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express 4/2009 9 Leserliches Aldi-Aktionswaren aus China Neue »Südwind-Studie« Das »Südwind«-Institut in Siegburg hat eine neue Studie über die Arbeitsbedin- gungen in Zulieferbetrieben des Aldi- Konzerns veröffentlicht. Die Recher- chen in chinesischen Betrieben, die Aktionswaren für den größten deut- schen Discounter herstellen, deckten massive Missstände auf. Autorin Inge- borg Wick fordert daher von Aldi und der Politik wirksame Gegenmaßnah- men. Der deutsche Discounterprimus Aldi bietet jährlich ca. 2 500 Aktionswaren zu sensationell niedrigen Preisen an, darunter PCs, Fahrräder, Gitarren, Handmixer und Textilien. Im Jahr 2008 erwirtschaftete das Unternehmen damit 20 Prozent seines auf 35 Mrd. Euro geschätzten Gesamtumsatzes. Mehr als 40 Prozent der Aldi-Aktions- waren wurden in China hergestellt. Aktionswaren sind zu einem Schlüssel- element im Konkurrenzkampf des Lebensmitteleinzelhandels geworden. Sie locken immer mehr KundInnen in die Geschäfte und verdrängen damit die Konkurrenten insbesondere im Fach- handel vom Markt. Im Einkauf der Waren herrscht das Prinzip ›Kostensenkung um jeden Preis‹. »Die Schnäppchenhits der Dis- counter werden mit systematischen Verletzungen von Arbeits- und Frauen- rechten bei globalen Zulieferern erkauft«, so Ingeborg Wick, Mitarbeite- rin des »Südwind«-Instituts. Sie hat gemeinsam mit PartnerInnen in China die Arbeitsbedingungen bei Aldi-Zulieferern von Elektronik-, Haushalts-, Kosmetik- und Textilwaren in Süd-China untersucht. Die Recher- chen belegen massive Missstände. »Die meist weiblichen Beschäftigten arbeiten bis zu 91 Stunden pro Woche und kön- nen dennoch von ihren kargen Löhnen kaum leben. Der Arbeitsdruck ist enorm, und Fehler werden mit Geld- bußen bestraft. Zudem werden grund- legende Rechte verletzt. Die Frauen erhalten weder Mutterschutz, noch können sie unabhängige Gewerkschaf- ten gründen«, so Wick. »Es handelt sich um Verletzungen von Arbeits- und Frauenrechten, wie sie in der arbeitsin- tensiven Industrie Chinas durch den Preisdruck von hiesigen Importunter- nehmen typisch sind.« »Südwind« hatte bereits im Frühjahr 2007 eine Studie über Aldi-Zulieferer im Textilbereich veröffentlicht. Die Reaktionen des Konzerns auf die dort geäußerte Kritik sind unzureichend. In Kürze startet die internationale »Clean Clothes Campaign« eine groß angelegte Kampagne mit dem Schwerpunkt »Dis- counter und Textilien«. Mit der neuen Studie will das »Süd- wind«-Institut auch branchenübergrei- fende Initiativen fördern sowie den Druck auf Discounter und die Politik in Richtung einer globalen Sozialver- pflichtung von Unternehmen erhöhen. Die Studie findet sich unter www. suedwind-institut.de/downloads/2009- 02_SW_ALDI-Studie-2.pdf Gedruckte Fassungen können zum Preis von 5 Euro (ab 10 Expl. 3,50 Euro) plus Versandkosten bei »Südwind« erworben werden. Kontakt: Südwind e.V. – Institut für Ökonomie und Ökumene, Lindenstr. 58- 60, 53721 Siegburg, Tel. (02241) 53617, Email: info@suedwind-institut- de, www.suedwind-institut.de Dringliches Elitenbildung, Schulung und NS-Lagergesellschaft Tagung des Bildungswerkes der Huma- nistischen Union NRW und der Erin- nerungs-, Bildungs- und Begegnungs- stätte Alt Rehse e.V. Schon kurz nach der so genannten Machtergreifung hat der nationalsozia- listische Staat in großem Umfang Schu- lungslager für die unterschiedlichsten Personengruppen geschaffen, um diese Kollektive im Sinne der rassisch defi- nierten »Volksgemeinschaft« herauszu- bilden. Dabei galt neben den neuen Funktionsträgern der Macht vor allem wichtigen Berufsgruppen wie den Ärz- ten, Juristen und Lehrern vorrangige Aufmerksamkeit, da ihnen innerhalb der NS-Ideologie besondere Bedeutung zukam. Diese Gruppen standen nicht nur schon vor 1933 in großem Maße Dass Barack Obama seinen Wahl- kampf mit einem Rekordbudget finanzieren konnte, lag nicht unwe- sentlich an der Wahlkampfunterstüt- zung der US-Gewerkschaften. Diese hatten ihn insgesamt mit mehr als 450 Mio. Dollar (ca. 343 Mio. Euro) unter- stützt – das ist mehr als zur Präsident- schaftswahl 2004 ausgegeben wurde und sogar mehr, als John McCain an Unternehmensspenden einnehmen konnte. Allein 96 Mio. Dollar davon kamen von der mit knapp zwei Mio. Mitgliedern derzeit größten US- Gewerkschaft, der Dienstleistungsge- werkschaft Service Employees Inter- national Union (SEIU). Niemals zuvor ist eine solch gigantische Summe von einer Einzelgewerkschaft ausgege- ben worden (Greenhouse 2008). Dies verdeutlicht, wie wichtig auch den Gewerkschaften diese Präsident- schaftswahl war. Denn für sie steht nicht weniger als ihr eigenes Überle- ben auf dem Spiel. In diesem Beitrag wird der gegen- wärtige Zustand der US-Gewerk- schaften zwischen Krise und Erneue- rung beschrieben, wobei vor allem auf die Licht- und Schattenseiten des derzeitigen »Hoffnungsträgers« der US-Gewerkschaften, der Organizing- Gewerkschaft SEIU, eingegangen wird. Dass sich die US-Gewerkschaften in einer schwerwiegenden Krise befinden ist hinläng- lich bekannt. Am deutlichsten lässt sich dies an den kontinuierlich fallenden Mitglieder- zahlen ablesen: Der gewerkschaftliche Orga- nisationsgrad sinkt seit 25 Jahren dramatisch. Besonders niedrig ist dabei der Organisa- tionsgrad in der Privatwirtschaft mit knapp 7,4 Prozent, wohingegen mit über 36 Pro- zent fast fünf Mal so viele Beschäftigte im öffentlichen Sektor organisiert sind (Hirsch/ Macpherson 2008). 1 Nur um den derzeitigen Organisierungsgrad zu halten, müssten US- Gewerkschaften jährlich Hunderttausende organisieren – um zu wachsen, Millionen (Bronfenbrenner 2005). Doch dies ist kein einfaches Unterfangen. Aggressive Unterneh- mensstrategien zur Verhinderung und zur systematischen Zerschlagung von Gewerk- schaften gehören nach wie vor zum Stan- dardmerkmal der US-Arbeitsbeziehungen (Kleiner 2002; Logan 2006). Am deutlich- sten lässt sich dies an gewerkschaftlichen Niederlagen bei Anerkennungswahlen 2 able- sen: Gewannen die Gewerkschaften in den 1950er Jahren noch rund 75 Prozent der Wahlen, gingen seit 1974 mehr als die Hälfte der Wahlen verloren (Crump 1991; Nichol- son 2006). Auch die Zahl der »Aberken- nungswahlen« (Decertification Election), in denen die Beschäftigten eine anerkannte Gewerkschaft abwählen können, hat sich seit den 1970er Jahren verdreifacht, wobei auch hier die Gewerkschaften in rund 75 Prozent der Fälle verlieren (Bronfenbrenner 1994; Lösche 2004). Die Ursache dessen liegt jedoch nicht darin, dass US-Amerikaner generell antigewerkschaftlich eingestellt wären. Diverse Untersuchungen bestätigen seit Jahren immer wieder, dass die Mehrheit der US-Beschäftigten einer Gewerkschaft beitreten würde, wenn sie könnte. Sie wür- den jedoch nicht für eine Gewerkschaft stim- men, wenn sie befürchten müssten, ihren Job dadurch zu verlieren (Bronfenbrenner 2001; Carreiro 2005). Besonders in industriellen Beziehungs- systemen, in denen wenig institutionalisierte Macht besteht, setzen Mitgliederverluste konsequenterweise Macht- und Einflussver- luste in Gang. Am deutlichsten sind davon die Gewerkschaften im produzierenden Gewerbe betroffen, insbesondere die einst so mächtige Autoarbeitergewerkschaft United Auto Workers (UAW) schrumpfte von 1,5 Mio. Mitgliedern im Jahre 1979 auf zuletzt 465 000 Mitglieder Ende 2007 (AP 2008). Als wesentliche Ursachen für die Krise der US-Gewerkschaften gelten gemeinhin vor allem vier Faktoren: (1) der Rückgang der industriellen Produktion durch Internationa- lisierung, Tertiarisierung und Auslagerungen (Outsourcing), (2) die veränderte demogra- phische Zusammensetzung der Beschäftigten und das Auftreten neuer Beschäftigungsfor- men; (3) die Aufkündigung der Sozialpart- nerschaft, eine restriktive Arbeitsgesetzge- bung und verstärkter Arbeitgeberwiderstand, und letztlich (4) eine hausgemachte Ursache: die strukturkonservative Trägheit der Ge- werkschaften. 3 Nur wenige Gewerkschaften konnten überhaupt Zugewinne verzeichnen. Vor allem die SEIU gilt dabei als leuchtendes Vorbild in Sachen strategischer Neuausrich- tung und innovativer Mitgliedergewinnungs- praktiken – was in der sozialwissenschaftliche Debatte seit einigen Jahren vielfach unter dem mittlerweile etwas schwammigen Begriff »Organizing« diskutiert wird. 4 In der gegen- wärtigen Debatte bezeichnet »Organizing« sowohl konkrete gewerkschaftliche Praktiken zur Mitgliedergewinnung und -mobilisie- rung 5 als auch spezifische konzeptionelle Modelle eines neuen, bewegungsorientierten Gewerkschaftsselbstverständnisses (Clawson 2003, Lopez 2004, Turner/Hurd 2001, Tur- ner 2007). Widersprüchliche Transfor- mation – Changing to Orga- nize und Change to Win Der Beginn der Erneuerung der US-Gewerk- schaften wird meist mit der Wahl John Swee- ney’s zum Präsident des Dachverbands AFL- CIO 6 im Jahr 1995 datiert. Der ehemalige Präsident der SEIU und seine »New Voice«- Plattform 7 waren mit einem radikalen Reformprogramm mit Schwerpunkt auf der »Organisierung der Unorganisierten« ange- treten. Nach seiner Wahl leitete er massive Umstrukturierungen für eine Organisie- Y es, we can – but how? Hae-Lin Choi zur widersprüchlichen Entwicklung der US-Gewerkschaften*, Teil I

express 4/2009 9 Yes, we can – but how? · 2016. 1. 12. · Heterogener in den Lagerformen waren die Lehrerlager, deren Organisation und Konkurrenz untereinander deutli-cher die

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express 4/2009 9

Leserliches

Aldi-Aktionswaren aus ChinaNeue »Südwind-Studie«

Das »Südwind«-Institut in Siegburg hateine neue Studie über die Arbeitsbedin-gungen in Zulieferbetrieben des Aldi-Konzerns veröffentlicht. Die Recher-chen in chinesischen Betrieben, dieAktionswaren für den größten deut-schen Discounter herstellen, decktenmassive Missstände auf. Autorin Inge-borg Wick fordert daher von Aldi undder Politik wirksame Gegenmaßnah-men.Der deutsche Discounterprimus Aldibietet jährlich ca. 2 500 Aktionswarenzu sensationell niedrigen Preisen an,darunter PCs, Fahrräder, Gitarren,Handmixer und Textilien. Im Jahr2008 erwirtschaftete das Unternehmendamit 20 Prozent seines auf 35 Mrd.

Euro geschätzten Gesamtumsatzes.Mehr als 40 Prozent der Aldi-Aktions-waren wurden in China hergestellt.Aktionswaren sind zu einem Schlüssel-element im Konkurrenzkampf desLebensmitteleinzelhandels geworden.Sie locken immer mehr KundInnen indie Geschäfte und verdrängen damit dieKonkurrenten insbesondere im Fach-handel vom Markt.Im Einkauf der Waren herrscht dasPrinzip ›Kostensenkung um jedenPreis‹. »Die Schnäppchenhits der Dis-counter werden mit systematischenVerletzungen von Arbeits- und Frauen-rechten bei globalen Zulieferernerkauft«, so Ingeborg Wick, Mitarbeite-rin des »Südwind«-Instituts.Sie hat gemeinsam mit PartnerInnen inChina die Arbeitsbedingungen beiAldi-Zulieferern von Elektronik-,Haushalts-, Kosmetik- und Textilwarenin Süd-China untersucht. Die Recher-chen belegen massive Missstände. »Die

meist weiblichen Beschäftigten arbeitenbis zu 91 Stunden pro Woche und kön-nen dennoch von ihren kargen Löhnenkaum leben. Der Arbeitsdruck istenorm, und Fehler werden mit Geld-bußen bestraft. Zudem werden grund-legende Rechte verletzt. Die Frauenerhalten weder Mutterschutz, nochkönnen sie unabhängige Gewerkschaf-ten gründen«, so Wick. »Es handelt sichum Verletzungen von Arbeits- undFrauenrechten, wie sie in der arbeitsin-tensiven Industrie Chinas durch denPreisdruck von hiesigen Importunter-nehmen typisch sind.«»Südwind« hatte bereits im Frühjahr2007 eine Studie über Aldi-Zuliefererim Textilbereich veröffentlicht. DieReaktionen des Konzerns auf die dortgeäußerte Kritik sind unzureichend. InKürze startet die internationale »CleanClothes Campaign« eine groß angelegteKampagne mit dem Schwerpunkt »Dis-counter und Textilien«.

Mit der neuen Studie will das »Süd-wind«-Institut auch branchenübergrei-fende Initiativen fördern sowie denDruck auf Discounter und die Politikin Richtung einer globalen Sozialver-pflichtung von Unternehmen erhöhen.

Die Studie findet sich unter www.suedwind-institut.de/downloads/2009-02_SW_ALDI-Studie-2.pdfGedruckte Fassungen können zum Preisvon 5 Euro (ab 10 Expl. 3,50 Euro) plusVersandkosten bei »Südwind« erworbenwerden.Kontakt: Südwind e.V. – Institut fürÖkonomie und Ökumene, Lindenstr. 58-60, 53721 Siegburg, Tel. (02241)53617, Email: info@suedwind-institut-de, www.suedwind-institut.de

Dringliches

Elitenbildung, Schulungund NS-LagergesellschaftTagung des Bildungswerkes der Huma-nistischen Union NRW und der Erin-nerungs-, Bildungs- und Begegnungs-stätte Alt Rehse e.V.

Schon kurz nach der so genanntenMachtergreifung hat der nationalsozia-listische Staat in großem Umfang Schu-lungslager für die unterschiedlichstenPersonengruppen geschaffen, um dieseKollektive im Sinne der rassisch defi-nierten »Volksgemeinschaft« herauszu-bilden. Dabei galt neben den neuenFunktionsträgern der Macht vor allemwichtigen Berufsgruppen wie den Ärz-ten, Juristen und Lehrern vorrangigeAufmerksamkeit, da ihnen innerhalbder NS-Ideologie besondere Bedeutungzukam. Diese Gruppen standen nichtnur schon vor 1933 in großem Maße

Dass Barack Obama seinen Wahl-kampf mit einem Rekordbudgetfinanzieren konnte, lag nicht unwe-sentlich an der Wahlkampfunterstüt-zung der US-Gewerkschaften. Diesehatten ihn insgesamt mit mehr als 450Mio. Dollar (ca. 343 Mio. Euro) unter-stützt – das ist mehr als zur Präsident-schaftswahl 2004 ausgegeben wurdeund sogar mehr, als John McCain anUnternehmensspenden einnehmenkonnte. Allein 96 Mio. Dollar davonkamen von der mit knapp zwei Mio.Mitgliedern derzeit größten US-Gewerkschaft, der Dienstleistungsge-werkschaft Service Employees Inter-national Union (SEIU). Niemals zuvorist eine solch gigantische Summe voneiner Einzelgewerkschaft ausgege-ben worden (Greenhouse 2008). Diesverdeutlicht, wie wichtig auch denGewerkschaften diese Präsident-schaftswahl war. Denn für sie stehtnicht weniger als ihr eigenes Überle-ben auf dem Spiel.

In diesem Beitrag wird der gegen-wärtige Zustand der US-Gewerk-schaften zwischen Krise und Erneue-rung beschrieben, wobei vor allemauf die Licht- und Schattenseiten desderzeitigen »Hoffnungsträgers« derUS-Gewerkschaften, der Organizing-Gewerkschaft SEIU, eingegangenwird.

Dass sich die US-Gewerkschaften in einerschwerwiegenden Krise befinden ist hinläng-lich bekannt. Am deutlichsten lässt sich diesan den kontinuierlich fallenden Mitglieder-zahlen ablesen: Der gewerkschaftliche Orga-nisationsgrad sinkt seit 25 Jahren dramatisch.Besonders niedrig ist dabei der Organisa-tionsgrad in der Privatwirtschaft mit knapp7,4 Prozent, wohingegen mit über 36 Pro-zent fast fünf Mal so viele Beschäftigte imöffentlichen Sektor organisiert sind (Hirsch/Macpherson 2008).1 Nur um den derzeitigenOrganisierungsgrad zu halten, müssten US-Gewerkschaften jährlich Hunderttausendeorganisieren – um zu wachsen, Millionen(Bronfenbrenner 2005). Doch dies ist kein

einfaches Unterfangen. Aggressive Unterneh-mensstrategien zur Verhinderung und zursystematischen Zerschlagung von Gewerk-schaften gehören nach wie vor zum Stan-dardmerkmal der US-Arbeitsbeziehungen(Kleiner 2002; Logan 2006). Am deutlich-sten lässt sich dies an gewerkschaftlichenNiederlagen bei Anerkennungswahlen2 able-sen: Gewannen die Gewerkschaften in den1950er Jahren noch rund 75 Prozent derWahlen, gingen seit 1974 mehr als die Hälfteder Wahlen verloren (Crump 1991; Nichol-son 2006). Auch die Zahl der »Aberken-nungswahlen« (Decertification Election), indenen die Beschäftigten eine anerkannteGewerkschaft abwählen können, hat sich seitden 1970er Jahren verdreifacht, wobei auchhier die Gewerkschaften in rund 75 Prozentder Fälle verlieren (Bronfenbrenner 1994;Lösche 2004). Die Ursache dessen liegtjedoch nicht darin, dass US-Amerikanergenerell antigewerkschaftlich eingestelltwären. Diverse Untersuchungen bestätigenseit Jahren immer wieder, dass die Mehrheitder US-Beschäftigten einer Gewerkschaftbeitreten würde, wenn sie könnte. Sie wür-

den jedoch nicht für eine Gewerkschaft stim-men, wenn sie befürchten müssten, ihren Jobdadurch zu verlieren (Bronfenbrenner 2001;Carreiro 2005).

Besonders in industriellen Beziehungs-systemen, in denen wenig institutionalisierteMacht besteht, setzen Mitgliederverlustekonsequenterweise Macht- und Einflussver-luste in Gang. Am deutlichsten sind davondie Gewerkschaften im produzierendenGewerbe betroffen, insbesondere die einst somächtige Autoarbeitergewerkschaft UnitedAuto Workers (UAW) schrumpfte von 1,5Mio. Mitgliedern im Jahre 1979 auf zuletzt465 000 Mitglieder Ende 2007 (AP 2008).

Als wesentliche Ursachen für die Krise derUS-Gewerkschaften gelten gemeinhin vorallem vier Faktoren: (1) der Rückgang derindustriellen Produktion durch Internationa-lisierung, Tertiarisierung und Auslagerungen(Outsourcing), (2) die veränderte demogra-phische Zusammensetzung der Beschäftigtenund das Auftreten neuer Beschäftigungsfor-men; (3) die Aufkündigung der Sozialpart-nerschaft, eine restriktive Arbeitsgesetzge-bung und verstärkter Arbeitgeberwiderstand,

und letztlich (4) eine hausgemachte Ursache:die strukturkonservative Trägheit der Ge-werkschaften.3

Nur wenige Gewerkschaften konntenüberhaupt Zugewinne verzeichnen. Vorallem die SEIU gilt dabei als leuchtendesVorbild in Sachen strategischer Neuausrich-tung und innovativer Mitgliedergewinnungs-praktiken – was in der sozialwissenschaftlicheDebatte seit einigen Jahren vielfach unterdem mittlerweile etwas schwammigen Begriff»Organizing« diskutiert wird.4 In der gegen-wärtigen Debatte bezeichnet »Organizing«sowohl konkrete gewerkschaftliche Praktikenzur Mitgliedergewinnung und -mobilisie-rung5 als auch spezifische konzeptionelleModelle eines neuen, bewegungsorientiertenGewerkschaftsselbstverständnisses (Clawson2003, Lopez 2004, Turner/Hurd 2001, Tur-ner 2007).

Widersprüchliche Transfor-mation – Changing to Orga-nize und Change to Win

Der Beginn der Erneuerung der US-Gewerk-schaften wird meist mit der Wahl John Swee-ney’s zum Präsident des Dachverbands AFL-CIO6 im Jahr 1995 datiert. Der ehemaligePräsident der SEIU und seine »New Voice«-Plattform7 waren mit einem radikalen Reformprogramm mit Schwerpunkt auf der»Organisierung der Unorganisierten« ange-treten. Nach seiner Wahl leitete er massiveUmstrukturierungen für eine Organisie-

Yes, we can – but how?Hae-Lin Choi zur widersprüchlichen Entwicklung der US-Gewerkschaften*, Teil I

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der NSDAP nahe, sondern ihnen soll-ten für die geplante Umgestaltung desStaates im nationalsozialistischen Sinnewichtige Aufgaben zugeteilt werden.So richtete man seit Mitte 1933 zahlrei-che Lager ein, in denen die »weltan-schauliche Schulung« dieser Berufs-gruppen vorgenommen wurde undgleichzeitig innerhalb dieser Gruppenauch eine Auswahl im Sinne der Zuver-lässigkeit und Belastbarkeit stattfanden.Dazu zählt die »Führerschule der Deut-schen Ärzteschaft« in Alt Rehse beiNeubrandenburg, in der zwischen 1934und 1943 etwa 12 000 Mediziner fürihre besonderen Aufgaben in der NS-Gesundheitspolitik, die im Endeffektmaßgeblich von den Rassegesetzen,Zwangssterilisation, »Euthanasie« undMenschenversuchen in den Konzentra-tionslager bestimmt wurden, »weltan-schaulich« vorbereitet.Im Gegensatz zur ländlichen Idylle vonAlt Rehse steht die eher militärischstraffe Organisation im »Gemein-schaftslager Hanns Kerrl« in Jüterbog /Brandenburg, in dem zwischen 1933

und 1939 etwa 20 000 juristische Refe-rendare einen Teil ihrer Ausbildungerfuhren.Heterogener in den Lagerformen warendie Lehrerlager, deren Organisationund Konkurrenz untereinander deutli-cher die Kompetenzvielfalt des NS-Regimes widerspiegelt, wobei dieNSLB-Reichsschule »Schloss Fantasie«bei Bayreuth eine maßgebliche Rollefür die »weltanschauliche Erziehung«der NS-Lehrer-Eliten zukam.An einem der »authentischen« Orte, inAlt Rehse, der sich zu großen Teilenerhalten hat, sollen vergleichend dieErgebnisse dieser neuen Forschungenvorgestellt und diskutiert werden und inden größeren Kontext der Fragestellungnach Elitenbildung, Schulungskonzep-ten und Schulungslagern im National-sozialismus eingeordnet werden.

Zeit & Ort(e): 4.–6. Juni, ParkhotelNeubrandenburg, ehemaliges Gemein-schaftshaus im »Tollense-Lebenspark«sowie Erinnerungs-, Bildungs- und Begeg-nungsstätte Alt Rehse

Information & Anmeldung: Bildungs-werk der Humanistischen Union NRW,Paul Ciupke, Kronprinzenstraße 15,45128 Essen, Tel. (0201) 227982,[email protected]

Vom Nutzen und Nachteilder Gewerkschafts-geschichte für die GewerkschaftenTagung von HBS, Institut für SozialeBewegungen und Forschungsstelle fürZeitgeschichte

Die Geschichtsschreibung über dieGewerkschaften und der Arbeiterbewe-gung – insbesondere nach 1945 –scheint brachzuliegen, und zwar inzweierlei Hinsicht: Die Vermittlungvon Geschichte in gewerkschaftlichenBildungseinrichtungen hat angesichtseiner Vielzahl von Bildungsanforderun-gen einen schwereren Stand, und imakademischen Bereich werden diedamit zusammenhängenden Themennur sehr vereinzelt erforscht.

Klaus Tenfelde hat in der Mitbestim-mung Nr. 10/2007 darauf hingewiesen,dass zwar die Quellen für zeitgeschicht-liche Forschungen inzwischen gutzugänglich sind, aber kaum genutztwerden. Der von ihm konstatierteGeschichtsverlust würde langfristig zueinem Identitätsmangel bei denGewerkschaften führen.Geschichte ist sicherlich auch einewichtige Ressource zur Identitätsbil-dung. Aber ist ein nutzorientiertes Ver-hältnis zur Geschichte erkenntnisför-dernd? Welchen Charakter könnenneue Forschungen zu Gewerkschaften,Arbeiterbewegung und dem Wandelder Arbeitswelt haben, welchen solltensie entwickeln? Welchen Einfluss könn-te dies wiederum auf die gewerkschaftli-che Vermittlung von Geschichte haben?Auf der von AltstipendiatInnen derHans-Böckler-Stiftung organisiertenTagung soll diesen Fragen nachgegan-gen werden. Ziel es ist zum einen, fürInteressierte ein Forum zum Austauschzu bieten. Zum anderen sollen dieBeiträge Einblicke in die Praxis gewerk-

schaftlicher Geschichtsvermittlung undaktuelle Forschungsprojekte vermitteln,wobei auch Anregungen für neue Pro-jekte diskutiert werden sollen.Da die Gewerkschaften und Arbeitsbe-ziehungen stärker in den Blick der zeit-geschichtlichen Forschung genommenwerden sollten, beziehen sich dieBeiträge auf die Zeit nach 1945.

Aus dem Programm:● Wozu Gewerkschaftsgeschichte?Ideen, Perspektiven und offene Fragen● Die Gewerkschaften und ihreJugend – Mitgliederressource oderRebellion?● Ende der Arbeiterkultur – Zu denWandlungen des sozialen Milieus● Zur Entwicklung der Bildungsarbeit● Betriebsgeschichten – Der Betriebals sozialer Ort

Zeit & Ort: 15.–17. Mai, Institut fürsoziale Bewegungen (ISB), Clemensstraße17-19, 44789 BochumInformation & Anmeldung: Hans-Böckler-Stiftung, Projekt AltstipendiatIn-

rungsoffensive ein. Die neue AFL-CIOFührung stellte erhebliche finanzielle Res-sourcen für Organisierungskampagnen zurVerfügung und ermunterte die Mitgliedsge-werkschaften zu offensiveren Kampagnen,holte eine Schar von jungen, leidenschaftli-chen Aktivisten in den Apparat8, suchte dieNähe zu sozialen Bewegungen und öffnetesich nicht nur gegenüber einer radikalenRhetorik, sondern propagierte auch dieDurchführung von militanten Aktionen.Plötzlich gab es einen Hoffnungsschimmerauf Revitalisierung nicht nur in der US-Arbeiterbewegung, sondern auch in dergewerkschaftsnahen Forschung. Eine nahezuunüberschaubare Anzahl von euphorischenVeröffentlichungen über diese Zeit belegtdies eindrucksvoll.9

Dennoch, auch all diese ambitioniertenMaßnahmen konnten keine allgemeineTrendwende einleiten. Zur Jahrtausendwen-de fokussierten immer noch zu wenigeGewerkschaften im AFL-CIO auf offensivereOrganisierungsstrategien, der SoziologeRichard Hurd spricht sogar vom »Scheiternvon Organizing« (Hurd 2004, Moody 2007).Nur eine Handvoll der 66 Gewerkschaftenim AFL-CIO führten umfassende Organisie-rungskampagnen durch, oder anders ausge-drückt: Im Jahr 2000 waren 80 Prozent allerneuen Mitglieder von zehn der 66 AFL-CIOGewerkschaften organisiert oder 50 Prozentder neuen Mitglieder durch drei Gewerk-schaften (Bronfenbrenner/Hickey 2004). Ins-gesamt war der Organisationsgrad sogargefallen, zwischen 1995 und 2005 verlorendie Gewerkschaften 888 000 Mitglieder. KimMoody fasst zusammen: »Organizing war daszentrale Versprechen des New Voice-Teams,und sie waren nicht in der Lage, dies einzulö-sen.« (Moody 2007: 137; Übersetzung derexpress-Redaktion).

Die Frage ist allerdings, inwieweit dasNew Voice-Team tatsächlich für das Scheiternder Organisierungsoffensive verantwortlichist. Das Aufbrechen der teilweise zutiefstkonservativen Strukturen einiger Mitglieds-gewerkschaften ist nicht nur ein äußerstschwieriges Unterfangen, dem Dachverbandfehlt auch die notwendige Autorität undDurchsetzungsmacht, um dies zu forcieren.Viele Gewerkschaften haben schlicht keinInteresse an der Organisierung von neuenMitgliedern, was teilweise mit der BusinessUnionism10-Tradition in den USA zuerklären ist. Die dezentrale Struktur derGewerkschaften und die große Autonomieder Ortsverbände (sog. Locals) haben dieExistenz von kleinen, lediglich auf einenBetrieb bezogenen Gewerkschaften gefördert.Das Ziel dieser so genannten Corner ShopUnions, deren Anzahl nicht unterschätzt wer-

den sollte, bestand lediglich darin zu existie-ren – und einer kleinen Gewerkschaftsbeleg-schaft die Beschäftigung zu sichern. Organi-satorisches Wachstum ist weder notwendignoch erstrebenswert, ebenso wenig die Erlan-gung von Markt-, Preis- oder politischerMacht. Der Soziologe Steve Lopez hat dieseMentalität daher auch »Do-Nothing Unio-nism« genannt (Lopez 2004).

Andererseits haben nicht alle Gewerk-schaften dieselben Voraussetzungen zurDurchführung von umfassenden Organisie-rungskampagnen. Vor allem Gewerkschaftenim produzierenden Sektor gelten, aufgrundder allgegenwärtigen Verlagerungsdrohung,als besonders erpressbar. Daher konnten dortbislang noch keine vergleichsweise erfolgrei-chen Organisierungsmethoden entwickeltwerden.

Innerhalb des Dachverbandes mehrtensich seit 2003 kritische Stimmen zu der Artund Weise, wie zögerlich und ineffektiv dieNew Voice-Führung Reformen umgesetzthätte. Insbesondere die SEIU forderte grund-legendere Reformen der AFL-CIO und derStrukturen der über 60 Mitgliedsgewerk-schaften. Sie kritisierte, dass die nahezu un-überschaubare Fragmentierung der US-Gewerkschaften zu organisatorischer Kon-kurrenz und damit zur Schwächung führe(Hurd 2004, SEIU 2003). In der Tat, diewenigsten US-Gewerkschaften weisen klareBranchen- oder Industriezuständigkeiten auf.So wirbt die ehemalige Transportarbeiterge-werkschaft Teamsters beispielsweise damit,dass sie unter anderem Beschäftigte imÖffentlichen Dienst vertritt, Farmarbeiter inKalifornien, Bauarbeiter in Las Vegas undBäcker in Maine. Allerdings wird verschwie-gen, dass es sich oftmals nur um sehr wenigeBeschäftigte oder kleine Betriebe handelt.11

Daher plädierte die SEIU für die Fusion der66 Gewerkschaften zu etwa 15 Branchen-oder Industriegewerkschaften, die wirklich inder Lage seien, Verhandlungsstärke undOrganisationsmacht in ihren Branchen auf-zubringen (Lerner 2003). Die SEIU undeinige andere Gewerkschaften, die sich zur sogenannten New Unity Partnership (NUP)zusammen geschlossen hatten, löste mit ihrerKritik eine kontroverse Debatte unter denAFL-CIO Mitgliedsgewerkschaften aus. DieNUP-Gewerkschaften spalteten sich auf demGewerkschaftstag des AFL-CIO im Juli 2005vom Dachverband ab und gründeten Changeto Win (CtW) (Greven 2006, Masters et al.2006).12 Die CtW-Gewerkschaften sehensich selber als Alternative zum »pale, male,stale« (etwa: blass, männlich, fad; Anm. d.Red.) AFL-CIO (Milkman 2005: 45) undpropagieren die Organisierung von gewerk-schaftlichen »Randgruppen« wie Frauen undMigrantInnen, vor allem im Niedriglohnbe-reich des Dienstleistungssektors. CtW hat

mit Anna Burger das erste Mal in der Ge-schichte der US-Gewerkschaften eine Frauan der Spitze eines Dachverbands und reprä-sentiert mit sechs Mio. Mitgliedern mehr alshalb so viele Beschäftigte wie die verbliebe-nen 55 Gewerkschaften im AFL-CIO mitzehn Mio. Mitgliedern (Moberg 2007).

Think Big: SEIU

Wie bereits zu erkennen ist, spielt die SEIUseit geraumer Zeit eine entscheidende Rollein der US-Gewerkschaftsbewegung.13 DieSEIU steht für ein kompromissloses Eintre-ten für die Organisierung der Unorganisier-ten, neue politische Strategien und eineTarifverhandlungsstruktur, die über den Ein-zelbetrieb hinaus auf regionaler, nationalerund sogar internationaler Ebene ansetzt.Weltweit ist »ihr« Organizing-Modell zumVorbild für viele Gewerkschaften gewordenund auch von der SEIU aktiv exportiert wor-den – nicht zuletzt auch nach Deutschland(Bremme et al. 2007; Fairbrother/Yates2003).14 Aushängeschild der SEIU ist ihrenahezu legendäre Organizing-Kampagne»Justice for Janitors« und ihre einzigartigeTransformation zu einer Organizing-Gewerk-schaft.

Justice for Janitors (JfJ) ist eine Organisie-rungskampagne im Bereich Gebäudereini-gung, die eine ausgeklügelte Strategie verfolgtund die Einbeziehung von lokalen Gemein-den und Communities in vielfältige, fantasie-volle Aktionen innerhalb und außerhalb desBetriebs umfasst. Insbesondere die Tatsache,dass sich Hunderttausende von unterprivile-gierten, prekarisierten MigrantInnen, oftmalsmit unsicherem Aufenthaltsstatus, über JfJorganisiert haben, macht einen Großteil derFaszination dieser Kampagne aus und hat ihrein radikales Image innerhalb der Gewerk-schaftsbewegung und ihrer wissenschaftli-chen Rezeption verschafft (Milkman/Wong2001).15 Kernstück dieser »umfassenden«Kampagnen (Markowitz 2000) sind basis-orientierte Organisierungstaktiken (rank-and-file intensive tactics), die eine partizipa-tionsorientierte Mobilisierungskultur för-dern. Ihr Aufbau erfordert erhöhte finanzielleund personelle Ressourcen und kann einelange Zeitspanne in Anspruch nehmen. Derletzte spektakuläre Sieg der JfJ-Kampagne2007 in Texas, bei dem über 5 000 Mitglie-der organisiert wurden, nahm über vier Jahrein Anspruch und kostete über drei Mio.Dollar (Choi 2008e).

Die offizielle Erneuerung der SEIUbegann 1996, als Andy Stern den Platz vonJohn Sweeney als Präsident der Gewerkschafteinnahm. Andy Stern systematisierte undradikalisierte die tief greifende Umstrukturie-rung der SEIU. Die gesamte Organisation

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nen, Anne Arnz, Hans-Böckler-Straße39, 40476 Düsseldorf, Tel. (0211) 7778-276, [email protected]

Water makes money –Internationaler Aufruf zur Unterstützung des Filmprojekts

Helfen Sie mit, dass ein kritischer Filmzur fortschreitenden Privatisierungunserer Lebensgrundlage Wasser ent-steht!Die wichtigen Dinge im Leben wissendie meisten Menschen erst zu schätzen,wenn sie fehlen. Gutes Wasser ist so einDing. Der Mensch ist zu 70 ProzentWasser. Er muss es immer wieder nach-füllen, sonst ist er nach ca. drei Tagentot. Als unverzichtbares Grundnah-rungsmittel war Wasser deshalb immerein öffentliches verwaltetes Gut. Undauch heute noch ist die Wasserversor-gung weltweit zu mehr als 80 Prozentin öffentlicher Hand. Aus gutemGrund: Trinkwasser und Abwasser sind

immer ein lokales Monopol. Durchsörtliche Rohrnetz fließen nirgendwoauf der Welt verschiedene Wässer kon-kurrierender Versorger. Markt istundenkbar. Wer diesen lebenswichti-gen Dienst dennoch privatisiert, ersetztein öffentliches durch ein privatesMonopol. Genau dies geschieht derzeitüberall auf der Welt im Namen vonWettbewerb und Markt, wenn Wasser-konzerne wie Veolia und Suez an dieTür finanziell klammer Kommunenklopfen. Allein der Globalplayer Veolia– erst 2003 als Nachgeburt des größtenfinanzpolitischen Crashs in derGeschichte Frankreichs aus VivendiUniversal entstanden – ist heute inmindestens 69 Ländern auf allen fünfKontinenten präsent und damit dieunbestrittene No. 1 in der Welt der pri-vaten Wasserversorgung. In Deutsch-land hat es der französische Weltkon-zern in kürzester Zeit geschafft, mit derBeteiligung an Wasserwerken in 450deutschen Kommunen zum größtenVersorger des Landes im Trink- undAbwasserbereich aufzusteigen. Tag für

Tag melden die französischen Global-player neue Eroberungen. Sie verspre-chen Effektivität, günstigere Finanzie-rungsmöglichkeiten und auch Nach-haltigkeit. Nur in der Heimat der Kon-zerne, in Frankreich, glaubt ihnenkaum noch jemand ...Ausgerechnet hier, wo Veolia und Suezacht von zehn Bürger mit Wasser ver-sorgen, wollen viele Kommunen dieseKonzerne so schnell wie möglich los-werden. Intransparenz, schlechte Was-serqualität, kontinuierliche Preissteige-rungen und Monopolmissbrauch lau-ten die Vorwürfe. Die Gemeindenhaben große Schwierigkeiten zu kon-trollieren, ob die in Rechnung gestell-ten Preise der geleisteten Arbeit ent-sprechen. Wurden die Milliardengezahlter Gebühren für die Sanierungder Rohre wirklich dafür genutzt? Hatdas Wassergeld aus französischenGemeinden die weltweite Expansionvon Veolia und Suez finanziert? DieHauptstadt Paris und mehr als hundertandere französische Gemeinden habenmittlerweile beschlossen, die Kontrolle

über diese lebenswichtigen Dienstezurückzunehmen. Ende diesen Jahresmüssen Veolia und Suez in Paris dieKoffer packen. Dann wird die Wasser-versorgung von der Pariser Kommuneverwaltet.Der Film »Water makes money« wirddiese brisante aktuelle Entwicklungbeleuchten. Er wird zeigen, was Parisund andere französische Gemeindenaus der Herrschaft von Veolia & Cogelernt haben und wie sie es schaffen,das Wasser in eigene Regie zurückzuho-len. Beispiele aus Europa und Amerikaergänzen den Film zu einem Lehrstückfür die ganze Welt. »Water makesmoney« wird Mut machen: Wasser inBürgerhand ist möglich! »Water makesmoney« entsteht als »Film von unten« –finanziert von denen, die ihn sehenwollen, die ihn zeigen wollen, die diesesHilfsmittel als Aufklärung brauchen.Was ein derartiger Film an Aufklärungund Mobilisierung leisten kann, zeigenzwei andere Projekte der FilmemacherLeslie Franke und Herdolor Lorenz:»Bahn unterm Hammer« und »Wasser

unterm Hammer«. Deshalb rufen wirauf: Helfen Sie mit, dass »Water makesMoney« zustande kommt!● Jede Spende ist willkommen. Ab 20Euro erhalten Sie dann von Aquattaceine DVD-Kopie.● Ab 100 Euro erhält der Förderer dieAuszeichnung »Wasserwerker/in imöffentlichen Auftrag« und gilt als Gold-förderer. Auf Wunsch werden Sie imAbspann namentlich genannt.● Ab 1 000 Euro erhält der Fördererdie Auszeichnung »Wassermeister/in imöffentlichen Auftrag« und gilt als Pla-tinförderer. Sie werden selbstverständ-lich zur Premiere eingeladen.

Konto: Water makes money, Konto 1230131474, Haspa-Bank, BLZ 200 505 50Weitere Infos: www.watermakesmoney.org und film@ watermakesmoney.org

sollte auf das große Ziel, die massenhafteOrganisierung, zugeschnitten werden. Dafürsetzte er eine massive Ressourcenumvertei-lung durch, straffte und zentralisierte dieOrganisation durch die teilweise erzwungeneZusammenführung von Ortsverbänden undschaffte einheitliche Strukturen zur systema-tischen Durchführung von strategischen,umfassenden Kampagnen. Diese werden vonhoch qualifizierten Strategen und Recherche-abteilungen konzipiert und nehmen haupt-sächlich solche Organisierungsziele ins Visier,die eine massenhafte Mitgliedergewinnungversprechen, vorzugsweise national aufgestell-te Großunternehmen (Kirkland 2006, Bern-stein 2004). Für jede Branche resp. Ortsver-band gibt es jährliche Organisierungsquoten,die erreicht werden müssen. Perspektivischwill die SEIU nationale, koordinierte Struk-turen schaffen, die Tarifverträge auf Bundes-ebene ermöglichen und damit Organisie-rungsrechte in einem ganz großen Rahmenbieten würden.16 Diese Maßnahmen wurdenschrittweise in Vier-Jahres-Plänen jeweils aufden Gewerkschaftstagen der SEIU 1996,2000 und 2004 beschlossen und waren hochumstritten, da sie demokratische Mitbestim-mungsrechte der Mitglieder zunehmend ein-schränkten (Tait 2005, Woodruff 2007).

Doch der Erfolg scheint seinem KursRecht zu geben. Die SEIU konnte außerge-wöhnliche Organisierungserfolge erzielen –

zu einer Zeit, in der fast alle Gewerkschaftendramatische Einbrüche zu verzeichnen hat-ten. Innerhalb einer Dekade konnte sie ihreMitglieder auf knapp zwei Millionen verdop-peln und ist nunmehr die größte Gewerk-schaft in den USA.

Widersprüchlicher Hoffnungsträger

Die größten Mitgliedergewinne verzeichnetedie SEIU jedoch nicht durch ihre umfassen-den, militanten Organizing-Kampagnen. EinGroßteil der neuen Mitglieder stammt ent-weder aus Fusionen mit anderen Gewerk-schaften, wie beispielsweise mit der starken,ehemaligen New Yorker Gesundheitsgewerk-schaft 1199, die 1998 mit 200 000 Mitglie-dern in die SEIU kam, oder aus »feindlichenÜbernahmen« anderer Gewerkschaften. Die-se für europäische Gewerkschaften etwasbefremdliche Praxis ist durchaus üblichinnerhalb der US-Gewerkschaftsbewegung.Hierbei versucht eine Gewerkschaft in einemBetrieb, in dem bereits eine Gewerkschaftexistiert, dieser die Anerkennung zu entzie-hen (decertification), um sich dann in Neu-wahlen selber anerkennen zu lassen. DieSEIU geriet im Mai 2008 in die Schlagzeilen,als sie versuchte, die puertoricanische Lehrer-gewerkschaft Federacion de Maestros de Puer-

to Rico auf diese Weise zu übernehmen (Mar-zan 2008).

Die derzeit umstrittenste Variante derMitgliedergewinnung ist die durch denAbschluss von so genannten Neutralitätsab-kommen mit Unternehmen. Vor dem Hin-tergrund der aufwändigen und für dieGewerkschaften oftmals nachteiligen NLRB-Verfahren (National Labor Relations Bord)haben alternative Formen der Erringung von»freiwilliger« gewerkschaftlicher Anerken-nung in den vergangenen zwei Jahrzehntenan Bedeutung gewonnen. Eine zunehmendrelevanter gewordene Strategie stellt dieAnerkennung durch das so genannte CardCheck Agreement dar. Hierbei wird dasNLRB-Verfahren umgangen, indem dieGewerkschaft mit einer aggressiven Unter-nehmenskampagne versucht, den Arbeitgeberim Vorfeld zu einem Neutralitätsabkommenzu zwingen. In diesem Abkommen erklärtdieser sich bereit, den Organisierungsprozessnicht zu behindern (Crump 1991; Eaton/Kriesky 2001). Card Check-Anerkennungs-wahlen haben eine weitaus höhere Erfolgsrateals NLRB-Wahlen. Daher sind einigeGewerkschaften, wie die SEIU, mittlerweiledazu übergegangen, nur noch nach diesemVerfahren zu organisieren (Brudney 2005).17

Eine Erweiterung dessen ist das so genannteBargaining to Organize, bei dem im Laufevon Tarifverhandlungen in bereits organisier-

ten Betrieben versucht wird, Organisierungs-rechte für noch unorganisierte Einheiten desArbeitgebers zu erhalten. Im Tausch dafürmuss die Gewerkschaft oftmals weit reichen-de Zugeständnisse machen.

In der Vergangenheit hat die SEIU-Füh-rung zahlreiche umstrittene nationale Neu-tralitätsabkommen, fast hauptsächlich imGesundheitswesen, mit nationalen Gesund-heitsunternehmen abgeschlossen. Diese bein-halten beispielsweise den Verzicht auf Streiks(Labor Peace); die Bedingung, dass die SEIUauf politischer Ebene Lobbyarbeit für dieGesundheitsunternehmen betreibt; eine Aus-wahl seitens der Unternehmen über zu orga-nisierende Betriebe und Betriebe, die ausge-nommen werden; schlechte Tarifverträge undLaufzeiten von bis zu 20 Jahren (Kaplan2008, Moberg 2008). Diese Abkommen gel-ten als so genannte Sweetheart Deals, da dieSEIU-Führung oftmals über die Köpfe derbetroffenen Locals, ihrer Führungen, ihrerTarifkommissionen und ihrer Mitglieder hin-weg »hinter verschlossenen Türen«, getroffenwurden (Greenhouse 2008). Solche Abkom-men bedürfen kaum nennenswerter Organi-sierungsaktivitäten der Beschäftigten, da die-se quasi automatisch zu Mitgliedern werdenbzw. Mitgliedsbeiträge entrichten, wenn derBetrieb das Abkommen anerkennt.18 »Umdie Wahrheit zu sagen, wissen die meistenMitglieder gar nicht, dass sie eine Gewerk-schaft haben«, heißt es in einem offenen Protestbrief an Präsident Stern (Plumer2008; Übersetzung Redaktion express).200 000 Mitglieder konnte die SEIU auf-grund solcher Union Shop-Abkommengewinnen (Moberg 2008).

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklun-gen erscheint das vielzitierte Organizing-Modell der SEIU in einem völlig anderenLicht. Vor allem die Tendenz, solche Artenvon »Mitgliedergewinnung« den aufwändi-gen, teuren und langwierigen Organizing-Kampagnen vorzuziehen, hat Kritiker seitgeraumer Zeit die Frage aufwerfen lassen, obder Preis des Wachstums der SEIU wohl dieeigene Kampfkraft sei (Choi 2008e).

Teil II folgt in der nächsten Ausgabe des express.

Anmerkungen:1) 2007 steigt die Zahl der gewerkschaftlich organisierten

Beschäftigten zum ersten Mal seit 1982, und zwar um311 000 neue Mitglieder – auf 15,7 Millionen Mit-glieder oder 12,1 Prozent der Beschäftigten (BLS2008).

2) Um Beschäftigte vertreten zu können und als Tarifpar-tei anerkannt zu werden, müssen Gewerkschaften ihrenVertretungsanspruch zunächst im Rahmen einer Aner-kennungswahl (Certification oder NLRB Elections)gewinnen. Dabei muss die Mehrheit der Beschäftigtenin einem ersten Schritt für eine Wahl stimmen und ineinem zweiten Schritt die Gewerkschaft wählen. Aner-kennungswahlen stellen zudem die einzige Möglichkeitfür Gewerkschaften dar, Mitglieder zu gewinnen(Lösche 2004).

3) Eine kleine Auswahl über die mittlerweile unüber-

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12express 4/2009

»Weltweite Krise in derAutomobilindustrie –Unsere Strategien«

Konferenz von Automobil- und Zuliefer-beschäftigten

Anfang März hatte TIE zu einer erstenAutotagung nach Köln eingeladen, ander 25 Gewerkschafter aus Hersteller-und Zulieferbetrieben teilnahmen. Ginges zur damaligen Zeit noch hauptsäch-lich um die erste Welle von Auswirkun-gen der Krise in den Betrieben wie Kurz-arbeit oder Betriebsferien, so ist längstklar, dass wir es mit einer Weltwirt-schaftskrise zu tun haben, die insbeson-dere in der Automobilbranche dramati-sche Auswirkungen haben wird.Bereits heute werden von den Unter-nehmen massive Sparmaßnahmen derArbeitskosten und Lohnkürzungen inunterschiedlicher Form gefordert. BisEnde des Jahres wird mit über 80 Insol-venzen von Zulieferern in Deutschlandgerechnet, und auch große Herstellerweisen Entlassungen nicht mehr vonsich. All dies wird sich in den nächstenMonaten weiter verschärfen, eine ent-

sprechende Positionierung ist gefragt!Es soll deshalb eine zweite Autotagungin Köln geben. Die Schwerpunkte derDiskussion sollen sein:● Die weiteren Auswirkungen der Kri-se für die Beschäftigten● Perspektiven im Umgang mit denFolgen der Krise● Mittel- und langfristige Perspektiven– Kritik am heutigen Mobilitätsmodell● Vorbereitung für eine größere Auto-konferenz im Oktober 2009

Zeit & Ort: 18.–19. Juni, DJH Köln-DeutzInformation & Anmeldung: TIE Bil-dungswerk e.V., Heidestr. 131, 60385Frankfurt, Fax 069/97 76 06 69,[email protected]

Union Summer der IG Metall

Mit Organizing und Kampagnen in die Offensive!

Grenzenloser Kapitalismus, Krise undKonzernprofite ohne Maß bedeuten:

Leiharbeit und Billiglöhne hier, Kurzar-beit und Entlassungen dort, Rentenal-ter rauf, soziale Sicherung runter... MitGerechtigkeit, Freiheit, Solidarität,Würde, Anerkennung und Respekt hatdies wenig zu tun. Grund genug – ins-besondere für Gewerkschaften – demim Betrieb und in der Öffentlichkeitoffensiv entgegenzuwirken und aktivfür soziale Gerechtigkeit, gute Arbeitund ein gutes Leben einzutreten!Neugierige haupt- und ehrenamtlicheGewerkschafterInnen, soziale Bewe-gungsaktivisten und alle Interessiertenaus Gesellschaft und Wissenschaft sindzu vier Tagen spannender Debatte inWorkshops und Podien, praktischenTrainings und öffentlichkeitswirksamenAktionen eingeladen.Warum mit Organizing in die Offensi-ve? Raus aus der Defensive! Nach die-sem Motto gehen nicht mehr nur inden USA, sondern auch hier zu LandeGewerkschaften neue Wege: mit Orga-nizing. Mit penibler Genauigkeit wer-den quasi Feldzüge gegen Unterneh-men geplant, in einer umfangreichenRecherche Schwachstellen ausgemacht

und mit eskalierenden Aktionen imBetrieb und in der Öffentlichkeitgezielter Druck entfaltet.Organizing ist eine Offensivstrategiefür Gewerkschaften und bedeutet Hilfezur Selbsthilfe. Beschäftigte werden fürihre Anliegen gemeinsam aktiv, setzenihre Forderungen durch und organisie-ren sich in Gewerkschaften. So entste-hen nachhaltige Interessenvertretungs-und Organisationsstrukturen sowieselbstbewusste Belegschaften, diedurchsetzungsmächtig und politikfähigsind.Warum mit Kampagnen in die Offensi-ve? Als menschenverachtenden undgewerkschaftsfeindlichen Konzern ent-tarnt ver.di den Lebensmittel-Discoun-ter Lidl. Mit Attac und anderen sozia-len Gruppen macht die Gewerkschaftöffentlich Druck und zwingt ihn, dieArbeitsbedingungen der Beschäftigtenzu verbessern und Betriebsratsgründun-gen nicht mehr zu behindern.Die österreichische Regierung will2004 mit einem Gesetz das Rentenaltererhöhen. Der Gewerkschaftsbund star-tet eine medial genial inszenierte

Druckkampagne im ganzen Land, diein einer Massendemonstration mündet,und verhindert somit das Rentenklau-gesetz.Etliche Unternehmen betreiben geziel-tes Lohndumping: durch Leiharbeit.Bis zu 40 Prozent weniger erhalten dierund 850 000 Leiharbeitnehmer beigleicher Arbeit und gleicher Qualifika-tion.ReferentInnen u.a.: Franziska Bruder(ver.di Organizing Kampagnen), DetlefWetzel (Zweiter Vorsitzender der IGMetall), Frank Werneke (stellv. Vorsit-zender ver.di), Dietmar Schäfers (Stellv.Bundesvorsitzender IG BAU), RomanBurger (Unia Zürich), Valery Alzaga(Organizing-Koordinatorin), HeinrichGeiselberger (Suhrkamp Verlag), KlausDörre (Uni Jena), Alex Demirovic (TUBerlin)

Zeit & Ort: 9.–12. Juli, IG Metall Bil-dungsstätte SprockhövelKontakt: IG Metall Vorstand, Mitgliederund Kampagnen, Susanne Kim, Tel:(069) 6693 – 2697, Email: [email protected]

schaubar gewordene Literatur zur Krise der US-Gewerkschaften: Aronowitz (1998), Bennett/Kaufman(2002), Coombs (2008), Craver (1992), Kochan et al.(1986), Moody (1988, 1999, 2007), Lüthje/Scherrer(1993), Wunnava (2004).

4) Frege/Kelly identifizieren insgesamt sechs Dimensionenvon gewerkschaftlicher Erneuerung: Organizing, Sozi-alpartnerschaft, Bündnispolitiken, politische Arbeit,internationale Zusammenarbeit und interne Struktur-reform (Frege/Kelly 2004).

5) Hierbei bezeichnet Organizing ein Set von Technikenund Taktiken, die eine neue Form der Mitgliederan-sprache und -werbung darstellen, die basisorientierteAktivierung und Mobilisierung der Mitglieder zumZiel haben (Bronfenbrenner/Hickey 2004, Heery et al.1999, Dribbusch 2007).

6) American Federation of Labor – Congress of IndustrialOrganizations

7) »New Voice« war der Name der Sweeney-Plattform fürdie neue AFL-CIO Führungsspitze. Mit Linda Cha-vez-Thompson stand zum ersten Mal eine Latina undmit Richard Trumka, dem Präsident der Minengewerk-schaft, ein militanter Arbeiterführer an der Spitze desDachverbands – eindeutig ein Zeichen für Aufbruchund neue Orientierungen.

8) Diese bleiben meist nicht lange leidenschaftlich. DieArbeit in Organizing-Kampagnen ist extrem aufreibend,Organizer haben keine festen Arbeitszeiten bzw. arbeitenrund um die Uhr, sind meist auf Reisen und müssenemotional sehr anstrengende Aufgaben bewältigen. EineUntersuchung ergab, dass die meisten Organizer imDurchschnitt nach drei Jahren aufhören (Rooks 2003).Dieser Zustand ist bereits mehrfach als »Ausbeutung«von jungen, engagierten Aktivisten, die die Organizing-Gewerkschaften »einsaugen, zerkauen und wieder aus-spucken« kritisiert worden (Early 1998; Feekin/Widenor2003; Foerster 2001; 2003; Rooks 2003; 2004).

9) Die wichtigsten Sammelbände: Bronfenbrenner et al.(1998), Fairbrother/Griffin (2002), Mantsios (1998),Milkman/Voss (2004), Turner et al. (2001), Wunnava(2004)

10) Business Unionism ist das vorherrschende Gewerk-schaftsmodell in den USA und reduziert Gewerkschaf-ten auf ökonomische Interessenorganisationen mitArbeitsmarktfunktionen. Gewerkschaften beschränkensich hierbei auf die Rolle von Dienstleistungs-Agenten,die ihren Mitgliedern im Tausch für MitgliedsbeiträgeLohnerhöhungen und Arbeitszeitregelungen in Formvon Deals mit den Arbeitgebern aushandeln. Über dieunmittelbaren Interessen hinaus gehende Ziele wie Soli-darität, industrielle Demokratie und gesellschaftspoliti-sche Ziele, die die westeuropäische Gewerkschaftsbewe-

gung prägten, spielen keine nennenswerte Rolle (Kochanet al. 1986; Herding/Sabel 1979).

11) Die 15 größten Gewerkschaften im AFL-CIO repräsen-tierten 2003 zehn von 13 Millionen Mitgliedern, diegrößten neun repräsentierten acht der 13 MillionenMitglieder, nur 18 Gewerkschaften hatten mehr als200 000 Mitglieder; etwa 40 Gewerkschaften habenunter 100 000 Mitglieder, und ihre durchschnittlicheMitgliederzahl beträgt 58 000 (Lerner 2003).

12) Das waren die SEIU, die Hotel-, Gastronomie- undTextilarbeitergewerkschaft UNITE-HERE, die Labo-rers und die Handelsgewerkschaft UFCW. Später folg-ten die legendäre Farmarbeitergewerkschaft UFW, dieTeamsters und die Carpenters.

13) Die SEIU organisiert in privaten und öffentlichenGesundheitsdiensten, im öffentlichen Dienst und ingebäudenahen Dienstleistungen.

14) Mithilfe des so genannten Global Partnerships-Pro-gramms versucht die SEIU sowohl weltweit Partner-schaften mit lokalen Gewerkschaften aufzubauen, alsauch Stützpunkte für ihre eigenen Kampagnen gegenglobale Unternehmen zu etablieren. Hierfür schickt siehauptamtliche MitarbeiterInnen (Organizer und Rese-archer) in die jeweiligen Länder, die für den Aufbauvon Organizing-Kampagnen oder -Programmen ver-antwortlich sind. Derzeit gibt es solche Partnerschaftenunter anderem in den Niederlanden, Polen, England,Australien, Südafrika, Indien und Deutschland (Gre-ven 2007). Eine Auswertung der Übertragungsversuchebieten Fairbrother/Yates (2003), Dribbusch (2007),Greven/Schwetz (2008).

15) Über Justice for Janitors: Erickson et al. (2004), Fant-asia/Voss (2004), Howley (1990), Savage (2006), Wal-dinger et al. (1996), auf deutsch: Choi (2008c,2008d), Dribbusch (1998)

16) Wie bereits erwähnt, findet die Mitgliedergewinnungin den USA hauptsächlich über die Anerkennung derGewerkschaft statt. Da kein System von Flächentarifenoder sonstigen übergreifenden Tarifverträgen existiert,sondern diese hauptsächlich auf betrieblicher Ebeneabgeschlossen werden, ist eine massenhafte Mitgliederge-winnung nur in Großbetrieben möglich. Diese sindjedoch in den Organisationsbereichen der SEIU seltengegeben. Zwar gibt es im Gesundheits- und Gebäude-servicebereich große Dienstleistungsunternehmen mitZehntausenden von Beschäftigten, die jedoch dezentra-lisiert in kleinen Einheiten eingesetzt werden.

17) Mit dem Employee Free Choice Act versuchten Gewerk-schaften unter anderem, das Card Check-Verfahrenlegal abzusichern und einer NLRB-Wahl gleichzuset-zen. Der Gesetzentwurf scheiterte 2006 jedoch amWiderstand im Senat. Es gibt jedoch eine Reihe vonBundesstaaten, in denen der EFCA gilt (Friedman2007, Ortega 2007).

In China wird – für viele Ökonomen›modellhaft‹ – vorexerziert, wie einWeg aus der Krise aussehen könnte.Mit einem gigantischen ›Konjunktur-paket‹ von umgerechnet rund 418Mrd. Euro überbrückt der Staat»Liquiditätsengpässe« von Bankenund Unternehmen durch erleichterteKreditvergabe. Zusätzlich sollendrastische Steuersenkungen für Elek-tronik-Produzenten und Subventio-nen für ländliche Haushalte zurAnkurbelung des Binnenkonsumsführen und so die Exportabhängig-keit abfedern. Dahinter steht dernicht nur in China populäre Glaubean den »trickle down«-Effekt, demzu-folge eine Ausweitung von Investi-tions- und Konsumnachfrage zueinem wieder ansteigenden Wirt-schaftswachstum und damit zu sin-kender Arbeitslosigkeit und steigen-den Einkommen führe.

Warum diese Hoffnung illusionär ist,diskutiert Au Loong-yu, Mitarbeiterdes »Globalization Monitor« in HongKong, in seinem folgenden Beitragfür das Projekt »Worlds of Labour«1,an dem der express beteiligt ist (sie-he auch Artikel auf S. 13 unten). Erknüpft damit an den im letztenexpress dokumentierten Artikel vonStaphany Wong an, die bereits mitdem Mythos aufgeräumt hatte, dassdie Massenentlassungen in Chinaeine Folge der Finanzkrise seien.

Tausende WanderarbeiterInnen haben erle-ben müssen, wie ihre Arbeitgeber verschwin-den, ohne ihnen die ausstehenden Löhne zubezahlen. Sie müssen darum kämpfen,wenigstens einen Teil der Löhne noch zubekommen. Straßenblockaden und Demon-strationen sind kein seltenes Bild. Wenn ihreAktionen groß genug sind, gelingt es denArbeiterInnen häufig, die lokalen Behördendazu zu zwingen, ihnen zumindest genug fürdie Heimreise in ihre Dörfer zu bezahlen.Damit kommen die Behörden allerdings

nicht nur den Forderungen der Beschäftigtennach, sondern handeln auch zum eigenenVorteil: Schließlich ist es viel sicherer, dieWanderarbeiterInnen nach Hause zuschicken, als ganze Reservearmeen arbeits-und mittelloser Menschen in den Städten zubehalten. Schon zu Beginn des ökonomi-schen Abschwungs hatten die Zentralregie-rung sowie die Provinzregierungen hastigangekündigt, ökonomische Anreize schaffenzu wollen, um die entlassenen Wanderarbei-terInnen dazu zu bewegen, nach Hausezurückzukehren und auf ihren kleinen Par-zellen Landbau zu betreiben oder kleineUnternehmen zu gründen.

Die Lasten auf die ArbeiterInnen abwälzen

Obwohl auch davon gesprochen wird, dieArbeitsplätze der WanderarbeiterInnenschützen zu wollen, beschränkt sich dieserSchutz entweder auf bloße Appelle an dieUnternehmen, bei den Entlassungen »um-sichtig« vorzugehen, oder auf aktive Unter-stützung der Unternehmen im Hinblick aufKredite, um deren Liquidität aufrecht zuerhalten. Dabei kann die Verfügbarkeit vonKrediten zwar vielleicht die Folgen vonFabrikschließungen abmildern, sie hat aberkeinen direkten Einfluss auf die Beschäftig-tenzahlen. Denn obwohl reihenweise Fabrik-schließungen zwangsläufig Massenarbeits-losigkeit verursachen, bedeuten wenigerFabrikschließungen nicht unbedingt, dass dieArbeitslosigkeit sinkt. Das US-Hilfspro-gramm für die Banken hat weder dazugeführt, dass diese wieder bereitwilliger Kre-dite geben, noch hat es ihre Neigung verrin-gert, Beschäftigte zu entlassen. In Chinasteht ähnliches zu erwarten. Kurz: der aktuel-le Rettungsplan kommt den Unternehmenzu Gute, nicht den Beschäftigten.

Darüber hinaus helfen die Zentralregie-rung und die Provinzregierungen den Arbeit-gebern praktisch dabei, die Lasten der Wirt-schaftskrise auf die ArbeiterInnen abzuwäl-zen. Das Ministerium für Humanressourcenund Soziale Sicherheit hatte im November2008 ein Einfrieren des Mindestlohns ver-kündet, »um den Firmen zu helfen, sichgegen den wirtschaftlichen Abschwung zubehaupten«.2 Prompt wies die All-ChinaFederation of Trade Unions (ACFTU) der

Verfügbare MasseAu Loong-yu über Chinas Weg aus der Krise

Fortsetzung von Seite 11 oben

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express 4/2009 13

In Hong Kong wurde schon in den1980er Jahren Arbeitsbedingungenin China Aufmerksamkeit ge-schenkt und Untersuchungen darü-ber der internationalen Öffentlich-keit durch unabhängige Organisa-tionen zugänglich gemacht, ver-stärkt nach dem Tiananmen-»Zwi-schenfall« in Beijing 1989. Eine derersten unter ihnen war Asia MonitorResource Centre (AMRC), dieUntersuchungen über Arbeitsbedin-gungen vor allem in Süd-Chinadurchführte und unterstützte sowiesich mit internationalen Gewerk-schaftsorganisationen und Verbrau-cherkampagnen (Spielzeug-Kam-pagne, Saubere Kleidung u.a.) inVerbindung setzte. Diese Arbeitwurde kontinuierlich schon früh

von deutschen und anderen euro-päischen Hilfswerken unterstützt.

Auf Initiative des regionalen asia-tischen Netzwerkes Asian RegionalExchange for New Alternatives(ARENA) in Zusammenarbeit mitdem deutschen Evangelischen Ent-wicklungsdienst (EED) wurde 2002ein Asiatisch-Europäischer Dialogins Leben gerufen, der die Kommu-nikation und den Austausch zwi-schen zivilgesellschaftlichen Orga-nisationen der Regionen übergesellschaftspolitische Themen aus-bauen und vertiefen sollte. In die-sem Rahmen wurden erste Schritteunternommen, ein Kommunika-tionsnetzwerk über Themen aus derArbeitswelt zu entwickeln. Die Teil-nahme eines Vertreters von AMRC

zusammen miteinem Arbeitsrecht-ler aus Beijing ander internationalenKonferenz vonTransnational Infor-mation Exchange(TIE) und express

im September 2003, informelleTreffen auf dem Weltsozialforum inMumbai 2004 sowie die Durch-führung von zwei Workshops aufdem Asia-Europe Peoples Forum(AEPF) zu Corporate Social Respon-sibility und »Unternehmerische So-zialverantwortung« in Hanoi 2004unter Beteiligung aus China warendie ersten Begegnungen.

Im August 2005 wurde dieseAktivität durch die Asienstiftung imAsienhaus in Essen fortgesetzt. InZusammenarbeit mit TIE, Labour-net Germany und unterstützt vomForum Eltern und Schule, dem EEDund der Stiftung Menschenwürdeund Arbeitswelt (StfgMundA) wur-den 2005 und 2006 politische Bil-dungsreisen zum Thema Arbeits-

welten in China für Betriebsräteund gewerkschaftliche Vertrauens-leute durchgeführt, im Jahr 2007eine dritte erweitert durch engagier-te Wissenschaftler und Journalisten.Alle ReiseteilnehmerInnen habenvon ihren Erfahrungen auf der Reiseüber die soziale und politischeSituation in China in ihrem Ar-beitsumfeld berichtet.

Im Jahr 2006 und 2007 wurdenmehrfach AktivistInnen aus Chinain Zusammenarbeit mit den Reise-teilnehmerInnen und anderenOrganisationen bei Besuchen undKampagnen in Deutschland betreutund über die hiesige Situationinformiert.

Die an diesen Aktivitäten betei-ligten Organisationen und Indivi-duen in Hong Kong, Festland-Chi-na und Deutschland haben dieInitiative ergriffen, das informelleNetzwerk zu einem grenzüber-schreitenden Forum für nachhaltigeund kontinuierliche Kommunika-tion, Austausch und Zusammenar-beit über Arbeitswelten von einer

Basisperspektive im globalen Kon-text zu entwickeln. Das Ergebnisnach mehrmonatigen Konsultatio-nen war die Bildung eines Konsor-tiums mit einer gemeinsamen Prin-zipienerklärung für ein »Forum Ar-beitswelten – China und Deutsch-land« sowie die Beantragung finan-zieller Unterstützung für ein erstes,gemeinsames Zwei Jahres-Pro-gramm ab 2009. Erster Vorläuferdes Programms war die Durch-führung einer Fachtagung in BerlinEnde November 2008 zum ThemaGlobalisierung, Arbeitskonflikte undSozialpartnerschaft in China undDeutschland mit einer anschließen-den Erkundungsreise der Teilneh-merInnen aus Beijing und Guang-zhou.

Prinzipien des Forums

Ziel dieses Forums ist es, das gegen-seitige Verständnis und den Aus-tausch über die Arbeitswelten inChina und Deutschland (im weite-ren Sinne auch in Europa) zu vertie-

Provinz Guangdong die ArbeiterInnen an,mit den Bossen an einem Strang zu ziehen,um die Krise zu überwinden, und kollektiveLohnverhandlungen bei angeschlagenenUnternehmen zu unterlassen. Der Guang-zhou Daily wandte sich mit dem Aufruf andie Beschäftigten, es müssten »alle beteiligtenParteien dazu beitragen, die Schwierigkeitengemeinsam zu überwinden.«3

Die Regierung hat ein Konjunkturpro-gramm von vier Billionen Yuan (ca. 418Mrd. Euro) angekündigt, das die Wachs-tumsrate auf acht Prozent halten soll. Dieoffiziellen Medien versichern der einfachenBevölkerung, dieses Ziel sei vorrangig: Eswerde helfen, Arbeitsplätze zu erhalten.

Der Economist vom 15. November 2008stellt die Vermutung an, das Wachstum wer-de in China nächstes Jahr ohne Regierungs-hilfe wohl auf unter sechs Prozent sinken.Nun kann das Konjunkturprogramm demVertrauen der Unternehmen vielleicht wiederauf die Beine helfen, aber kann es das Wachs-tum auch bei acht Prozent halten? Optimis-ten mögen darauf hinweisen, dass China imGegensatz zu den USA keine Probleme mitSubprime-Krediten und Schattenbanken hat.Chinas Banken sind gesünder geworden, seitdie Regierung um die Jahrhundertwendeuneinholbare Außenstände im Wert von Mil-liarden Yuan von ihnen übernommen hat.Heute bestehen nur noch sechs Prozent statt,

wie damals, 40 bis 50 Prozent ihrer Beständeaus faulen Krediten. Darüber hinaus sindsowohl die individuelle Haushaltsverschul-dung als auch die Staatsverschuldung im Ver-hältnis zum BIP gering, jedenfalls viel gerin-ger als in den meisten Ländern.4 Pessimistenandererseits beharren darauf, dass ChinasÖkonomie ein Wachstum von acht Prozenttrotz Konjunkturprogramm nicht wird hal-ten können, da der Außenhandel 70 Prozentim Verhältnis zum BIP beträgt, was für eingroßes Land ein ungewöhnlich hoher Anteilist, und da entsprechend ein riesiger Anteildes Investitionsvolumens an der Exportpro-duktion hängt.

Rettungspaket für die Rei-chen, steigende Arbeitslosig-keit für die Bevölkerung

Auch wenn das Konjunkturprogramm dieWachstumsrate 2009 bei acht Prozent haltenkönnte, brächte das wenig für die Schaffungvon Arbeitsplätzen. Chinas Wachstum findetnämlich schon seit langem ohne eine ent-sprechende Zunahme von Arbeitsplätzenstatt. 2005 hat die Internationale Arbeitsor-ganisation ILO eine Studie über den Zusam-menhang zwischen dem Wirtschaftswachs-tum und der Schaffung von Arbeitsplätzenerstellt. Dabei fand sie heraus, dass zwischen

1990 und 2002 ein Wirtschaftswachstumvon durchschnittlich 9,3 Prozent jeweils nurzu einer Arbeitsplatzzunahme von 0,8 Pro-zent geführt hat, während es im produzieren-den Gewerbe sogar zu einem Rückgang vonArbeitsplätzen kam. Nicht verwunderlichalso, dass die Arbeitslosenquote trotz bislangüppigen Wirtschaftswachstums hoch ist. Deraktuellen offiziellen Arbeitslosenquote vonvier Prozent wird allgemein wenig Realitäts-gehalt beigemessen. Die Chinese Academy ofSocial Science sieht die Quote vielmehr bei9,4 Prozent.5 Auch dies ist aber eine zu nied-rige Schätzung, denn sie beinhaltet nicht diein ihre Dörfer zurückgekehrten Wanderarbei-terInnen. Unter dem hukou-System zurRegistrierung von Haushalten werden Wan-derarbeiterInnen vom Land selbst dann inden Städten noch als Fremde betrachtet,wenn sie dort seit einem Dutzend Jahrenarbeiten. Daher werden ihnen grundlegendesoziale Rechte vorenthalten, auf die Stadtbe-wohner einen Anspruch haben, z.B. formelleArbeitsverhältnisse mit sozialer Absicherung,Bildung für ihre Kinder, bezahlte medizini-sche Versorgung etc.

Noch empörender ist aber: Während dieArbeitslosenversicherung inzwischen dieungeheure Summe von 120 Mrd. Yuanangehäuft hat, besteht für die lokalen Behör-den nur wenig Anreiz, den Arbeitslosen nunauch Hilfen daraus auszuzahlen. Die Zahlen

sind nicht öffentlich zugänglich, aber inGuangzhou soll die Arbeitslosenversicherungim September 2008 bei einem Bestand von8,5 Mrd. Yuan lediglich 0,3 bis 0,5 Mrd.Yuan an die Arbeitslosen ausgezahlt haben.Nach dem Grund gefragt, sagte ein zuständi-ger Beamter: »Wir haben von der Zentralre-gierung keine Direktiven erhalten, wie das zuhandhaben ist.«6 Die meisten Wanderarbeite-rInnen vom Land sind von Auszahlungenausgeschlossen, da sie nicht als Stadtbewoh-ner, sondern nur als nongmingong gesehenwerden, also wörtlich als »Landarbeiter«.

Wirtschaftswachstum hat aber nicht nurmit der Schaffung von Arbeitsplätzen, son-dern auch mit Lohnzuwachs wenig zu tun.Nach einem Bericht der Weltbank ist in Chi-na der Anteil der Löhne am BIP zwischen1998 und 2005 von 53 auf 41,4 Prozentgesunken (zum Vergleich: 57 Prozent in denUSA).7 Das Mindestlohngesetz hat wenigdazu beigetragen, diesen Lohnverfall aufzu-halten, weil er so niedrig ist, dass er kaummehr als 30 Prozent des Durchschnittslohnsentspricht (zum Vergleich: 50 Prozent inThailand und den USA).

Für Arbeitsplätze und Löhne bedeutet das:Selbst wenn es mit Hilfe des Rettungspaketesgelingt, das Wirtschaftswachstum in diesemAbschwung bei acht Prozent zu halten, wirddies auch weiterhin nicht dazu führen, genü-gend Arbeitsplätze zu schaffen. Und wenndie Wachstumsrate unter acht Prozentrutscht, werden trotz des Konjunkturpro-gramms ein unmittelbarer, noch gravierende-rer Anstieg der Arbeitslosigkeit sowie sinken-de Löhne die Folge sein. Das wird besondersdeutlich, wenn wir uns den Inhalt des Pake-tes ansehen. Trotz einer Rhetorik, die auf dieSchaffung von Arbeitsplätzen und auf dieSicherung des Lebensunterhalts der Men-schen abhebt, beinhaltet das Paket nur weni-ge Ressourcen, die direkt darauf abzielen,den Anteil der Löhne und Sozialleistungenauf ein vernünftiges Niveau zu heben. Nachwie vor wird dem Aufruf zu einer Reform dersozialen Absicherung nicht nachgekommen,die eine kostenlose Gesundheitsversorgungund höhere Bildung beinhalten müsste, einwirksameres Arbeitslosen- und Rentenversi-cherungssystem mit einem höheren Beitragdes Staates etc. In Missachtung des wichtigenArgumentes, dass eine umfassendere sozialeSicherung den Menschen ein Gefühl vonSicherheit geben und sie dazu motivierenwürde, ihr Geld auszugeben, anstatt es zusparen, ist laut Newsweek lediglich ein Pro-zent des gesamten Paketes für Gesundheits-versorgung, Kultur und Bildung vorgesehen.Huang Ming, Professor der US-amerikani-schen Cornell University, der in Beijing ander Cheung Kong Graduate School of Businesslehrt, sagt: »Es liegt im Interesse der Regie-

Neuland betretenGeschichte und Aufgaben des chinesisch-deutschenKooperationsprojekts »Worlds of Labour«

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14express 4/2009

fen, wie sie unterschiedlich ausse-hen, funktionieren, kontrolliert undverändert werden, internationalausstrahlen, welche Formen vonInteressenvertretungen sie hervor-bringen und letztendlich welchenachhaltige Lebensqualität sie jetztund in Zukunft den Menschen inChina und Deutschland (Europa)ermöglichen. Das Forum soll vorallem Handlungsräume für grenz-überschreitende Basiskontakte undsolidarische Zusammenarbeit zwi-schen sich für soziale Gerechtigkeiteinsetzenden Individuen, Gruppenund Organisationen – ungeachtetihrer ideologischen und politischenAusrichtung – ermöglichen undfördern, um Erfahrungen in derAuseinandersetzung mit sozio-kul-

turellen und wirtschaftlichen Pro-blemen auszutauschen, alternativeZukunftsvorstellungen zu ent-wickeln, Veränderungsprozesse imglobalen Zusammenhang einzulei-ten und die Öffentlichkeit zu infor-mieren.

Grundlegend für ein solches Forumist ein gemeinsames Verständnisvon Arbeitswelten, Basisbezug undgrenzüberschreitenden globalenZusammenhängen.● Arbeit verstanden im breitestenSinne sowohl als produktive Tätig-keit zur Gewährleistung der mate-riellen Reproduktion einer mensch-lichen Gesellschaft als auch als krea-tive Tätigkeit zur Verwirklichungdes Menschseins und sozialer

Lebenswelten. Der Arbeitsbegriffschließt alle industriellen, landwirt-schaftlichen, informellen und re-produktiven Tätigkeiten mit ein.● Welten verstanden als geographi-sche Orte/Regionen/Länder, alshistorisch gewachsene kulturelle,soziale und ökonomische Gebilde.● Basisansatz und -perspektive stellt(lokale) Erfahrungen und Sichtwei-sen von Selbstorganisation undSelbstermächtigung, sozialer Bewe-gungen und Veränderung in denMittelpunkt. Akteure und Ziel-gruppen sind im weitesten Sinne alljene Menschen, die in vergleichba-ren Arbeitswelten der beiden Län-der involviert sind.● Ein grenzüberschreitender, globalerZusammenhang macht sozio-kultu-

relle Gemeinsamkeiten und Unter-schiede deutlich und nachvollzieh-bar. Die Aufdeckung und Entmysti-fizierung zu Grunde liegender der-zeitig kapitalistischer ökonomischerProzesse machen eine sozial unge-rechte Globalisierung potentiellüberwindbar und weisen chauvini-stische, nationalistische Ideen undAnsichten zurück.

as Forum soll nicht nur physischeGrenzen überbrücken, sondern

auch politische und institutionelle.Es ist offen, unabhängig und setztdie gegenseitige Akzeptanz und denRespekt vor unterschiedlichen Auf-fassungen sowie eine Diskussions-bereitschaft voraus. Es ermöglichtund unterstützt mit seiner grundle-

genden Herangehensweise die Mög-lichkeit, Aktivitäten in und überandere Regionen zu den gleichenThemen mit einer globalenBetrachtungsweise einzubeziehen.Eine wichtige Methode in derArbeitsweise des Forums ist die per-sönliche Begegnung und Diskussio-nen unter den betroffenen undbeteiligten Menschen und Aktivi-stInnen. Das Forum versteht sichals Teil eines wachsenden Netzwerk-es und wird mit zu anderen The-men der Lebenswelten arbeitendenIndividuen und Organisationen engzusammenarbeiten.

in Konsortium von Organisatio-nen aus Hong Kong – Asia Moni-

tor Resources Centre (AMRC) und

rung, schnell ein Netz sozialer Absicherungzu entwickeln. Das wird den Konsum ankur-beln. [Die Chinesen] sparen, weil sie Angsthaben, krank zu werden.«8 Die Sparquoteliegt in China bei 46 Prozent (zum Vergleich:in den USA bei Null). Das wirkt in einemwirtschaftlichen Abschwung kontraproduk-tiv, da weniger Geld in den Konsum fließt.Dennoch gibt es wenig Anzeichen dafür, dassdie Regierung auf den Wohlfahrtsstaatsdis-kurs einschwenkt. Ein Großteil der vier Bil-lionen Yuan wird für Infrastruktur ausgege-ben. Das schafft zwar Arbeitsplätze, kannaber aufgrund seines kapitalintensiven Cha-rakters nicht so viele ersetzen, wie in derExportproduktionsbranche verloren gehen.Darüber hinaus wird der Bau von Straßenund Eisenbahnen nicht unbedingt eine stot-ternde Wirtschaft anschieben, solange Inves-toren nicht daran glauben, dass sie ihre Pro-dukte auch verkaufen können – und diesesVertrauen können sie bei steigender Arbeits-losigkeit nicht haben.

Da es weder Transparenz noch demokrati-sche Kontrolle gibt, wird die Regierung dasRettungsgeld wohl kaum gerecht verteilen.Selbst die zensierte Presse hält es für notwen-dig, vor Korruption zu warnen. Der LegalDaily konstatiert, das Paket werde »einenscharfen Konkurrenzkampf der Provinzregie-rungen um Projekte« mit sich bringen, und»hinter diesen großen Projekten steht immerdie große Korruption.«9 Ein Teil des Paketesist für den Wiederaufbau in der RegionSichuan gedacht, wo ein Erdbeben den KreisWenchuan zerstört hat. Seit Mai 2008 wur-den 40 Mrd. Yuan gespendet, aber zu Winter-anfang gab es immer noch 100 000 Opfer,darunter viele Kinder, die noch nicht einmalein Paar Winterschuhe besaßen.10 Das erin-nert uns wieder einmal daran: Von dem Paketwerden zuallererst die Machteliten profitieren.

Modell für wen?

Seltsamerweise gibt es Beobachter, die Chinaals Modell für Entwicklungsländer sehen –oder sogar für die ArbeiterInnen – und diedem Aufstieg von China Beifall zollen alseinem Entwicklungsmodell, das eine Alterna-tive zum Neoliberalismus biete. Hier ist keinPlatz, um diesem Thema auf den Grund zugehen. Ich möchte lediglich darauf hinwei-sen, dass China in fast jedem Detail demKurs von Südkorea folgt: ein autoritäresRegime, das aktiv schnelle Akkumulationund Exportorientierung auf Kosten derWerktätigen unterstützt, indem es den letzte-ren grundlegende Bürger- und Arbeitsrechteverweigert.11

Ich habe das anhaltende Sinken desLohnanteils am BIP erwähnt. Nun würde ichgerne die andere Seite derselben Medaille dis-kutieren: Der Anteil des Profits am BIP istim selben Zeitraum dramatisch angestiegen.Der chinesische Wissenschaftler Wang Lianlischreibt, dass das Verhältnis zwischen Löh-nen und Profit in der Produktion zwischen

1990 und 2005 von 1:3,1 auf 1:7,6 gestiegenist.12 Neben extravaganten Konsumausgabeninvestieren oder sparen die Neureichen ihrGeld, daher die extrem hohe Investitionsrateund Sparquote. Jahrzehntelang betrug derInvestitionsanteil an Chinas BIP über 40Prozent, ist damit doppelt so hoch wie in denUSA und liegt an der Spitze der größten asia-tischen Länder, inklusive Südkorea zu seinenbesten Industrialisierungszeiten.13 Dennochkönnen die Kräfte der kapitalistischen Ent-wicklung die Polarisierung zwischen Reichund Arm nicht verschärfen, ohne damit derweiteren Entwicklung Steine in den Weg zulegen. Hohe Profite nehmen die Löhne in dieZange und verursachen so eine langfristigeAbnahme des privaten Konsums. Zwischen1992 und 2006 ist der Anteil des privatenKonsums am BIP von 47 auf 36 Prozentgesunken, während er in Südkorea, Indien,Großbritannien, Australien und Japan über50 Prozent beträgt.14 Die Weltbank stelltfest, dass ein Großteil des Konsumrückgangsin China mit dem Sinken des Lohnanteilsam BIP erklärt werden kann. So erzeugtChinas schnelle Akkumulation auf Basis derbrutalen Ausbeutung von ArbeiterInnen undBäuerInnen ihrerseits ein massives Ungleich-gewicht zwischen Konsum und Investitio-nen, bzw. präziser: Unterkonsumtion undÜberinvestition. Damit bleibt Produktions-kapazität ungenutzt, was wiederum eine stei-gende Abhängigkeit von Exporten zur Folgehat, wenn die Investitionen etwas abwerfensollen. Mit einem US-Markt in der Rezessionist dieses chinesische Modell am Ende.

Bereits vor dem Beginn der US-Krise warsich die Regierung der Schwäche ihresWachstumsmodells bewusst. Im April 2008sprach Staatspräsident Hu Jintao von derNotwendigkeit, den Entwicklungsmodusvom exportgeleiteten Wachstum zu einerstärkeren Betonung einheimischen Wachs-tums zu verschieben, indem man die einhei-mische Nachfrage ausweitet. Kein Wachs-tumsmodell kann allerdings ohne gewisse

Restrukturierung geändert werden, und dieRestrukturierung selbst wird nicht wohlfeilzu haben sein. Die einzige Frage lautet: Wermuss dafür bezahlen? Wie immer muss dieAntwort auf diese Frage zwischen den unter-schiedlichen gesellschaftlichen Gruppen aus-gehandelt werden, entweder auf institutionel-lem Weg oder durch soziale Aktionen. Ineinem Land, das keine grundlegenden Bür-ger- und Arbeitsrechte garantiert, begünsti-gen die Kräfteverhältnisse zwangsläufig mas-siv die Starken (Bürokratie und Unterneh-mer). Damit ist wohl unvermeidlich, dass dieBeschäftigten, vor allem die Wanderarbeite-rInnen, die größte Last der Restrukturierungwerden tragen müssen. Die 150 MillionenWanderarbeiterInnen vom Land werden zurverfügbaren Masse: Wenn die Geschäfte gutlaufen, werden sie hergerufen, um zwölfStunden am Tag in den Sweatshops zuknechten. Dann wird ihnen sogar das Rechtauf Kündigung verweigert, wenn sie lieberwieder zurück in ihre Dörfer gehen wollen,anstatt weiter sklavereiähnliche Arbeitsbedin-gungen zu ertragen.15 Wenn die Geschäfteschlecht laufen, wird ihnen gesagt, sie sollennach Hause gehen und ihr jämmerlichesStück Land bestellen. In gewisser Weise istder Status der WanderarbeiterInnen als Bür-gerInnen zweiter Klasse mit dem der Frauenals zweitem Geschlecht unter kapitalistischenBedingungen vergleichbar: als letzte einge-stellt und als erste gefeuert, wenn die Krisekommt. Im Licht dieser neuen Erfahrungenin der Krise erscheint es doppelt abwegig,China als alternatives Modell für die Werk-tätigen hochzuhalten.

Man muss verstehen, dass wir hier nichtwie schon seit zwanzig Jahren Zeugen einesnormalen Wirtschaftszyklus werden. Dies istvielmehr eine Krise im Kern des chinesischenWachstumsmodells und damit nicht einfacheine wirtschaftliche, sondern auch einegesellschaftliche Krise. Ähnlich wie Südkoreawird auch China zwangsläufig mit seinereigenen Krise konfrontiert, wenn die US-

geführte Globalisierung gegen die Wandfährt. Damit will ich nicht sagen, dass Chinazwangsläufig eine genauso schwere Krise wieden USA bevorsteht; das würde uns auf einzu weites Feld führen. Unsere Sorge gilt derTatsache, dass selbst bei einem moderatenAbschwung die Konsequenzen für die werk-tätigen Menschen gravierend sind, vor allemfür die WanderarbeiterInnen. Immerhin isthier etwas Neues zu beachten: Die Arbeite-rInnen sind sich heute ihrer Rechte in einemviel höheren Maße bewusst als noch vor zehnJahren. Die größten Erfolge ihrer spontanenStreiks während der letzten zehn Jahre sindnicht nur die ökonomischen Errungenschaf-ten, sondern der faktische Zusammenbruchdes Streikverbots. Streiks sind so häufiggeworden, dass das Verbot praktisch nichtmehr gilt. Die lokalen Behörden müssen sichnun auf den wachsenden Widerstand einstel-len. Gewerkschaftliche Organisierung istimmer noch ausgesprochen schwierig. Den-noch wird sich die immer gieriger und kor-rupter agierende Elite im kommenden wirt-schaftlichen Abschwung mit einer werktäti-gen Bevölkerung – oder zumindest miteinem Teil davon – konfrontiert sehen, diezunehmend darauf gefasst ist, den Attackender Elite Widerstand entgegenzusetzen.

Übersetzung: Anne Scheidhauer,TIE-Bildungswerk e.V.

Anmerkungen:1) Im Labournet Germany unter: www.labournet.de/

internationales/cn/arbeitswelten.html. Siehe auch dieSelbstdarstellung des Projekts in diesem express.

2) Dies wurde etwas mehrdeutig als »temporäre Ausset-zung der Anpassung der Mindestlöhne« präsentiert.Schließlich kann »die Aussetzung der Anpassung« sichauf eine Aufwärts- wie auf eine Abwärts-Anpassungbeziehen. Im Kontext der Verlautbarung gesehen, waraber wohl von ersterer die Rede.

3) Guangzhou Daily, 19. November 20084) The Economist, 15. November 20085) www.21cbh.com/Content.asp?NewsId=580916) www.21cbh.com/Content.asp?NewsId=578447) China Economy Quarterly Update, Februar 2007,

World Bank Beijing Office, S. 68) www.newsweek.com/id/1745249) http://legaldaily.com.cn/2007shyf/2008-11/14/

content_981205.htm10) Ming Pao, 12. Dezember 200811) Mit einer Ausnahme: Südkorea hat im Gegensatz zur

Erfahrung Chinas ausländische Kapitalinvestitionenwährend seiner ganzen Industrialisierungsperiode abge-lehnt.

12) »Tigao laodong baochou, zheli yu chuci fenpei«, vonWang Lianli, Xianggang Chuanzhen (Hong KongFax), hrsg. von Research Department of Citic Pacific,No. 2007-90, S. 8

13) »Rebalancing China’s Economy«, He and Kuijs, WorldBank China Research Paper No. 7

14) »A Workers’ Manifesto for China«, The Economist, 11.Oktober 2007

15) Diejenigen, die sich eher zur Wehr setzen und die sich»Barfuß-Anwälte« (Autodidakten ohne formelleAnwaltskonzession) leisten können, werden sich vondiesen Beschwerdebriefe schreiben lassen, um von denArbeitgebern freigegeben zu werden und ihre Löhneausgezahlt zu bekommen. Diejenigen, die sich nicht soleicht zur Wehr setzen können, werden gezwungen seinzu bleiben. Die Gesetze erlauben den Arbeitgebern die-se Praktiken zwar nicht, aber solange die Beschäftigtenkeine grundlegenden bürgerlichen Freiheiten genießen,werden Arbeitsrechte im Allgemeinen nicht durchge-setzt. Andersherum werden ArbeiterInnen im momen-tanen wirtschaftlichen Abschwung entlassen, bevor ihreVerträge auslaufen – ebenfalls in Verletzung ihrerArbeitsrechte.

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express 4/2009 15

Globalisation Monitor (GM) – undDeutschland – Asienstiftung, express,Labournet Germany, Südwind, TIE,Werkstatt Ökonomie – mit derenjeweiligen Bezugsnetzwerken istInitiator des Forums.

Das vom Konsortium angestoße-ne Programm ist ab 2009 auf zweiJahre angelegt mit der Perspektivekontinuierlicher, längerfristiger Ak-tivitäten und der Kultivierung vonKommunikation zur Stabilisierungund Aufrechterhaltung eines Fo-rums, in dem bestehende Projekteeine Rolle spielen sowie neue Dyna-miken und Projekte entstehen, sichentwickeln und durchgeführt wer-den. Es ist ein Netzwerk, in demautonome Projekte miteinanderleben können.

Das Konsortium der InitiatorIn-nen bildet das verantwortlicheKomitee für das Programm. Eskoordiniert die Aktivitäten undbeantragt Gelder zur Unterstützungder allgemeinen Funktionen desForums. Eine Organisation imjeweiligen Land – GlobalizationMonitor in Hong Kong und dieAsienstiftung in Deutschland –übernimmt die Koordination fürdie praktische Umsetzung von Akti-vitäten, Verwaltung der Infrastruk-tur und Beschäftigten innerhalbeines Landes sowie die Koordina-tion zwischen den Ländern.

Neben dem bereits angelaufenen Pro-gramm »Infoexchange«, das in engerAbsprache zwischen den chinesischen

und deutschen Projektpartnern Arti-kel vorschlägt und übersetzt, die wirhier im express fallweise dokumentie-ren, beinhaltet das Programm alsnächsten Schritt eine Konferenz zumThema »Capitalism in Crisis. Whatdifference makes it in China and Ger-many« vom 4.–6. September, bei dervor allem die Perspektiven vonbetrieblichen Basis-AktivistInnen eineRolle spielen sollen.

Wir werden weiter berichten.

Kontaktadresse in Deutschland:Peter Franke, Asienstiftung,[email protected]

Schon häufiger in dieser kleinen express-Reihe positiv erwähnt, soll im Folgenden einkritischer Blick auf Peter Birkes Arbeit zuden wilden Streiks in der Bundesrepublikund Dänemark von 1950 bis 1973/74 ge-worfen werden.

Aus zeitgeschichtlicher Perspektive ist die-ses Buch geradezu ein Neuanfang für einenForschungsbereich, der seine Blütezeit vormehr als dreißig Jahren hatte. In den 1970erJahren war die Streikforschung ein Modethe-ma, wie überhaupt die vor allem sozialwis-senschaftliche Auseinandersetzung mit demThema Arbeit. Die sich überwiegend als kri-tisch verstehenden SozialwissenschaftlerIn-nen wandten sich der Arbeiterschaft und denArbeitswelten in vielfältiger Hinsicht zu, dieIndustriesoziologie erlebte ihren Höhepunkt.Viele der Arbeiten waren von großer Sympa-thie für das ›Untersuchungsobjekt‹ geprägt,und nicht wenige verbanden mit ihren For-schungen nichts weniger als hoffnungsfroheErwartungen über das Ende des Spätkapita-lismus. Dabei war die Kritik an der reformis-tischen und bürokratischen Gewerkschafts-praxis ebenso konstituierend wie die Hoff-nung auf eine Selbstorganisation der Arbeite-rInnen.1

Die Streikforschung der 1970er Jahre hateinige bis heute wirkende Deutungslinienbegründet. Neben einer eher verklärten Sichtauf die Nachkriegszeit und frühe Bundesre-publik als Zeit der verpassten Chancen füreine Art sozialistischer Neugestaltung galtendie zweite Hälfte der 1950er Jahre und die1960er Jahre als ausgesprochen streikarmeZeit. Eine Sichtweise, die scheinbar eineDeckung mit der Klage über die politischeAgonie der Adenauer-Ära fand. Denn dasEnde dieser vorgeblich streikarmen Zeit fielfast mit dem Aufbruch von 1968 zusammen:Insbesondere die September-Streiks 1969galten hinfort als Neuformierung eines kriti-schen Bewusstseins in der Arbeiterklasse undStartpunkt eines damit zusammenhängendenAufschwungs von Streiks.

Peter Birke hat 2007 eine Arbeit vorgelegt,die zu einer Revision dieser scheinbar so ein-leuchtenden Phasenbildung führt. Birkeuntersucht so genannte ›wilde‹, also nicht

durch Tarifrecht gedeckte Streiks in den Jah-ren 1949 bis 1974 in der BundesrepublikDeutschland und in Dänemark.

Im Wesentlichen ergibt sich die Revisionaus einer erheblich erweiterten Definitionvon wilden Streiks. Die Arbeit verfolgt einenNeuansatz hinsichtlich dessen, was ein ›wil-der‹ Streik überhaupt sei. Birke spricht wei-terhin von ›wilden‹ Streiks, weil so gegenüberder Bezeichnung des »spontanen« oder »tarif-widrigen« Streiks (so der vor allem in Däne-mark verbreitete Begriff ) deutlicher wird,dass es nicht nur um das Durchbrechen vonTarifroutinen, sondern um die Kontrolle derArbeitsbedingungen ging. »Wild« meint hieralso vor allem eine Irritation der Ordnung,und zwar innerhalb eines Betriebes, aberauch in der gewerkschaftlichen Vorstellung.Denn in vielen Aktionen erfolgte eine Selbst-ermächtigung der Beschäftigten, wurdenErfahrungsräume von gemeinsamem Han-deln und Durchsetzungskraft geschaffen. Eswar nach Birke gerade der Fehler der tradi-tionellen Arbeiterbewegung – und damit derGewerkschaften –, Streiks vor allem als Teilvon Lohnkämpfen zu sehen und nicht diedamit verbundenen sozialen Protestpotentia-le. Auf diese Problematik hat Peter Birkeselbst bei der Besprechung von Michael Kitt-ners Streikgeschichte im express (Nr. 1/2009),hingewiesen, bei der Streiks in der Bundesre-publik im Wesentlichen unter dem Aspektder Koalitionsfreiheit und als Lohnkämpfebetrachtet werden. Für Birke zählen auch all-

tägliche Arbeitsverweigerungen, der manch-mal nur auf eine Abteilung beschränkte»Dienst nach Vorschrift« oder ähnliche Ver-weigerungsformen zu den Arbeitskämpfen.Mit dieser Definition erweitert Birke dasPanorama und kann auch für die fordistischeBoomphase eine Vielzahl von zumeist loka-len und häufig sehr kurzen ›wilden‹ Streiksnachweisen.

Dabei nimmt er zwei Länder in den Blick,die in der Streikforschung als streikschwacheLänder gegenüber den streikfreudigerensüdeuropäischen oder angelsächsischen Län-dern verstanden wurden. Die institutionellenVoraussetzungen ließen dies erwarten: In bei-den Gesellschaften spielten Gewerkschaftenin stark verrechtlichten industriellen Bezie-hungen eine große Rolle und dominierten imSinne einer tripartistischen Rollenteilung dieLohnforderungen der Arbeitnehmer. Unter-schiede bestanden in der gewerkschaftlichenStruktur: Während in der Bundesrepublikdie Einheitsgewerkschaften im industriellenSektor weitgehend uneingeschränkt agierten,war in Dänemark ein stärker branchen- undberufsgruppenbezogener Organisationsauf-bau – so auch für Frauen oder Ungelernte –vorhanden. In den langen 1960er-Jahrenwurden die Tarife in beiden Ländern über-wiegend zentral ausgehandelt. Die Gewerk-schaften folgten lange Zeit dem fordistischenLohnkompromiss, Lohnerhöhungen an dieProduktivitätssteigerung zu binden. Zudembefürworteten sie in beiden Ländern die tay-

loristische Modernisierung der Produktion. In fünf Abschnitten skizziert Birke die

Entwicklung, wobei er jedes Land einzelnbetrachtet und am Ende der Kapitel einezusammenfassende Bewertung vornimmt.Von 1950 bis 1957 prägten noch stärkerpolitische Auseinandersetzungen – so um dasBetriebsverfassungsgesetz 1952 in der Bun-desrepublik – auch wilde Streiks. Von 1957bis 1963 kam es insgesamt zu einem Rück-gang von legalen Streiks, ebenso bis 1968,was allerdings mit einem prozentualenAnstieg von wilden Streiks einherging. Birkekann nachweisen, dass diese »Hochkonjunk-turstreiks« (S. 335) eine so genannte zweiteLohnrunde etablierten, mit der die Beschäf-tigten übertarifliche Leistungen durchzuset-zen versuchten. Bei Vollbeschäftigung undsteigenden Gewinnen war dies zumeist vonErfolg gekrönt. Da die Konflikte häufig nurlokal, zum Teil nur innerhalb einzelnerAbteilungen eines Betriebes stattfanden,bezeichnet Birke sie als »unsichtbar«. Die inder Definition von Birke genannten Verwei-gerungsformen wie ›Arbeit nach Vorschrift‹lassen sich daher auch kaum nachweisen.

Es ist das Verdienst von Birkes Arbeit, dieBedeutung lokaler Konflikte herauszuarbei-ten. Auch wenn es nur selten zu übergreifen-der Koordination von wilden Streiks kam,sind doch Gemeinsamkeiten im Vorgehenund in der Kritik an fordistischen Arbeitsbe-dingungen feststellbar. Dabei ist das umfang-reich ausgewertete Quellenmaterial bei wei-tem nicht erschöpfend. Birke räumt ein, dasseine Vielzahl von wilden Streiks gar nichterfasst wurde, da ein Merkmal die Kürze derAktionen war (S. 39f.); diese Lücke wärewohl allein über mikrohistorische Arbeitenaufzuhellen. Hinzu kamen andere Faktoren:Durch hohe Fluktuationen war in denBetrieben bereits nach wenigen Jahren kaumnoch Wissen über ältere Streikaktionen vor-handen. Beispielsweise fand bei Ford in Kölnbeim großen Streik 1973 kaum ein Aus-tausch über wilde Streiks Anfang der 1960er-Jahre statt. Auch wandelten sich die Akteurs-gruppen: Spielten in den 1950er-Jahren inder Bundesrepublik Bergleute und in Däne-mark Werftarbeiter eine wichtige Rolle, tra-ten sie bei den Streiks Anfang der 1970er-Jahre nur noch am Rande auf. Dies mag mitdazu beigetragen haben, dass die langen1960er-Jahre in der Streikforschung für beideLänder als weitgehend streikfreie Zeitbetrachtet wurden. Diesen Befund kann Bir-ke überzeugend korrigieren.

Einen Bruchpunkt untersucht Birke imvierten Kapitel, das die Zeit um 1969 um-fasst, als eine ›Streikwelle‹ Europa erfasste. Inder Bundesrepublik waren es die »September-Streiks« 1969, in Dänemark die zeitlichgestreckte »Eine-Krone-Kampagne« 1969/70, die zu einem sprunghaften Anstieg vonwilden Streiks führte. Die Lohnforderungenwaren linear, das heißt – im Unterschied zuprozentualen Forderungen – auf größere Verteilungsgerechtigkeit innerhalb der unter-schiedlichen Lohngruppen gerichtet. Zu-gleich wurden die Arbeitsbedingungen inden tayloristischen Fabriken angegriffen. Im

Keine BlaupausenKnud Andresen* zur Revision der bundesdeutschen Streikgeschichte

Birke, Peter: »Wilde Streiks imWirtschaftswunder. Arbeitskämp-fe, Gewerkschaften und sozialeBewegungen in der Bundesrepu-

blik und Dänemark«, Frank-furt/New York 2007, Campus-

Verlag, ISBN: 978-3-593-38444-3,376 S., 39,90 Euro

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16express 4/2009

Nächster Redaktionsschluss:24. Mai 2009

letzten Kapitel, welches die Streikwelle um1973 in den Blick nimmt, wird gezeigt, dassmigrantisch geprägte Streiks besonders in derBundesrepublik die Auseinandersetzungenprägten, während in Dänemark zwischen-staatliche Arbeitsmigration nur eine margina-le Rolle spielte.

Birke spricht bei dem Zeitabschnitt ab1969 von einem »wirkliche(n) Bruch« in derArbeitskampfgeschichte, da der Fordismus als»kohärentes, zusammenhängendes und hege-moniefähiges Gesellschaftsmodell« (S. 273)nun in die Kritik geriet. Die Lohnzurückhal-tung in der Bundesrepublik oder die staatli-chen Lohneingriffe in Dänemark gerieten inden 1970er-Jahren ins Wanken, die Lohnfor-derungen erhöhten sich. Birke wertet denZeitabschnitt als Sichtbarwerdung der bereitsvorher virulenten Arbeitskonflikte. Mit dereinsetzenden Weltwirtschaftskrise gewannendie Gewerkschaften jedoch die Kontrolleüber die Arbeitskämpfe weitgehend zurück:Verstärkt wurden nun Warnstreiks eingesetzt.Mit der Diskussion um die ›Humanisierungder Arbeit‹ wurde die Kritik an der tayloristi-schen Arbeitsorganisation aufgegriffen. DieseEntwicklung gilt für beide Länder. Allerdingshat die Streikfreude in Dänemark nach 1970zugenommen, das Land gehört inzwischenzu den Spitzenreitern der Streikstatistik.

Auch wenn Birke – besonders in Däne-mark – verstärkende Einflüsse der NeuenLinken und der Studierenden ausmachenkann, wird deutlich, dass die wilden Streiksweitgehend getrennt von den neuen sozialenBewegungen ihren Ausgang nahmen. Überdie betrieblichen Konflikte hinausreichendepolitische Motive spielten selten eine Rolle.Birke plädiert daher dafür, die Ungleichzei-tigkeit der sozialen Kämpfe stärker in denBlick zu nehmen, er spricht von einer »Diffu-sion« der Arbeitskämpfe, da gerade durch dieGewerkschaften nur bedingt vertreteneBeschäftigtengruppen wie MigrantInnen,Frauen und auch Jugendliche häufig Prota-gonisten von wilden Streiks waren. WildeStreiks im Wirtschaftswunder zeigen, dassder soziale Kompromiss von Sozialpartner-schaft und Wohlfahrtsstaat auch in derHochkonjunkturphase brüchig war.

Birke kann belegen, dass die Gewerkschaf-ten in beiden Ländern zumeist zwei Reak-tionsweisen auf wilde Streiks hatten: zumeinen eine deutliche Ausgrenzung und Verur-teilung der Aktion, zum anderen aber auchein Integrationsbemühen, bei dem die Formverurteilt, aber zumindest ein berechtigterUnmut der Beteiligten festgestellt wurde. Als»Artikulation legitimer sozialer Ansprüche«(S. 98) verstanden die Gewerkschaften wildeStreiks allerdings nicht. Diese im erstenZugriff augenfällige These sollte aber auchberücksichtigten, welche institutionelle Rolle

die Gewerkschaften als industrielle Groß-organisationen hatten. Es ist nicht überra-schend, dass die Gewerkschaften 1960 gegenden Vorwurf der Arbeitgeberseite, die Be-schäftigten seien faul, den Fleiß ihrer Klientelbetonten. Der Vorwurf der »Eindimensiona-lität« (S. 98) solcher gewerkschaftlicher Argu-mentationen müsste auf breiterer Basisgeprüft werden. Birke selbst macht deutlich,dass zum Beispiel die IG Metall auf wildeStreiks, die häufig im Metallbereich stattfan-den, Anfang der 1960er-Jahre mit einer»betriebsnahen Tarifpolitik« reagierte. Beialler Skepsis gegenüber den großen verrecht-lichten Organisationen der Gewerkschaftsollte nicht außer acht gelassen werden, dassauch die wilden Streiks häufig in verhandel-bare Kompromisse überführt wurden. Gera-de der Begriff der ›zweiten Lohnrunde‹ ver-weist auf die materiellen Erfolge.

Mit der Arbeit von Birke soll auch ein Bei-trag zur Vorgeschichte der mit »1968« ver-bundenen Proteste geleistet werden. Völlig zuRecht verweist Birke darauf, dass die Rolleder ArbeiterInnen in dieser Aufbruchsphaseder Bundesrepublik in der Vielzahl der Publi-kationen zu 1968 kaum in den Blick genom-men wurde.2 Wenn auch die Aktivitäten stu-dentischer Gruppen in Richtung Betriebenach 1969 zunahmen, waren sie doch in derRegel nicht auslösendes Moment für wildeStreiks. Deutlich wird aber, dass die 1970er-Jahre mehr Öffentlichkeit und Sympathie fürArbeitskämpfe brachten, was eher als Nach-wirkung von 1968 zu rechnen ist. Hierbeiwäre zu ergänzen, dass sich ein deutlicherImpuls von ›1968‹ in die Betriebe in derLehrlingsbewegung ab 1969 zeigte, diejedoch von Anbeginn an stark mit den

Gewerkschaften und insbesondere dem DGBverbunden war. Die Bewegung nutzte dane-ben jedoch auch verschiedene Aktionsfor-men, die mit öffentlichen Protesten undbetrieblichen Konflikten auch unter Birkesweiter Definition von sozialen Arbeitskämp-fen zu fassen wären.

Birke gelingt es in seiner Arbeit, Einzelfäl-le und Gesamtstatistik klug miteinander zuverbinden und angenehm lesbar zu präsentie-ren. Das Buch ist zuallererst eine historischeArbeit, die gängige Klischees vor allem zurvorgeblich streikarmen Zeit korrigieren kann.Doch darüber hinaus zieht der Autor selbsteine Kontinuitätslinie bis heute. Der weitge-fasste Begriff des ›wilden Streiks‹ verweistdarauf, dass es ein »Kampf in und zugleichgegen die Lohnarbeit« (S. 350) gewesen sei.Gerade heute, wo die traditionellen, großenStreiks sehr viel schwieriger zu führen seien,erhielten Formen von labor unrest eine grö-ßere Bedeutung, wie sich auch in der gewerk-schaftlichen Organizing-Debatte zeige.

Zurecht geht Birke davon aus, dass diequantitative Messung von Streikvoluminaallein nicht ausreicht, sondern erst qualitativeUntersuchungen Aussagen über die Prägun-gen der Akteure ermöglichen würden. Dochgerade in der Forschung zu den Arbeitswel-ten stellt sich die Quellenproblematik beson-ders scharf. Mikrohistorische Studien könn-ten erhellen, wie die Akteure tatsächlichgeprägt wurden und wie deren Erfahrungenweiterwirkten. Angesichts dieses Forschungs-desiderats bleibt offen, wie solche Erfahrun-gen vermittelt und verarbeitet wurden. Denndie zumeist lokale Erscheinungsform hattezur Folge, dass viele Erfahrungen aus derSphäre des abgeschotteten Fabrikalltags

kaum hinauskamen, geschweige denn weitergetragen wurden.

Es stellt sich also die Frage, ob die histo-rischen Linien über ihre Parallelität inbestimmten Erscheinungsformen hinaustatsächlich tragfähig sind. Die wilden Streiksbis zum Ende des Booms 1973 fanden unterden Bedingungen einer Hochkonjunktur-phase statt und waren weniger Abwehrkämp-fe als Verteilungskämpfe. Denn die Boom-phase brachte nicht nur höhere Verteilungs-potentiale, sondern ging Ende der 1960erJahre auch einher mit einem wirkungsmäch-tigen Demokratisierungsbegehren als gesamt-gesellschaftlicher Erscheinung, die geradeauch die Betriebe erfasste. Dieses Begehrenwirkte stimulierend für die Streikwelle nach1969. Ein solcher wichtiger Impuls fehltjedoch heutzutage, wo es schon als revolu-tionär gelten mag, wenn von einem demo-kratischen Recht auf Mitbestimmung gespro-chen wird und nicht der Standortvorteil undökonomische Nutzen hervorgehoben wird.

»Nach dem Boom« heißt auch, dass Streiks– tarifrechtlich sanktionierte ebenso wie ›wil-de‹ – zunehmend Abwehrkämpfe gegen Ent-lassungen und Betriebsschließungen wurden,seit den 1990er Jahren noch forciert durchtarifliche Rückschritte. Birkes Arbeit mit ihrerweit gefassten Definition von Arbeitskämpfenals sozialen Kämpfen ist historisch erhellend.Damit legt er historische Spuren frei, umgegenwärtige Arbeitskämpfe in eine Tradi-tionslinie von lokalen und betrieblichen Kon-flikten zu stellen. Doch angesichts der erheb-lich veränderten strukturellen Bedingungenscheint es mir fraglich, ob dies mehr als Anre-gungen für aktuelle Arbeitskonflikte sein kön-nen. Für heute genommen zeigt es vor allem,dass die Diffusion und Ungleichzeitigkeit dersozialen Kämpfe sich eben nicht als einheitli-che Bewegung entwickelt – angesichts derderzeitigen Weltwirtschaftskrise kein erfreuli-cher Befund.

* Knud Andresen ist Mitarbeiter der Forschungsstelle fürZeitgeschichte (FZH), Hamburg. Zur Zeit arbeitet er aneinem DFG-Projekt zu jugendlichen Erfahrungsräumenund gewerkschaftlicher Organisierung am Beispiel der IGMetall-Jugend der 1970er und 1980er Jahre.

Anmerkungen:1) Vgl. zum Beispiel Helmut Lessing: »Jugendpflege oder

Selbsttätigkeit. Eine historische Untersuchung zum Ver-hältnis von Reformismus und Jugendarbeit«, Frankfurta.M. 1976

2) Eine Ausnahme ist der Tagungsband mit europäischerAusrichtung: Bernd Gehrke/Gerd-Rainer Horn (Hrsg.):»1968 und die Arbeiter. Studien zum ›proletarischenMai‹ in Europa«, Hamburg 2007 sowie der im Mai2009 erscheinende Band von Peter Birke / Bernd Hütt-ner / Gottfried Oy (Hrsg.): »Alte Linke – Neue Linke?Die sozialen Kämpfe der 1968er Jahre in der Diskus-sion«, Reihe Texte / Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin2009

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■■ Kirsten Huckenbeck, Anton Kobel, Uli Wohland:»Kampagnen«. Eine Kampfform der Gewerk-schaften und sozialen Bewegungen, Frankfurt 2007

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