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257 Aus: Gregor Husi / Marcel Meier Kressig (1998): Der Geist des Demokratismus. Modernisie- rung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit. Münster: Westfäli- sches Dampfboot Exkurs: Das Lebenslagenkonzept "Die ungeheure Ausdehnung des objektiv vorliegenden Wissensstoffes gestattet, ja er- zwingt den Gebrauch von Ausdrücken, die eigentlich wie verschlossene Gefässe von Hand zu Hand gehen, ohne dass der tatsächlich darin verdichtete Gedankengehalt sich für den einzelnen Gebraucher entfaltete" 177 . Was den Lebenslagenbegriff betrifft, sei dieser Tendenz über unsere eigene Begriffsbestimmung hinaus mit dem folgenden, recht ausführlichen Exkurs zur Entstehungsgeschichte entgegengewirkt, zumal dieser Begriff in unserem theoretischen Modell eine zentrale Stellung einnimmt, in der sozio- logischen Literatur jedoch zuweilen etwas gar salopp gebraucht wird. "Zum allgemeinen Problem wird die Übersicht über die Lebenslage sozialer Gruppen erst mit dem Niedergang der mittelalterlichen Ordnung" (1975: 113), schreibt Hans Zei- sel am Rande der bekannten Studie über die Arbeitslosen von Marienthal. Dieses Prob- lems hat sich denn bald schon die entstehende Theorie der Gesellschaft angenommen. Gewiss könnten wir die Geburtsstunde des Lebenslagenkonzepts sehr früh ansetzen, etwa mit Friedrich Engels' "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" aus dem Jahre 1845, wo dieser auf eine Fülle von Lebensumständen eingeht und zwischen körperli- cher, intellektueller und moralischer Lage unterscheidet, oder mit Max Webers umfang- reichem Frühwerk "Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland" von 1892 178 . Auch Marxens "Kapital" und das "Manifest der Kommunistischen Partei" (1848) enthalten den Ausdruck "Lebenslage", desgleichen berichtet Lenin von der "kleinbürgerlichen Lebenslage" 179 , und je nach Übersetzung lassen sich auch Wurzeln bei Durkheim 180 finden. Indes erarbeitete erst Otto Neurath (1882-1945) eine explizite und umfassende theoretische Fundierung des Lebenslagenkonzepts, deren Ingredienzen, 177 Simmel 1989a: 621 178 Weber schreibt auch anderswo über die "Ungleichheit der äusseren Lebenslage" (1988a: 266). Dagegen besitzt der Lebenslagenbegriff keine Bedeutung in Simmels Soziologie der Armut. Simmel spricht beiläufig von "La- ge", "Notlage" sowie von der "Klasse der Armen" oder der "Schicht der Armut" (vgl. 1992: 512-555; 1993). 179 Vgl. z.B. W.I. Lenin: Das Jahr 1917. Berlin 1957 (S. 223f.). 180 Auf diesen Hintergrund verweist René König, Ansätze für eine politische Ökonomie bei Durkheim erörternd: "Der wichtigste von allen (Durkheim-Schülern; d.Verf.) ist aber sicher Maurice Halbwachs, der sich vor allem mit der Entwicklung der Arbeiterklasse, den 'Lebenslagen' ('niveaux de vie') und der Entwicklung der Bedürf- nisse bei den Arbeitern befasst hat ... Der Begriff der 'Lebenslagen' geht übrigens auf Durkheim selber zurück, der ihn in seinem Selbstmordwerk als 'genre de vie' einführt, 'dessen Konstanz gegebenenfalls näher erklärt werden muss'" (1976: 359f.).

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Aus: Gregor Husi / Marcel Meier Kressig (1998): Der Geist des Demokratismus. Modernisie-rung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit. Münster: Westfäli-sches Dampfboot Exkurs: Das Lebenslagenkonzept "Die ungeheure Ausdehnung des objektiv vorliegenden Wissensstoffes gestattet, ja er-zwingt den Gebrauch von Ausdrücken, die eigentlich wie verschlossene Gefässe von Hand zu Hand gehen, ohne dass der tatsächlich darin verdichtete Gedankengehalt sich für den einzelnen Gebraucher entfaltete"177. Was den Lebenslagenbegriff betrifft, sei dieser Tendenz über unsere eigene Begriffsbestimmung hinaus mit dem folgenden, recht ausführlichen Exkurs zur Entstehungsgeschichte entgegengewirkt, zumal dieser Begriff in unserem theoretischen Modell eine zentrale Stellung einnimmt, in der sozio-logischen Literatur jedoch zuweilen etwas gar salopp gebraucht wird. "Zum allgemeinen Problem wird die Übersicht über die Lebenslage sozialer Gruppen erst mit dem Niedergang der mittelalterlichen Ordnung" (1975: 113), schreibt Hans Zei-sel am Rande der bekannten Studie über die Arbeitslosen von Marienthal. Dieses Prob-lems hat sich denn bald schon die entstehende Theorie der Gesellschaft angenommen. Gewiss könnten wir die Geburtsstunde des Lebenslagenkonzepts sehr früh ansetzen, etwa mit Friedrich Engels' "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" aus dem Jahre 1845, wo dieser auf eine Fülle von Lebensumständen eingeht und zwischen körperli-cher, intellektueller und moralischer Lage unterscheidet, oder mit Max Webers umfang-reichem Frühwerk "Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland" von 1892178. Auch Marxens "Kapital" und das "Manifest der Kommunistischen Partei" (1848) enthalten den Ausdruck "Lebenslage", desgleichen berichtet Lenin von der "kleinbürgerlichen Lebenslage"179, und je nach Übersetzung lassen sich auch Wurzeln bei Durkheim180 finden. Indes erarbeitete erst Otto Neurath (1882-1945) eine explizite und umfassende theoretische Fundierung des Lebenslagenkonzepts, deren Ingredienzen,

177 Simmel 1989a: 621 178 Weber schreibt auch anderswo über die "Ungleichheit der äusseren Lebenslage" (1988a: 266). Dagegen besitzt

der Lebenslagenbegriff keine Bedeutung in Simmels Soziologie der Armut. Simmel spricht beiläufig von "La-ge", "Notlage" sowie von der "Klasse der Armen" oder der "Schicht der Armut" (vgl. 1992: 512-555; 1993).

179 Vgl. z.B. W.I. Lenin: Das Jahr 1917. Berlin 1957 (S. 223f.). 180 Auf diesen Hintergrund verweist René König, Ansätze für eine politische Ökonomie bei Durkheim erörternd:

"Der wichtigste von allen (Durkheim-Schülern; d.Verf.) ist aber sicher Maurice Halbwachs, der sich vor allem mit der Entwicklung der Arbeiterklasse, den 'Lebenslagen' ('niveaux de vie') und der Entwicklung der Bedürf-nisse bei den Arbeitern befasst hat ... Der Begriff der 'Lebenslagen' geht übrigens auf Durkheim selber zurück, der ihn in seinem Selbstmordwerk als 'genre de vie' einführt, 'dessen Konstanz gegebenenfalls näher erklärt werden muss'" (1976: 359f.).

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wie wir sehen werden, recht eigentümlich sind. Gerhard Weisser (*1898), dessen An-satz wir nach Neurath besprechen werden, war daraufhin für den zweiten Entwicklungs-schub verantwortlich. Die Begründung durch Otto Neurath "Aus dieser Lebenslage, aus der Fabrikdisziplin, ist der moderne Sozialismus gebo-ren"181. Und aus dem Sozialismus unter anderem ist das Lebenslagenkonzept geboren. Betrachten wir nun diese "Geburt" etwas näher. Neurath gehörte dem Wiener Kreis an, einer in den 20er Jahren entstandenen Ge-sprächsrunde um Moritz Schlick, deren aktivste Mitglieder ausserdem Rudolf Carnap, Herbert Feigl, Philipp Frank, Kurt Gödel, Hans Hahn, Victor Kraft und Friedrich Wais-mann waren. Die aus diesen Treffen hervorgegangene philosophische Richtung wird u.a. "Logischer Empirismus" genannt182. Neurath setzt sich in seiner Schrift "Empiri-sche Soziologie" dezidiert gegen die Unterscheidung von naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Erkenntnis ein. Er plädiert für eine Einheitswissenschaft: "Je-de wissenschaftliche Aussage ist eine Aussage über eine gesetzmässige Ordnung empi-rischer Tatbestände. Alle wissenschaftlichen Aussagen sind miteinander verknüpfbar und bilden einen einheitlichen Bereich, der nur Aussagen über beobachtbare Tatbestän-de umfasst. Für ihn wird hier der Name Einheitswissenschaft vorgeschlagen. Will man betonen, dass auf diese Weise eigentlich alles zu Physik wird, so mag man von Physi-kalismus sprechen" (1931: 2). Und mit Blick auf die Soziologie: "Der Physikalismus lehrt, dass die Einheitswissenschaft in diesem Sinne von materiellen Gebilden handelt, genauer gesagt von räumlich-zeitlicher Ordnung. Der Physikalismus vertritt im Rahmen einer 'Einheitswissenschaft auf materialistischer Basis' eine 'Soziologie auf materialisti-scher Basis' - Empirische Soziologie - als Realwissenschaft neben allen anderen Real-wissenschaften" (ebd.: 3). Und Neurath folgert: "So ist die Einheitswissenschaft der Schatz aller miteinander verknüpfbaren, also auch logisch verträglichen Gesetze, das heisst der Formulierungen von Ordnung. Diese Einheitswissenschaft ist der Ersatz für die Magie ..." (ebd.: 17). Die Einheitswissenschaft des Physikalismus gilt Neurath als "eine Krönung des durchlogisierten Empirismus" (ebd.). Sie soll sich von jedweder Me-taphysik freihalten: Sie "bemüht sich, alle gesetzmässigen Beziehungen zwischen Din-gen aufzudecken, mit einer weiteren Frage nach dem 'Wesen der Dinge' hat sie nicht zu tun" (ebd.: 62). Neurath ist nicht nur ein Vertreter des Logischen Empirismus, der auch soziologische Aussagen als räumlich-zeitliche Gebilde ansieht und diese selbst deshalb soziologisch behandelt haben will183, sondern möchte auch, sich wissenschaftlicher Mittel bedienend, verändernd auf die Gesellschaft einwirken. So wurde er denn, vermutlich Mitte des Ers-ten Weltkrieges184, zum Sozialisten. Was wunder also, wenn er sich einer bestimmten 181 Weber 1988c: 501 182 Eine gute Zusammenfassung über Leben und Werk Otto Neuraths gibt Hegselmann (1979). 183 vgl. Neurath 1931: 3 184 vgl. Hegselmann 1979: 23

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Richtung der Theorie der Gesellschaft besonders verpflichtet fühlt. Er verwendet die Begriffe "'Gesellschaft', 'gesellschaftlich', um irgendwelche Reizverbände damit zu kennzeichnen" (ebd.: 113). Mit "Reiz" ist auch schon das Wort gebraucht, das für viele ein Reizwort darstellt, da es einer spezifischen Theorietradition entstammt. "Die Sozio-logie behandelt den Menschen nicht anders wie die andern Realwissenschaften Tiere, Pflanzen, Steine. Sie kennt nur eine Lehre vom 'Verhalten' im weitesten Sinne. Sie ist 'Sozialbehaviorismus'" (ebd.: 63). Behaviorismus ist also die eine Seite der sozio-logisch-materialistisch-einheitswissenschaftlichen Medaille, auf deren anderer wir das Haupt von Karl Marx finden. "Räumlich-zeitliche Vorgänge ... sind Gegenstand der wissenschaftlichen Soziologie. Die lebendige Gegenwartsform solcher Soziologie ist der Marxismus" (ebd.: 66). Da Neurath sich für die planende Verbesserung menschli-chen Zusammenlebens einsetzt, nennt er auch die AdressatInnen dieser Soziologie: "Der Marxismus als modernste Soziologie auf materialistischer Basis (das heisst letzten En-des der Physikalismus - die modernste Form des Materialismus) ist ... aufs engste mit der Arbeiterbewegung verbunden" (ebd.: 136). Er fordert: "Wissenschaftlichkeit eine Schwester der Solidarität!" (1928: 14) Andererseits wendet er sich an jene, die nicht nur über den Willen, sondern ebenso über die Macht zur Einrichtung einer besseren Gesell-schaft verfügen: "Soziologie ist nun die Wissenschaft der Staatsmänner und Organisato-ren, das ist der Gesellschaftstechniker" (1931: 17). Ein letzter Quell Neurathschen Denkens bildet ein antiker Denker, dessen sich schon Marx in seiner Dissertation angenommen hatte: Epikur. An ihm bemängelt Neurath le-diglich die individualistisch-kleinbürgerliche Gestalt des Glücksstrebens185. Den Mar-xismus hält er für "eine Art Sozialepikureismus. Er fragt nach dem Glück der Menschen, dem Glück ganzer Klassen, dem Glück der Menschheit. Er sieht, dass es abhängig ist von gesellschaftlichem, nicht von individuellem Tun!" (1928: 136)186

Anti-Metaphysik, Gesellschaftstechnik, Einheitswissenschaft, Marxismus, Sozialbe-haviorismus und Sozialepikureismus sind also die Stichworte, mit welchen wir das bis-her Erläuterte umreissen können. Neurath hat sich darüber hinaus immer wieder der Bildung eines Begriffssystems gewidmet, das an diese seine Position anknüpft. "Um die allgemeine Physik, um die Physik der Sterne, die Physik der Gebirge, die Physik der Lufthülle, die soziale Physik streng aufbauen zu können, muss man alles Metaphysische ausschalten. Die Beseitigung des Metaphysischen allein genügt aber nicht, es könnten dabei Bruchstücke herauskommen, die nicht zusammenpassen, es könnten Lücken blei-ben, die ausgefüllt werden müssen. Und wenn selbst mehrere in sich gut aufgebaute metaphysikfreie Disziplinen vorliegen, ist es nicht immer möglich, sie zu verbinden, weil die Begriffe nicht aufeinander abgestimmt sind. Es muss ein Begriffsystem ge-schaffen werden, das die Möglichkeit gibt, die Begriffe pyramidenförmig auseinander abzuleiten ... Die Begriffe bewähren sich, wenn die mit ihrer Hilfe gebildeten Gesetze zu Voraussagen führen, die durch Formulierungen der Daten kontrolliert werden kön-nen" (1931: 110).

185 vgl. Neurath 1928: 135 186 vgl. auch Neurath 1925: 27

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Es ist diese Begrifflichkeit, welche uns vornehmlich interessiert, da der Begriff der Le-benslage ihr Zentrum bildet. "Im Mittelpunkt der Soziologie steht die Entstehung von Gewohnheiten, ihre Ausdehnung auf andere Lebensgebiete, sowie die Verknüpfung gewisser Gewohnheiten, vor allem soweit sie die Lebenslage beeinflussen" (ebd.: 79; Herv.d.Verf.). Neurath hat sich nach 1909 während Jahren schwerpunktmässig mit der von ihm so ge-nannten "Kriegswirtschaftslehre" beschäftigt, die zu untersuchen habe, welchen Einfluss Kriegsvorbereitungen und Kriege auf den Wohlstand der betroffenen Menschen aus-üben. "Die Arbeiten Neuraths zum Problem der Kriegswirtschaft sind der Schlüssel zu seinen späteren wissenschaftlichen und politischen Auffassungen; direkte Wege führen von hier zu den späteren Sozialisierungsplänen187 wie den Arbeiten zu Problemen des Logischen Empirismus"188. Das für uns bedeutsame Begriffssystem wird jedoch erst in drei Texten aus den Jahren 1925, 1931 und 1937 ausgearbeitet. In seiner Schrift "Wirtschaftsplan und Naturalrechnung" entfaltet er am Beispiel eines allein lebenden Landmannes systematisch die nachfolgenden Begriffe189. Lebensstim-mung ist "die Erfreulichkeit oder Unerfreulichkeit des Erlebens", was Glück und Un-glück, Reichtum und Armut umfasse. Das Lebensstimmungssubjekt ist "das Wesen, welches die Lebensstimmung an sich erfährt". Eine "höhere" Lebensstimmung sei eine erfreulichere, lustvollere, glücklichere. Lebensstimmungen lassen sich, so können wir heute formulieren, bloss ordinal skalieren. Der Lebensboden ist "ein Stück Welt mit all seinen Bestandteilen, Einrichtungen als Bedingung von Lebensstimmung". Ein "günsti-gerer" Lebensboden rufe in einem gegebenen Lebensstimmungssubjekt eine höhere Le-bensstimmung hervor. Entschlüsse, die bei gleicher Ausgangssituation eine höhere Le-bensstimmung nach sich ziehen, seien "wirtschaftlicher". Die Lebensordnung ist "die Gesamtheit der Massnahmen, Einrichtungen, Gebräuche eines Menschen oder einer Menschengruppe". Im Rahmen einer Wirtschaftlichkeitsbetrachtung heisse sie "Wirt-schaftsordnung" oder kurz "Wirtschaft". Die Wirtschaftsweise ist "die Gesamtheit der Eigentümlichkeiten einer Wirtschaftsordnung, die für die Wirtschaftlichkeit von Belang sind". An diese Definitionen fügt Neurath nun den für uns zentralen Passus an, der hier aus-führlich zitiert sei: "Wir können erfahrungsgemäss innerhalb des Lebensbodens einen Ausschnitt absondern, der gewissermassen wie eine engere Schale das Stim-mungssubjekt umhüllt und die Lebensstimmung unter Umständen - wenn wir ein voll-ständiges Wissen annehmen - eindeutig bestimmt. Um zu wissen, wie es unserem Landmann stimmungsmässig ergeht, brauchen wir nicht die Äcker, Sümpfe, Pferde usw. ins Auge zu fassen; es genügt, wenn wir wissen, wie es mit seiner Ernährung, sei-ner Bekleidung, seiner Behausung bestellt ist, wie mit den Malariakeimen in seinem Blute, wie mit Möglichkeiten, spazierenfahren, Bücher lesen, Radio hören, sein Persön-lichkeitsbewusstsein entfalten, sich mächtig und tüchtig, erbaut und entrückt fühlen zu 187 "Eine Wirtschaft sozialisieren heisst, sie einer planmässigen Verwaltung zu Gunsten der Gesellschaft durch die

Gesellschaft zuzuführen" (zit.n. Hegselmann 1979: 25). 188 Hegselmann 1979: 20 189 Die folgenden Definitionen entstammen den Seiten 29ff.

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können. Diese Bestimmungsstücke, welche wir 'möglichst nahe' an das Le-bensstimmungssubjekt heranrücken, wollen wir als die Lebenslage dieses Lebens-stimmungsobjekts190 bezeichnen und von einer höheren Lebenslage sprechen, wenn sie eine höhere Lebensstimmung bedingt, entsprechend von einer niedrigeren Lebenslage. Wenn wir eine vollständige Kenntnis des Zentralnervensystems hätten, könnten wir bis zu dieser 'untersten Schale' vordringen" (1925: 31). Unter "Lebenslage", wir wiederho-len es, sind also jene "Bestimmungsstücke" zu verstehen, die ein Leben prägen. Neu-raths Wille zur, wie wir heute sagen mögen, Subjekt- und Lebensweltnähe mutet aus-serordentlich modern an; desgleichen das Problem der Bestimmung der Bestimmungs-stücke, worauf wir unten noch eingehen werden. Neurath führt daraufhin den Begriff Lebensstimmungsgesamtheit ein, der auf die - kaum berechenbare - Summe der individuellen Lebensstimmungen abzielt. Nun wäre mit poli-tischen Massnahmen eigentlich die Hoffnung verbunden oder zu verbinden, die Lebens-stimmungsgesamtheit zu optimieren, doch: "Wir können ... Lebensstim-mungsgesamtheiten nicht immer miteinander vergleichen, und müssen uns damit be-gnügen, in vielen Fällen nur anzugeben, dass die Lebensstimmung gewisser Menschen oder Menschengruppen unter Einwirkung gewisser Massnahmen sinkt, die anderer steigt" (ebd.: 33). Damit wir uns dies vorstellen können, schlägt Neurath vor, für die verschiedenen sozialen Zustände jeweils ein Lebensstimmungsrelief191 zu bilden, und zwar folgendermassen: "Denken wir uns eine Fläche gegeben, auf der die Personen als Flächenteile aufgetragen sind, ihre Lebensstimmungen als Prismen, die auf diesen Flä-chenteilen errichtet werden ... Die Reliefs sollen nur ein mehr oder minder Hoch wie-dergeben; die absolute Höhe der Prismen ist gleichgültig" (ebd.: 34). Neurath schliesst skeptisch, dass es keine rechnungsmässige Vergleichsmöglichkeit zwischen den ver-schiedenen Lebensstimmungsreliefs gebe. Es sei letztlich zwischen ihnen zu entschei-den, wie wenn entschieden würde, "ob man diese oder jene Speise lieber isst" (ebd.: 35)! Deshalb hält er eine Alternative für die Lebensstimmungsreliefs bereit: Lebensla-genkataster. Bei der inhaltlichen Bestimmung dieses Begriffs bleibt er allerdings vage. Es sei nötig, "gewisse Typen von Lebenslagen abzugrenzen und Lebenslagen gleich hoch anzusetzen, die inhaltlich verschieden sind" (ebd.: 37), womit ein weiteres Mal auf 190 Hier spricht Neurath bemerkenswerterweise von Lebensstimmungsobjekt. Das mag zum einen darauf anspielen,

dass Menschen für die Wissenschaft Objektstatus besitzen, zum anderen darauf, dass Individuen als vergesell-schaftete massgeblich das Ergebnis von äusseren, sozialen Einflüssen sind.

Neurath ist sich der methodischen Schwierigkeiten dieser Subjekt-Objekt-Problematik bewusst. "Wir können sie (die Lebensstimmungen; d.Verf.) nur erschliessen, durch Einfühlung zu ergründen uns bemühen" (1925: 35; Herv.d.Verf.), was ihm für Forschungszwecke unzulänglich scheint. An anderer Stelle nämlich kritisiert Neu-rath an Dilthey, Windelband, Rickert und Max Weber: "Einfühlen, Verstehen und Ähnliches mag den Forscher fördern, es geht aber in die Aussagengesamtheit der Wissenschaft ebensowenig ein, wie ein guter Kaffee, der den Gelehrten bei seiner Arbeit förderte" (1931: 56).

191 Hier schimmert durch, dass Volksbildung, die Aufklärung der Masse Neurath ein grosses Anliegen war. Von 1924-1934 wurde er als Direktor des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums in Wien eingesetzt. Er widmete sich da der Entwicklung von geeigneten Aufklärungstechniken. Als eine solche betrachtete er insbesondere die Visualisierung gesellschaftlicher Tatbestände. Er wollte eine international verständliche Bildersprache schaffen, wofür seine spätere Frau den Namen ISOTYPE (International System of Typographic Picture Education) erfand (vgl. Hegselmann 1979: 47ff.).

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ein Problem aktueller Ungleichheitsforschung hingewiesen ist. Ernüchtert endet er: "Wir sehen, dass man letzten Endes nur Lebensstimmungsgesamtheiten (Lebenslagen-gesamtheiten) mit anderen Lebensstimmungsgesamtheiten (Lebenslagengesamtheiten) ganzer Gruppen oder Klassen als Wirkungen von Massnahmen und Einrichtungen mit-einander vergleichen kann" (ebd.: 38). In politischer Hinsicht bedeutet dies: "In der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung wird nicht die Lebenslagenverteilung den Entschliessungen der einzelnen Mitglieder des Marktes zugrunde gelegt. Jeder sucht für sich eine möglichst günstige Lebenslage zu erlangen. Anders in der sozialistischen Ordnung. In ihr beschäftigt sich die organisierte Gesellschaft mit der Lebenslagenverteilung und trifft ihre Entscheidungen auf Grund von Erwägungen über mögliche Lebenslagenverteilungen. Hier ist die Lebenslagenver-teilung nicht nur Wirkung, sondern auch Ziel menschlicher Massnahmen. Erst in un-serem frühsozialistischen Zeitalter wird die Lebenslagenlehre192 notwendig" (ebd.: 25). Neurath stellt sich die Wirtschaft der, wie er hofft, kommenden Gesellschaft wesentlich als eine Naturalwirtschaft vor. Deren Planungsmethoden entfaltet er in "Wirtschaftsplan und Naturalrechnung". Der Wirtschaftsplan beschreibe die "Lebenslagengesamtheit als Ergebnis der Massnahmen eines Wirtschaftsabschnittes" (ebd.: 41). Die Gesellschaft hält er für gestaltbar. Bereits einige Jahre früher, 1919, schreibt er mit fast schon We-berschen Beiklängen: "Wir leben heute in einer Zeit bewusster Lebensgestaltung" (1979: 235), in einer Zeit, in welcher Utopien noch eine Bedeutung zugeschrieben wird: "Utopien wären so den Konstruktionen der Ingenieure an die Seite zu stellen, man könnte sie mit vollem Recht als gesellschaftstechnische Konstruktionen bezeichnen" (ebd.). Und: "Vielleicht stehen wir am Beginn einer Utopistik als Wissenschaft" (ebd.: 240). Vielleicht. Lebensstimmung, Lebensstimmungssubjekt, Lebensstimmungsgesamtheit, Lebens-boden, Lebensordnung, Wirtschaftsweise, Lebenslage, Lebensstimmungsrelief und Le-benslagenkataster sind also die Begriffe, welche Neuraths Begriffssystem von 1925 ausmachen. Sechs Jahre später, in "Empirische Soziologie", verwendet er diese Begriffe fast ausnahmslos wieder. "Das menschliche Gefüge, der jeweils untersuchte Reizver-band, erscheint eingebettet in einen Lebensboden, von ihm beeinflusst, ihn beeinflus-send. Die Gesamtheit der Gewohnheiten, ihre Abänderung, ob es sich um Änderungen der Gewohnheiten selbst oder um Kombination handelt, wollen wir als Lebensordnung im allgemeinsten Sinne bezeichnen, die Versorgung der Menschen aber mit Wohnung, 192 Neurath schwebt folgende wissenschaftliche Arbeitsteilung, die an den Marxismus anknüpfen soll, vor (vgl.

1925: 18f.): Die Lebenslagentheorie fragt: "Welcher Inbegriff von Aussagen ist über Lebenslagen und Lebenslagenvertei-

lungen überhaupt möglich?" Die Lebenslagenforschung fragt: "Welche empirischen Lebenslagen können wir zu bestimmten Zeiten, an be-

stimmten Orten, bei bestimmten Gruppen feststellen?" Die Wirtschaftslehre fragt: "Wie hängen Lebenslagenverteilung und Lebenslagenhöhen von bestimmten Ein-

richtungen der Lebensordnungen (Wirtschaftsordnungen) ab?" Die geschichtsphilosophische Analyse der Wirtschaftsgeschichte fragt: "Welche geschichtlichen Umstände be-

dingen Entstehung und Untergang der Lebensordnungen, einschliesslich der Wirtschaftsordnungen und der mit ihnen verknüpften Lebenslagenverteilung?"

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Nahrung, Kleidung usw. als Lebenslage. Der Lebensboden erscheint als Reiz, der auf die Lebensordnung ausgeübt wird, so dass sie sich ändert" (1931: 112). Die Lebensord-nung sei "die gesamte Sozialstruktur einer Gesellschaft" (ebd.: 118). Die Gesell-schaftswissenschaft kümmere sich um folgendes: "Die Soziologie fragt nun, wie denn in der Wirklichkeit die Lebenslagenverteilung sich ändern werde, welche Veränderungen die Lebensordnung erfahren werde, welche Bevölkerungsklassen dabei mitwirken, wel-che sich zur Wehr setzen würden, was für Wirkungen eine geänderte Lebensordnung haben werde" (ebd.: 124). Sodann rückt der Begriff der Lebenslage ins Zentrum: "Unse-re ganze soziologische Terminologie ist bewusst oder unbewusst darauf abgestellt, Le-benslagenänderungen beschreiben zu können. Die Auswahl dessen, was man überhaupt heraushebt, deutet auf Lebenslage hin. Auch der theologische Mensch interessiert sich für die Lebenslage, und sei es für die Lebenslage im Himmel und in der Hölle" (ebd.: 125). Neurath fährt im Text gleich mit der Definition von Lebenslage fort: "Lebenslage ist der Inbegriff all der Umstände, die verhältnismässig unmittelbar die Verhaltungswei-se eines Menschen, seinen Schmerz, seine Freude bedingen. Wohnung, Nahrung, Klei-dung, Gesundheitspflege, Bücher, Theater, freundliche menschliche Umgebung, all das gehört zur Lebenslage, auch die Menge der Malariakeime, die bedrohlich einwirken" (ebd.). Lebenslage sei die Bedingung des Verhaltens (sic!) Lebensstimmung. Wenn die Lebenslage auf die Stimmung drücke, sei sie eine "schlechtere". 1937 schliesslich veröffentlicht Neurath in der von Max Horkheimer herausgegebenen "Zeitschrift für Sozialforschung" einen Aufsatz in englischer Sprache. Auch hier treffen wir wieder auf die uns mittlerweile bekannten Begriffe. Neurath selbst liefert in Klammerbemerkungen die deutschen Übersetzungen. "We refer to the 'standards of living' (= Lebenslage193; d.Verf.) of a group, to the va-riations in kind, in scale, and in distribution of these standards" (1937: 140). Eine Theo-rie der Lebenslage könne lediglich im Rahmen einer Gesellschaftsanalyse entwickelt werden. Es sei etwa die Frage zu beantworten: "How do various institutions operate within a given social order and how do different social systems affect the scale and distribution of standards of living?" (ebd.: 141). Zur Hauptaufgabe erklärt er, "to define the elements which are characteristic for the standard of living. We cannot regard it as a weight made up of the sum of the weights of the various parts" (ebd.: 143). An ver-schiedenen Textstellen erwähnt Neurath eher unsystematisch, was zur Lebenslage zu zählen sei. "In these standards we would especially include working time, leisure time, rate of accident, morbidity and mortality rates, as well as housing, food, clothing, education, recreation, etc." (ebd.: 149). Ferner nennt er Erschöpfung infolge Arbeit, Theater, soziales Leben, familiäre Umstände und die Schulsituation. In Abgrenzung zu einer atomistischen, utilitaristischen Denkweise verbindet Neurath auch in diesem Text Lebenslage und Lebensstimmung: "Whereas this atomistic ap-proach coordinates positive and negative 'feeling'-quantities with positive and negative 193 Recht belustigt können wir beobachten, welche Wort-Verschiebungen sich bei Übersetzungen einstellen. So

sagt Neurath im Deutschen nicht etwa "Lebensstandard", sondern "Lebenslage". Zapf hingegen (vgl. 1984: 20) verwendet "Lebensstandard", der bei ihm aber die Übertragung von "Level of Living" (Allardt), also eigentlich "Lebensniveau" ist.

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conditions, we shall coordinate the totality of a persons's feeling, or that of a group, with his or its entire living condition and investigate the extent to which changes in the 'state of felicity' (= Lebensstimmung; d.Verf.) in a positive or negative direction depend upon changes in these conditions. We, therefore, do not begin with single pleasure- or pain-quantities and then construct the totality of feeling. Instead, we investigate only the conditions under which the totality of feeling becomes more or less pleasurable. Only these elements are significant for our approach to standards of living. We call that standard of living higher which produces a more pleasurable state of felicity characterized by a certain attitude or behavior" (ebd.: 142). Indem Neurath den Begriff Lebenslagenphysiognomie einführt, offenbart er ein weiteres Mal seinen Hang zum Graphischen. Dabei gehe es um "complexes which are ... composed of various quantities, each of which would have to be measured by specific units" (ebd.: 143). Hierfür seien eben einige wichtige determinierende Elemente auszu-wählen. Deshalb handle es sich um "multidimensional structures" (ebd.: 146). Schliesslich fordert er Lebenslagenkataster, um einzelne Regionen, Länder oder aber die gesamte Welt zu verschiedenen Zeitpunkten vergleichen zu können. Ebensowenig fehlt die Herleitung aus einem Lebensboden: "Fundamental data we shall designate collectively as the 'basis of life', environment in the broadest sense: supplies of raw material, all sorts of sources of energy, inventions, human abilities, existing towns, streets, trains, canals, etc., all things which, taken together, and determined by means of specific measurements of quantity, are united into a structure. This always produces the standard of living which can be similarly characterized by means of complexes of specific measurements of quantity" (ebd.: 149; Herv.d.Verf.). So werde Lebenslagenanalyse zu einem Teil breiterer soziographischer Analyse. Eine umfassendere Ergründung des Sozialen habe ohnehin den Rahmen reiner Marktanalyse wie blosser Lebenslagenforschung zu sprengen, um zu einer "general theory of society" (ebd.) zu gelangen. Da Otto Neurath als der eigentliche Begründer der Tradition der Lebenslagentheorie gelten darf, haben wir ihm hier den ihm gebührenden Raum gewährt. Er beklagte sich über die "theologischen" Züge Immanuel Kants. Das Denken des anderen "Lebensla-gen-Doyens", dem wir uns nun zuwenden, ist dahingegen gerade in Königsberg behei-matet. Die Weiterführung durch Gerhard Weisser Gerhard Weisser194 ist Kantianer in der Nachfolge von Jakob Friedrich Fries und Leo-nard Nelson195. Gleichwohl springen zunächst einmal die Parallelen zu Neurath ins Au-

194 Weissers Schriften erschienen sehr zerstreut. Eine gute Sammlung bilden seine "Beiträge zur Gesellschafts-

politik" (Weisser 1978). Über sein gedankliches Umfeld informieren die beiden Festschriften "Sozialwissen-schaft und Gesellschaftsgestaltung" (hg. von Friedrich Karrenberg und Hans Albert, Berlin 1963, Duncker & Humblot) und "Freiheitlicher Sozialismus" (hg. von Heiner Flohr, Klaus Lompe und Lothar F. Neumann, Bonn - Bad Godesberg 1973, Verlag Neue Gesellschaft). Beide enthalten eine umfassende Bibliographie, erstere zu-dem eine Notiz zu Weissers bewegter Vita.

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ge, und dies, obgleich die historischen Bedingungen der zwei Denker, Weimarer Repu-blik dort, "Nachkriegszeit" hier, beträchtlich voneinander abweichen. Beide nämlich bemühten sich um eine Sozialwissenschaft, welche die Lebensumstände von Individuen und Kollektiven umfassend zu beschreiben vermag, um die erkenntniskritische Reflexi-on der Grundlagen solcher Wissenschaft sowie um politische Belange. Und beide sind durch den Willen zur Gestaltung sozialer Verhältnisse und ihre politischen Wurzeln im Sozialismus verbunden. Weisser, der sein Konzept der Lebenslage196 vor allem während seines Wirkens in Köln entwickelt hat, verweist selber auf dessen Wurzeln bei Otto Neurath und Kurt Grel-ling197, der bereits 1921 den Begriff für die praktische Sozialphilosophie fruchtbar ge-macht hatte, und definiert: "Als Lebenslage gilt der Spielraum, den die äusseren Um-stände dem Menschen für die Erfüllung der Grundanliegen bieten, die ihn bei der Ges-taltung seines Lebens leiten oder bei möglichst freier und tiefer Selbstbesinnung und zu konsequentem Verhalten hinreichender Willensstärke leiten würden" (1978a: 275, Anm.1; Herv.d.Verf.)198. Dabei seien die "äusseren Umstände" jene "Gegebenheiten, die der einzelne nicht be-einflussen kann"199. Sie bestünden für die Menschen "unabhängig von ihrer Einsicht und Willenskraft" (1978b: 300). Die "Selbstbesinnung" sei insbesondere dann befangen, wenn sie durch Traditionen oder aufgedrängte Ideologien beschränkt werde200. Die "Grundanliegen" nun - mal spricht Weisser auch von "Interessen" oder "Bedürfnis-sen"201 - nehmen eine zentrale Stellung in seinem Konzept ein. Bei ihrer Bestimmung

195 Gut über den Anschluss Weissers an die praktische Philosophie des transzendentalen Idealismus und über sein

Konzept einer normativen Sozialwissenschaft informiert Stelzig (1977). 196 Leider waren uns zwei vermutlich wichtige, jedoch unveröffentlichte Manuskripte von Gerhard Weisser nicht

zugänglich: Zum einen "Einige Grundbegriffe der Sozialpolitiklehre" (1957), zum anderen "Bemerkungen zur anthropologischen Grundlegung der für die Sozialpolitiklehre erforderlichen Lebenslagen-Analysen" (1966).

197 Von Kurt Grelling gab es seinerzeit eine Verbindung zu Otto Neurath, da ersterer Mitglied der Berliner "Gesell-schaft für empirische Philosophie" war, die Kontakte zum Wiener Kreis unterhielt. - Vgl. Hegselmann 1979: 35 und auch Hillen 1975: 64-66.

198 Anderswo definiert Weisser Lebenslage folgendermassen: "Als 'Lebenslage' eines Menschen gilt ... der Spiel-raum für die Befriedigung seiner Bedürfnisse (Interessen), den ihm nachhaltig die äusseren Umstände gewäh-ren".

Oder: "Lebenslage eines Menschen: Spielraum, den einem Menschen (einer Gruppe von Menschen) die äusse-ren Umstände nachhaltig für die Befriedigung der Interessen bieten, die den Sinn seines Lebens bestimmen" (beide zit.n. Möller 1978: 555).

Oder: "Als Lebenslage gilt der Spielraum, den die äusseren Umstände dem Menschen für die Erfüllung der Grundanliegen bieten, die er bei unbehinderter und gründlicher Selbstbesinnung als bestimmend für den Sinn seines Lebens ansieht" (1978d: 386).

Alle diese Definitionsversuche werden von Möller (1978) differenziert kritisiert. 199 Aus "Einige Grundbegriffe der Sozialpolitiklehre", zit.n. Möller 1978: 561. 200 vgl. Weisser 1978d: 387 201 Weisser erläutert seine Wortwahl: "Der Leser möge den Ausdruck 'Anliegen' hinnehmen. Der bei manchen

Philosophen ... bevorzugte Ausdruck 'Interesse' betrifft im gewöhnlichen Sprachgebrauch nicht auch die inneren Bindungen, d.h. die mit der Anerkennung einer Aufgabe oder Pflicht verbundenen Anliegen. Auch der von den Psychologen meist verwendete Ausdruck 'Motive' unterliegt diesen Bedenken" (1978f.: 602, Anm.1).

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hegt er freilich keinen Anspruch auf objektive Gültigkeit oder Allgemeingültigkeit202. Interessen sind für ihn im Anschluss an Leonard Nelson "Wertschätzungen, die mit ei-nem Begehren verbunden sind" (1978e: 596). Alles Erstrebte und Erstrebenswerte sei Inhalt von Anliegen. Darüber kläre die Anthropologie auf. "Sie belehrt uns darüber, dass unsere unmittelbaren 'Anliegen' sinnlicher, kultureller, sittlicher und religiöser Art sein können. Die sinnlichen Interessen sind ihrem Wesen nach rein subjektiv, ihr Inhalt ist uns meist unmittelbar bewusst. Bei den kulturellen und sittlichen Interessen und den religiösen Bindungen ... handelt es sich um Schätzung von rein Geistigem ... Das, wor-auf diese Interessen gerichtet sind, wird als Aufgabe empfunden ...Die Interessen eines jeden Menschen sind rangmässig geordnet ... Während der Inhalt der sinnlichen Interessen meist unmittelbar bewusst ist, trifft dies auf die geistigen nicht zu. Es bedarf besonderer Bemühungen, wenn wir ein deutliches Wissen von ihrem Inhalt erwerben wollen" (ebd.)203. Weisser kontrastiert also, um auf die angeführte Definition der Lebenslage zurückzu-kommen, potentielle und faktische Bedürfnisse einerseits und vorgeordnete soziale Verhältnisse andererseits. Letzteres verrät eine objektivistische Schlagseite: Lebenslage ist der von aussen diktierte Handlungsspielraum zur Bedürfnisbefriedigung. Empirisch zu bestimmen, welche Spielräume sich den Handelnden de facto eröffnen oder ver-schliessen und welches Ausmass Erscheinungen "sozialer Schliessung" (Weber) in der ihrem Anspruch nach "offenen Gesellschaft" (Popper) angenommen haben, ist ebenso schwierig wie wichtig. Hinsichtlich der fundamentalen menschlichen Anliegen, Bedürf-nisse, Interessen, Präferenzen fällt das eigentümlich vage "Oder" auf, das Weisser in seine Definition zwischen den Indikativ "leiten" und den Konjunktiv "leiten würden" setzt und das uns begrifflich in einer seltsamen Schwebelage zwischen Potentialität und Faktizität belässt204.

202 vgl. Stelzig 1977: 268ff. 203 In "Bemerkungen zur anthropologischen Grundlegung der für die Sozialpolitiklehre erforderlichen Lebensla-

gen-Analysen" legt Weisser einen als ökonomisches Beispiel gedachten Interessenkatalog vor. Dieser umfasst den Bedarf an lebenswichtigen Gütern und Diensten, Einkommen, Vermögen, Gegenstände des Gemeinbedarfs, Vorsorge, minimale Steuern und Abgaben, minimale Abhängigkeit, aktive Teilnahme am Wirtschaftsleben, Selbstbestimmung des wirtschaftlichen Handelns, Gemeinschaft beim Wirtschaften, Deckung des fremden Be-darfs und des Gemeinschaftsbedarfs, Arbeitsfreude, minimale Arbeitsmühen, freie Berufswahl, Freizügigkeit, gesellschaftliches Ansehen sowie Aufstiegsmöglichkeiten (vgl. Hillen 1975: 75, Anm.2; Amann 1983: 146, Anm.150; Schäuble 1984: 237).

204 Hillen legt dar, dass Weisser zwischen "unmittelbaren", den Lebenssinn bestimmenden und "mittelbaren", auf die Bereitstellung von Gütern und Diensten gerichteten Interessen unterscheidet, und bemerkt: "Hier liegen die Schwierigkeiten des Weisserschen Ansatzes: 1. Bestimmung der Grundanliegen bzw. unmittelbaren Interessen, 2. Zuordnung eines mittelbaren Interesses zu einem oder mehreren unmittelbaren Interessen, 3. Auseinanderhal-ten von unmittelbaren und mittelbaren Interessen. (Weisser selbst wies auf die Möglichkeit hin, dass für den gleichen Gegenstand sowohl ein unmittelbares Interesse als auch - 'im Dienste anderer unmittelbarer Interessen' - ein mittelbares Interesse bestehen kann) ... 4. Hinzu kommt das ... Problem der Erfassung der Interessen, die bei gründlicher Selbstbesinnung, in nachhaltig anderer Lage, bestehen würden" (1975: 74, Anm.3).

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In "Einige Grundbegriffe der Sozialpolitiklehre" wird das Wirkungsfeld der Sozialpoli-tik bestimmt. Sozialpolitik sei der "Inbegriff derjenigen Massnahmen, die bestimmt sind, die Lebenslage der sozial schwachen oder gefährdeten Bevölkerungsschichten zu verbessern"205. Als "sozial schwach" gelten jene Menschen, "deren Lebenslage von der in der Öffentlichkeit vorherrschenden Meinung als nicht zumutbar angesehen wird"206, als "sozial gefährdet" jene, die "durch bereits eingetretene oder vorhersehbare Ereignis-se bedroht"207 sind. "Auch die Sozialhilfe (Sozialarbeit) dient bestimmungsgemäss Ge-sellschaftsmitgliedern, deren eigene Kräfte nicht ausreichen, ihre ungünstige Lebensla-ge zu verbessern oder Gefahren abzuwenden, die ihrer Lebenslage drohen" (1978a: 282)208. Vor diesem Hintergrund nähert sich die Wissenschaft der sozialpolitischen und sozial-arbeiterischen Praxis: "Eine fruchtbare, nicht mit Vorurteilen philosophischer Art be-lastete heutige Lehre von der Sozialpolitik und der Sozialarbeit geht zweckmässig da-von aus, dass es Teilmengen von Gesellschaftsmitgliedern gibt, deren materielle und/oder immaterielle Lebenslage zu ungünstig ist, als dass sich ihre Besserung allein aus der eigenen Initiative der in dieser Lebenslage Befindlichen ergeben könnte, wobei beachtet werden muss, dass auch das Mass, in dem eigene Initiative tatsächlich aufge-bracht wird, in topologisch bestimmbarem Umfang von der Lebenslage abhängt, beson-ders bei langdauerndem, evtl. über Generationen reichendem Bestehen dieser Lebensla-ge und besonders dann, wenn sich die Lage nahe dem physischen Existenzminimum befindet. Aufgedrängte Beruhigungsideologien der Mächtigen können zu dieser Läh-mung der Initiative beigetragen haben. Dass Mass der Zufriedenheit mit der Lebenslage kann also manipuliert sein" (ebd.: 278). Dabei geisselt Weisser an gewissen wissen-schaftlichen Strömungen ihre "Neigung zu Quantifizierungsperfektionismus": "Die Quantifizierung der wissenschaftlichen Aussagen ist um ihrer Operationalität willen Ziel; vollkommene Operationalität an allen Stellen aber ist Utopie. Es lässt sich nicht alles quantifizieren, und gerade die Sozialpolitik muss auf vieles Nichtquantifizierbares achten" (ebd.: 282).

205 Zit.n. Hillen 1975: 68; vgl. auch Amann 1983: 140 und Schäuble 1984: 237. 206 zit.n. Amann 1983: 140 207 ebd. 208 Hieraus geht auch eine entsprechende Auffassung von sozialer Sicherheit/Sicherung hervor: "Unter Sozialer

Sicherheit (Sozialer Sicherung) werden in erster Linie (enger oder weiter begrenzte) Komplexe sozialpolitischer Massnahmen verstanden, die unmittelbar nicht so sehr der Hebung der Lebenslage als vielmehr dem Schutz der Lebenslage vor bestimmten Gefahren ihrer Verschlechterung dienen. Dabei wird an Gefahren gedacht, die aus eigener Kraft abzuwenden dem Gefährdeten nicht oder nicht ohne weiteres möglich ist; sei es, dass die Umstän-de ihn hindern, sei es, dass bei der gegebenen Lebenslage des Gefährdeten der Selbstschutz von seinen psychi-schen Kräften nicht erwartet werden kann. Auf die Massnahmen zur Herstellung sozialer Sicherheit wirkt indes-sen meist die Vorstellung ein, dass die Lebenslage keines Menschen unter ein bestimmtes Niveau sinken darf, das durch ein Mass an Versorgung mit Gütern und Diensten gekennzeichnet ist ('Existenzminimum'). Es ist demgemäss heute üblich geworden, bei Massnahmen zur Herstellung sozialer Sicherheit auch an solche Aktio-nen und Institutionen zu denken, die Personenkreise mit einer Lebenslage unter diesem Niveau auf dieses heben sollen" (Weisser 1978b: 289).

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Immer wieder stossen wir in Weissers Schriften auf den Hinweis, dass das, was zur Verteilung anstünde, Lebenslagen seien. "Verteilt wird nicht Geld, verteilt werden nicht einzelne Güter und Dienste - verteilt werden Lebenslagen mit allen ihren 'materiellen' und 'immateriellen' Werten und Unwerten209. Daher sollte der Begriff 'Lebenslage' zum Zentralbegriff der Verteilungslehre und besonders aller Sozialpolitik werden" (1978g: 667)210. Deswegen nimmt auch die Verteilungspolitik einen hohen Rang ein. "Den Zweig der Politik, der für die angemessene Verteilung der Lebenslagen der Gesell-schaftsmitglieder verantwortlich ist, nennen wir 'Verteilungspolitik'" (1978c: 362). Was aber ist Verteilungspolitik genau? Weisser umschreibt ihre Aufgabe so: "Die Vertei-lungspolitik darf sich also nicht nur auf Bewertung und gegebenenfalls Regelung der Einkommens- und Vermögensverteilung beschränken. Gestützt auf eine ausgebaute Wirtschaftspsychologie und besonders Motivenlehren hat sie sich um die Verteilung der Lebenslagen schlechthin zu bemühen. Zu den Werten der Lebenslage gehören neben der Arbeitsfreude auch Sicherheit der Lebenshaltung, Realisierung von Gemeinschafts-werten bei der Arbeit, desgleichen von Schönheitswerten, vor allem aber das Selbstbe-wusstsein, das sich aus dem Gefühl, ein aktives Glied der Gesellschaft zu sein, und aus Selbstverantwortung bei der Arbeit (gegebenenfalls Mitverantwortung) ergibt. Umge-kehrt bestimmt sich die Lebenslage auch durch die Unwerte, die bei der Teilnahme an der gesellschaftswirtschaftlichen Produktion in Kauf genommen werden müssen, wie besonders Arbeitsmühen, Trennung von Familie, weite Wege, Gefahren bei der Arbeit, Schmutz und andere Unannehmlichkeiten, Monotonie der Arbeit und - nicht zuletzt! - Abhängigkeit von fremdem Willen sowie Mangel an Aufstiegsmöglichkeiten. Die sozi-ale Frage ist nicht eine blosse Lohnfrage" (ebd.: 361; Herv.d.Verf.)211. Dieses Zitat zeigt nochmals mit aller Deutlichkeit, was Weisser an sozialpolitisch, genauer: verteilungspo-litisch zu beeinflussenden Lebensumständen vorschwebt212. Zeitdiagnostisch hält er

209 Anderswo heisst es, es ginge bei der Verteilung "um alle Umstände der Bedarfsdeckung, in die der einzelne

gestellt wird" (Weisser 1978c: 360). Kaufmann u.a. (1980: 108) kritisieren an dieser Fassung, dass bei den "Umständen" nicht zwischen Voraussetzungen und Bedingungen zum einen, Folgeerscheinungen zum anderen differenziert wird.

210 Es sei bloss nebenbei bemerkt, dass Weisser hier auch vom "Lebensgefühl" der Arbeiterschaft und von kollekti-vistischen Zügen im "Lebensstil" dieser Gesellschaftsgruppe spricht, also Begriffe gebraucht, die wir bereits anderswoher kennen.

211 Solche Worte erinnern natürlich auch an Eduard Heimann, den Weisser persönlich kannte. 212 Weisser hat auch einen Katalog von Kernfragen aufgestellt, "mit denen es die Lehre von der Verteilungspolitik

als System aus Vorbehaltungspostulaten zu tun hat ...: 1. Mit welchen Gütern und Diensten sollen die Gesellschaftsmitglieder versorgt werden? 2. Welchen Umfang soll diese Versorgung erreichen? 3. Wie weit sollen die arbeitsfähigen Gesellschaftsmitglieder verpflichtet sein, an der Erstellung des Gesell-

schafts- produktes mitzuwirken?

4. Wie weit sollen sie auf diese Mitwirkung ein Recht haben? 5. Sollen bei der Verteilung des Gesellschaftsproduktes Unterschiede gemacht werden? 6. In welcher Höhe sollen sie gegebenenfalls bestehen? 7. In welchem Masse soll nicht selbst erarbeitetes Vermögen als Einkommensquelle auf die Einkommenshöhe

Ein fluss haben? 8. In welcher Höhe sollen im besonderen die arbeitsunfähigen Gesellschaftsmitglieder am Sozialprodukt be-

teiligt werden? 9. In welchen Rechtsformen soll dies geschehen?

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fest: "Wenn man das ... Bild der Lebenslageverteilung auf eine einzige Formel zu brin-gen versucht, so lässt sich vielleicht sagen, dass das wichtigste Kennzeichen der heuti-gen sozialgeschichtlichen Situation hinsichtlich der Verteilung der Lebenslagen in der überaus starken Ungleichheit der personellen Startbedingungen besteht. Es ist nicht so, dass Tüchtigkeit und Fleiss genügen, damit der Teilnehmer an der Gesellschaftswirt-schaft eine günstige Lebenslage erhält" (ebd.: 364). Weisser strebt nun nicht danach, jedwede Ungleichverteilung von Lebenslagen zu til-gen. Er weigert sich, alle Verteilungsunterschiede per se für illegitim oder ge-sellschaftlich nutzlos zu erklären. Sie dürfen allerdings, räumt er ein, nicht grösser sein als "zur Erreichung des kulturell bestimmten Optimums an Sozialprodukt erforderlich" (ebd.: 378), und zwar so, dass die Menschen zu den wünschenswerten Leistungen ver-anlasst werden. Von Kurt Grelling leitet er eine "geschichtsbezogene Leitregel der Ver-teilung der Lebenslagen" her, das "Spornungspostulat": "Unterschiede in der Le-benslage der (selbständigen und abhängigen) Produzenten sollen in derjenigen Höhe bestehen, die unter den jeweiligen geschichtlichen Bedingungen erforderlich ist und hinreicht, um die Produzenten zu Leistungen zu veranlassen, die zur erstrebenswerten Grösse und Zusammensetzung des Sozialproduktes führen, wobei das Wachstum des Sozialproduktes in zu bestimmenden Massen auch den Nichtbegünstigten zugute kom-men muss und die Startverhältnisse für alle in den Grenzen des soziotechnisch Erreich-baren dauerhaft gleich sein, erforderlichenfalls immer von neuem gleich oder ausrei-chend ähnlich gemacht werden sollen" (1978d: 402). Wieder in Anlehnung an Kurt Grelling wäre Weisser jene Wirtschaftsverfassung am liebsten, "bei der die Lebenslage der wirtschaftlich schwächsten Schichten günstiger als in jeder anderen zur Auswahl stehenden Wirtschaftsverfassung ist" (1978c: 381). Besonders am Herzen liegt Weisser schliesslich "Kultur", und er lässt auch ab und an eine kulturpessimistische Melodie erklingen: "Im Gegensatz zu älteren sozialistischen Strömungen neigen wir Heutigen weder zur Askese noch zu einer genügsamen Haltung, die auf Konservierung des erreichten Wohlfahrtsstandes abzielt. Wir wollen den wirt-schaftlichen Fortschritt ... Aber wir wissen heute auch, dass das technisch erreichbare Maximum an Versorgung mit Gütern und Diensten nur erzielt werden kann, wenn schwere kulturelle Nachteile und überaus bedrohliche sittliche Gefahren in Kauf ge-nommen werden. Das produktionspolitische Ziel könnte unter diesem Gesichtspunkt als kulturell bestimmtes Optimum der Versorgung gekennzeichnet werden (nicht Höchst-mass, sondern Bestmass)" (ebd.: 374). Gegenüber weitverbreitetem Ökonomismus be-

10. In welcher Weise werden die Antworten auf die Fragen 1-9 durch die Erwägung abgewandelt, dass die

Gesellschaftswirtschaft im ganzen einer bestimmten Ordnung (Wirtschaftsverfassung) bedarf, um funktionieren zu können, und dass die Wahl dieser Ordnung die Regelung der Verteilung in gewissem Umfang von vornher-ein festlegt?

11. In welcher Weise wird umgekehrt die Wahl der Wirtschaftsverfassung durch die Erfordernisse der Vertei-lung bestimmt?" (1978c: 371).

Wolle der Gang der Dinge nicht einfach kritiklos hingenommen werden, so seien auf diese Fragen Antworten zu finden, die freilich keine ein für allemal gültige Verteilung der Lebenslagen ergäben; überdies variiere deren Bewertung historisch.

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tont er dabei nachdrücklich den Primat der Kultur: "Hier ist nicht an ein kulturelles Le-ben gedacht, das dem 'Wirtschaftsleben' auf der gleichen Ebene gegenüberstände. Die Wirtschaft ist dienender Bestandteil der Kultur. 'Wirtschaftsleben' ist immer kulturelles Leben, es fragt sich nur, ob es sich als dienender Bestandteil einer guten Kultur voll-zieht" (ebd.: 374f.). Wir wollen an dieser Stelle nicht mehr fortfahren, das Weissersche Lebenslagenkonzept darzustellen. Es dürfte klar geworden sein, wie aktuell seine Fassung noch in heutigen theoretischen Diskussionen über soziale Ungleichheiten ist. In direktem oder auch eher indirektem Anschluss an seine Arbeiten suchten verschiedene ForscherInnen weiter nach einem noch besseren Verständnis von Lebenslagen. Wir können diese Phase als die dritte, noch nicht abgeschlossene Entwicklungsperiode in der Lebenslagenforschung betrachten. In ihr hatten und haben sich die jeweiligen Forschungskonzepte auf diversen thematischen Feldern zu bewähren213. Die dritte Entwicklungsphase Ingeborg Nahnsen, einstmals Assistentin bei Weisser, erörtert den Begriff der Le-benslage im Zusammenhang des Arbeitsschutzes. Sie schränkt ein, dass die Lebenslage zwar eine mehrdimensionale Einheit darstelle, dass mit diesem Begriff jedoch die inter-dependenten Lebensumstände von Menschen bloss unvollständig zu erfassen seien. Das Gewicht liege auf der sozialen Strukturiertheit der je betroffenen Lebenssituation, sub-jektive Dispositionen würden vernachlässigt. Für sozialpolitische Zwecke wird Lebens-lage von dieser Autorin definiert als "Spielraum, den die gesellschaftlichen Umstände dem einzelnen zur Entfaltung und Befriedigung seiner wichtigen Interessen bieten. Sie stellt damit den Gesamtinbegriff der sozialen Chancen des einzelnen dar" (1975: 148). Sozialpolitisches Wirken umschreibt Nahnsen folgendermassen: "Sozialpolitik als Inbe-griff von Veranstaltungen zur planmässigen Beeinflussung von Lebenslagen findet so in der Einheit der Lebenslage ihren generellen Bezugspunkt, in der Planmässigkeit der Bestrebungen und Handlungen und damit auch in der normativen Zielausrichtung ihren politischen Charakter und in der Orientierung an den gesellschaftlichen Exi-stenzbedingungen ihr wesentliches Spezifikum" (ebd.: 148f.). Ihrer Ansicht nach birgt das Weissersche Vorgehen die "Gefahr, Interessen zu oktroyieren, statt zu ermitteln" (ebd.: 150). In ihrer Kritik fährt sie fort: "Wenn ... Lebenslagen hinsichtlich ihrer Struk-tur analysiert und hinsichtlich ihres Wertes beurteilt werden sollen, so geschieht das sinnvollerweise nicht dadurch, dass untersucht wird, welche Interessen die betroffenen Menschen haben oder bei hinreichender Selbstbesinnung hätten, sondern dadurch, dass nach der Ausprägung der Bedingungen gefragt wird, unter denen Interessen überhaupt ins Bewusstsein gehoben und befriedigt werden können" (ebd.). Schäuble seinerseits

213 Wir haben die nachfolgend erwähnten AutorInnen zwar nicht zufällig ausgewählt - sie haben teilweise wichtige

Neuerungsvorschläge in die Diskussion eingebracht -, doch erheben wir keineswegs den Anspruch auf eine vollständige Übersicht über die Arbeiten der dritten Entwicklungsperiode.

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wirft Nahnsen vor, sie benütze "das Lebenslagenkonzept nur heuristisch als nicht weiter differenzierte Vorstellung einer Einheit von Lebenssituation, Lebenschancen und sozio-ökonomischer Stellung" (1984: 242). Die innovative und deshalb oft wieder aufgegriffene Leistung Nahnsens besteht aus der mit analytischer Absicht vorgetragenen Vorstellung von fiktiven "Einzelspielräumen der Lebenslage" (1975: 150). Fünf solche "Bedingungskomplexe", von denen "das Mass möglicher Interessenentfaltung und Interessenrealisierung" (ebd.) abhänge, listet sie auf: (1) Versorgungs- oder Einkommensspielraum (Versorgung mit Gütern und Diensten) (2) Kontakt- und Kooperationsspielraum (Pflege sozialer Kontakte, Zusammenwirken

mit anderen) (3) Lern- und Erfahrungsspielraum (Sozialisationsbedingungen, Form und Inhalt der

Verinnerlichung sozialer Normen, Bildung und Ausbildung, Arbeitserfahrungen, räumliche Mobilität)

(4) Musse- und Regenerationsspielraum (psycho-physische Belastungen durch Arbeit, Wohnmilieu, Umwelt, Existenzunsicherheit)

(5) Dispositionsspielraum (Mitentscheidung auf verschiedenen Lebensgebieten) In theoretischer Hinsicht bleiben diese "Räume" bei Nahnsen und auch bei späteren A-daptionen214 jedoch arg unterbelichtet, sie besitzen bislang bloss metaphorischen Cha-rakter. Auch Karl Bernhard Hillen steht in den Fussstapfen Neuraths und Weissers. Er versieht seinen Lebenslagenbegriff mit dem Prädikat "pragmatisch" und versteht unter Lebens-lage "die Chance einer bestimmten Lebensgestaltung" (1975: 84). Es spiele dabei "keine Rolle, in welchem Umfang die Möglichkeiten der Interessenbefriedigung wirklich wahrgenommen werden" (ebd.). Für seine Untersuchung von Arbeitnehmern nach ei-nem Arbeitsplatzverlust hat er ein verallgemeinerungsfähiges Untersuchungskonzept entwickelt, das sechs Schritte umfasst215: (1) Auswahl der zu untersuchenden Personen, Gruppen, Schichten (2) Katalogisierung der für das Untersuchungsziel als relevant eingeschätzten In-

teressen (3) Bestimmung der Lebenslage-Merkmale; Sammlung quantitativer Daten, verbaler

Selbsteinschätzungen und Typisierung der Lebenslagen (4) Bestimmung der die Lebenslage beeinflussenden äusseren, d.h. politischen, öko-

nomischen, regionalen usw. Verhältnisse

214 Vgl. etwa Krieger/Schläfke 1987: 98; dieselben verweisen auch auf die "Determination aller Spielräume durch

den Einkommensspielraum" und auf die "interdependente Verknüpfung aller Spielräume" (1987a: 210). - Die fünf Räume Nahnsens werden auch von Scharf übernommen, der definiert: "Lebenslage ist der durch die ge-sellschaftlichen (ökonomischen, sozialen und kulturellen) Strukturen abgesteckte individuelle Spielraum zur Entfaltung und Befriedigung von existentiellen Bedürfnissen. Die Lebenslage umreisst also die sozialen Chan-cen eines Individuums in der Gesellschaft" (1977: 48; Herv.d.Verf.). Wir erinnern an die superstrukturelle Strukturierung der Lebenslage in unserem Modell, indessen auch daran, dass Chancen Risiken bzw. Gefahren gegenüberstehen.

215 vgl. Hillen 1975: 85-91

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(5) Gegenüberstellung der tatsächlichen Lebensbedingungen und der katalogisierten Interessen

(6) Folgerungen für wirtschafts- und sozialpolitische Aussagen Eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Lebenslagenbegriff liefert Rudolf Möl-ler. Sein kritisches Fazit: "'Lebenslage' bezeichnet ... nur eine - weder notwendige noch hinreichende - Bedingung von Wohlfahrt und kommt Ausdrücken wie 'Macht' oder 'Freiheit' näher als 'Wohlbefinden'" (1978: 561). Er beendet seine Analyse mit einigen Postulaten an eine nach seinem Dafürhalten sinnvolle Lebenslagepolitik im weiteren Sinne: "Bedürfnispolitik" solle die Bildung wohlverstandener, wohlbedachter und ver-haltenswirksamer Bedürfnisse fördern, aber auch die Existenz tatsächlicher, jedoch nicht wohlbedachter Interessen dulden. "Lebenslagepolitik" i.e.S. solle direkt und indi-rekt der Bereitstellung von Mitteln zur Befriedigung wohlverstandener, wohlbedachter und verhaltenswirksamer Bedürfnisse dienen. Werden diese nicht oder falsch genutzt, solle "direkte Wohlfahrtspolitik" ergänzend bestimmte Güter mit Konsumzwängen oder -verboten versehen. Der mannigfaltigen Operationalisierungsprobleme bewusst, hält er "ein Optimum an wissenschaftlicher Zuverlässigkeit und praktischer Brauchbarkeit" (ebd.: 565) für ideal. Franz-Xaver Kaufmann, Alois Herlth, Klaus Peter Strohmeier und als zeitweiliger Mit-arbeiter Hans-Joachim Schulze benutzen den Lebenslagenbegriff mit Blick auf das Ver-hältnis von Sozialpolitik und familialer Sozialisation216. Sie beziehen sich zwar explizit auf Gerhard Weisser - und auch Max Weber -, entwickeln allerdings ein recht eigen-ständiges theoretisches Konzept, in dem "familiale Lebenslage", "Umweltpartizipation" und "Ressourcen" eine wichtige Stellung einnehmen. "Der Begriff der familialen Le-benslage gibt uns die strukturellen Bedingungen an, unter denen Familien in Aus-tauschprozessen mit der sozialen Umwelt (Umweltpartizipation) aktiv werden können, um Ressourcen verfügbar zu machen" (1980: 107). Bei den Ressourcen der sozialen Umwelt denken die Autoren an Arbeitsplätze, Geschäfte, öffentliche Einrichtungen, Ämter, Netzwerke, Informationssysteme, Wissensvermittlungseinrichtungen. All dies sei das "sozialökologische Umfeld der Familie", das näher bestimmt wird als "der struk-turelle Rahmen, in dem von sozialen Systemen Ressourcen erbracht und angeboten werden und ... innerhalb dessen die Familie Ressourcen für sich verfügbar machen kann" (ebd.: 106). Die Struktur des sozialökologischen Umfeldes rühre wesentlich von der Selektivität familialer Systeme her. Umweltpartizipation bezeichnet "die Interaktio-nen zwischen familialen Systemen und den Systemen der sozialen Umwelt, in denen durch Austauschprozesse für die Familie soziale Ressourcen gewonnen werden" (ebd.). Mit der Wahl dieses Begriffs soll der Aktivitätsaspekt des familialen Ressourcenge-winns akzentuiert werden. Die familiale Lebenslage schliesslich sei das "strukturelle Pendant der Umweltpartizipation". Mit diesem Begriff haben die Autoren den "situati-ven Rahmen familialer Selektivität im Umgang mit der Umwelt" (ebd.: 107) im Auge. 216 Vgl. Kaufmann/Herlth/Strohmeier 1980 (insbesondere 106-110 und 168-176).

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Sie wird definiert als "die situativen Elemente der Aussenbeziehungen des Familiensys-tems" (ebd.: 169)217. Soziologisch zu gebrauchen sei der Begriff erst, wenn er "umfas-send auf die Relation von Handlungschancen und Handlungskompetenz" (ebd.: 108) bezogen werde. Die Aussenaktivitäten der Familie, eben die Umweltpartizipation, seien determiniert durch den strukturell vorgegebenen situativen Rahmen, die Lebenslage. Die Autoren schlagen dann eine analytische Sonderung von drei Dimensionen vor. "Le-benslage repräsentiert somit kulturelle, ökonomische und ökologische Determinanten des familialen Ressourcengewinns" (ebd.: 109). In der kulturellen Dimension meint Le-benslage den sozialen Status, d.h. die vertikale Verortung der Familie innerhalb der so-zialen Struktur, die sich aus der Berufsposition und dem Bildungsstand der Eltern erge-be. Die ökonomische Dimension beinhaltet das Haushaltseinkommen, während sich die ökologische auf die räumliche Erreichbarkeit von Ressourcen bezieht. Ziel dieser Be-mühungen sei es, "das unterschiedliche Mass der Verfügbarkeit über soziale Ressourcen messbar zu machen" (ebd.: 169). Dies alles im Dienste einer - im Anschluss an Lüscher formulierten218 - "Sozialpolitik für das Kind", worunter "die Gesamtheit der staatlichen Massnahmen ..., welche direkt oder indirekt auf kindliche Lebenslagen einwirken" (ebd.: 64), zu verstehen sei. Solche Politik verfolge als zentrales Anliegen die "Erzie-hungsfähigkeit" der Familie im umfassenden Sinne, womit über die Kommuni-kationsprozesse zwischen Eltern und Kindern sowie Persönlichkeitsmerkmale hinaus elterliche Besonderheiten beim Austausch mit externen Sozialsystemen angesprochen sind. "Dementsprechend ist die sozialpolitische Beeinflussung der familialen Er-ziehungsfähigkeit primär als Einwirkung auf die Aussenbeziehungen familialer Systeme zu sehen, wobei als 'Angriffspunkte' für eine sozialpolitische Intervention das sozial-ökologische Umfeld der Familie einerseits, aber auch das selektive Verhalten der Fami-lien andererseits zentrale Interventionsfelder darstellen" (ebd.: 169)219. Andere SozialforscherInnen versuchen nun schon seit einigen Jahren, sich dem Phäno-men der Armut220 anhand von Lebenslagenkonzepten zu nähern221. Wolfgang Glatzer

217 Zwei Betrachtungsweisen der Lebenslage, so präzisieren Kaufmann/Herlth/Strohmeier, seien zu unterscheiden:

"Lebenslage als statistischer Ausdruck für ein gegebenes familiensystemspezifisches Handlungspotential einer-seits; zum anderen entfaltet sich Lebenslage im Zeitablauf dynamisch in Abhängigkeit von alltäglichen Interak-tionen der Familienmitglieder mit ihrer Umwelt" (1980: 170, Anm.12).

218 Vgl. Kurt Lüscher: Sozialpolitik für das Kind. In: Christian von Ferber/Franz-Xaver Kaufmann (Hg.): Soziolo-gie und Sozialpolitik (KZfSS Sonderheft 19). Opladen 1977: Westdeutscher Verlag, 591-628.

219 Explizit die Lebenslage nach einer Scheidung diskutiert beispielsweise Geissler (vgl. 1994: 550-554). 220 "Lebenslagenbezogene Armutsforschung geht davon aus, dass die primäre Dimension der Armutslage, also das

Schlüsselmerkmal der Armut, das Einkommen ist. Wichtig aber ist darüber hinaus der soziale Kontext von Handlungsbedingungen in der inferioren Lebenslage. Er ergibt sich aus dem Zusammenspiel armutsrelevanter Dimensionen wie soziale Sicherheit, Wohn- und Freizeitbedingungen, soziale Beziehungen und soziale Netz-werke. Wie sich dieser Handlungskontext bei der Armutsbevölkerung im Vergleich zu anderen Lebenslagen un-terscheidet, ist eine bisher wenig geklärte Frage. Zu fragen wäre insbesondere, durch welchen Kontext von Handlungsbedingungen spezifische Armutslagen gekennzeichnet sind. Wie beispielsweise die Lage der 'verfes-tigten' Armut zu charakterisieren ist, die langfristig besteht und unter Umständen sogar intergenerationell wei-tergegeben wird; wie die Handlungskontexte konstituiert sind, die grosse Chancen anzeigen, aus der Armutslage kurzfristig zu entkommen" (Glatzer/Hübinger 1990: 50; Herv.d.Verf.).

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und Werner Hübinger etwa, die einen recht guten Überblick über die neuere Lebensla-genforschung geben, heben drei Aspekte des Lebenslagenbegriffs hervor222:

(1) Er ist mehrdimensional, beinhaltet ökonomische, nicht-ökonomische und im-materielle Dimensionen.

(2) Das Haushaltseinkommen ist ein zentrales Merkmal. (3) Die Handlungsspielräume und die lebenslagespezifischen Grenzen werden be-

tont. Die beiden Autoren weisen auf die Möglichkeit hin, den Ansatz zu einer Gesellschafts-theorie auszuweiten; das stelle sogar nicht bloss ein Potential, sondern ein Desiderat dar. Als ungelöste Probleme erachten sie nebst der gesellschaftstheoretischen Ein-bettung die empirische Operationalisierung, die adäquate Datengrundlage und die prak-tischen Schlussfolgerungen. Zweifellos trifft zu, "dass vorgegebene soziale Strukturen die Handlungsspielräume der Individuen bestimmen und dass diese Strukturen sozialpo-litisch beeinflusst werden. Lebenslagen müssten also im Rahmen einer Theorie gesell-schaftlichen Strukturwandels und wohlfahrtsstaatlicher Steuerung erklärt werden" (ebd.: 36)223. Auf diese Ausführungen wird in der Armutsforschung oft Bezug genommen, wobei die von Glatzer/Hübinger eingeforderte Theoriearbeit offenbar zumeist nur noch als unnöti-ger Ballast empfunden wird. Betrachten wir einige Beispiele aus der Schweiz. Hier ori-entieren sich die von Werner Ulrich und Johann Binder geleitete Berner Armutsstudie wie auch das Zürcher Pendant, wofür Peter Farago und Peter Füglistaler verantwortlich zeichnen, desgleichen die von Robert E. Leu u.a. durchgeführte nationale Armutsstudie an einem Lebenslagen-Konzept. Der Begriff "Armut" weist allerdings einige Tücken auf. Er darf, so der Tenor auch hier, nicht mit Verfügung über wenig Einkommen gleichgesetzt werden, da es sich um ein mehrdimensionales Phänomen handelt. "Unter 'Armut' ... wird ... das Einhergehen von Einkommensschwäche mit einem oder mehreren spezifizierten Unterversorgungssymptomen verstanden", erläutern Ulrich/Binder (1992: 221 Siehe hierzu Hanesch u.a. (1994) sowie den Sammelband von Döring/Hanesch/Huster (1990). Umfassend in-

formieren zudem die Beiträge in Leibfried/Voges (1992) sowie über Strategien gegen Armut die Beiträge in Hanesch (1995). - Einen weiteren Diskussionszusammenhang stellt die Sozialindikatorenforschung dar (vgl. z.B. die Beiträge in Timmermann 1990). Hradil definiert in diesem Kontext Lebenslagen als "die Ensembles der Lebensbedingungen von Gesellschaftsmitgliedern, die ihnen im Vergleich zu anderen Menschen Vorteile oder Nachteile bringen" (1990: 125).

222 vgl. Glatzer/Hübinger 1990: 36f. 223 Weissersche Überlegungen wollen, dies ein weiteres Beispiel, Krause/Schäuble zu einer "Ressourcentheorie

sozialer Ungleichheit" weiterführen, freilich unter veränderten Vorzeichen: "Die normativ-pragmatische Anlage der Überlegungen wird weitgehend durch eine mehr handlungstheoretische/-analytische Betrachtung abgelöst und weitgehend empirisch abgesichert. Ferner gilt es, den engeren haushaltlichen/familialen Lebenszusam-menhang des Individuums als massgeblichen Handlungszusammenhang und nicht das isoliert gedachte Indi-viduum als massgeblichen Handelnden in den Mittelpunkt zu rücken" (1986: 22). Dabei richtet "sich das Inter-esse vorwiegend auf geldnahe und geldliche (materielle und immaterielle) Ressourcen" (ebd.).

Lebenslagen stellen bei Krause/Schäuble (vgl. 1988) eine Differenzierung von "Wohlfahrtslagen" dar und um-fassen, seltsam genug, Variablen wie Alter, Geschlecht, Bildung, Einkommen, Haushaltstyp, soziale Stellung, Wohnform, Gemeindegrösse, nicht aber objektive oder subjektive Indikatoren der Versorgung oder des Wohl-befindens.

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40). Sie ergänzen deshalb das "Einkommenskonzept der Armut" mit einem "Lebensla-genkonzept der Armut". Die Bezeichnung "einkommensschwach" setzt die Bestimmung eines Grenzwerts voraus, die auf verschiedene Weise erfolgen kann. "Im Lebensla-genkonzept wird Armut anhand einer durch Unterversorgung in wesentlichen Lebensbe-reichen charakterisierten Lebenslage identifiziert. 'Unterversorgung in wesentlichen Lebensbereichen' heisst: gesamtgesellschaftlich normale Grundbedürfnisse ... bleiben aus finanziellen Gründen ungedeckt" (ebd.: 9f.; z.T. Herv.d.Verf.). Mit der Rede von "Unterversorgung" wird versucht, Lebenslagen messbar zu machen. "Unterversorgungs-symptome" sind eindeutig definierte Indikatoren für Unterversorgung. "Unterversor-gung ist gegeben, wenn bei der Untersuchung der effektiven Lebenslage mindestens ein Unterversorgungssymptom festgestellt wird" (ebd.: 11)224. "Arm" sind demnach jene, deren Werte bei mindestens zwei Messdimensionen, wovon eine das Einkommen ist, unter die zuvor gezogene Grenze zu liegen kommen. Dass gemäss erwähnter Definition Geld der alleinige Quell von Unterversorgung zu sein hat, leuchtet jedoch wenig ein.

224 Als Unterversorgungssymptome gelten Ulrich/Binder (vgl. 1992: 45), wobei sie sich des "beschränkt 'objekti-

ven' Charakters" (ebd.: 40) bewusst sind, namentlich: a) Wohnen: • Wohndichte: verfügbarer Wohnraum weniger als ein Zimmer pro Person oder keine Wohnung b) Gesundheit und Ernährung: • Verzicht auf (Zahn-)Arztbesuch aus finanziellen Gründen • Einschränkungen beim Essen aus finanziellen Gründen c) Bildung und Arbeit: • fehlender Volksschul-, Lehr- oder Berufsabschluss d) Familie, Bekanntenkreis, Freizeit: • Fehlen einer Vertrauensperson, die bei Problemen helfen kann • Verzicht auf Einladungen aus finanziellen Gründen e) Haushaltführung, Haushaltbudget, Alltagsbewältigung • Sparen bei Versicherungen aus finanziellen Gründen • Leben von Ersparnissen • Verschuldung • ernsthafte finanzielle Probleme • finanzielle Unterstützung durch Angehörige • finanzielle Hilfe durch Sozialdienst/Fürsorge/Ausgleichskasse (Vgl. auch Werner Ulrich/Johann Binder: Armut erforschen. Zürich 1997: Seismo.)

Der elaborierteste Katalog von Indikatoren "multipler Deprivation", von dem sich fast alle Forschenden inspi-rieren lassen, stammt von Townsend und beinhaltete zunächst 60 Indikatoren (vgl. 1979: 1173-1176; vgl. auch 1993: 90). 1985/86 wurde sodann in London eine Untersuchung durchgeführt, die "Typen von Deprivation" an-hand von 70 (ursprünglich 77) Indikatoren bestimmte. Zugrunde lag die Einteilung in materielle Deprivation (Ernährung, Bekleidung, Wohnungsausstattung, Wohnumgebung, Arbeitsbedingungen) und soziale Deprivation (Familienaktivitäten, Integration in Gemeinschaft, formale Teilhabe an sozialen Institutionen, Erholung, Bil-dung - vgl. Townsend 1993: 71-74 und 92f.).

Hartmann seinerseits unterscheidet das Lebenslagen- vom Deprivationskonzept, wobei "Lebenslage" mehr umfasse als kumulierte Deprivation, da sie auf Grundanliegen rekurriere. Nach Weisser sei "das Verhältnis zwi-schen objektiv gegebenen Handlungsspielräumen und den subjektiv vorhandenen Interessenorientierungen (im Rahmen der äusseren Umstände)" (1992: 454) prägend.

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Zudem fällt die Aufführung von "Lebenslagetypen" recht merkwürdig aus225. Dies liegt daran, dass nicht präzise zwischen a) Lebenslagen konstituierenden, b) Lebenslagen zuweisenden Merkmalen und c) den Lebenslagen selbst differenziert wird. Damit ist eine basale Bedingung für ein sozialtheoretisches Verstehen der Armutsproblematik nicht erfüllt. Farago/Füglistaler streben an, "ein umfassendes Bild von der Lebenssituation zu geben, das sich auf alle zentralen Bereiche erstreckt" (1992: 13). Armut ist für sie "ein umfas-sendes Konzept, das prekäre Lebenssituationen bezeichnet" (ebd.). Auch diese Autoren räumen der finanziellen Lage eine herausragende Stellung ein und halten die relative Gewichtung der Bereiche Arbeit, Familie, Gesundheit, Wohnen usw. noch für diskussi-onswürdig. Armut entstehe "aus dem Zusammenspiel von Armutsrisiken und den priva-ten und öffentlichen Auffangnetzen" (ebd.). Armutsrisiken träten als mögliche Bedro-hungen während jedes Lebensverlaufs auf, hauptsächlich in der Form von Krankheit, Unfall, Behinderung, Labilität, Leistungsschwäche und Suchtverhalten. Zudem sei die finanzielle Lage negativ beeinflusst durch Arbeitslosigkeit, Mutterschaft, Niedrigein-kommen, ungenügende Altersvorsorge, Scheidung/Trennung, Verschuldung sowie hohe Ausgaben. Das "Einkommensschwächerisiko" der Mitglieder der jeweils zu bildenden Subgruppen wird definiert als Anteil einkommensschwacher Personen unterhalb einer festzusetzenden Einkommensschwächegrenze226. Im selben Forschungstrend liegen auch die VerfasserInnen der Basler Armutsstudie, wenn von ihnen auch nicht explizit ein Lebenslagenkonzept verwendet wird. Das For-schungsteam um Ueli Mäder versteht "Armut als Mangel an sozialer Sicherheit. Mit sozialer Sicherheit sind materielle und immaterielle Faktoren angesprochen" (1991: 112). Es umreisst seinen theoretischen Bezugsrahmen, an dem es sich dann allzu wenig orientiert, folgendermassen: "Von soziologischer Bedeutung ist, dass Armut als ein so-zialer Zustand und somit als sozialer Status festgelegt wird. Damit erscheint Armut als klar isolierbares Merkmal der Sozialstruktur. Erweiterungsbedürftig ist dieser Ansatz in Richtung einer prozessualen Betrachtung der Entstehung und Entwicklung von Armuts-zuständen und -mechanismen. Die Dynamik dieser Prozesse hat auch zur Folge, dass die soziale Ungleichheitsordnung, der armutsgefährdete Bevölkerungsschichten insbe-sondere ausgesetzt sind, sich immer wieder von neuem produziert und dadurch zu Be-harrungstendenzen neigt. Die Armut äussert sich heute also immer mehr als ein Gesamt-phänomen, das sich aus dem Zusammenwirken verschiedener, ungünstiger Faktoren er-gibt, die sich gegenseitig anziehen und dadurch in ihren Effekten verstärkt zur Geltung kommen können" (ebd.: 6). Im Anschluss an Heinz Strang unterscheiden die vier Auto-rInnen "primäre Armut" (Mangel am Notwendigsten bei Nahrung, Kleidung und Woh-nung), "sekundäre Armut" (relativ zum "normalen", für soziale Integration ausrei-chenden Lebensstandard) und "tertiäre Armut" (persönliche Lebensschwierigkeiten auf-grund sozialer Desorganisation oder Desintegration).

225 vgl. ebd.: 35 226 vgl. Farago/Füglistaler 1992: 32 - Zwischen Risiko, Gefahr und Wahrscheinlichkeit wird nicht differenziert.

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Eine Nebenbemerkung zum Begriff "Armut" sei hier angefügt: In der deutschen Spra-che impliziert die Rede von "arm" stets mindestens ein Armutskriterium, denn "arm" heisst "arm an". So ist beispielsweise "Einkommensarmut"227 kein Pleonasmus, sondern eben Armut hinsichtlich des Einkommens und überdies nicht deckungsgleich mit Armut generell. Der Begriff der Armut weist immer schon über blosse Einkommensarmut hin-aus. Wie wir reich an vielem sein wollen, so können wir arm sein an Bildung, Kontak-ten, Freizeit, Gütern usw. Was hiervon im Umkreis von Armut anzusiedeln, somit ar-mutsrelevant ist, muss beim jetzigen Stand der Armutsdebatte erst noch bestimmt wer-den. Die Armutsforschung hätte dabei ein Jenseits positivistisch halbierter Armut zu erschliessen. Wenn beispielsweise gesellschaftliche Teilhabe auch für die an den Rand Gedrängten eingefordert wird, wenn dies Teilnahme und Einflussnahme oder zumindest Einflussmöglichkeit bedeutet, so wäre folgerichtig Einflussarmut als eine weitere be-deutsame Dimension einzubeziehen. Hierauf zielte bereits Nahnsens Rede vom "Parti-zipationsspielraum" (s. oben) ab, die politische Sprengkraft besitzt. Freilich sollte die Begriffsbestimmung auch nicht derart ausufern, dass zuletzt lediglich ein verwässerter Armutsbegriff übrig bleibt. Einen neueren Überblick über den Diskussionsstand228 und einen Versuch, den Lebens-lagenbegriff und das Lebenslagenkonzept zu klären, steuert Hübinger bei. Dieser Autor erkennt richtig, dass durch die Rede von Handlungsspielräumen der Mensch als han-delndes Subjekt angesprochen ist229. Das Konzept fasse den Begriff "in ein umfassendes theoretisch-methodisches Programm" (1996: 62). Auch für Hübinger ist das Lebensla-genkonzept ein "multidimensionales, verschiedene Ungleichheitsdimensionen umfas-sendes und auch handlungstheoretisch relevantes Konzept zur Erfassung und Beschrei-bung (ungleicher) Lebensverhältnisse" (ebd.: 49). Das Konzept könne indessen die Beg-riffe Klasse und Schicht nicht ersetzen, da diese auf der gesellschaftlichen Makroebene die sozio-ökonomische Struktur zu erfassen hätten, während Lebenslagen, auf der Mik-roebene, "als Ausdifferenzierung sozialer Schichten bzw. Klassenlagen" (ebd.) aufzu-fassen seien. Desgleichen werde im Unterschied zum Lebenslagenbegriff "der Begriff der 'Sozialen Lage' ... zur relativ grossflächigen (vertikalen) Gliederung der Gesellschaft herangezogen" (ebd.: 62).

227 Es wird auch der Begriff "wirtschaftliche Armut" verwendet, so etwa von Buhmann/Leu (1988). 228 Wir gehen hier nicht auf die zahlreichen einzelnen regionalen deutschen Studien zur Armut ein. Ebensowenig

auf Studien in der Altersforschung, die oftmals auf einem Lebenslagenkonzept fussen. Dieck z.B. definiert: "Die Lebenslage von Individuen und Gruppen, die ähnlichen strukturellen Bedingungen in ihrer Lebenssituation unterliegen, setzt sich aus einer Vielzahl von Merkmalen zusammen. Sie umfassen die Verfügbarkeit von und den Zugang zu materiellen Gütern ebenso wie immaterielle Werte, positive und negative Interessenerfüllung" (1984: 20). Neben "Lebensstil" hat "Lebenslage" überdies Eingang in die Gesundheitswissenschaft (vgl. z.B. Gutzwiller/Wydler/Jeanneret 1996: 192) oder die Sozialarbeitswissenschaft (vgl. z.B. Kardorff 1988: 76f.) ge-funden.

229 Deshalb kommt in unserem Modell im Anschluss an Max Weber dem Interessenbegriff eine besondere Bedeu-tung zu. Diese theoretische Lösung ist auch bei Weisser vorgezeichnet. Leu/Burri/Priester sprechen von "Optio-nen und Restriktionen für die Befriedigung von Interessen" (1997: 47).

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Auch Hübinger diskutiert das Problem, eine Armutsgrenze festzulegen, die allein auf dem Lebenslagenkonzept fusst, und zeigt sich hierbei skeptisch: "Armut mehrdimensio-nal als Kumulation oder Kombination von Unterversorgungen und Benachteiligungen zu definieren, scheint letztlich weder theoretisch noch empirisch einlösbar. Dazu müss-ten in noch zu bestimmenden zentralen Lebensbereichen Mindeststandards zugrundege-legt werden. Das Nichterreichen mehrerer solcher Standards würde Armut anzeigen" (ebd.: 68). Hübinger hält die dabei entstehenden Probleme allerdings für unlösbar: "Das betrifft die normativen Entscheidungen bei der Auswahl der Mindeststandards ebenso wie auch die Frage nach Möglichkeiten der Kompensation von Defiziten in bestimmten Bereichen durch Überversorgungen in anderen. Das gleiche gilt für den empirisch-operationalen Aufwand" (ebd.). Hübinger setzt deswegen auf eine Kombination von Ressourcen- und Lebenslagenansatz, eine unseres Erachtens seltsame begriffliche und konzeptuelle Unterscheidung, deren geringe "Trennschärfe" auch Hübinger eingesteht. Eine bestimmte Einkommensgrenze zu unterschreiten gilt ihm dabei als Schlüssel-merkmal. Als Probleme des Lenbenslagenkonzepts hebt Hübinger hervor, (1) die auf die Lebenslagen einwirkenden Faktoren zu bestimmen, (2) die handlungstheoretischen Bezüge des Lebenslagenbegriffs auszuarbeiten, (3) die einzelnen Komponenten der Handlungsspielräume inhaltlich zu bestimmen, (4) die Zusammenhänge zwischen den Einzelspielräumen auszumachen und (5) bestimmte Handlungsspielräume als Armut zu erkennen. In seiner empirischen Untersuchung kontrastiert Hübinger Einkommen, "so-ziale Merkmale" (demographische, Bildungs-, haushaltsstrukturelle) und "Statusmerk-male" mit "Lebenslagenmerkmalen", worunter er in der "haushaltsbezogenen Dimensi-on" Wohnungssituation sowie Überschuldung und Einschränkungen, in der "personen-bezogenen Dimension" zudem Gesundheit und Besorgnisse, subjektives Wohlbefinden sowie Einbindung in soziale Netzwerke fasst. Bloss letztere Merkmale der Lebenslage eines Menschen zuzurechnen, überzeugt allerdings als Lösung keineswegs. Die Lebens-lage ist vielmehr gebildet durch ein umfassendes komplexes Geflecht, in dem die ein-zelnen Elemente, Spielräume individueller Praxis, auf nicht von vornherein feststehende bzw. begrifflich/konzeptuell festlegbare, sondern aufgrunddessen zu erforschende Wei-se voneinander abhängen. Lebenslage zielt bei Hübinger "auf die konkrete Versor-gungslage" (ebd.: 178). Durch die Kombination der dichotomisierten Variablen Ein-kommensarmut und Lebenslagendefizit ergeben sich vier "Lebenslagenpositionen": de-fizitär sind die "konsistente Armutslage" und die "inkonsistente Wohlstandslage", ohne Defizit die "inkonsistente Armutslage" und die "konsistente Wohlstandslage"230. Wie andere streicht auch Hübinger "den ganz herausragenden Einfluss des Einkommens für die Ausgestaltung der Lebenslage" (ebd.: 222) heraus. Dabei unterscheide sich die Le-benslage derer, die in, wie Hübinger es nennt, "prekärem Wohlstand" leben, nicht we-sentlich von der Lebenslage grosser Teile der Armen. Wie Hübinger favorisieren auch Leu/Burri/Priester in der ersten gesamtschweizerischen Armutsstudie, einer Querschnittsuntersuchung von 1992, eine Kombination von Res-sourcen- und Lebenslagenansatz. Hier wird gar argumentiert, weil diese beiden Konzep- 230 vgl. Hübinger 1996: 180

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te nicht eindeutig zu trennen seien, empfehle sich eine Kombination!231 "Beim Ressour-cenansatz wird Armut als Unterausstattung mit finanziellen Mitteln definiert" (1997: 17). Beim Lebenslagenansatz werde demgegenüber "nicht nach den verfügbaren Res-sourcen, die ein bestimmtes Versorgungsniveau ermöglichen, sondern nach der tatsäch-lichen Versorgungslage von Personen, Haushalten oder sozialen Gruppen in zentralen Lebensbereichen" (ebd.: 18) gefragt; es gehe um den tatsächlichen Verfügungsspiel-raum über Güter und Dienstleistungen. Die drei Autoren kontrastieren deshalb poten-tielle und faktische Versorgung und räumen relativierend ein, Bildung und Gesundheit beispielsweise könnten als Ressource wie als Lebensbereich betrachtet werden232. Die Autoren meinen, sozialpolitische Postulate seien leichter durchzusetzen, wenn Armut durch ein einziges Kriterium definiert werde, und dafür eigne sich Einkommen am bes-ten. Armut wird derart zur Einkommensschwäche. Untersucht werden sodann neun "Lebensbereiche": Wohnsituation, Arbeit und Ausbildung, soziale Herkunft, private Netzwerke, subjektives Wohlbefinden, Gesundheit, finanzielle Situation, Demographie sowie Bewältigungsstrategien. Indem die Autoren in jedem Bereich subjektive und ob-jektive Indikatoren, nämlich "Lebensbedingungen" und "Wohlbefinden" kombinieren, glauben sie letztlich ein Bild der "Lebensqualität" verschiedener Bevölkerungsgruppen zu erhalten. Durch diese Begriffsstrategie wird allerdings der begriffliche Kern von "Lebenslage" zuletzt vernebelt.

Diese kurzen Einblicke in die Erforschung von Armut und in Versuche begrifflicher Klärungen bestärken uns im Glauben, dass empirische Armutsforschung ein theoretisch fundiertes und begrifflich geklärtes, verzeitlichtes233, Ungleichheiten, Unsicherheiten und Unfreiheiten vereinigendes Konzept zum Ausgangspunkt nehmen sollte. Ein diffe-renzierter Lebenslagenansatz verspricht hierfür in der Tat die beste Eignung, denn er besitzt den grossen Vorteil, über mannigfaltige Aspekte moderner Lebensbedingungen informieren zu können. Er lässt sich auf die gesamte Bevölkerung wie auch auf ausge-wählte Gruppen anwenden. Nicht verschweigen dürfen wir indes, dass die Sozialfor-schung sich mit seiner empirischen Umsetzung noch reichlich schwer tut234. Es ist den

231 vgl. Leu/Burri/Priester 1997: 91 232 "Das Einkommen oder die Erwerbsarbeit stellen zentrale Ressourcen dar, sie lassen sich aber auch als zentrale

Komplexe der Lebenslage auffassen. Das gleiche gilt für andere Bereiche wie 'Wohnen', 'private Netzwerke' oder 'soziale Herkunft'. Sie stellen einerseits eine potentielle Bereitstellung von materiellen und immateriellen Gütern dar (Ressourcenkonzept), andererseits sind sie geeignet, die reale Versorgungslage, die aus der Nutzung dieser Ressourcen entsteht, abzubilden (Lebenslagenkonzept)" (Burri/Leu/Priester 1997: 48).

233 Vgl. auch Füglistaler/Hohl, die, wenn leider auch nur ansatzweise und ohne theoretische Untermauerung, "der mehrdimensionalen, dynamischen Eigenart von Armutsproblemen" (1992: 9) gerecht werden wollen. In Ab-grenzung zu einer monokausalen und statischen Sichtweise erläutern sie ihr Vorgehen folgendermassen: "Aus-gehend von einer Lebenslaufperspektive gliedern wir die Betroffenengruppen nach Risiken, die vor, während oder nach dem Erwerbsleben auftreten können" (ebd.: 72). - Vgl. zur "dynamischen Armutsforschung" auch Hübinger 1996: 50ff.

234 Hauser/Neumann resümieren denn recht kritisch: "Augenfällig ist bei den Versuchen, das Lebenslagenkonzept empirisch umzusetzen, der Bruch zwischen umfassendem theoretischem Anspruch und empirischer Umsetzung. Zur Zeit kann das Lebenslagenkonzept nur als eine Leitidee verstanden werden, die in empirischen Untersu-chungen vorwiegend explorativ umgesetzt wird" (1992: 244).

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Forschenden aufgegeben, jene Dimensionen aufzuspüren, in denen Lebenslagen zu ver-messen nicht vermessen ist.