schoß von Frau Striek, ein zehn Tage alter
kleiner Junge, Mattis. Und Mattis schlief.
Sie können sich vorstellen, da sind dann – ausgesprochen oder still – viele gute Wünsche im
Raum: für das Kind, für seine Eltern, für die Welt, in die Mattis hineingeboren wurde. Sei
behütet, kleines Wesen, „sei willkommen hier auf Erden, du sollst werden glücklich!“
(Gerhard Schöne) Aber ich sage Ihnen: Niemand von uns wäre auf die Idee gekommen, dem
kleinen Jungen zuzuflüstern: „Mattis, du musst wachsen wollen!“
„Wachsen gegen den Trend“?
Und dann: „Wachsen gegen den Trend“? Vielleicht muss man sich ja wirklich große Ziele
setzen, um wenigstens einen Teil davon zu erreichen. Aber das Ziel, den prozentualen Anteil
der evangelischen Christen an der Gesamtbevölkerung zu halten, hat seine Tücken. Welche
Vorstellung von der Entwicklung unserer Gesellschaft steht eigentlich hinter einem solchen
Vorsatz? Was wäre denn dann z.B. mit der römisch-katholischen Kirche, oder was hieße das
für die Muslime? Soll deren prozentualer Anteil auch möglichst gleich bleiben - oder doch
lieber schrumpfen, damit wir Evangelischen unseren jedenfalls halten können? Und wer
sollte das eigentlich steuern? Welches Bild von Kirche leitet dieses Ziel? Sollte ausgerechnet
die evangelische Kirche zurückfallen in ein Denken im nationalen Horizont und fixiert auf die
Selbsterhaltung ihres Mitgliederbestandes?
Ein biblisches Bild vom Wachsen
Liebe Gemeinde, auch die Bibel spricht allerdings vom „Wachsen“ der Gemeinde. Ein Vers
aus dem Epheserbrief hat mich in den Wochen vor dem Amtsantritt in Leer begleitet: „Lasst
uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen – wachsen! – in allen Stücken zu dem hin,
der das Haupt ist, Christus.“
Dem Epheserbrief steht das Bild eines Leibes vor Augen, der heranwächst, so wie ein Kind an
Leib und Gliedern größer und kräftiger wird und heranreift zum Körper eines
ausgewachsenen Menschen. Überblendet wird diese Vorstellung des Leibes aber von dem
anderen Bild eines unsichtbaren Bauwerks, eines einzigartigen Tempels aus lebendigen
Steinen, zu dem die Gemeinde Jesu Christi aufgebaut wird. Es sind lebendige und
dynamische Bilder von Gemeinde. Freilich ist hier weder von „Wollen“ noch von „Müssen“
die Rede.
Wie wächst ein menschlicher Leib? Er wächst in einer eigentümlichen Verbindung aus
Empfangen und Aktivsein. Ein Kind wächst heran, indem es von den Eltern genährt wird an
Leib und Seele, und indem es sich selber stärkt durch Bewegung und Kommunikation. Auch
als Erwachsene noch werden wir fit durch beides: durch körperliche und geistige Aktivität
wie durch Ruhe und Regeneration. Wenn es gelingt, ist Wachstum ein lebendiges
Wechselspiel von Aktivsein und Passivsein, von Empfangen und von Tun. Der Epheserbrief
meint nun: Das ist durchaus vergleichbar mit dem Wachsen der Gemeinde Jesu Christi.
Unser Wachstum ist beides zugleich: eine unverfügbare Gabe, ein Geschenk zum einen; und
zum anderen eine verantwortliche Aufgabe, ein Projekt.
Eine menschliche Größe, kein Ideal
Wichtig ist mir: Auf die Gemeinde wird hier nicht ein Idealbild projiziert. Vielmehr wird sie
darauf angesprochen, was sie von ihrem Ursprung her ist. Auf einen Menschen bezogen,
heißt das: Mensch, werde, der du bist! Miss dich nicht an den Bildern des derzeit gültigen
Schönheitsideals! Das bist nicht Du! So wie Du bist, bist du ein von Gott geliebter Mensch. In
den Augen dessen, der Dich liebt, bist Du schön. So also sollen wir auch die Gemeinde
ansehen: Wir messen sie nicht an einem 08-15-Ideal. Jede Gemeinde ist unverwechselbar.
Denn sie besteht aus unverwechselbaren Menschen. Sie hat einen einzigartigen Ort, an dem
sie lebt, und einen einzigartigen Auftrag an den ihr anvertrauten Menschen.
Die Gemeinde: ein Leib. Die Gemeinde: ein Haus aus lebendigen Steinen. „Erbaut auf dem
Grund der Apostel und Propheten, da Christus der Eckstein ist“, wie es der Epheserbrief an
anderer Stelle (2, 20) bildhaft ausdrückt.
Es sind Menschen, auf denen dieser lebende Bau gegründet ist. Aus ihrem Lebenszeugnis,
aus ihrem Wort und aus ihrer Tat erfährt die Gemeinde Kraft und Wachstum.
Qualitatives Wachstum
Lebendig und beweglich ist diese Vision von Kirche. Das Bild von dem Grundstein Jesus
Christus darf nicht fundamentalistisch missverstanden werden. Denn auf Beton wächst nur
Beton. Die Hingabe Christi aber, von der die Kirche lebt, ist ein lebendiges und Leben
schaffendes Geschehen. Die Kirche ist kein Gebäude aus in Stein gemeißelten Sätzen.
Vielmehr ist sie das Geschehen einer lebendigen Interaktion. Und die Gemeinde wächst,
indem sie zunimmt in dieser Kommunikation Jesu Christi. Es handelt sich nicht zuerst um ein
quantitatives, sondern um ein qualitatives Wachstum. Nicht die Zahlen zählen - es zählt: die
Botschaft.
Die mit ihrer Taufe in Christus „eingeleibt“ sind, wie es unser Heidelberger Katechismus (in
Frage 74) sagt, sind hineingenommen in ein Wachstum, bei dem wir „mehr und mehr“ durch
Christus erneuert werden an Leib und Gliedern. Und dann können wir gar nicht anders, als
„Frucht der Dankbarkeit“ zu bringen. Dann mag es sein, ja dann wird es sein, dass eine von
Christus her und in seinem Geist wachsende Gemeinde anziehend wirkt, dass sie Menschen
anspricht und um ihre Botschaft sammelt. Aber das eine erwächst aus dem anderen und
nicht umgekehrt.
Andernorts versucht man es ja anders herum: So genannte „Megachurches" messen ihren
Erfolg, ja ihre Christlichkeit, an der Zunahme und Zahl der Gemeindeglieder – in den USA gibt
es das und die Teilnehmer der ökumenischen Versammlung in Busan haben kürzlich die
südkoreanische Variante dieses Konzepts kennen gelernt. Ich halte diese Orientierung der
Kirche an ihrer zahlenmäßigen Zunahme für einen Trugschluss. „Trachtet zuerst nach dem
Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“ (Mt. 6,33)
Was aber bedeutet dieses intensive Wachstum von Christus her und auf Christus hin
konkret? Der Epheserbrief bietet uns nun selber eine Formel an von hoher Dichte:
„Wahrhaftig sein in der Liebe“. Das ist der Schlüssel zum Geheimnis des Wachstums der
Gemeinde Jesu Christi.
Wahrhaftig sein
Lassen Sie uns wahrhaftig sein! Lassen Sie uns genau hinschauen und sagen, was Sache ist.
Aber wird nicht gerade unter Christenmenschen oft um den heißen Brei herumgeredet –
man will ja einander nicht zu nahe treten.
Liebe Gemeinde, Gott tritt uns nahe. Er ist der Wahrhaftige. Bei aller Liebe hält er mir den
Spiegel vor und sagt mir die Wahrheit. Diese Wahrheit ist nicht immer bequem und
manchmal ziemlich anstrengend. Bei Sándor Márai, dem ungarischen Schriftsteller, las ich
die Zeilen: „Ja, Gott ist ein stiller Teilhaber bei all unseren Geschäften. Fordert genaue
Abrechnung. Er ist hart und objektiv, nicht empfindsam, nicht teilnahmsvoll. Vorsicht, wenn
du mit ihm teilst.“
(aus Sándor Márai: Himmel und Erde, Budapest 1942 /München 2001, 10)
Die Wahrheit über uns lautet zum Beispiel: In den weiter werdenden Horizonten unserer
Kultur werden die westlich geprägten Kirchen kleiner, jedenfalls werden wir an Zahlen
abnehmen – während anderswo, zum Beispiel in China, das Evangelium von Jesus Christus
eine erstaunliche Attraktivität und Ausbreitung erfährt. Aber wo wäre Christen eigentlich
eine Mehrheit verheißen? In der Bibel jedenfalls nicht. Hier höre ich andere Verheißungen:
„Salz der Erde“ sind wir, ja sogar „Licht der Welt“, so ruft der Bergprediger es uns zu (Mt. 5).
Ganze zehn Gerechte würden am Ende ausreichen, um Sodom vor dem Untergang zu
bewahren (vgl. 1. Mose 18). Liebe Gemeinde, es gibt sie, diese Gerechten, in jeder Stadt und
in jedem Dorf. Einen dieser Gerechten an unserer Seite zu haben, wird mehr bewirken als
alles Drängen nach gesellschaftlicher Macht.
Und die Wahrheit über uns Christenleute in Mitteleuropa lautet zum Beispiel: Wir sind
verunsichert über unseren eigenen Glauben. Vielfach abgeschnürt und zum Teil verdorrt sind
die Wurzeln, aus denen sich der Glaube nährt. Die biblischen Geschichten über Gott und die
Welt sind dem durchschnittlichen Erwachsenen in unserem Land kaum noch bekannt. Darum
fehlt auch die Übung, sie als Geschichten über unser eigenes Leben zu verstehen. Unter der
Last einer kirchlichen Schuldgeschichte denunzieren wir selber den Hinweis auf die
Einzigartigkeit Jesu Christi als religiösen Imperialismus. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Mit
dem Hinweis auf Christus holt sich die Christenheit selber die größte Kritik an den Hals, die
man sich denken kann. Das Sündenbekenntnis am Anfang unserer Gottesdienste ist keine
klerikale Anmaßung, sondern das Angebot, im Angesicht des liebenden Gottes zur Wahrheit
über uns selber vorzudringen.
Und die Wahrheit über uns lautet auch: Wir leben hier in vergleichsweise üppigem
materiellen Wohlstand auf Kosten anderer, genauer gesagt: auf Kosten des Hungers und der
materiellen Verarmung anderer. Das gilt zunächst für unser Wirtschaften im globalen
Zusammenhang. Und es macht diesen Umstand keineswegs erträglicher, dass auch in
unserem Land die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergeht.
Aber: „Ich bin Leben, das Leben will, inmitten von Leben, das Leben will“, so Albert
Schweitzer. Diese Elementarformel ökologischer und sozialer Bewusstheit haben wir noch
nicht ansatzweise auf unsere Situation hin durchbuchstabiert. Denn sie fordert von uns ein
Umdenken und ein Umkehren, dessen Ausmaß und Konsequenzen wir noch gar nicht ahnen.
In der Diagnose der Misere kann eine Klimaschutzkonferenz durchaus Einigkeit erzielen.
Wenn es aber an die Frage geht, welchen Beitrag ein Land leisten kann, dann ist wieder jeder
nur sich selbst der Nächste.
In der Liebe
Die Gemeinde Jesu Christi nennt solche Wahrheiten beim Namen, weil sie die unbequeme
Wahrheit Gottes zuerst über sich selber gelten lässt. Wahrhaftig-keit aber ist nur die eine
Seite jenes dynamischen Geschehens, das die Gemeinde wachsen lässt. Wahrhaftigkeit, die
sich absolut setzt, wird zur Selbstgerechtigkeit. Gott mag „hart und unbestechlich“ sein, wie
Sándor Márei sagt, „unempfindsam und teilnahmslos“ aber ist er beileibe nicht. Gottes
Wahrhaftigkeit bleibt „in der Liebe“. Dazu ist Jesus Christus in die Welt gekommen.
In dieser Liebe hat Gott menschliche Gestalt angenommen und einen unauflöslichen Bund
mit den Menschen geschlossen. Der Epheserbrief zögert nicht, zur Illustration dieser
leidenschaftlichen Zuwendung Gottes zu den Menschen daran zu erinnern, was die
intensivste Erfahrung der Liebe in unserem Leben ist: Dem Menschenpaar, Adam und Eva, ist
jene Erfahrung des Einsseins zweier gleichberechtigter Partner verheißen: „Ihr werdet sein
ein Fleisch.“ (1. Mose 2). In der Begegnung mit dem liebenden Du verliert der Mensch sich
selber, um sich genau in diesem Verlust erst recht zu finden. „Das Geheimnis ist groß“ sagt
der Autor des Epheserbriefs, und dann: „Ich aber deute es auf Christus und die Gemeinde“
(Epheser 5).
Christus teilt mit seiner Gemeinde Höhen und Tiefen, gute und schlechte Zeiten, er teilt das
Leben mit uns, ja, er teilt auch unseren Tod, mehr noch: Er schenkt Leben aus dem Tod. So
wird die Gemeinde erneuert. Und so wird sie wachsen, wahrhaftig in der Liebe. Vielleicht
müssen auch manche hergebrachten Bilder von Gemeinde sterben, um in Christus wieder
aufzuerstehen. Verbunden mit Christus jedenfalls ist der Gemeinde ein Wachstum
verheißen, das hier auf Erden kein Ende nimmt.
Gottes Liebe aber drängt uns über den Kreis der Gleichgesinnten hinaus. Sie akzeptiert keine
Grenzziehungen. Schon in der hebräischen Bibel kommen die sozialen Bestimmungen der
Zehn Gebote nicht allein den Einheimischen zugute, sondern gerade auch den Fremdlingen,
ja sogar der außermenschlichen Kreatur. Gottes Liebe duldet keine ethnischen, nationalen
oder sozialen Hürden. Im Mittelmeer scheitern jährlich Tausende an den Grenzen, die eine
strukturelle Hartherzigkeit der europäischen Staatengemeinschaft aufgerichtet hat. In
Papenburg und anderswo wurde um der globalen Wettbewerbsfähigkeit willen die
Menschwürde der sogenannten Leiharbeiter mit Füßen getreten. Hier sind wir als Kirche
Jesu Christi gefragt: „Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die
verlassen sind.“ (Sprüche 31,8)
„Gemeinden müssen wachsen wollen“? Aber ja!
Um Christi willen werden sie wachsen an Wahrhaftigkeit und an Liebe.
„Wachsen gegen den Trend?“ Aber ja!
Um Christi willen entwickeln wir Widerstandskraft gegen den Ungeist der Gleichgültigkeit.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus, unserem Herrn.
Amen.
Kirchenpräsident Dr. Martin Heimbucher